Sensationsroman
von
Walther Kabel
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89
Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Der Dschungel dampfte. Dick und schwer lagen die Morgennebel über der feuchten Wildnis. Nur hie und da ragten einige höhere Baumgruppen aus dem grauen Brodem heraus wie dunkle Inseln.
Über den fernen, kahlen Höhenzug mit seinen phantastischen Umrissen, die sich scharf gegen den mehr und mehr sich lichtenden Himmel als Hintergrund abhoben, schossen die ersten Strahlen der nahenden Sonne hinweg.
In dem halb verfallenen Tempel auf dem einsamen Hügel inmitten des Dschungels wurden harte Schritte laut.
Durch den breiten Eingang trat ein Mann ins Freie, – auf den Vorplatz, von dem strahlenförmig vier längst von Gras und wilden Blumen überwucherte Steintreppen den Hügel hinabliefen und sich in den rankendurchwebten Büschen der Wildnis verloren, die von Jahr zu Jahr ihre frischen Schößlinge näher an das alte, indische Heiligtum herantrieb in einem von niemand gehinderten Angriff.
Der Mann war ein Europäer. Hochgewachsen, schlank und doch sehnig, stach das unter dem Tropenhelm sichtbare blonde Haar gegen das glattrasierte, tiefgebräunte Antlitz mit den scharfen, wie aus dunklem Metall gemeißelten Zügen seltsam ab.
Der graue, derbe Leinenanzug, die hohen Schnürstiefel und die grünen Wickelgamaschen zeigten die Spuren frischer Dornen und rauher Felsen, waren vielfach geflickt und bedurften der Erneuerung.
Der Mann setzte sich auf den Rest der Steinbrüstung der bogenförmig vorspringenden Terrasse und blickte gedankenverloren über den schweigenden, dampfenden Dschungel hinaus, dessen lauer, feuchter Dunst sich so schwer auf die Brust legte mit seinen fieberdrohenden Giften.
Die Terrasse ging nach Westen zu. Und nach Westen schaute der Mann – dorthin, wo tausende und abertausende Meilen entfernt die deutsche Heimat lag.
Und Ernst Rickmer dachte an diese Heimat, die er vor zwei Jahren verlassen hatte, um für das große, von internationalen Börsenfürsten ins Leben gerufene Matawara-Syndikat in den sagenumwobenen Matawara-Bergen Zentralindiens nach Erzgängen von Edelmetallen zu suchen.
Sechs Europäer und ein großer Dienertroß waren es gewesen, die damals angeblich zu einer Jagdexpedition von Nagpur aufgebrochen waren.
Der Fürst von Matawara, einer der unzuverlässigsten Untertanen des englischen Kolonialreiches, hätte nie seine Einwilligung zu einer Durchforschung seiner wilden Berge gegeben. Und abtrotzen ließ er sich nichts. So wurde es eine harmlose Jagdexpedition, die von Nagpur nach Norden zog und sich schließlich auch in das Gebiet des Fürsten einschlich.
Dreizehn Monate hatte die ursprünglich aus einigen zwanzig Köpfen bestehende Gesellschaft wie in steter Kampfbereitschaft gelebt, hatte alle menschlichen Ansiedlungen gemieden, mit den Gefahren der Bergeinöden gerungen und – gesiegt! Die Früchte dieses Sieges trug Ernst Rickmer in einer Ledertasche auf der bloßen Brust. Die Gerüchte über den Gold- und Silberreichtum der Matawara-Berge hatten nicht getrogen. Das Syndikat würde auf seine Kosten kommen. –
Und die indische Regierung würde nun, wo es für sie Millionen zu verdienen gab, durch die Erlaubnis der Erschließung der Erzgänge, den widerspenstigen Fürsten schon zu zwingen wissen, sein Land für industrielle Unternehmungen zu öffnen, – jetzt, wo die Beweise für die in den Bergen schlummernden Reichtümer in Gestalt genauer Zeichnungen vorlagen.
Die Expedition hatte gesiegt.
Aber dieser Sieg war teuer erkauft worden.
Von den Zweiundzwanzig, die einst von Nagpur vortrefflich ausgerüstet in die Schrecken der Dschungeln eingedrungen waren, lebten noch sechs. Vier von den weißen Ingenieuren, zwölf des braunen Dienertrosses waren dem Fieber, den Giftschlangen und dem gelben Würger Indiens, dem Tiger, erlegen.
Dreizehn Monate unterwegs! – Ernst Rickmer dachte an diese Unglückszahl. Gerade dreizehn Monate. Und jetzt befand man sich auf dem Rückmarsch.
Würde man Nagpur erreichen?!
Der Deutsche schaute hinweg über die grauen Dünste, über die Bauminseln. Ihn fröstelte. Seine Stirn war mit klebrigem kaltem Schweiß bedeckt. Wieder lief es ihm wie Eiseskälte inmitten dieser lauen Luft über den Rücken.
Gewohnheitsmäßig langte er in die Tasche, holte das Büchschen mit den Chinintabletten hervor, zerkaute zwei davon.
Dann richtete er sich plötzlich auf. Sein Blick wurde starrer, blieb auf einem bestimmten Punkt dort am Fuße des Hügels haften, wo die eine Treppe in die Wildnis hineinkroch.
Eine Gestalt löste sich aus den feuchten Schwaden, kam nun müde die brüchigen, bewachsenen Stufen empor.
Es war ein junges Hinduweib. In dem Bronzeantlitz mit den großen, dunklen Augen regte sich nichts, als Rickmer die Nahende anrief.
„Ansura, wo kommst du her?“ – Seine Stimme klang unwillig, aber auch besorgt. Das Hindumädchen hatte einen so seltsam geistesabwesenden Ausdruck im Gesicht. Und sonst – sonst war sie die Munterkeit und Frische selbst gewesen, trotz aller Strapazen.
„Ansura, was treibst du hier draußen zu so früher Stunde?“
Rickmers Ton war noch schärfer geworden, klang befehlend.
Da erst machte sie neben ihm halt, schaute ihn mit leerem Blick an und schüttelte den Kopf, daß die Münzen ihres Kopftuches leise klirrten.
„Was soll das, Ansura? – Was fehlt dir? Bist du krank?“ – Rickmers Stimme drückte nur noch teilnehmende Sorge aus. Hier war irgend etwas, – ein neues Unheil! – Dreizehn Monate – sechs Tote.
Rickmer hatte englisch gesprochen. Ansura war in einer Missionsanstalt erzogen, konnte lesen und schreiben. Englisch beherrschte sie fehlerfrei.
Und doch murmelte sie jetzt nur ein paar Hinduworte vor sich hin.
Rickmer packte ihr rechtes Handgelenk, fühlte nach dem Puls. Er dachte an einen schweren Fieberanfall. – Der Puls war matt, aber regelmäßig.
Wieder redete er auf das Mädchen ein.
Keine Antwort. Der Blick blieb leer, wie erloschen, der Gesichtsausdruck stumpf und tot.
Da nahm er Ansura bei der Hand und zog sie mit sich in das Innere des Tempels hinein.
Es war eine einzige leere Halle, ihre Bodenplatten zum Teil zertrümmert. Einzelne hatte ein höher und höher wachsender Strauch im Laufe der Jahre steil aufgerichtet. Der Wind war der Sämann gewesen, der den Pflanzensamen bis in das Heiligtum getragen hatte.
So sah denn der Tempelraum mit seinen kahlen, von der Sonne abgesperrten Sträuchern wie mit verblichenem Grün geschmückt aus.
In der linken Ecke neben dem Eingang war ein löchriges Zelttuch ausgespannt.
Davor blieb Ernst Rickmer stehen.
„Gerda, bist du wach?“ rief er halblaut, indem er den Mund dicht an eines der Löcher des schmutzigen derben Leinenstoffes brachte.
Keine Antwort. –
Dann nochmals:
„Gerda! – Gerda!“
Aus dem Hintergrunde des Tempels kamen jetzt zwei schlanke Hindus herbei, die dort eben das Gepäck nach dieser zweitägigen Rast in dem Heiligtum zum Abmarsch fertig gemacht hatten.
Der eine war Sirawata, Ansuras Bruder.
Mit großen Augen starrte er die Schwester an. Ein jähes Erschrecken glitt über sein von den Strapazen all der Monate mager und faltig gewordenes Gesicht.
„Ansura!“ schrie er angstvoll, indem er die Schwester rauh am Arm packte und schüttelte.
In diesen Ruf sorgender Angst mischte sich ein zweiter.
Rickmer hatte ihn ausgestoßen. Er hatte die Ungewißheit nicht länger ertragen, das Zelttuch gehoben und den kleinen abgeteilten Raum – leer gefunden, – leer! Und da war es wie eine Fanfare des Entsetzens über seine Lippen gekommen:
„Gerda – Gerda!“
Die braunen Diener umstanden wortlos ihren Herrn. Sirawatas Stimme erklang als erste ganz tonlos:
„Oh Sahib, – deine Schwester verschwunden, und Ansura krank – schwer krank! Brahma hat sein Antlitz für uns verhüllt! Auch wir werden sterben!“
Der Ingenieur war wie betäubt. Aus dem Wirrsal seiner Gedanken stieg abermals die schreckliche Frage wie ein drohendes Gespenst auf: „Was war hier vorgefallen?!“
Rickmer war nicht der Mann, sich mit leeren Hoffnungen für den Augenblick zu trösten. Er sagte sich, daß es für ihn nur allzu viele Gründe gab, das Schlimmste zu fürchten. Er hatte die Dienerin seiner Schwester aus den Morgennebeln des Dschungels in einem Zustande auftauchen sehen, der darauf schließen ließ, Ansura müsse seit der Stunde des vorigen Abends, als die beiden weiblichen Mitglieder der Expedition sich in ihren Schlafraum zurückgezogen hatten, furchtbares erlebt haben, jedenfalls so Furchtbares, daß ihr Geist darunter gelitten hatte. Und dieses Furchtbare konnte nur mit Gerda zusammenhängen!
Die Geschwister waren seit vielen Jahren verwaist. Der Altersunterschied von einem halben Jahrzehnt hatte es mit sich gebracht, daß der Ingenieur dem heranwachsenden Schwesterlein Vater und Mutter ersetzt hatte. In Buckow, dem kleinen, märkischen Flecken, ihrer Heimat, hatte man Gerda bald nur noch „die Wunderblume von Buckow“ genannt. Das liebliche Kind wuchs in der Tat immer mehr zu einem selten schönen Weibe heran. Einen eifersüchtigeren Hüter dieser Schönheit und Reinheit als Ernst Rickmer hätte es wohl kaum geben können. Aber es gab ebenso auch wohl nur vereinzelt ein so inniges Verhältnis zwischen Geschwistern wie hier.
Dann kam das Angebot des in aller Stille gegründeten Matawara-Syndikats an den durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen bereits rühmlichst bekannten Bergbauingenieur. Und dieses Angebot war ebenso ehrenvoll wie günstig. Es eröffnete dem erst siebenundzwanzigjährigen Manne Aussichten für die Zukunft, wie sie kaum glänzender sein konnten. –
Hätte es sich dabei nur um seine eigene Person gehandelt, so würde er ohne Bedenken zugegriffen haben. Aber Gerda und er waren eins. Er wollte sie nicht jahrelang schutzlos zurücklassen, zumal er längst erfahren, wie sehr der Schwester berückende Schönheit für sie zu einer Quelle mancherlei Gefahren wurde. Er hatte von ihr alles ferngehalten, was häßlich und gemein war. Zu sehr war sie von ihm in Unkenntnis über des Lebens dunkle Schattenseiten gehalten worden. Weltfremd, das Herz voller Ideale, ging sie ihren Daseinsweg, von dem er alle Steine entfernte, den er für sie in übertriebener Weise mit duftigen Rosen bestreute. Zu spät hatte er dies eingesehen. Seine Liebe hatte ein Zuviel geschaffen. Das zeigte sich, als für die damals Zwanzigjährige die Zeit kam, wo ihr Herz einem Manne entgegenzuschlagen begann, dessen Stellung in der Welt es unmöglich machte, an eine Ehe mit dem bürgerlichen Mädchen zu denken.
Dieses große Ereignis in Gerdas Leben, dieses Erwachen der ersten Liebe fiel in die Zeit, als das Matawara-Syndikat mit Rickmer in Unterhandlungen trat. Der Ingenieur zögerte zuzugreifen. Bald wußte die Schwester, weshalb er es tat: ihretwegen! Er wollte sie nicht sich selbst überlassen! –
Da brachte sie ihm das große Dankesopfer für all seine treue Bruderzärtlichkeit. „Ich begleite dich!“ entschied sie mit einer ihr sonst fremden Bestimmtheit. Und dabei beharrte sie.
So kam es, daß sie gemeinsam hinauszogen nach dem Wunderlande Indien. Gerdas Herz blieb in dem altertümlichen Städtchen der märkischen Heimat. Aber sie ließ sich nichts merken. Wenn die Wellen an den Bordwänden des Ozeandampfers, der unaufhaltsam nach Osten durch die Meere strebte, ihr rauschendes Lied sangen, wenn die Schönheiten des Orients sich den staunenden Augen des jungen Weibes mit immer neuen Wundern enthüllten, dachte sie an den, der ihres Lebens Schicksal geworden.
Gerda war nicht der Charakter, sich in törichten Schwärmereien mit ihren Gefühlen zu verzetteln. Darin ähnelte sie dem Bruder, war sie ein Vollmensch. Was sich ihr nahte, was auf sie Eindruck machte, mußte schon ein ganz Großes sein, um bis zum Grunde ihre zarten Seele zu dringen.
Mit solcher Liebe, mit solchen Gedanken des Entsagens und mit der Gewißheit, von den geringen Erinnerungen an diesen Liebesfrühling ein vielleicht langes Dasein über zehren zu müssen, weil es eben kein Vergessen geben würde, tauchte sie in die Fieberdünste der Dschungeln zusammen mit den Gefährten unter.
Die dreizehn Monate jedoch, die den meisten Mitgliedern der Expedition den Tod gebracht hatten, waren für Gerda Rickmer wie eine neue Schule des Lebens gewesen. Innerlich gefestigt hatte sie den Rückmarsch aus den wilden Matawara-Bergen angetreten. Die in ihr schlummernde Energie war dort immer mehr zu Tage getreten. Die ganzen seltsamen Verhältnisse dieses abenteuerlichen Daseins weckten die verschiedenen Kräfte, die die übergroße Ängstlichkeit des Bruders durch eine gut gemeinte, aber falsche Erziehung niedergehalten hatten.
Ernst Rickmer hatte jetzt aber begriffen, wie sehr Gerda ihm auch innerlich glich. Staunenden Auges hatte er von Tag zu Tag diese Wandlung beobachtet. Aus dem schüchternen, etwas unselbständigen jungen Weibe wurde ein reifer, in sich erstarkter Charakter. Die Beziehungen der Geschwister änderten sich notwendig gleichfalls mit diesem allmählichen Herausschälen des eigentlichen Wesenskernes der einstigen Wunderblume von Buckow. Sie wurden die besten Kameraden. Vorher war der Ingenieur nur ein liebevoller Vormund Gerdas gewesen.
Und nun war sie verschwunden. Und Ansura, ihre vertraute Dienerin, stand mit leerem Blick in der halb verfallenen Tempelhalle und hatte für alle Fragen Rickmers nur ein blödes Lächeln, ein paar törichte, leise gemurmelte Worte.
Man suchte die ganze Umgegend des alten Heiligtumes ab. Man fand nichts – nichts!
Die Sonne war längst über die Bergzacken der Matawara-Wildnis hinausgeklettert, die Morgennebel waren längst verschwunden, als Ernst Rickmer sich sagte, daß die verflossene Nacht ein Geheimnis verhüllte, welches vielleicht nie aufgeklärt werden würde.
Drei Tage später. Wieder zu einer frühen Morgenstunde.
Langsam tauchte der traurige Zug der letzten Überlebenden der Matawara-Expedition im weiten Dschungel unter.
Rickmer ritt als letzter des kleinen Trupps auf seinem munteren Bergpony. Noch einmal drehte er sich um, schaute zurück zur Höhe des einsamen Hügels, empor zu dem alten Tempel, der mit seinem düsteren Geheimnis hier inmitten der fieberschwangeren Dünste der Wildnis zurückblieb.
Es war Rickmer, als nehme er mit diesem Blick für immer Abschied von Gerda.
In diesen drei Tagen hatte man die Verschwundene gesucht – so gesucht, wie Männer mit den Erfahrungen dieser Abenteurer es nur zu tun vermögen. Nichts entdeckte man – nichts! Nicht einmal die Spur eines menschlichen Fußes, die auf die Anwesenheit Fremder in der Nähe des Tempels hingedeutet hätte.
Sirawata, Ansuras Bruder, hatte einen furchtbaren Eid geschworen, nicht eher zu ruhen noch zu rasten, bis er das Rätsel jener Nacht aufgeklärt habe.
„Sahib,“ hatte er zu Rickmer gesagt, „ich kann mir nur denken, daß es eine Bande von Thugs gewesen ist, die hier die Hand im Spiele hat. Sie ziehen durch das Land, diese Anbeter der Kali, der Todesgöttin, einzeln, auch zu dreien, vieren, und morden heimlich, lauern auf den Wegen, im Dickicht, erdrosseln den einsamen Wanderer, sei es Mann, Weib oder Kind. Vor ihrer geweihten Schlinge ist niemand sicher. Sie morden zu Ehren der Kali, und Kali beschützt sie. – Du weißt das alles so gut wie ich.“
Rickmer rann es da wie ein Eishauch über den Leib.
„Du meinst wirklich, daß –?“
„Die Herrin ist vielleicht tot, Sahib, – irgendwo verscharrt. Und Ansura hat das Unheil mitangesehen. Da ist ihr Geist in Verwirrung geraten. Sie kam aus dem Dschungel, als du sie erblicktest. Die beiden werden, als wir noch schliefen, irgendwie ins Freie gelockt worden sein.“
Sirawata sprach, als habe er alles miterlebt.
Rickmer war bleich wie der Tod. Er nickte nur geistesabwesend. – Eine Bande von Thugs! Niemand verstand Spuren so gut zu verwischen wie sie. Ja – er wußte es, er kannte diese Landplage des indischen Riesenreiches. Spricht der Eingeweihte von den Schönheiten Indiens, so fügt er hinzu: „Wenn die Tiger, die Giftschlangen und die Thugs nicht wären!“. Eine halbe Million Menschen verliert Indien jährlich durch diese drei. Hundertfünfzigtausend davon verschwinden, als habe sie ein Geist durch die Luft entführt. Das ist die Arbeit der Thugs zu Ehren der blutigen Kali. –
So dachte Sirawata über die dunkle Angelegenheit.
Die Männer suchten weiter. – Und Ansura saß auf den Stufen einer der Treppen und flocht aus Blumen langen, bunten Schmuck, mit dem sie den Tempel herausputzte, Tag für Tag wie zu einem großen Feste.
Dann endlich gab Rickmer auch die letzte Hoffnung auf. Er ließ den Weitermarsch antreten. An diesem Morgen hatte er die beiden letzten Tabletten Chinin genommen. Packte ihn jetzt das Fieber, dann – war auch er verloren.
Das waren seine letzten Gedanken, als er aus dem hellen Sonnenschein in den milchigen Nebelbroden des Dschungels untertauchte. –
Einsam, verlassen stand der Tempel da. Ansuras Kränze und Gewinde vom Tage vorher waren über Nacht schon wieder verwelkt.
Aus einem Gebüsch schob sich träge eine Kobra mit breitem Schädel über die Steinstufen aufwärts. Oben vor dem Eingang in der prallen Sonne ringelte sie sich zusammen. Es war dies ihr alter Stammplatz. Jetzt durfte sie ihn wieder einnehmen. Die Menschen waren fort.
Es war eine alte Kobra. Die Moschusratte, die sie nachts erwischt und hinabgewürgt hatte, lag ihr schwer in dem rundlich aufgetriebenen Leibe.
Sie war träge, müde, – schlief ein.
Im Tempel wohnte seit ein paar Tagen in einer Mauerspalte Ricki Ticki Tawi. Die Kobra ahnte dies nicht. Sonst hätte sie es nicht gewagt, sich so behaglich zu sonnen.
Ricki war ein Ichneumon, ein Schlangenbeißer. Auch ihn hatten die Menschen gestört, die in dem Tempel gehaust hatten. Jetzt durfte er zum ersten Mal, seit er aus dem Dschungel hier zugewandert war, in Ruhe auf Entdeckungsreisen ausgehen. Sein geschmeidiger marderähnlicher Leib schob sich lautlos über die Platten des Tempelbodens hin, seine spitze Schnauze schnüffelte dauernd in der Luft umher, seine dunklen Perlenaugen eilten spähend hierhin und dorthin.
Ricki hatte den Tempeleingang erreicht. Sein erster Blick von hier aus traf die schlafende, verdauende Kobra, seine Todfeindin.
Rickis Geschlecht lebt seit jeher auf gespanntestem Fuße mit allem, was Schlange heißt. Und Ricki wurde jetzt ganz lang, schien sich förmlich zu recken, so eng schmiegte er sich zwischen ein paar wuchernde Grasbüschel.
Die Kobra lag regungslos, ein matt schillernder, bunter Knäuel, in der prallen Sonne. Dann sauste plötzlich ein braunes, kleines Etwas durch die Luft, vergrub seine Zähne unter der Haube des giftigen Reptils, preßte die Kiefer zusammen, biß noch zwei Mal zu – tief bis an die Wirbelsäule.
Die Kobra mit ihrem dicken, beutegefüllten Leibe vermochte sich nur schwerfällig aufzuringeln. Umsonst waren alle ihre Künste, den an ihr hängenden kleinen Feind abzuschütteln oder zu erdrücken.
Ricki in seinem Kampfeseifer, in seiner Vernichtungswut sah und hörte nichts, was um ihn herum vorging.
In der breiten Tempeltür war ein Weib erschienen.
Der schlanke Körper von frauenhafter Fülle und so geschmeidigen Bewegungen, daß die Schritte mehr ein lautloses Dahinschweben waren, steckte in einem Jagdanzuge von grüngrauem Stoff mit fußfreiem Rock; die schmucklose, jackenartige Bluse konnte der eigenartigen Schönheit dieser Frau keinen Abbruch tun. Unter einem breitrandigen Strohhut mit langem Nackenschleier quollen mutwillige Löckchen eines leicht ins Rötliche spielenden, braunen Haares hervor. Dieser Farbenton gab im Sonnenlicht die wundervollsten Schattierungen ab. Hier fiel er besonders auf, da er sich abhob von einer zarten, rosig angehauchten Gesichtshaut, der die Sonnenstrahlen nichts von ihrer blendenden Reinheit hatten nehmen können.
Das schöne Weib starrte mit großen Augen auf den mit der Kobra kämpfenden Ricki. Diese Augen waren dunkel. Und die langen Wimpern gaben ihrem Blick etwas Tiefes, Seelenvolles, – wenn die Frau es wollte.
Jetzt glühten die Augen förmlich, schillerten um die Wette mit Rickis kleinen Perlenlichtern und den des todwunden Reptils; um den Mund mit den vollen, frischen Lippen grub sich ein eigenes Lächeln ein, während die Nasenwände darüber zitterten wie die Flügel eines sterbenden Schmetterlings.
Ein gar seltsames Lächeln. Mordlust, Blutgier, Vernichtungsdrang, Freude an den verzweifelten Abwehrversuchen der Kobra lag darin.
Die Lippen waren halb geöffnet. Tadellos geformte, leuchtend weiße Zähne blinkten dahinter. Jetzt schob sich ein wenig das rote Zünglein zwischen dem prächtigen Gebiß hindurch. Es vibrierte vor atemloser Spannung. Diese drückte sich auch in der ganzen Haltung des schönen Weibes aus, in den Händen, die sich krampfhaft öffneten und wieder zu Fäusten ballten, in dem vorgeneigten Kopf, der regungslos blieb wie der einer Statue.
So vergingen wohl einige Minuten.
Die Kobra wurde matter und matter. Ricki schien der Sieg gewiß. Das Reptil lag jetzt schon sekundenlang ohne jede Bewegung da. Und des braunen Ichneumons Raubtierzähne zerfleischten wollüstig weiter das weiche Fleisch, versuchten die Wirbel des Rückrates zu trennen.
Da langte die Frau mit der Rechten nach dem Ledergürtel, wo die Revolvertasche, halb verdeckt von der Jackenbluse, hing.
Die Waffe blinkte im Sonnenlicht. Die Mündung richtete sich auf den braunen, kleinen Gesellen, den Todfeind aller Schlangen. Der Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. –
Das Lächeln um die vollen Lippen hatte etwas hohnvoll Herrisches bekommen.
Da sagte neben der Frau der lange Engländer Busterley leise – er war lautlos aus dem Hintergrunde des Tempels nähergeschlichen:
„Wollen Sie etwa den tapferen kleinen Kerl erschießen, Miß Schaper?“
Der Finger krümmte sich weiter. Rickis Leben hing an einem Spinnwebfaden. Astrid Schaper verfehlte nie ihr Ziel – nie!
Abermals eine Stimme, die eines braunen Hindu, der ebenso wie James Busterley, einer Katze gleich, schnell nähergeglitten war:
„Die Mem-Sahib wird nicht schießen! Die Mem-Sahib mag bedenken, daß der Knall nur Leute herbeilocken könnte. Sahib Rickmer ist mit den Seinen erst zwei Stunden unterwegs. Wer gibt uns die Sicherheit, daß ihm nicht der Gedanke kommt, umzukehren und nochmals zu suchen, was er nicht finden darf.“
Busterley hatte bei dieser Warnung unwillkürlich die Augen geradeaus auf den dampfenden Dschungeln gerichtet.
„Zurück – zurück!“ Er packte Astrid Schaper am Ärmel ihrer Bluse, zerrte daran. Seine Stimme war heiser vor Schreck.
„Zurück! Mowiru hat recht. – Rickmer ist umgekehrt! Dort sah ich eben die gebückter Gestalt eines Mannes, – dort, auf der Fährte des Ingenieurs –“ –
Der Eingang war wieder leer. Ricki hatte die Kobra abgetan. Nun saß er neben der toten Feindin und wusch sich mit den Vorderpfoten wie eine Katze die blutbefleckte, spitze Schnauze. Dann – wie ein Blitz schoß er ins Gestrüpp.
Ein Mensch kam vom Dschungel her die eine Treppe langsam empor, die Augen zu Boden gerichtet, als ob er etwas suche.
Es war Darba-Sing, einer der Diener Rickmers. Sein Dolchmesser hatte er unterwegs verloren oder im Tempel liegen lassen beim Aufbruch. Genau wußte er es nicht. Deshalb war er die weite Strecke allein zurückgeeilt.
Darba-Sing sah die Kobra, stutzte. Sie war tot. Er merkte, daß einer von Rickis Sippe hier gearbeitet hatte, ging weiter hinein in den leeren, stillen Tempel, bis ganz nach hinten, wo die farbigen Diener des deutschen Sahib gelagert hatten.
Er suchte. – Es war ein schönes, wertvolles Dolchmesser gewesen. Und alle seine Gedanken waren nur bei der ihm so werten Waffe.
Tief bückte er sich, stieß mit dem Fuß die Trümmer der Steinplatte auseinander, wühlte mit der Hand im Schutt.
Hinter ihm bewegte sich lautlos ein Teil der Mauer der Tempelwand. Mowiru wurde in der dunklen Öffnung sichtbar, – Mowiru, mit dem zu einem Strick zusammengedrehten Tuche in der Hand.
Darba-Sing bückte sich abermals. Da glitt etwas über sein Gesicht hinweg, legte sich ihm um den nackten, braunen Hals. Eiserne Fäuste preßten die Schlinge zusammen. Mowiru war geübt in solchem Tun. –
Aus dem unterirdischen Versteck trat Astrid Schaper hervor. Mowiru schleppte gerade den Körper Darba-Sings an den Beinen dem Eingange zu.
Der helle Knall eines Revolverschusses ließ in dem Tempel einen Wirbel von Schallwellen entstehen. Mowiru schnellte empor, schlug dann lang zu Boden, quer über den Toten.
Der Schuß lockte auch James Busterley aus der Tiefe der Kellerräume des alten Heiligtumes herbei. Mit einem Blick überschaute er das Geschehene.
„Miß Schaper – wozu?!“
Aber vor dem verächtlichen Lächeln des schönen Weibes brachte er den ärgerlichen Ausruf nicht zu Ende.
Astrid zuckte die Achseln, schob den Revolver wieder in das Futteral zurück.
„Wozu?! – Das fragen Sie mich?! – Sie waren es, der mir, die Indien vorher nie gesehen, von den Thugs erzählte. Zu sieben waren wir von Nagpur hinter Rickmers Expedition hergeschlichen. Drei unserer Diener verschwanden in der letzten Woche auf dem Rückmarsch – verschwanden spurlos. Ich erinnerte Sie an die Thugs. Ich mißtraute Mowiru. Sie lachten mich aus. Da haben Sie den Beweis!“
Sie deutete auf Darba-Sings Leiche mit dem im Todeskampf gräßlich verzerrten Gesicht.
James Busterley sagte nichts. Das Entsetzen saß ihm wie ein Stein in der Kehle. Er war nur ein armseliger Hochstapler gewesen, als er Astrid Schaper vor zwei Jahren in Berlin zufällig kennen lernte, wo er gerade mit ein paar Deutschen, ebenso dunklen Ehrenmännern wie er selbst, einen großen Schwindel in südamerikanischen Minenaktien glücklich zu Ende geführt hatte. Und da trat dieses Weib in sein Leben. Sie hatte ihn nach Indien begleitet, nein – nicht begleitet, – sie war es gewesen, die mit Hilfe seines Geldes und mit ihm zusammen das noch größere Geschäft erledigen wollte, das in Indien abgeschlossen werden sollte. Er hatte ihr folgen müssen. Ihre Pläne berauschten ihn. Er tat, was sie wollte.
Jetzt graute ihn vor dieser Frau. James Busterley war eben nur ein schlauer Gauner ohne die Eigenschaften zum kaltblütigen Verbrecher. –
Astrid Schaper lachte kurz auf. Sie hatte sein Mienenspiel beobachtet. Sie wußte, was er dachte.
„Gehen Sie und bereiten Sie den Aufbruch vor,“ sagte sie schneidend. „Wir müssen hier fort. Mowiru hat uns mit seiner Mordgier einen Streich gespielt, der unangenehm werden kann. Rickmer schickt vielleicht einen anderen Diener, um nach diesem Toten da zu suchen, der nicht zurückkehrt zu dem Trupp.“
Busterley ging zwei Schritte nach dem verborgenen Zugang zu den Kellerräumen hin. Dann drehte er, stehen bleibenden, den Kopf nach Astrid Schaper zurück.
„Ich sah vor einer Woche, wie Mowiru vor Ihnen im Grase lag, Ihre Füße umklammert hielt und die Mem-Sahib um Liebe anbettelte. Er war halb toll. Und Ihr Lächeln war Gewährung. Und jetzt haben Sie ihn erschossen.“
Wieder lachte Astrid ironisch auf.
„Sie sind ein altes Weib, Busterley! – Gehen Sie und tun Sie, was ich befahl.“
Der lange Engländer tauchte in der gähnenden Öffnung unter.
Astrid aber legte den toten Thug auf den Rücken und wühlte in den Taschen des Leinenanzuges Mowirus umher – sehr hastig, sehr eifrig, bis sie ein aus Achat geschnitztes, winziges Fläschchen gefunden.
„Busterley, auch du wirst mich kennen lernen!“ dachte sie triumphierend. „Auch du! Und dann werde ich allein das Geheimnis der Matawara-Berge ausbeuten können!“
„– wenn die Tiger inzwischen nicht unsere Pferde aufgefressen haben,“ meinte Busterley.
„Möglich, daß es geschehen. Aber ich glaube es nicht. Das Versteck ist gut. Nur ausgehungert werden die Tiere sein. Wir hatten ihnen nur für fünf Tage Futter zurückgelassen. Nun sind es neun geworden. Und der faule Chinese wird sich kaum die Mühe gemacht haben, sie gut zu füttern. Jedenfalls, sind die Pferde hin, lebt auch Schi-Sao nicht mehr. Und wir müssen dann eben zu Fuß nach Nagpur.“
„Ich danke – ein nettes Vergnügen! Und Rickmer gewinnt dann einen Vorsprung von Wochen. Die Zeichnungen sind in diesem Falle für uns verloren.“
Astrid Schaper bog mit dem Büchsenlauf die Dornenranken zur Seite und schlüpfte durch das Dickicht hindurch.
„Unsinn! Verloren! Wenn Rickmer in Nagpur eintrifft, muß er zunächst ins Krankenhaus. Das Fieber wird ihn dort festhalten, bis wir ebenfalls eintreffen.“
Mühsam bahnten sie sich zu dreien den Weg nach Nordost zu. Hinter ihnen lag der Tempel, den sie vor einer Stunde verlassen hatten.
Wieder rief Astrid:
„Da ist schon die Felsengruppe. Und Schi-Sao lebt. Sein gelbes Affengesicht strahlt mir von oben entgegen. Er hat nach uns ausgeschaut.“
Es war ein kleiner, schwer zugänglicher Talkessel mit steilen Wänden, in dem die überlebenden Verfolger der Rickmerschen Expedition ihre zehn Pferde zurückgelassen hatten. Der schmale Hohlweg, der in den Kessel führte, war durch Dornenbündel verrammelt worden, bevor man nach dem Tempel aufgebrochen war, dessen unterirdische Räumlichkeiten Mowiru kannte; woher, hatte er nicht gesagt. – Man hatte gewußt, daß Rickmer mit den Seinen dort Rast machen wolle. Der Thug war es gewesen, der dies hatte erlauschen können.
Schi-Saos speckig glänzendes Gesicht leuchtete vor Freude, als er Astrid gegenüberstand. Er war als Koch angeworben worden. Sein allen häßlichen Leidenschaften offenes Asiatenherz war nicht minder im Banne der Schönheit des jungen, gewissenlosen Weibes, wie es das des toten Mowiru gewesen. Er haßte Mowiru deshalb. Und seine erste Frage galt dem Thug.
„Einer Kobra Gift!“ meinte Astrid aufseufzend. Das sagte genug.
Schi-Sao grinste vor Freude und verschlang die Mem-Sahib mit hungrigen Blicken. Dann begann er zu erzählen. Nach seiner Schilderung hatte er während der Abwesenheit der Gefährten mindestens hundert Tiger schwer verwundet. Er klopfte auf den Kolben seiner Büchse und fügte hinzu:
„Die Bestien haben sich leider alle noch in die Dickung schleppen können. – Ist die Mem-Sahib mit mir zufrieden?“
Astrid nickte.
„Sehr zufrieden!“ Um ihre Lippen spielte ein rätselvolles Lächeln, und ihre Augen schienen die häßliche Fratze des Schlitzäugigen zu streicheln. Sie brauchte ihn noch für ihre Pläne, noch! Er war ein Werkzeug für sie wie Mowiru, der auch blindlings gehorcht hatte, wenn die Mem-Sahib ihn so anschaute, – gehorcht hatte bis auf seine Mordleidenschaft. Die war doch noch stärker gewesen. Und deshalb hatte er sterben müssen. Astrid verlangte Gehorsam bis zum Äußersten.
Schi-Sao mußte dann das Gepäck fertig machen, die Pferde beladen und die Wasserbehälter aus der Quelle des Talkessels füllen. Astrid stand bei ihm. Busterley aber brach das Lagerzelt ab. Er konnte nicht hören, was die beiden leise miteinander besprachen, gab auch nicht weiter auf sie acht. Ihm wollte die Szene nicht aus dem Gedächtnis, wie Mowiru mit der Revolverkugel im Schädel über der Leiche des Erdrosselten gelegen hatte. Das war derselbe Mowiru, der das Lager der Rickmerschen Expedition unzählige Male heimlich umschlichen hatte mit eigener Lebensgefahr, der auch sonst treu wie ein Hund Astrid gedient hatte. Und sein Lohn? – Die Kugel! – Busterley fröstelte. Die kalte Gewissenlosigkeit seiner Genossin war selbst ihm zu groß.
Drüben bei den Pferden sagte Astrid zu Schi-Sao:
„Du wirst mir auf dem Wege durch den Dschungel die Wurzeln der Kiri-Kissa einsammeln. Möglichst viele. Du hast mir versichert, daß die Kiri-Kissa eine Farbe liefert, die lange vorhält. Es ist doch so?“
„Es ist so, Mem-Sahib.“ Des Chinesen Augen fraßen sich wieder lüstern in dem zarten Antlitz der Herrin fest, die ihn abermals anlächelte. –
Kurz vor dem Aufbruch kam Busterley auf die Vorgänge in dem alten Heiligtum zu sprechen.
„Unsere tagelange freiwillige Haft in den unterirdischen Räumen ist also ein Fehlschlag gewesen,“ meinte er. „Hätten wir diesen Versuch, dort Rickmer die Skizzen zu rauben, nicht gemacht, wären wir längst in Nagpur.“
Astrid zuckte die Achseln.
„Auffassungssache! Wir sind einen unbequemen Mitwisser losgeworden und haben dafür ein neues Mittel gewonnen, um Rickmer nötigenfalls offen zu zwingen, mit uns gemeinsame Sache zu machen.“
Sie warf dabei einen bezeichnenden Blick nach der Stelle hin, wo halb verborgen hinter einem schattenspendenden Busche zusammengekauert eine Gestalt saß.
Busterley murmelte etwas von „gefährlichem Zuwachs“, worauf Astrid erwiderte:
„Sie wittern überall Gefahren. Für ein Millionenobjekt wie diese Matawara-Skizzen muß man schon etwas wagen.“
Dann setzte sich der kleine Zug in Bewegung.
Astrid ritt voran. Sie benutzte einen Herrensattel. Wie verwachsen war sie mit ihrem Pferde.
Nur nach dem Kompaß richtete sie sich. Gegen Abend kreuzte man die Fährte des Rickmerschen Trupps auf einer Lichtung. Da bog Astrid mehr nach Westen aus. Die Gäule waren frisch, und man kam sehr schnell vorwärts. Schi-Sao fluchte leise. Auch Busterley strengte der scharfe Trab an. Erst am Morgen wurde gerastet. Astrid wollte Rickmer überholen. Dazu war alle Aussicht vorhanden. –
Sechs Tage später. Man näherte sich Nagpur. –
Das letzte Lager im Dschungel. Ein Lager während der Nacht. Der Urwald wurde immer lebendiger, je höher der Mond stieg. Affen kreischten angstvoll auf, wenn das Brüllen des hungrigen, jagenden Tigers durch die Büsche klang. Die Bul-Bul, die indische Nachtigall, schluchzte in den Zweigen. Im Grase raschelte es, in den Sträuchern rauschte es von allerlei Nachtgetier, das auf Beute ausging.
Der Chinese und nicht minder Busterley hatten das Halbdunkel dieser Dschungelnächte stets gefürchtet. Nur hinter einem Riesenfeuer mit der Büchse im Arm fühlten sie sich sicher. Die Mem-Sahib spottete darüber. Kühn drang sie ganz allein in das Dickicht ein. Und so und so oft hatte sie sich von einer anderen Seite wieder an das Lager herangeschlichen und einen trockenen Ast nach den beiden Männern geschleudert, die dann immer entsetzt hochfuhren. Astrids Spottlachen folgte dem Wurf. Und Schi-Sao und der Engländer bekamen rote Köpfe vor Verlegenheit.
Die Mem-Sahib war in diesem letzten Lager in Geberlaune. Schi-Sao erhielt aus den schon recht knappen Vorräten eine Flasche Whisky. Eine Stunde später lag er sinnlos betrunken da.
Busterley begriff Astrid nicht. Er fürchtete, daß man des Chinesen wegen womöglich noch eine Nacht in der fieberschwangeren Luft dieser Wildnis werde zubringen müssen.
„Wie konnten Sie nur dem Burschen Gelegenheit geben, sich einen solchen Rausch zu holen,“ sagte er aufgebracht. „Das Vieh nüchtert in vierundzwanzig Stunden nicht aus!“
Astrid lächelte etwas verlegen. Auch das konnte sie, obwohl es ihr schwerer fiel als die anderen Schattierungen ihres Lachens.
„Ich bin mit Schi-Sao stets zufrieden gewesen – stets! Ich wollte ihm eine Freude machen. Er sollte ja nur einen Schluck trinken. – Im übrigen, mag er nachkommen, sobald er wieder erwacht. Wir lassen ihm sein Pferd und etwas Proviant hier.“
Busterley war ganz einverstanden damit. Als er schlief, verließ Astrid ihr Zelt und schlich nach der Stelle hin, wo Schi-Sao umgesunken war. Sie beugte sich über ihn. Der Mond beschien ihr Gesicht. Kalte Grausamkeit sprach aus ihren Augen. Und das Achatfläschchen in ihrer Hand schimmerte matt in den Strahlen des Nachtgestirns.
*
Rickmer bekam am zweiten Marschtage einen schweren Fieberanfall. Er hatte schon vorher Sirawata den Befehl gegeben, unter allen Umständen die Reise fortzusetzen, selbst wenn er ohne Bewußtsein transportiert werden müsse. Zu dem Bruder Ansuras hatte er volles Vertrauen. Und Sirawata tat, wie ihm geheißen. Das Chinin war verbraucht. Der auf eine schnell hergestellte Tragbahre gelegte Sahib raste im Fieber, mußte festgehalten werden. Es war ein trauriger Zug. Neben der Tragbahre schritt Ansura einher. Sie erkannte noch immer niemanden, selbst den Bruder nicht. Ihr Gedächtnis für die Vergangenheit war ausgelöscht. Leise summte sie ein Lied vor sich hin, eine trübsinnige Weise. Oder aber sie schnatterte unzusammenhängende Worte. Es war seltsam, daß sie gerade dieses eine Lied behalten hatte. Vielleicht deswegen, weil sie es ihrer deutschen Mem-Sahib, die jetzt verschwunden war, so oft vorgesungen hatte, bis diese es gleichfalls auswendig konnte.
Am Morgen des dritten Marschtages fand Sirawata dann auf der noch deutlich sichtbaren Fährte mehrerer Reiter das im Grase liegende prachtvolle blonde Haar Gerda Rickmers. Es war offenbar mit einem scharfen Messer dicht am Kopfe abgeschnitten worden. Der Hindu erkannte es auf den ersten Blick, steckte es zu sich als Andenken an die gütige, deutsche Mem-Sahib, die – eines zuverlässigeren Beweises bedurfte es nicht! – ihr junges Leben unter Mörderhänden eingebüßt hatte. –
Er beschloß, seinem Herrn von dem Funde nichts zu sagen. Im Stillen dachte dieser ja anscheinend noch immer, die Verschwundene könnte entführt worden sein. Wozu ihm die allerletzte Hoffnung nehmen?!
In kurzen Tagemärschen, während der größten Hitze rastend, strebten die Reste der Expedition der Stadt Nagpur zu.
Kurz vor den Toren der Stadt dann abermals ein merkwürdiges Begebnis. Man stieß mitten im dichten Dschungel auf einen Chinesen, der völlig erschöpft war.
Der Mann hatte, was seinen Geisteszustand anging, eine unheimliche Ähnlichkeit mit Ansura. Er wußte weder seinen Namen noch sonst etwas von sich und seiner Vergangenheit, lächelte nur blöde vor sich hin, schlang wie ein Tier das ihm gereichte Essen hinab und stierte stundenlang regungslos auf denselben Fleck.
Gerade an diesem Tage ging es Rickmer etwas besser! Obwohl mehr tot als lebendig von dem langen Fieber, gab er sich alle Mühe, aus dem Schlitzäugigen etwas herauszubringen. –
Alles umsonst. –
So wurde der Geistesschwache denn mit nach Nagpur genommen, wo man ihn der Polizei ablieferte. Diese machte mit dem Chinamann, der in der Stadt als guter Koch bekannt war und zuletzt ein englisches Geschwisterpaar auf einer längeren Jagdexpedition begleitet haben sollte, wenig Umstände und ließ ihn bald als harmlosen Schwachsinnigen wieder laufen.
Das waren die vorläufigen Schicksale Schi-Saos, mit dem die Mem-Sahib so sehr zufrieden gewesen war.
Diese selbst und Busterley hatten in einem Eingeborenendorfe die Expeditionsausrüstung nebst den Pferden verkauft und waren dann von der nahen, im Süden Nagpurs gelegenen Bahnstation als harmlose Touristen zu dreien in die Stadt gelangt. Rickmer wurde von Norden her erwartet. So konnte kein Verdacht entstehen, daß zwischen den beiden Gruppen ein Zusammenhang bestand und daß die Geschwister Busterley dem deutschen Ingenieur dreizehn Monate lang geduldig gefolgt waren. Dreizehn Monate. –
Und eigentlich umsonst. Denn Rickmer hatte die Stellen, wo er in den Matawara-Bergen abbaufähige Erzadergänge entdeckte, so gut wieder unkenntlich gemacht, daß diese Stellen nur mit Hilfe der aufgenommenen Skizzen wiedergefunden werden konnten.
Und diese Zeichnungen dem Deutschen zu entwenden, war jetzt Astrids ganzes Sinnen und Trachten.
James Busterley und seine angebliche Schwester Astrid waren im „Pyramiden-Hotel“ in Gizeh abgestiegen. Ins Fremdenbuch hatte Busterley eingeschrieben: Kaufmann aus London, auf der Rückreise von Kalkutta, – nebst Schwester und Bedienung.
Letztere bestand in einem Hindumädchen von eigenartiger Schönheit. Die Ärmste war jedoch geistig minderwertig, verließ kaum einmal die drei Zimmer, die Busterleys inne hatten, und wenn, dann nur in Begleitung ihrer Herrin, deren auffallende Erscheinung auch hier in diesem internationalen Getriebe allseitige Beachtung fand.
Der März hatte Ägypten eine Wärme gebracht, die recht unangenehm war. An einem besonders heißem Tage saßen Busterley und Astrid morgens beim Frühstück auf ihrem nach Norden zu gelegenen Balkon.
Astrid sah stark übernächtigt aus und gähnte häufig. Während sie ihre Schokolade umrührte, sagte sie verdrießlich:
„Eine Woche sind wir jetzt hier, und die drei letzten Nächte bin ich so gut wie gar nicht zum Schlafen gekommen! Dabei ist alles vergeblich – alles! Er hat die Zeichnungen zu gut versteckt.“
Busterley seufzte verstohlen. Ihm war es ein äußerst beunruhigen–der Gedanke, daß seine angebliche Schwester hier im geheimen Pfade wandelte, die nur zu leicht – ins Gefängnis führen konnten.
Astrid hatte den Seufzer sehr wohl gehört. Jetzt sagte sie wieder in jenem vorsichtigen Flüsterton, der nur gerade genügte, um über den kleinen Tisch bis an ihres Genossen Ohr zu dringen:
„Ich glaube, Bruderherz, du hast mehr Angst bei der ganzen Geschichte als ich selbst! Nun, du kannst jetzt eine Weile erleichtert aufatmen. So komme ich nicht ans Ziel. Das habe ich eingesehen. Also wird ein neuer Plan entworfen – notgedrungen.“
„Und der wäre?“
Astrid lächelte kokett und schaute ihrem Gegenüber tief in die Augen.
„Die Liebe, James, – die Liebe!“
Ihr machte es zuweilen Vergnügen, ihre Sirenenkünste auch an Busterley zu verschwenden – zum Zeitvertreib lediglich, da Frauen diesem wandelnden Eisblock auch nicht im allergeringsten etwas bedeuteten.
Busterley zuckte die Achseln.
„Es soll Gimpel geben, die sich mit derartigem Leim fangen lassen,“ erklärte er geringschätzig. „Mir unverständlich! Ich habe solche Männer nie begriffen. Ich bin gewiß in meinem Spezialfach, das leider als Gewerbe polizeilich nicht anerkannt ist, keine allererste Kraft. Aber derartige Dummheiten, bei irgendwelchen Gelegenheiten die Sinne mitsprechen zu lassen, – nein, dazu war ich doch stets zu schlaue. Und ob Rickmer gerade der Mann ist, der ein paar heißen Küssen zu Liebe ein Geheimnis preisgibt, das möchte ich sehr stark bezweifeln, sehr stark!“
„So?! – Nun, Rickmer ist mein Landsmann, ist ein Deutscher. Und die Deutschen schleppen sämtlich einen höchst überflüssigen Ballast von Gefühlen mit sich herum.“
„Überflüssigen Ballast?! Oh nein! Es ist ein Glück, daß sie ihn überall als stete Bürde tragen. Das hindert sie ja eben, uns Engländer völlig vom Weltmarkt zu verdrängen. Besäßen sie bei ihrem Fleiß und ihrer Intelligenz noch die britische Gewissenlosigkeit, so wären sie das erste Handelsvolk der Erde! – Doch – ich bin da auf ein Thema geraten, das dich langweilen dürfte. Gut denn, also die Liebe, nachdem das Chloroform nichts genützt hat.“
Wieder grinste der dürre Busterley halb verächtlich.
Astrid gähnte. Dann sagte sie:
„Es ist deine Aufgabe, mit Rickmer noch näher bekannt zu werden, James, – verstanden? Und zögere damit nicht lange. Sieh zu, daß wir zu dreien einen Ausflug nach den Pyramiden oder nach einer der nächsten Oasen unternehmen. Dabei findet sich am leichtesten Gelegenheit, ihm ein wenig einzuheizen.“
Busterley nickte. – Aber ihm, der jeden Schachzug stets sehr genau berechnete, stiegen schon wieder neue Bedenken auf.
„Und wenn Rickmer ein Mann von meinem Schlage, also unempfindlich für lockende Augen ist, oder wenn das Fieber ihm noch immer zu stark zusetzt, um ihn selbst eine Astrid übersehen zu lassen, – was dann?“
Seine Gegenüber verzog den roten Mund in Siegesgewißheit.
„Dann kommt das letzte Mittel an die Reihe,“ meinte sie ruhig.
Busterley schaute sie prüfend an. In manchen Dingen war sie ihm gegenüber verschwiegen wie zu einem Fremden.
„Ich begreife dich nicht,“ sagte er unzufrieden. „Du hältst dieses Mittel für einen Trumpf in unserem Spiel, und ich für eine recht gefährliche Fehlfarbe. Möchtest du mir nicht endlich mitteilen, wie –“
„Nein, nein, frage gar nicht!“ unterbrach sie ihn kurz. „Es ist ein Trumpf. Das kannst du mir schon glauben. Nur richtig ausspielen muß man diese Karte, die durchaus keine Gefahren in sich birgt, wenn man nur klug ist. Rickmer ist gestern wieder achtlos an Manikela vorübergegangen. Es war unten im Vestibül.“
„Und dir hat nicht das Herz geklopft vor –“
„Lächerlich!“ schnitt sie ihm das Wort ab. Dann gähnte sie abermals, trank in kleinen Schlückchen ihre Schokolade aus, erhob sich und sagte:
„Ich muß noch ein paar Stunden schlafen. Auf Wiedersehen!“
Während sie durch den kleinen gemeinsamen Salon auf die Tür ihres eigenen Zimmers zuschritt, dachte sie hohnvoll:
„Du solltest die Wahrheit ahnen, James Busterley! Du denkst, der Schreck tötete das Gedächtnis derer, die sich auf Gewesenes nicht mehr besinnen durften. Und du würdest mich wie die Pest meiden, wenn du von dem Geheimnis des Thugs etwas wüßtest! Durch die Macht meiner Schönheit habe ich Mowiru abgelistet, was nur er als Thug kannte, – damals, als er vor mir um Liebe winselnd lang am Boden des unheimlichen Tempels lag. – Du bist ein bequemer Verbündeter, James Busterley, – einer, der weder zu dumm noch zu klug ist –“
*
Zu derselben Zeit zwei Zimmer weiter. – Hier wohnte Ernst Rickmer, dem die Ärzte geraten hatten, in Ägypten mindestens vier Wochen zu bleiben, bevor er die Reise nach Deutschland fortsetzte.
Auf dem Dampfer „Hamburg“, den er von Bombay aus benutzt und in Suez dann nach einer entsetzlich heißen Fahrt durch den Indischen Ozean und das Rote Meer wieder verlassen hatte, war er mit einem Landsmanne bekannt geworden, einem Stabsarzt vom Seebataillon in Kiautschou, der mit achtmonatigem Europaurlaub heimreiste.
Doktor Merstka und Rickmer hatten sich schnell miteinander angefreundet, und der Stabsarzt hatte dann freiwillig die Nachbehandlung des an Dschungelfieber leidenden Ingenieurs auf Grund langjähriger Tropenerfahrungen übernommen.
Eigentlich hätten die beiden Herren sich in Suez Lebewohl sagen müssen, da Rickmer ja noch nach Kairo wollte. In Suez aber hatte für den Doktor schon eine Depesche gelagert, in der ihm seine in Berlin wohnende Mutter mitteilte, er solle die Weiterreise unterbrechen und sie und seine einzige Schwester Hildegard in Kairo erwarten, da ein Spezialist für Lungenerkrankungen Hilde einen sofortigen längeren Aufenthalt in Ägypten verordnet habe.
So kam es, daß Merstka und Rickmer sich nicht zu trennen brauchten und sich dann im „Pyramiden-Hotel“ in Gizeh einquartierten. Inzwischen hatte der Stabsarzt sich mit den Seinen in Berlin telegraphisch in Verbindung gesetzt und zu seiner Beruhigung erfahren, daß es mit Hilde durchaus nicht schlimm stehe und daß er mit dem Eintreffen der beiden Damen in acht Tagen rechnen könne.
Der Doktor und der Ingenieur waren mittlerweile einander noch näher getreten und gute Freunde geworden. Morgens nahmen sie gewöhnlich bei Rickmer das erste Frühstück ein. So auch an diesem Tage, als James Busterley und Astrid keine fünfzehn Schritte weiter auf dem Balkon sich über den Stand ihres gemeinsamen Unternehmens unterhielten.
Merstka, in seiner ganzen Erscheinung mehr Offizier als Arzt wie viele aktive Militärärzte, hatte Rickmer mit festem Handschlag begrüßt, ihn dabei prüfend angesehen und gesagt:
„Morgen, Rickmer!– Na – wie geht’s heute? – Hm – blühend sehen Sie nicht gerade aus, um ganz ehrlich zu sein. Schlecht geschlafen? – Zeigen Sie doch mal Ihren Puls her. – Etwas matt, aber gleichmäßig.“
Dann setzte er sich an den gedeckten Frühstückstisch, der vor die weit offenstehenden Türen des Balkons geschoben war.
Merstka schenkte sich Kaffee ein, machte ein Brötchen zurecht und fragte dabei nochmals:
„Also – wie war’s denn mit dem Schlaf? Wieder so wüst geträumt? Oder hat mein Pulver diesmal geholfen?“
Rickmer zuckte die Achseln.
„Es war genau so wie in den vorhergehenden Nächten – genau so, – leider! Ich wurde nach dem Pulver sehr müde, schlief auch bald ein und wachte erst gegen sieben Uhr früh auf, aber mit genau so wirrem Kopf und mit genau derselben Übelkeit, als ich mich dann erhob.“
„So – wieder Übelkeit? – Hm, merkwürdig! – Offen gesagt, Bester, die Sache gefällt mir nicht. Nachwehen des Dschungelfiebers sind das nicht. Haben Sie denn sonst noch Beschwerden irgend welcher Art?“
„Nein. Nur die fürchterlichen Traumgesichte. Wie Alpdrücken ist das – gräßlich!“
Rickmer goß sich einen Kognak in das Spitzgläschen und trank Merstka zu.
„Prosit, Doktor! – Zerbrechen Sie sich nicht unnötig den Kopf! Ich werde schon wieder in Ordnung kommen mit meinen Nerven.“
Aber der Stabsarzt schüttelte den Kopf.
„Wir wollen Ihren Zustand nicht zu leicht nehmen. – Schlafen Sie bei offenen Fenstern?“
„Natürlich!“
Merstka stand auf und ging auf den Balkon hinaus, der sich zusammenhängend an der Nordfront des Hotels in jeder Etage entlangzog und nur durch Bretterscheidewände für die einzelnen Zimmer abgeteilt war. In den Blumenkästen des Balkons wucherte eine üppige Flora tropischer Ziergewächse. Diese musterte der Doktor sehr genau.
Dann nahm er wieder am Tische Platz.
„Ich glaubte schon,“ sagte er nachdenklich, „daß unter den Blumen da draußen sich womöglich einige Exemplare befänden, die nachts besonders stark duften, so daß die Möglichkeit vorgelegen hätte, der Blumengeruch könnte Ihren Schlaf ungünstig beeinflußt haben. Es sind aber alles harmlose Pflanzen, wie ich mich eben überzeugt habe.“
Rickmer hatte gar nicht recht hingehört. Er starrte gedankenverloren auf seinen Teller, auf dem noch unberührt ein appetitlich belegtes Brötchen lag.
Plötzlich hob er den Kopf und sah Merstka fast durchdringend an.
„Doktor, diese Ihre Bemerkung eben wegen des Blumenduftes hat mich auf einen seltsamen Gedanken gebracht. Ich will Ihnen mal folgendes beichten. Wenn ich nicht gleich damit herausgerückt bin, so geschah es nur deswegen, weil ich mich nicht gern mit einer Vermutung lächerlich machen wollte. Also – ich habe schon gestern morgen zu bemerken geglaubt, daß anscheinend während der Nacht meine Sachen nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch hier im Wohnzimmer durchwühlt waren. Aus Kleinigkeiten schloß ich das. Bestimmt behaupten will ich es ja nicht. Aber, wie gesagt, dieser Verdacht, es könnte nächtlicherweise jemand mir einen Besuch abgestattet haben, hat mich nicht mehr losgelassen. Und heute morgen nun fand ich, daß das Schloß meines kleinen Kabinenkoffers verdorben war, obwohl es gestern abend noch tadellos funktionierte. Als Sie nun von den Blumen sprachen, zuckte plötzlich der Gedanke in mir auf: „Vielleicht hat man dich betäubt, und daher morgens die Übelkeit und auch diese Traumbilder“!“
Merstka wollte gerade die Kaffeetasse zum Munde führen, stellte sie jetzt aber schnell wieder hin. Offenbar wollte er eine Bemerkung machen, schloß dann aber die schon halb geöffneten Lippen wieder, zwang sich zu einem Lächeln und fragte nun, harmlos tuend:
„Nächtlicher Besuch! Ei ei, lieber Freund, – sind Sie etwa politischer Agent oder dergleichen, dem man Dokumente stehlen will?“
„Wenn auch nicht das, so doch immerhin ein Ingenieur, der vielleicht über Geheimnisse verfügt, die noch wertvoller sind,“ erwiderte Rickmer ernst. „Wir kennen uns nun ja genau genug, Doktor,“ fuhr er nach kurzer Pause fort, „daß ich es wagen darf, mich Ihnen anzuvertrauen. Ich habe Sie nämlich seinerzeit an Bord der „Hamburg“ so etwas über die Gründe, die mich und meine arme Schwester nach Indien führten, beschwindelt, auch nur die halbe Wahrheit gesagt, was Gerdas Schicksal anbetrifft. Ich weiß nämlich nicht mit Bestimmtheit, ob sie tot ist. – Doch am besten wird sein, ich erzähle Ihnen alles ganz eingehend. Nur müssen Sie mir versprechen, strengstes Stillschweigen zu bewahren.“
Ein halbe Stunde später wußte der Doktor mit den Abenteuern der Matawara-Expedition genau Bescheid, auch, daß Rickmer noch von Nagpur aus eine Polizeitruppe nach dem einsamen Tempel im Dschungel geschickt hatte, um nach Gerda suchen zu lassen. Die Polizei war jedoch ebenfalls unverrichteter Sache zurückgekehrt, hatte nur in dem alten Heiligtum die beiden Leichen gefunden, die des Thugs und die des erdrosselten Hindudieners.
Daß Merstka dieser Schilderung mit atemloser Spannung zugehört hatte, braucht wohl nicht weiter erwähnt zu werden. Als Rickmer jetzt noch hinzufügte: „Es ist also immerhin möglich, daß irgendwelche Leute es hier auf die Zeichnungen abgesehen haben,“ schüttelte der Stabsarzt jedoch eifrig den Kopf.
„Ich bitte Sie, Bester, setzen Sie sich nicht noch solche Gedanken in den Kopf! In Ihrem Zustande neigt man stets zu allerhand phantastischen Befürchtungen – tatsächlich! Wenn Sie erst die letzten Folgeerscheinungen des verd… Dschungelfiebers überwunden haben werden, wird Ihnen dieser Verdacht selbst als krankhafte Einbildung erscheinen. Sie haben mir ja eben ausführlich erzählt, daß die ganze Matawara-Angelegenheit von den Beteiligten in eigenem Interesse so vorsichtig behandelt worden ist, daß andere Leute nichts davon erfahren konnten. Wer sollte Ihnen also wohl die Zeichnungen stehlen wollen?! – Nein, mein Lieber, Ihr Kofferschloß werden Sie wohl selbst verdorben haben. Und auch alles übrige ist Ausgeburt Ihrer überreizten Nerven.“
Rickmer nickte.
„Sie werden recht haben, Doktor! Vielleicht sind auch die scheußlichen Träume an dem Auftauchen dieses Verdachtes schuld.“
Dann sprachen sie von anderen Dingen. Aber der Stabsarzt streute in die Unterhaltung doch noch ganz unauffällig einige Fragen ein, die Rickmer sehr harmloser Natur erschienen und die dennoch einem aufmerksamen Zuhörer dieses Morgengesprächs sehr wahrscheinlich gezeigt hätten, daß Merstka jetzt demselben Argwohn nachging, den er eben dem Freunde auszureden versucht hatte.
Zu Astrids Schlafzimmer gehörte noch ein kleiner Ankleideraum. Dort war das Hindumädchen Manikela untergebracht worden. Wie eine halbe Gefangene lebte das bedauernswerte Geschöpf. Verließen die angeblichen Geschwister Busterley ihre Räume, so schlossen sie Manikela einfach ein und nahmen den Schlüssel mit. Dem Hotelpersonal gegenüber wurde diese etwas sonderbare Maßregel so erklärt, daß die Inderin zeitweise an einer krankhaften Sucht zum Stehlen leide und daß es daher besser sei, sie nicht jederzeit frei umherlaufen zu lassen, damit ihrer Herrin Unannehmlichkeit erspart blieben.
Dies wurde Doktor Merstka von einem im „Pyramiden-Hotel“ angestellten deutschen Kellner erzählt, der gerade im Nordflügel in der zweiten Etage die Zimmer unter sich hatte, wo auch der Stabsarzt ebenso wie Rickmer zwei Räume bewohnte.
Merstka forschte den Kellner, der Winter hieß, sehr vorsichtig aus, konnte aber doch nicht verhüten, daß dieser helle Berliner bald merkte, der Stabsarzt habe fraglos ein besonderes Interesse für Busterleys, die einen Tag später als Rickmer im „Pyramiden-Hotel“ abgestiegen und gleichfalls aus Indien gekommen waren.
Diese Unterredung zwischen Merstka und Winter fand gegen Mittag an demselben Tage statt, als ersterer von dem Ingenieur über die Abenteurer der Matawara-Expedition und über das Verschwinden Gerdas unterrichtet worden war.
Winter sagte jetzt zu dem Doktor, indem er eine stramme militärische Haltung annahm:
„Herr Stabsarzt können zu mir schon Vertrauen haben. Ich habe bei den Franzern in Berlin gedient und bin Gefreiten im Reserveverhältnis. Herr Stabsarzt zeigen lebhafte Teilnahme für Busterleys. Ich merke das sehr wohl. Wenn ich Herrn Stabsarzt nun irgendwie behilflich sein kann – recht gern!“
Winter lächelte dabei ein ganz klein wenig. Er dachte eben, es handele sich hier natürlich um die schöne Schwester James Busterleys.
Merstka ahnte, was der Kellner von diesem Interesse für die Geschwister hielt, ließ ihn aber absichtlich bei dem Glauben und erwiderte:
„Behilflich – hm, ja. – Also, Winter, was halten Sie von den Herrschaften?“
Der Berliner zuckte die Achseln.
„Nicht viel, ehrlich gesagt, Herr Stabsarzt. Unsereiner hat einen Blick dafür. Ich bin nun schon sechs Jahre im Ausland in großen internationalen Hotels tätig. Da bekommt man gute Augen für allerhand Kleinigkeiten, die anderen vielleicht entgehen. – Ich glaube nicht, daß die Dame die Schwester des langen Engländers ist. Er spricht offenbar den Dialekt des nördlichen Englands, sie dagegen ein miserabeles Englisch. Deshalb auch diese Vorsichtsmaßregel, daß sie, angeblich um sich im Deutschen zu vervollkommnen, jede englische Unterhaltung ablehnt. Und die Art, wie sie wieder unsere Muttersprache radebrecht, ist gekünstelt. Ich wette, sie ist eine Deutsche. Also alles in allem kein ganz sauberes Pärchen, – selbst wenn man von dem stets eingesperrt gehaltenen Hindumädchen absieht. Keine Dame wird sich doch eine geistesschwache, farbige Zofe halten! Dazu noch eine, die stehlen soll!“
Merstka war überrascht, bei Winter soviel treffende Beobachtungsgabe zu finden.
„Ja, Sie haben recht, Winter,“ meinte er jetzt. „Nun, wo Sie mich darauf aufmerksam machen, fällt mir ein, daß Miß Busterley, mit der ich ja auch schon zweimal die Ehre hatte, mich unterhalten zu dürfen, trotz ihrer angeblich so unzulänglichen Kenntnisse im Deutschen ein paar Redewendungen gebrauchte, die eben nur ein geborener Deutscher in Bereitschaft hat.“
Der Berliner war jetzt abermals auf der Leiter der Erkenntnis eine Stufe höher gestiegen. Das stark Ironische in den Worten „die Ehre hatte, mich unterhalten zu dürfen“ war ihm nicht entgangen, und er schloß daraus, daß des Stabsarztes Interesse für Busterleys nichts mit zarteren Gefühlen zu tun haben könnte.
Diese bessere Einsicht gab ihm den Mut, jetzt, da Merstkas Herz bei der Sache offenbar nicht beteiligt war, diesem noch etwas anderes mitzuteilen.
Das Zimmermädchen Jeanette, die, obwohl geborene Französin, dem stattlichen Berliner stets verliebte Augen machte, hatte ihm vorgestern zu erzählen gewußt, daß Miß Busterleys Haarfarbe fraglos nicht echt sei, da sie – Jeanette – eines Morgens ein Porzellanschälchen mit einem noch feuchten Rest eines Farbstoffes gefunden habe, der ausgesprochen braun gewesen sei. Das Zimmermädchen hatte dann das Schälchen bei Seite geschafft und die blonde, englische Kollegin Brigitte aus dem ersten Stock bewogen, einmal spaßeshalber an einer Strähne eine Probe mit dem Färbemittel zu machen. Man müsse doch sehen, ob wirklich der seltsame braunrote Ton dabei herauskomme. –
Nun auf diese Weise war festgestellt worden, daß das Zeug in dem Schälchen kein Haarfärbemittel sein könne, da die Haare die Farbe gar nicht annahmen, daß es aber die Haut der Fingerspitzen Brigittes, die etwas unvorsichtig damit umgegangen war, zum Entsetzen des Zimmermädchens so echt und unverwaschbar braun gefärbt hatte, daß nur Bimsstein und andauerndes Reiben die Flecke etwas entfernt hatten.
Dies erzählte Winter nun dem Doktor, indem er hinzufügte:
„Natürlich ist’s trotzdem ein Haarfärbemittel, Herr Stabsarzt. Die Mädchen haben’s nur falsch gemacht. Sicher muß das Haar erst noch mit einer anderen Lösung gewaschen werden.“
Merstka waren diese kosmetischen Künste Astrids ziemlich gleichgültig. Wie viele Damen färbten sich heutzutage nicht ihren Kopfschmuck! –
Er ahnte den wahren Zusammenhang der Dinge nicht. Wie sollte er auch? Er wußte nichts von Schi-Sao, der der weißen Mem-Sahib im Dschungel einen großen Vorrat der Kiri-Kissa-Wurzeln hatte suchen müssen. –
Als Winter gegangen, überdachte Merstka nochmals alle Verdachtsmomente, die gegen die beiden Busterleys sprachen: Sie wohnten auf der anderen Seite neben Rickmer; sie waren aus Indien nur einen Tag später als der Ingenieur hier eingetroffen; von ihrem Balkon konnte man spielend leicht auf den Rickmers und von da in dessen Wohnzimmer gelangen, da dieser die Balkontüren nachts aufließ, ebenso die Tür nach dem Schlafzimmer nur anzulehnen pflegte; die Übelkeit am Morgen deutete mit größter Bestimmtheit darauf hin, daß der Ingenieur, der ohnehin durch das Pulver einen sehr festen Schlaf gehabt haben mußte, mit Hilfe von Chloroform noch stärker betäubt worden war; Rickmer hatte gemerkt, daß man seine Sachen heimlich durchstöbert habe; dies konnte nur durch dieselbe Person geschehen sein, die den Ingenieur auch betäubt hatte; und schließlich – über Astrid Busterley schwebte ein gewisses mystisches Dunkel; sie war offenbar Deutsche und nicht des langen Engländers Schwester!
All dies genügte Merstka vorläufig. Weitere Beweise gegen das Paar wollte er schon herbeischaffen. Mehr noch, er wollte gern auch ein paar Nächte opfern, um auf seinem Balkon sich auf die Lauer zu legen. Vielleicht faßte er James Busterley ab, wenn dieser heimlich den Zimmern Rickmers einen Besuch abstattete.
Jedenfalls aber durfte der Ingenieur von alledem vorläufig nichts erfahren. Bei seinem halb zerrütteten Nervensystem mußten alle Aufregungen von ihm fern gehalten werden. –
Der Stabsarzt hatte sich mit Rickmer unten im Lesezimmer des Hotels verabredet. Sie wollten zusammen nach Kairo hinein, wo heute irgend ein großer mohammedanischer Feiertag festlich begangen wurde.
Als Merstka das Lesezimmer betrat, sah er in einer Ecke Busterley mit dem Ingenieur zusammen sitzen. Er begrüßte den Engländer ganz harmlos, und dieser erklärte dann, auch er und seine Schwester hätten die Absicht, einen Ausflug nach Kairo zu machen. –
Busterley fing die Sache ganz geschickt an, und schließlich kam eine gemeinsame Partie zu vieren zustande, auf die die inzwischen gleichfalls erschienene Astrid sich angeblich sehr freute.
„James ist ein so langweiliges Gesell,“ sagte sie in ihrem zurechtgemachten Deutsch. „Mit ein Bruder reisen, dazu gehört einer sehr großer Geduld.“
Merstka lächelte. –
Gesell – das war auch so ein Wort, das keine im Anfangsstadium des Deutschen begriffene Miß kennen durfte! –
Am Abend desselben Tages.
Man war soeben aus Kairo heimgekehrt, und der Doktor und Rickmer rauchten noch im Park des Hotels auf einer einsamen Bank eine Zigarre.
Der Ingenieur war jetzt ebenso einsilbig, wie er während der Stunden in Kairo gesprächig und angeregt gewesen.
„Was sagst du zu Miß Busterley?“ fragte Merstka nun.
Die beiden Bekannten von der „Hamburg“ her hatten heute in Kairo Brüderschaft getrunken.
„Ein Prachtweib! Da steckt Rasse drin!“ meinte Rickmer begeistert.
„Sie scheint an dir Gefallen zu finden,“ scherzte der Stabsarzt. „Ich war für sie so ziemlich Luft.“
„Ich bitte dich, wir haben uns über Indien unterhalten. Daher unser eifriges Gespräch. Busterleys haben dort große Jagdausflüge gemacht. Miß Astrid muß eine vorzügliche Schützin sein.“
Merstka rauchte ein paar Züge, dachte: „Ich wette, sie will Rickmer durch ihre Reize umgarnen,“ und sagte dann laut:
„Übermorgen treffen nun auch die Meinen ein. Ich freue mich unendlich auf das Wiedersehen. Über zwei Jahre war ich in der Fremde – eine lange Zeit für einen, der an Mutter und Schwester so hängt wie ich.“
Rickmer schaute trübe vor sich hin.
„Du Glücklicher!“ meinte er leise. „Ich neide dir dieses Wiedersehen nicht. Nur – es erinnert mich an Gerda. Auch ich habe meine Schwester sehr geliebt. Ich kann mir auch gar nicht denken, daß sie wirklich tot sein soll. Ja, diese Hoffnung lebt in mir sogar wie etwas, das ich gar nicht mehr anzuzweifeln brauche. Es ist stets so, als raune mir eine Stimme zu: „Sie kehrt wieder!“ Und diese Stimme wird nicht eher schweigen, als bis ich vor Gerdas Leiche stehe. Ich betrauere sie nicht wie eine Verblichene. Wäre es anders, wie hätte ich dann wohl heute beinahe ebenso vergnügt sein können wie ihr drei?! Nein, sie lebt, und –“
Die energische Stimme des nüchternen, zielbewußten Ingenieurs hatte immer mehr etwas Unwirkliches, Seherhaftes angenommen. Seine innere Erregung zeigte sich in der leidenschaftlichen Hast, mit der er die Worte hervorstieß. Plötzlich stockte er dann, brach mitten im Satz ab, ergriff mit rauhem Druck Merstkas Arm, flüsterte ganz heiser: „Still – still!“ und lauschte mit vorgestrecktem Kopf in den Garten hinaus.
Ringsum war es ganz ruhig. Nur von der Hinterterrasse des Hotels drang zuweilen ein verklingendes Lachen und undeutliches Stimmengewirr bis in die Tiefen des Parkes hinein.
Jetzt hörte auch der Stabsarzt etwas Besonderes, halblauten Gesang, ein fremdländisches Lied, schwermütig, eigenartig. –
Eine Frauenstimme war’s dort hinter jener Hecke, wo die Sportplätze lagen.
Wieder flüsterte Rickmer heiser, als sei ihm die Kehle zugeschnürt:
„Das Lied – das Lied–und die Stimme! Ist mein Geist wirklich verwirrt, oder –“
Abermals lauschte der. Dann eilte er plötzlich mit langen Sätzen auf die Hecke zu.
Von dort her jetzt ein halb unterdrückter Schrei. Der Gesang war verstummt.
Es schien, als hätte eine unsichtbare Faust den Ingenieur plötzlich zurückgerissen. Wie gebannt stand er, mit weit vorgestreckten Armen.
„Gerda – Gerda!“ Sein gellender Ruf nach der Schwester scheuchte den Doktor auf. Mit ein paar Sprüngen war er neben dem Freunde, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte bittend:
„Komm’ zu dir, Rickmer! Du bist krank, du mußt –“
Rickmer jagte schon weiter, bog um die Hecke. –
Nichts – nichts. –
Kein Mensch befand sich hier.
Da fuhr er sich über die Stirn, wandte sich dem Stabsarzt zu, der ihm nachgeeilt war.
„Merstka, es war die Stimme meiner Schwester! Es war ein Lied, das Gerda von ihrer Hindudienerin gelernt hatte, ein indisches Liebeslied. Mein Gott, mein Gott – was bedeutet das alles!“
Er sprach schnell wie im Fieber. Die Worte überstürzten sich förmlich.
Der Doktor hatte sehr wohl die beiden Frauengestalten erspäht, die gerade hinter einer Biegung des Gartenweges nach dem Hotel zu verschwanden, als er hinter der Hecke hervorkam.
Rickmer hatte offenbar nichts bemerkt.
„Bitte – leg’ dich zu Bett,“ sagte Merstka ernst. „Ich leiste dir noch Gesellschaft. Dein Hirn ist überreizt. Du brauchst Ruhe!“
Wieder strich der Ingenieur sich geistesabwesend mit der Hand über die Stirn. Und wie im Traum flüsterte er tonlos:
„Es war Gerdas Stimme – Gerdas Stimme!“ Dann packte ihn offenbar ein jähes Angstgefühl.
„Merstka, ich weiß ja, – das ist unmöglich, ist eine Sinnestäuschung,“ sagte er mit halb irren Augen. „Aber – das Lied war dasselbe, – bestimmt, ganz bestimmt. Steht es wirklich mit mir so schlecht, höre ich bereits Stimmen, die mich narren?!“
Der Doktor zog den Freund mit sich fort.
„Gesungen wurde. Da kannst du dich beruhigen. Und vielleicht war’s ein ähnliches Lied. Einzelne Worte konnte man ja nicht verstehen.“ Er zögerte weiter zu sprechen, überlegte. – Nein, es war doch besser, Rickmer nichts vorzuenthalten.
„Ich habe dort zwei Frauen verschwinden sehen,“ fuhr er fort. „Eine davon ist sicher die Sängerin gewesen. Es bleibt also nur die eine Täuschung übrig, daß du die Stimme deiner Schwester zu hören glaubtest.“
Rickmer bewegte den Kopf hin und her, als suche er in seiner Erinnerung irgend etwas.
„Die Stimme – die Stimme ist ja nicht das Wichtigste, Merstka,“ sagte er langsam. „Der Schrei war’s – dieser Angstruf! Er drang an mein Ohr, und es war, als erhielte ich einen Keulenschlag. – Ah – nun besinne ich mich! Einmal in einer Schlucht der Matawara-Berge hätte eine kleine Giftschlange Gerda beinahe gebissen. Da schrie sie auch entsetzt auf. Es war heute hier soeben derselbe Schrei – genau derselbe!“
„Nur die Schlange fehlte, die die beiden Frauen verscheuchte,“ meinte der Doktor.
Rickmer hatte schon einen neuen Gedanken.
„Weshalb flohen sie überhaupt so eilig – weshalb?“ fragte er nachgrübelnd.
Sie hatten inzwischen die breite, zur Gartenterrasse emporführende Treppe erreicht. Auf der obersten Stufe stand Astrid. Die elektrischen Bogenlampen der Terrasse hatte sie im Rücken. Ihr Gesicht lag daher im Schatten.
„Ah, also Sie im Garten waren, meine Herren,“ sagte sie in ihrem künstlich verunstaltetem Deutsch. „Ich Sie habe gesucht. Es soll werden getanzt –“
Sie lachte leise, melodisch.
„Sie mir haben versprochen einen Walzer, Herr Rickmer. Sie das nicht dürfen vergessen!“
Rickmer schaute etwas verlegen auf den Stabsarzt. Der erwiderte denn auch statt seiner:
„Unser Freund hat einen Fieberrückfall bekommen. Tanzen – einfach ausgeschlossen. Ins Bett gehört er. – Gute Nacht, meine Gnädige –“
Astrid reichte dem Ingenieur die Hand.
„Werden Sie wieder gesund recht schnell,“ meinte sie und drückte leise seine kalten Finger, indem sie ihm voll ins Gesicht sah. –
Rickmer bekam wieder ein Pulver und schlief auch bald ein. Der Doktor aber machte sich auf dem Diwan im Wohnzimmer ein Lager zurecht. Er wollte wach bleiben, bis es hell wurde.
Während gegen Abend nach der Hitze des Tages eine angenehme Abkühlung eingetreten war, erfolgte nun gegen elf Uhr zusammen mit einer Drehung des Windes nach Westen einer jener Witterungsumschläge, wie sie im Niltale nur zu häufig sind. Von der Wüste her kam ein trockener, heißer Wind, der dem wachsamen Doktor bald den Schweiß aus allen Poren trieb. Schließlich hielt er es auf dem Diwan nicht mehr aus. Es war Mitternacht, als er auf den Balkon hinaustrat.
Gerade zur rechten Zeit.
Er hatte sich über das Geländer gebeugt. Dort unten fiel aus einem Seitenausgang des Hotels ein breiter Lichtstrom auf die stille Straße und beleuchtete einen der Hotelwagen, in dem James Busterley und die Hindudienerin bereits Platz genommen hatten.
Astrid stand neben dem Wagen, der sich gleich darauf in Bewegung setzte.
Sie winkte Busterley mit der Hand nach und rief: „Auf Wiedersehen in London, James, – auf Wiedersehen!“
Merstkas erster Gedanke war: „James Busterley hat die Zeichnungen nun doch gestohlen und flieht damit.“
Im Augenblick reimte er sich alles Mögliche zusammen. Konnte nicht heute, während man in Kairo gewesen, diese Hindudienerin die Gelegenheit benutzt haben, um auf Geheiß ihrer Herrin auch einmal am Tage Rickmers Zimmer zu durchsuchen?“
Der Doktor wußte, daß früh morgens ein Zug nach Port Said ging, von wo Busterley Reiseanschluß an alle größeren Dampferlinien und nach allen Weltgegenden hatte.
Die Unruhe, ob er mit seiner Vermutung recht haben könne, steigerte sich in wenigen Sekunden zu ernstester Besorgnis. Er mußte sich Gewißheit verschaffen. Jede Unterlassung konnte sich hier bitter rächen.
So weckte er denn den Freund. Das war nicht leicht. Das Pulver wirkte noch.
Rickmer mußte erst seine Schlaftrunkenheit überwinden, ehe er begriff, was Merstka eigentlich von ihm wollte.
„Die Skizzen meinst du? – Ah – nun verstehe ich erst!“ Er lächelte im Gefühl der Sicherheit. „Busterley kann sie gar nicht gestohlen haben, wirklich nicht. Als wir vorhin mein Wohnzimmer betraten, habe ich sie noch gesehen.“
Der Stabsarzt schaute Rickmer fragend an.
„Gesehen? Wo denn? – Dann hätte ich sie doch auch zu Gesicht bekommen müssen. Wir kamen zusammen in diese beiden Räume, und du hast mich nicht eine halbe Minute allein gelassen.“
Rickmer saß aufrecht in seinem Bett unter dem engmaschigen Moskitonetz und lächelte wieder.
„Hör’ mal, Doktor, du hast mir gegenüber, wie jetzt herausgekommen ist, so etwas Theater gespielt. Du bist von vornherein offenbar überzeugt gewesen, daß die nächtlichen Besuche doch keine bloße Einbildung von mir gewesen sind, mehr noch, du hast die beiden Busterleys in Verdacht gehabt, sie könnten mir mit Chloroform zu Leibe gegangen sein. Wie wärest du anders wohl lediglich auf Grund der Abreise des Master James so schnell auf den Gedanken gekommen, er könnte meine Zeichnungen mitgenommen haben!“
Merstka nickte. Leugnen hatte jetzt keinen Zweck mehr.
„Ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen,“ meinte er. „Willst du nicht aber mal nachsehen, ob die Skizzen auch wirklich da sind?“
„Sofort, wenn ich dir nun auch den Rest meiner Geheimnisse anvertraut haben werde. – Es ist beides bei mir, sowohl die Originalzeichnungen als auch die Pausen davon. So war es nämlich mit meinen Auftraggebern, den Geldleuten von Matawara-Syndikat abgemacht – persönliche Abgabe der Skizzen in Berlin an die betreffenden Herren, da Postbeförderung zu gefährlich schien und es sich um die Früchte einer Arbeit von dreizehn Monaten handelte. – Die Frage, wie und wo ich die Zeichnungen hier verbergen sollte, machte mir zunächst einiges Kopfzerbrechen. Gewiß, ich hätte sie in den Stahlschrank des Hotels gegen die übliche Quittung einschließen lassen können. Doch selbst dieser Ausweg erschien mir zu unsicher. Auch Stahltresors sind schon erbrochen worden. Wie du dich besinnst, kaufte ich hier gleich nach unserer Ankunft zwei Mappen mit Ansichten von Kairo, den Pyramiden und so weiter. Die Mappen liegen in meinem Wohnzimmer auf dem Tisch, – ganz offen. Und ganz unten in diesen Mappen brachte ich die Zeichnungen nebst ein paar Ansichtskarten und harmlosen Briefen unter. Da sucht niemand danach. Und Kellner und Zimmermädchen kennen diese Mappen viel zu genau, um sich die Mühe zu machen, die einzelnen Ansichtskartons sich anzusehen. Kurz – die Zeichnungen lagen eigentlich die ganze Zeit über so recht griffbereit für jeden da. Aber gerade das war ihr bester Schutz.“
Er schob jetzt die Gazeschleier des Netzes beiseite, schlüpfte aus dem Bett und ging, gefolgt von Merstka, ins Nebenzimmer, wo er nacheinander die Mappen aufschlug, die Ansichten etwas anhob und die darunter geschobenen Skizzen dem Doktor mit einem „Bitte!“ zeigte.
Merstka konnte sich auf diese Weise selbst davon überzeugen, wie gut die wertvollen Zeichnungen, die aus Blättern verschiedener Größe bestanden, dort aufgehoben waren. Auch ihm selbst war es noch nie eingefallen, die Mappen durchzublättern. Es handelte sich eben um Dutzendware, wie sie sich jeder Tourist kauft.
Rickmer kroch wieder in sein Bett unter das Netz, und der Doktor setzte sich auf dem Stuhl am Fußende des Bettes.
„Die arme Astrid!“ meinte der Ingenieur und gähnte. „Wie bist du gerade auf den Argwohn gegen sie und den harmlosen James gekommen?“
Merstka berichtete, was er alles an Verdachtsmomenten zusammengetragen hatte.
Rickmer zuckte die Achseln.
„Scheinbeweise all das! Davon bin ich überzeugt! – Nein – hier kommen andere Leute in Betracht. Oder – denkst du noch immer an Astrid Busterley und ihren Bruder als die freundlichen Chloroform-Anwender?!“
Merstka antwortete nicht gleich.
Da ereiferte sich Rickmer geradezu.
„Der Verdacht ist völlig haltlos! Die schöne Astrid als Genossin eines Verbrechers oder selbst als Diebin ist undenkbar! – Ich glaube sie jetzt zu kennen. Nicht umsonst habe ich mich mit ihr heute, oder besser gestern, denn es ist ein Uhr morgens geworden, stundenlang unterhalten. Sie besitzt ein sehr gediegenes Wissen. Und in Indien ist sie mit ihrem Bruder lediglich zur Tigerjagd gewesen. In Nagpur überhaupt nicht. Sie hat mir die Orte aufgezählt, die sie besucht haben.“
Abermals gähnte er. Und auch Merstka wurde müde, sagte dem Freunde gute Nacht und legte sich wieder im Wohnzimmer auf den Diwan.
Die Nacht verging. Nichts ereignete sich!
Am nächsten Vormittag erzählte Astrid dem Stabsarzt im Lesesaal, wo sie ihn zufällig traf und sich nach Rickmers Befinden erkundigte, daß ihr Bruder bereits abgereist sei.
„James ist ein schreckliches Mann. Mit einem Mal er denkt an sein Geschäft in London, da er in Zeitung hat von neue Preise für kalifornischen Weizen gelesen. Und er davonfährt, ohne zu fragen mich. Die arme Manikela mit mußte. Sie krank ist, sehr. Sie muß zum Arzt in London, zu große Professor, wegen ihr Kopf.“ –
Am Nachmittag durfte dann auch Rickmer aufstehen, der sich heute nach der gut durchschlafenen Nacht völlig frisch fühlte.
Der Stabsarzt war nach Kairo gefahren, um Mutter und Schwester am nächsten Morgen dort zu empfangen.
Astrid fing Rickmer ab, als er gerade in den Park wollte. Sie hatte mit einem Buch auf der Terrasse gesessen. – So kam es, daß sie fast bis Mitternacht allein zusammen blieben. Und Astrid war es, die einen Ritt nach den Pyramiden vorschlug, um von dort aus den Sonnenuntergang zu bewundern.
Pferde besorgte das Hotel im Handumdrehen. Und ebenso schnell hatte Astrid sich für den Ritt passend angekleidet.
Rickmer hatte seine Freude an dieser tadellosen Reiterin, die so sicher und graziös im Sattel saß.
Es wurden für ihn genußreiche Stunden. Er war recht empfänglich für Frauenschönheit. Während seiner Expedition nach den Matawara-Bergen hatte das große Ziel, das ihm stets vor Augen schwebte, all seine Gedanken in Anspruch genommen. Jetzt, wo er den Erfolg gesichert wußte, trat auch der Mann mit den heißen Sinnen wieder bei ihm in seine Rechte.
Gerade Astrid war für einen Menschen, der fast zwei Jahre nur von Erzadern und Edelmetallen geträumt hatte, eine sehr gefährliche Begleiterin.
Nicht, daß sie irgend welche Künste der Koketterie bei Rickmer angewandt hätte. Nein, dazu war sie viel zu schlau. Sie spielte sehr geschickt die zwar etwas frei denkende, aber sonst ganz unzugängliche junge Dame von bester Erziehung.
Rickmer war entzückt von ihr. Ihr vielseitiges Wissen, ihr scharfer Verstand, ihre Tatkraft und bei alledem doch auch der gut geschauspielerte holde Glanz echter Weiblichkeit begeisterten ihn geradezu.
Der prachtvolle, farbenreiche Sonnenuntergang gab Astrid Gelegenheit, auch ein wenig die poetisch angehauchte Naturschwärmerin zu spielen. Auf dem Rückwege wieder, den sie im Lichte des eben aufgegangenen Mondes zurücklegten, sprach sie von ihrem Elternhaus in London, als ob das, was sie erzählte, tatsächlich Jugenderinnerungen von ihr seien. Und es war doch alles erfunden – alles!
Rickmer glaubte einen tief angelegten Charakter vor sich zu haben. Und er wollte gleich morgen dem Doktor eine lange Rede über alle Vorzüge Astrid Busterleys halten, damit Merstka von dem törichten Verdacht ganz geheilt würde.
In des Ingenieurs Leben war es vielleicht das erste Mal, daß ihn seine Menschenkenntnis völlig im Stiche ließ. Freilich – hier sprachen aber auch besondere Umstände mit, die seine Kurzsichtigkeit entschuldbar machten. Astrid war eben keine gewöhnliche Hochstaplerin, keine Dutzendware von verbrecherischem Charakter. All ihre Fehler – und eigentlich hatte sie nicht eine einzige gute Seite! – gingen ins Große und dabei Hand in Hand mit einer ungewöhnlichen Intelligenz und rücksichtslosen Energie.
Und Ernst Rickmer selbst wieder war in seiner sonst so kühlen, abwägenden Menschenbeurteilung getrübt durch den nach monatelanger Einsamkeit in den Dschungeln und Gebirgseinöden jäh erwachten Hunger nach Frauenliebe, wobei noch hinzukam, daß sein körperlicher Zustand, hauptsächlich die gesteigerte Reizbarkeit seiner Nerven, ihm den klaren Blick noch mehr beeinträchtigte.
So gingen diese beiden Menschen an diesem Abend denn auseinander, nachdem alle Vorbedingungen dafür erfüllt waren, um aus dieser scheinbaren Übereinstimmung zweier starker Charaktere ein festes Band fürs Leben zu schmieden.
Rickmer saß noch lange in der Stille der Nacht auf seinem Balkon und überlegte dieses und jenes, zog sozusagen das Fazit dieses Tages.
Jenseits der Holzwand, die seinen Balkon von dem Astrid Busterleys trennte, hörte er das junge, schöne Weib unruhig, ruhelos hin und her gehen. Diese leichten Schritte zerrten geradezu an seinen Nervensträngen. Seine Gedanken umwoben ganz eng ihre prachtvolle, geschmeidige Gestalt. Er sah Astrid vor sich mit diesen frischen, lockenden Lippen, diesen ausdrucksvollen Augen, diesen abgerundeten Bewegungen, die geradezu etwas Aufreizendes hatten.
Die Sehnsucht wurde immer mächtiger in ihm. Er malte sich aus, welch vortreffliche Lebensgefährtin Astrid sein müßte, – gerade für ihn, der sich jetzt am Anfang einer wahrscheinlich schnell aufsteigenden Laufbahn befand.
Immerhin dachte er aber auch an das, was Merstka an Verdachtsgründen gegen James Busterleys Schwester geäußert hatte, besonders daran, daß der Doktor die Vermutung ausgesprochen, die beiden könnten wohl kaum in Wirklichkeit Geschwister sein, da Astrid ohne Zweifel das Englische nicht fließend genug beherrschte, um damit als geborene Engländern gelten zu können. Nun – auch diese Zweifel hatte ja der heutige Abend so gut wie völlig zerstreut. Astrid hatte von ihrer Jugend erzählt, hatte erwähnt, daß sie mit zehn Jahren bereits zu deutschen Verwandten nach Hannover gekommen und dort weitererzogen worden war, wodurch es sich erklärte, weshalb sie beide Sprachen nicht wie eine Muttersprache beherrschte.
Jedenfalls war Rickmer überzeugt, all das, was Astrid ihm aus ihrer Vergangenheit berichtet hatte, müsse die volle Wahrheit sein. Er konnte sich eben nicht denken, daß eine verbrecherische Phantasie derartige Einzelheiten sich so vollständig aus der Luft greifen könnte, wie es hier geschehen, er kannte nicht die unglaubliche Verlogenheit und kalte Berechnung dieses Weibes, das mit so viel Erfolg ihm gegenüber die Tochter aus guter Familie und die vielseitig gebildete Weltdame spielte.
Und Astrid Schaper wieder? – Deren Herz schwoll im Gefühl eines wohlbegründeten Triumphes. Sie war heute ihrem Ziele so nahe gekommen, wie sie dies so schnell zu erreichen nie gehofft hatte. Absichtlich blieb sie noch auf ihrem Balkon, ging dort auf und ab. Rickmer sollte durch das Geräusch ihrer Schritte weiter an sie erinnert sein, das einmal entfachte Feuer mußte in Brand gehalten werden.
Als sie sich dann nach einer guten halben Stunde in den Salon zurückzog, setzte sie sich dort an den Schreibtisch und schrieb sich alles das auf, was sie heute Ernst Rickmer über ihre Jugend erzählt hatte, – alles, selbst die kleinsten Kleinigkeiten. Ihr gutes Gedächtnis kam ihr dabei zu Hilfe. So sorgte sie dafür, daß sie sich später nicht etwa einmal in Widersprüche verwickelte, so konnte sie auch James Busterley genau unterrichten, damit auch dieser nicht etwa später einmal aus Ungeschick und Unkenntnis das feine Netz zerriß, das sie um diesen Mann gezogen hatte, der für sie lediglich der Gegenstand einer verbrecherischen Spekulation war.
Am nächsten Vormittag. – Es regnete in Strömen. Der Wind hatte nach Norden gedreht und brachte vom Mittelländischen Meere große Feuchtigkeitsmengen mit.
Astrid und Rickmer saßen auf der glasüberdachten Parkterrasse des Hotels abseits von den übrigen Gästen, die hier gleichfalls ihr Frühstück einnahmen.
Die angeregte Unterhaltung der beiden erlitt dann zu Astrids Ärger eine Unterbrechung durch das Erscheinen eines neuen Hotelgastes, der am Abend vorher erst eingetroffen war.
Rickmer zuckte leicht zusammen, als Baron von der Mühlen die Terrasse betrat und beim Suchen nach einem freien Platz den Ingenieur bemerkte, stutzte, ihm dann mit der Hand winkte und eilig auf ihn zukam.
Rickmer erhob sich. Doch der Baron ließ sich dadurch nicht beirren. Er streckte dem Bekannten die Hand entgegen, während sein vornehmes Aristokratengesicht förmlich strahlte.
„Lieber Herr Rickmer – endlich finde ich Sie – endlich! Nein, wie ich mich freue! – Aber bitte wollen Sie mich nicht der Dame vorstellen?“
„Fräulein Astrid Busterley – Oberleutnant Baron von der Mühlen,“ sagte Rickmer etwas verwirrt. Die Begrüßungsworte des Barons hatten ihn in Erstaunen gesetzt. –
„Endlich finde ich Sie!“ hatte er gesagt. – Also hatte Mühlen ihn gesucht. Und das war nach dem, was der Vergangenheit angehörte, recht erstaunlich.
Der Baron lachte heiter auf, nachdem er Astrid seine Verbeugung gemacht hatte.
„Herr Rickmer, den Oberleutnant lassen Sie nur getrost weg,“ sagte er. „Ich bin jetzt nur noch Majoratsbesitzer, nebenbei allerdings Oberleutnant der Reserve meines alten Regiments. Ich habe den Dienst quittiert. Doch – darüber sprechen wir noch eingehender. – Dürfte ich fragen, wie es Ihrem Fräulein Schwester geht?“
Über Rickmers Gesicht lief ein Schatten hin.
„Herr Baron,“ erwiderte er leise, „ich habe in Indien das Liebste verloren, was ich besaß. Gerda ist dort spurlos verschwunden –“
Mühlen stand ein paar Sekunden unbewegt. Sein Gesicht hatte jede Spur von Farbe verloren. Und mühsam preßte er dann hervor:
„Unmöglich – unmöglich! – Verschwunden? In Indien? – Also dort waren Sie beide, dort? – Mein Gott – Sie müssen mir sofort Näheres erzählen. Bin ich deshalb hier nach Kairo geeilt, um diese Schreckensnachricht zu erhalten?!“
Dann wandte er sich an Astrid. In seinen Blick trat etwas Forschendes, Grüblerisches, als er ihre Erscheinung jetzt genauer überflog.
„Gnädiges Fräulein müssen entschuldigen, wenn ich hier etwas aufdringlich bin. Aber Herr Rickmer und ich sind alte Bekannte von Buckow her. Und das Wohl und Wehe Fräulein Gerdas liegt mir so am Herzen, als sei sie meine eigene Schwester, – vielleicht mehr noch! Warum soll ich das nicht eingestehen? – Im übrigen, Gnädigste, mir ist, als müßten wir uns schon irgendwo begegnet sein –“
„Ich wüßte nicht. – Sie irren bestimmt sich, Herr Baron. Ich habe eine sehr gutes Gedächtnis für die verschiedene Persons, denen ich bin bekannt geworden –“ Sie erhob sich. „Ich nicht werde stören. Auf Wiedersehen, meine Herren –“
Mühlen wollte sie zurückhalten, entschuldigte sich sehr, daß er die Gnädige vertreibe. Aber sie ging trotzdem. Und im Grunde waren alle drei hiermit zufrieden, – Astrid, weil das Auftauchen dieses jungen vornehmen Herrn sie stark beunruhigte, zumal sie sich sehr wohl besann, ihn schon einmal irgendwo kennen gelernt zu haben, und die beiden Männer, weil sie Verlangen nach rückhaltloser Aussprache hatten.
Der Baron nahm Rickmer gegenüber an dem kleinen Tische Platz, bestellte Frühstück und wandte sich dann, seine angstvolle Spannung leidlich verbergend, an Gerdas Bruder mit der Bitte, ihm Näheres über dieses Unheil zu erzählen, von dem sie beide wohl gleich stark betroffen seien.
„Ich will ganz ehrlich sein, Herr Rickmer,“ fügte Mühlen in warmen Eifer hinzu. „Ich fürchte, Sie haben nie recht daran geglaubt, daß ich Ihre Schwester aufrichtig geliebt habe. Bedenken Sie, in welch schwieriger Lage ich mich befand. Ich war der zweitälteste Sohn. Nach den Familienbestimmungen mußte mein Bruder Horst das Majorat erben. Für mich blieb nur eine Abfindung. Was sollte ich damals also tun?! Ich war Offizier in einem unserer feudalsten Kavallerieregimenter. – Offizier, weiter nichts! Meine Kenntnisse genügten gerade für diesen Beruf. Als ich den Meinen mitteilte, ich wollte eine Bürgerliche heiraten, drohte mir der Vater mit Enterbung. Ich hätte dann nicht einmal die Abfindung erhalten. Hinzu kam, daß ich damals vor drei Jahren erst sechsundzwanzig war, noch nicht reif und gefestigt genug, um den Mut zu finden, mir allein eine Zukunft aufzubauen. Daher gab ich Gerda frei. Die Trennung ist mir unendlich schwer gefallen! – Dann kam der Tag – inzwischen waren Sie mit Gerda unbekannt wohin verreist, – an dem in einer Nacht sowohl mein Vater als auch Horst im Kampf mit einer Wildererbande erschossen wurden. Nun, wo das Majorat mein war, habe ich sofort Nachforschungen nach Ihrem Verbleib anstellen lassen. Nur bis Suez vermochte ich jedoch Ihre Spur zu verfolgen. Sie scheinen eben absichtlich Ihre Fährte hinter sich verwischt zu haben.“
Rickmer nickte. „Wir reisten von Suez unter anderem Namen weiter – als Ehepaar. Ich hatte meine Gründe dafür.“
„Sehen Sie, deshalb ist es auch von dem von mir beauftragten Detektivbureau nicht geglückt, Sie aufzufinden. Ich ließ in meinen Bemühungen jedoch nicht nach. Und vor einer Woche erhielt ich dann endlich die Mitteilung, daß ein Ingenieur Ernst Rickmer hier im „Pyramiden-Hotel“ abgestiegen sei. Da bin ich unverzüglich hergeeilt. – Brauchen Sie noch mehr Beweise, daß ich Gerda nicht vergessen habe?“
Rickmer reichte ihm die Hand. Und durch diesen festen Händedruck schlossen diese beiden Männer eine herzliche Freundschaft, die in der Hauptsache auf der gemeinsamen Liebe zu Gerda aufgebaut war.
Dann begann der Ingenieur leise zu erzählen. Vor dem Baron hatte er jetzt keine Geheimnisse mehr.
Mühlen lauschte atemlos. Sein Gesichtsausdruck wechselte beständig. Man merkte ihm an, wie sehr er mit ganzer Seele die Geschehnisse miterlebte.
Als Rickmer nichts mehr hinzuzufügen wußte – den von Doktor Merstka gegen die Geschwister Busterley geäußerten Verdacht zu erwähnen, hielt er für überflüssig, – sagte der Baron, indem er sich über den Tisch beugte:
„Ich werde Gerda suchen! Ich gehe nach Indien. Aber nicht allein. Ein Mann wird mich begleiten, der in derlei Dingen mehr Erfahrung besitzt als wir beide. Auf Geld kommt es nicht an. Ich muß feststellen, was aus Gerda geworden ist, und wenn ich Jahre in Indien bleiben sollte.“
Rickmer schüttelte traurig den Kopf.
„Ich fürchte, Sie werden eine Enttäuschung erleben, lieber Mühlen. Bedenken Sie, daß ich damals mit der Polizeitruppe auch zwei englische Geheimpolizisten nach dem Dschungeltempel schickte. Es war alles umsonst – alles! Trotzdem, auch in mir lebt noch immer eine Hoffnung, daß meine Schwester uns zurückgegeben wird.“
Der Baron erhob sich.
„Begleiten Sie mich, Rickmer. Ich will sofort eine Depesche nach Berlin aufgeben.“
Auf der Straße fuhr Mühlen dann fort:
„Englische Geheimpolizisten mögen ganz tüchtig sein. Mein Mann, lieber Rickmer, wiegt aber hundert von ihnen auf. Haben Sie schon mal den Namen Bernitzki gehört?“
„Nein, bedauere.“
„Nun, Bernitzki nennt sich sehr bescheiden Versicherungsagent. Das Geschäft betreibt der aber nur so nebenbei. In der Hauptsache ist er Privatdetektiv. – Ein seltsamer Mensch, – Sie werden ihn ja selbst kennen lernen. Ich bestelle ihn telegraphisch hierher. Er war einst mein Hauslehrer. Damals mag er etwa dreißig Jahre alt gewesen sein. Meiner Mutter wurden Brillanten gestohlen, ein Familienschmuck. August Bernitzki schaffte ihn wieder herbei, ohne daß wir die Polizei zu Rate zu ziehen brauchten. Dieser Diebstahl wurde der erste Anstoß, daß er ganz umsattelte. Er wurde Agent und Detektiv, und es geht ihm pekuniär glänzend.“
Als die Depesche abgesandt war, kehrten die beiden ins Hotel zurück. Hier traf man in der Vorhalle mit Merstkas zusammen. Des Doktors Mutter und Schwester waren glücklich angekommen.
Nachdem die Vorstellung vorüber war, begaben die fünf Landsleute sich auf die Terrasse. Merstka war bester Laune. Er hatte Hildegard bereits selbst noch gründlich untersucht und festgestellt, daß ihr Gesundheitszustand zu ernsteren Besorgnissen nicht die geringste Veranlassung gab. Acht Wochen in der gesunden Luft des Wüstenlandes sollten sie völlig wiederherstellen.
Hildegard sah ihrer Mutter, einer stattlichen Dame mit noch immer anziehendem Gesicht, recht ähnlich. Während die Frau verwittwete Regierungsrat jedoch recht lebhaft war und bald die Unterhaltung an dem deutschen Tische völlig beherrschte, wirkte Hilde mehr durch ihre vornehme Zurückhaltung. Sie sprach wenig, aber was sie sagte, hatte stets Gehalt. In jedem Satz offenbarte sich eine reiche Seele, ein vielseitiges Innenleben. Sie war nicht eigentlich schön zu nennen. Ihr Gesicht zog jedoch trotzdem manchen Blick auf sich. Es lag Rasse und Eigenart in ihren Zügen, die durch die ernsten, dunklen Augen wunderbar belebt wurden. Diese Augen waren fast zu groß für das zarte Gesicht. Und der Stabsarzt hatte als Junge die Schwester mehr als einmal mit den „runden, treuen Dackelaugen“ geneckt.
Hildegard hatte bereits von ihrem Bruder in großen Umrissen erfahren, auf welch seltsame, rätselhafte Weise Rickmer die Schwester verloren hatte. Unwillkürlich zeigte sie daher sofort für den Ingenieur eine lebhaftere Teilnahme, als dies sonst ihrer zurückhaltenden Natur entsprach.
Die fünf Deutschen ließen sich nachher auch das Mittagessen an einem bereitgestellten Tische auftragen. Noch in letzter Minute fragte Rickmer dann, ob man ihm gestatte, auch Fräulein Busterley hinzu zu bitten.
Merstka schaute ihn etwas erstaunt und ärgerlich an. Da jedoch niemand etwas gegen diese Aufforderung der jungen Dame hatte, speiste man nachher zu sechsen.
Astrid benahm sich sehr taktvoll, widmete sich hauptsächlich der Regierungsrätin, der sie ganz harmlos von ihrer indischen Reise erzählte.
Baron von der Mühlen, der wohl der einsilbigste der kleinen Gesellschaft war, warf verstohlen immer wieder prüfende Blicke auf die schöne Engländerin, die das Deutsche in so drolliger Weise verunstaltete. Er hatte sie bereits einmal irgendwo kennen gelernt! Diese Überzeugung befestigte sich immer mehr in ihm. Aber sein Gedächtnis versagte hier. Er konnte sich nicht besinnen, wo und wann er dieser Miß Busterley begegnet sein konnte.
Als Astrid dann über Indien zu sprechen begann, horchte er unwillkürlich auf. Indien war für ihn ja jetzt ein Land geworden, durch das seine Gedanken beständig irrten.
Hildegard Merstka wieder unterhielt sich jetzt hauptsächlich mit Rickmer. Und der Gegenstand ihrer Unterhaltung war Gerda.
Eine große Überraschung gab es dann, als der Baron, von dessen Beziehung zu Rickmer bisher niemand etwas wußte, plötzlich zu Hilde sagte, indem er an eine Bemerkung von ihr anknüpfte:
„Sie haben ganz recht, gnädiges Fräulein, gerade die Ungewißheit über das Schicksal eines Menschen, den wir lieben, ist das Furchtbarste, Martervollste! Weshalb soll ich es hier verschweigen, wo ich auf stilles Verstehen rechnen darf. Ich war mit Gerda heimlich verlobt, und daher werde ich auch nicht eher ruhen, bis das Dunkel, das über jener Dschungelnacht lastet, in der sie verschwand, gelichtet ist.“
Astrid erklärte als erste, daß sie dies vollkommen begreife.
„Wenn ich wäre Sie, Herr Baron, ich würde nehmen ein ganzes Heer von Detektivs, um zu suchen ab den Dschungel, – ganz Indien, wenn nötig,“ fügte sie hinzu.
„Ein Heer brauche ich nicht,“ meinte Mühlen ernst. „Wenn der Mann, den ich bereits telegraphisch gebeten habe herzukommen, meinen Auftrage annimmt, hoffe ich in kurzem weit mehr über jenes düstere Geheimnis zu wissen als heute.“
„Ach, wie interessant,“ sagte Astrid mit warmem, teilnehmendem Ton. „Also ein Detektiv ist der Mann, nicht wahr? – Wie heißt er denn? Kann er eine Weltberühmtheit sich nennen?“
„Wenn auch nicht gerade das, so ist August Bernitzki doch immer eine Berliner Größe ersten Ranges auf seinem Gebiet,“ erwiderte der Baron mit Nachdruck.
Leider hatte er zu spät bemerkt, daß der Stabsarzt, der neben Astrid an der einen Breitseite des Tisches saß, sich sehr weit in seinen Stuhl zurückgelehnt und den rechten Finger warnend auf den Mund gelegt hatte, wobei er Mühlen noch scharf ansah und mißbilligend den Kopf schüttelte.
Als Astrid jetzt weiter fragte, indem sie so tat, als hege sie für den Detektivberuf das lebhafteste Interesse:
„Wann Sie tun erwarten diesen großen Mann?“ da war der Baron bereits vorsichtig und antwortete kurz:
„Erst in zwei bis drei Wochen. Bernitzki ist nicht so leicht abkömmlich.“
Nun kam endlich auch die lebhafte Regierungsrätin zum Wort.
„Also heimlich verlobt waren Sie mit Fräulein Gerda Rickmer, Herr Baron? – Sie Ärmster, ich fühle so warn mit Ihnen mit! Nun – hoffentlich wird Ihre Braut doch noch gefunden. Ich wünsche es von ganzem Herzen, wie wohl jeder von uns.“
Merstka beobachtete Astrid Busterley unauffällig. So entging es ihm nicht, daß um ihre Lippen ein schnell wieder verschwindendes höhnisches Lächeln wie ein drohendes, vielsagendes Wetterleuchten aufzuckte.
Nach Tisch zogen die Regierungsrätin und Hilde sich auf ihr Zimmer zurück, das neben denen des Stabsarztes lag und nach dorthin eine Verbindungstür hatte, so daß man des Doktors Wohnzimmer als gemeinsamen Wohnraum benutzen konnte.
Auch Astrid verschwand. Die drei Herren waren also allein, rauchten eine Verdauungszigarre und sprachen von dem, was sie alle gleichmäßig in Atem hielt: von Gerda Rickmer und den Rätseln jener Dschungelnacht.
Baron von der Mühlen war es gewesen, der diesen Gegenstand wieder zur allgemeinen Aussprache brachte, indem er den Stabsarzt fragte, weshalb er ihm vorhin die warnenden Zeichen gegeben hatte.
Merstka schaute daraufhin Rickmer fragend an.
„Hast du dem Baron nicht mitgeteilt, daß wir Astrid Busterley nicht ganz trauen?“ fragte er ernst und etwas verwundert.
„Nicht trauen?! – Ich bitte dich, Merstka, – fang’ bitte nicht wieder von dieser Geschichte an,“ erwiderte der Ingenieur leicht erregt. „Ich habe gestern Gelegenheit gehabt, Miß Busterley von einer Seite kennen zu lernen, daß ich ihrer jedenfalls jetzt vollkommen sicher bin – vollkommen! Ich hielt es daher auch für sehr überflüssig, Mühlen gegen eine junge Dame einzunehmen, die völlig harmlos ist.“
Der Baron hatte schon gemerkt, daß es mit Rickmers Nerven nicht gerade zum besten bestellt war und daß man ihn so etwas wie ein rohes Ei behandeln müsse.
Er sagte daher auch jetzt einlenkend:
„Dieses schöne Weib sieht tatsächlich auch nicht so aus, als ob sie etwas Schlechtes begehen könnte. Immerhin wäre es mir lieb, wenn ich erfahren dürfte, weshalb Sie beide, meine Herren, ihr so ein wenig mit Mißtrauen begegnet sind.“
Da mischte sich der Doktor ein.
„Lassen wir Miß Busterley in Ruhe! Mir erscheint es viel wichtiger, daß wir uns klar machen, wie man Herrn Bernitzki die Arbeit so etwas erleichtert. Jedenfalls mußt du, lieber Rickmer, dem Detektiv von den damaligen Vorgängen eine noch weit eingehendere Schilderung geben als mir seiner Zeit.“
Nach einer halben Stunde etwa schickte Merstka „seinen“ Patienten, wie er Rickmer nannte, dann auf dessen Zimmer.
„Du mußt unbedingt auch am Tage ein paar Stunden schlafen, Bester,“ erklärte er. „Ruhe ist für dich die Hauptsache. Also – auf Wiedersehen um sechs Uhr auf der Terrasse.“
Der Ingenieur gehorchte, wenn auch widerwillig.
Kaum war er gegangen, als Merstka den Platz wechselte und sich neben den Baron setzte.
„Ein Zwischenraum von nur einviertel Meter ist unter Verbündeten, die eine ernste Sache zu besprechen haben, als allgemeine Vorsichtsmaßregel gegen Lauscher manchmal sehr angebracht,“ sagte er. „Und Verbündete müssen wir in Ihrem und Rickmers Interesse werden.“
Bevor der Baron noch etwas antworten konnte, erschien Hildegard Merstka. Mit gelassener Selbstverständlichkeit nahm sie neben dem Bruder Platz, indem sie mit ihrer wohlklingenden Stimme erklärte:
„Ich störe die Herren hoffentlich nicht.“ – Und als Merstka sie dann mißbilligend anschaute, fuhr sie schnell fort: „Lieber Fritz, ich weiß, daß ich Nachmittagsruhe halten soll. Ich habe heute aber nicht einschlafen können. Die Gedanken an Gerda Rickmers Schicksal verscheuchten jede Müdigkeit.“
Der Baron sah sie dankbar an. Er war froh bewegt, hier sofort einen Kreis ihm sympathischer Menschen gefunden zu haben, die fremdes Leid gern mittragen helfen wollten.
Hildegard aber fügte ihrer Rechtfertigung noch hinzu:
„Ich meine, daß man in einer so bitterernsten Angelegenheit, wie die es ist, die mir den Schlaf verscheuchte, jede Kleinigkeit berücksichtigen soll. Ich bin gewiß nicht die Natur, leichtfertig einen Menschen zu verdächtigen. Aber – diese Miß Busterley scheint es wert zu sein, daß man sich etwas eingehender mit ihr beschäftigt. Ich sage es ganz offen, sie stieß mich vom ersten Augenblick an geradezu ab. Ich halte sie für eine sehr geschickte Komödiantin. Ihr angeblich so unzulängliches Deutsch ist Mache, weiter nichts. Und sie war zu derselben Zeit in Indien, in der Gerda Rickmer dort zwischen Nagpur und den Matawara-Bergen im Dschungel verschwand. Schließlich noch, sie hat etwas zu eifrig für meinen Geschmack Sie, Herr Baron, über Bernitzki ausgefragt. Jede Frau hätte wohl in dem Augenblick, als Sie uns mitteilten, Sie wären mit Gerda heimlich verlobt gewesen, ihrer Teilnahme in anderer Weise Ausdruck gegeben als sie es tat, – jede Frau, wenn sie eben nicht die ganze Sache mit anderen Augen ansah, eben als irgendwie daran Beteiligte.“
Mühlen hatte, während Hildegard diese Sätze in der ihr eigenen sachlichen Art vorbrachte, wiederholt eifrig und zustimmend mit dem Kopf genickt. Jetzt sagte er erregt, und doch in vorsichtigem Flüsterton, da noch ein paar Tische in der Nähe besetzt waren:
„Dieser Aufenthalt in Indien stieß mir ebenfalls sofort auf! Leider, leider kam dann aber Ihr Warnungszeichen, Herr Stabsarzt, zu spät. Ich hätte Bernitzkis Person nicht erwähnen sollen.“
„Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern,“ meinte der Doktor achselzuckend. Dann erzählte er ohne weitere Aufforderung seinen beiden Nachbarn recht ausführlich alle die Verdachtsmomente, die er selbst schon gegen Miß Busterley gesammelt hatte, erwähnte auch den Kellner Winter, der versprochen hatte, die schöne Astrid weiter heimlich zu beobachten. Zum Schluß fügte er hinzu:
„Ich habe Rickmer gegenüber so getan, als sei jetzt jeder Argwohn gegen die Busterleys als die heimlichen Narkose-Künstler bei mir geschwunden. Er hat sich bereits recht stark von der schönen Astrid umgarnen lassen. Sein Urteil in dieser Sache ist daher kein unbefangenes mehr. Wir müssen ihm gegenüber uns den Anschein geben, als hielten auch wir Miß Busterley für einen harmlosen Engel, – was sie meiner Überzeugung nach bestimmt nicht ist! Ihr höhnisches Mundverziehen vorhin, als Sie, Herr Baron, von meiner Mutter in gutgemeinter Weise getröstet wurden, war ein schwerer taktischer Fehler von ihr. Sie gab sich damit eine sehr bedenkliche Blöße.“
Baron von der Mühlen reichte den Geschwistern jetzt nacheinander die Hand.
„Ich bin Ihnen ja so von ganzem Herzen dankbar, daß Sie mich unterstützen wollen,“ sagte er herzlich. „Wenn nur erst Bernitzki hier wäre! Wir können ihm ja schon eine ganze Menge Material unterbreiten, aus dem er sicherlich viel weitergehende Schlüsse ziehen wird als wir.“
„Und unser Bestreben muß sein, dieses Material noch zu vermehren,“ setzte der Stabsarzt hinzu. „Wir sind hier, meine Mutter und Winter eingerechnet, fünf Personen, die Astrid Busterley im Auge behalten können, natürlich ganz unauffällig. Da müßte es doch schon recht merkwürdig zugehen, wenn wir nicht noch so einige Kleinigkeiten entdeckten, die gegen sie sprechen. Ich betone, ganz unauffällig im Auge behalten! Auf keinen Fall darf sie merken, daß wir sie beargwöhnen!“
*
Acht Tage später. – Von Bernitzki war inzwischen für den Baron eine Depesche eingetroffen, daß der erst nach gut einer Woche abkömmlich sei. Er bitte jedoch um sofortige möglichst genaue Angaben über den Auftrag, den er erledigen solle, und zwar gleichfalls telegraphisch. –
Der Baron hatte daher, nachdem er sich mit dem Doktor beraten, das Nötige zurückdepeschiert, dabei aber zunächst die Busterleys ganz aus dem Spiel gelassen und nur angedeutet, daß die Fäden der Angelegenheit scheinbar bis in das „Pyramiden-Hotel“ hinliefen – worauf der Detektiv kurz zurückdrahtete: „Alles in Ordnung. Ich komme.“
Sonst hatte sich im „Pyramiden-Hotel“ und in dem Kreise der sechs Personen, die recht verschiedenartige Interessen hier zusammengeführt hatten, äußerlich nichts geändert.
Das Hotel war wie eine kleine Stadt, wie ein Provinznest, in dem noch eine reinliche Trennung zwischen den verschiedenen Berufsständen besteht. Nun – das Cliquenwesen im „Pyramiden-Hotel“ richtete sich weniger nach Berufsständen, mehr nach Nationalität und – Geld. Das brachte der internationale Charakter dieser „Riesenlogierbude“, wie Doktor Merstka das „Pyramho[1]“ getauft hatte, so mit sich.
Unsere sechs Bekannten hatten auch weiterhin die Hauptmahlzeiten gemeinsam eingenommen und zusammen verschiedene Ausflüge gemacht. Von den anderen Gästen hielten sie sich fern. Auch Astrid tat dies, obwohl sie doch als angebliche Engländerin nicht so ausschließlich in deutscher Gesellschaft sich hätte bewegen dürfen. Von den im Hotel anwesenden Vertretern des Britenreiches wurde ihr dies auch sehr verargt, besonders auch, daß sie ausschließlich deutsch sprach.
Ein Montag war’s gerade. Am Abend vorher hatte das „Pyramho“ eine Menge neuen Zuzugs bekommen. Und das gab wie immer Gelegenheit, diese neuen Opfer echt ägyptisch-gesalzener Hotelrechnungen so etwas auf der Terrasse Spießrutenlauf laufen zu lassen.
Die Regierungsrätin und ihr Gefolge, wie der Stabsarzt mit seiner losen Spötterzunge, die er nur schwer im Zaum halten konnte, stets sagte, saßen in einer Ecke an einem runden Tische kurz vor dem Mittagessen, das pünktlich um zwei Uhr aufgetragen wurde. Man sprach nicht viel. Alle waren müde und abgespannt von dem Vormittagsausflug. Bereits morgens um sechs hatte man teils zu Wagen, teils auf Reiteseln die Trümmerstätte eines Pharaonentempels besucht und war erst gegen zwölf zurückgekehrt bei einer Hitze, wie sie Rickmer nur noch im Roten Meer erlebt hatte.
Unterwegs hatte man die Bekanntschaft eines sehr komischen, alten Herrn gemacht, der allein auf einem geliehenen Maultier gleichfalls die Tempelruinen hatte besuchen wollen, aber von seiner störrischen, bockenden Bestie kurz vor dem uraltem Heiligtum abgeworfen worden war und dabei sich das eine Knie verletzt hatte. Als die deutsche Gesellschaft sich in ihren bequemen zwei Wagen der Unfallstelle genähert hatte, bemerkte man am Straßenrande zunächst nur einen riesigen grauen Sonnenschirm, neben dem mit hängendem Kopf ein gesatteltes Maultier stand. Unter dem Schirm war dann Herr Albert Peterlein zum Vorschein gekommen, hatte vor den Insassen der Wagen sich tief verbeugt und mit dem breitrandigen imitierten Panama in der Hand sehr kläglich gebeten, ihn doch freundlichst mitzunehmen.
Der Stabsarzt ließ sofort halten. Herr Peterlein erzählte sein Mißgeschick, lächelte traurig dazu und erlaubte sich auch einige abfällige Bemerkungen über Reittiere überhaupt und Maultiere im besonderen.
Er war ein mittelgroßer Mann, dieser bescheidene Unglücksmensch, hatte einen leicht ergrauten, etwas ungepflegten Vollbart, trug einen Kneifer mit schwarzer Horneinfassung und breitem Seidenband als Schnur und zeigte nach Lüftung seines Strohhutes einen beneidenswert dichten Haarwald, der künstlerisch-unordentlich zurückgestrichen war.
Was aber das Komische seiner Gesamterscheinung am meisten hervorhob, war seine Kleidung. Offenbar liebte er die graue Farbe über alles. Der Anzug aus leichtem Stoff und von nicht gerade erstklassigem Schnitt war von sogenannter Pfeffer und Salz-Culeur, grau waren auch die Segeltuchhandschuhe, der Schlips und das Touristenhemd mit weichem Kragen. Den gleichmäßigen Eindruck – der Schirm war ja auch grau! – störte nur der einst weiß gewesene Panama, den die Sonne bereits in augenscheinlich jahrelanger Arbeit schmutziggelb gebrannt hatte.
Doktor Merstka hatte sich sofort erboten, das verletzte Knie zu untersuchen. Aber Herr Albert Peterlein erklärte, er hätte das schon selbst besorgt. Er habe früher mal Medizin studiert, bevor er Privatgelehrter wurde.
Da er das Deutsche tadellos sprach und sein ganzes unsicheres, halb unterwürfiges Auftreten im Verein mit Kleidung und Aussehen unfehlbar den Landsmann verrieten, war man sofort bereit, Herrn Peterlein einen Platz in einem der Wagen einzuräumen, während das störrische Maultier hinten angebunden wurde.
Merstka, der mit dem Baron und seiner Mutter in diesem Wagen saß, wo jetzt auch der stark hinkende Privatgelehrte Aufnahme gefunden hatte, stellte sehr bald fest, daß dieser harmlose Peterlein über ein äußerst gediegenes Wissen verfügte. Eine gleichgültige Unterhaltung zu führen verstand dieses Original nicht. Brachte man ihn aber auf ein wissenschaftliches Thema, so war’s, als lasse man einen aufgezogenen Wecker abschnurren.
Über die Tempelruinen, in denen Peterlein mühsam mit umherhumpelte, wußte er besser als der gedruckte Reiseführer Bescheid. Jedenfalls war er nach Merstkas Dafürhalten „eine ganz wertvolle Akquisition“. –
Nachher hatte Albert Peterlein dann erzählt, er sei erst am Tage vorher in Gizeh eingetroffen, kenne Ägypten noch nicht und habe sich das Reisegeld mühsam in drei Jahren zusammengespart.
Der Baron war es dann, der die Regierungsrätin gefragt hatte, ob man den stillen, freundlichen Landsmann nicht auffordern solle, gleichfalls an dem deutschen Tische die Mahlzeiten einzunehmen. Frau Merstka war natürlich einverstanden, und jetzt kurz vor Tisch wartete man auf der Terrasse mit einiger Spannung auf den neuen Bekannten, der sich gleichfalls für das Mittagessen etwas hatte in Wichs werfen wollen, wie er sich mit seinem strahlenden, lieben Lächeln in halber Selbstverspottung ausgedrückt hatte.
Und er kam. Kam, wie er am Straßenrand gesessen. Nur der Sonnenschirm, der Panama und das graue Touristenhemd waren verschwunden. An Stelle des letzteren glänzte ein weißes Oberhemd und ein weißer, altmodischer Umlegekragen, aus dem Peterleins brauner, magerer, langer Hals wie ein einsamer Spargel aus einem Blumentopf herausragte.
Mit vielen Bücklingen stand er nun vor der Regierungsrätin, die heute nicht gerade in bester Laune war. Die Schuld an dieser Verstimmung trugen die Hitze, Astrid Busterley und Ernst Rickmer.
Dieser ganz besonders, da er in den letzten Tagen der schönen „Engländerin“ sehr auffallend den Hof machte und dadurch die redefreudige Rätin ihrer geduldigsten Zuhörerin beraubte.
Der Privatgelehrte, zum Platznehmen aufgefordert, setzte sich zwischen den Baron und Hildegard Merstka und begann dieser sofort ein Privatissimum über die Geschichte Altägyptens zu halten.
Bei Tisch bewies er dann, daß auch so komische Käuze wie er sehr gute Manieren haben können.
Von Rickmer gefragt, ob die Seereise durch das Mittelländische Meer von Brindisi bis Port Said, wo Peterlein den Dampfer verlassen hatte und mit der Bahn nach Kairo weitergefahren war, angenehm oder stürmisch gewesen sei, erwiderte er:
„Sogar sehr angenehm – bis auf einen Zwischenfall kurz vor der Ausreise vom Hafen von Brindisi. Da war ich nämlich unglückseligerweise Zeuge, wie auf unserem Dampfer „Triest“ ein Herr unter dem Verdacht des Diebstahls von Bord weggeholt wurde. Der Verhaftete war ein Landsmann, ein Berliner, den ich schon auf der Eisenbahnfahrt kennen gelernt hatte, und von Beruf angeblich Privatdetektiv. Er schwor natürlich tausend Eide, den Hoteldiebstahl in Brindisi – um einen solchen sollte es sich handeln – nicht begangen zu haben. Aber – denken Sie, meine Herrschaften, mein Entsetzen! – man fand bei diesem Manne, mit dem ich mich schon ein wenig angefreundet hatte, tatsächlich die Brieftasche, die dem Hotelgast gestohlen war. Oh, es war für mich sehr bitter und schmerzlich, auf diese Weise gleich zu Anfang meiner Fahrt an die Schlechtigkeit dieser Welt erinnert zu werden. Noch heute habe ich dieses Erlebnis nicht ganz überwunden. Der Verhaftete hatte auf mich einen so sehr günstigen Eindruck gemacht. Und die Erkenntnis, daß es mit meiner Beurteilung menschlicher Charaktere nicht weit her ist, läßt mich noch unsicherer im Verkehr mit Fremden werden, als ich es ohnehin bin.“
Dem Baron war sofort eine böse Ahnung aufgestiegen, als Albert Peterlein erwähnte, seine Reisebekanntschaft sei Detektiv gewesen. Nach einer Weile beugte er sich bei guter Gelegenheit dicht zu dem schnurrigen Privatgelehrten hin und fragte ihn leise und unauffällig, ob er vielleicht den Namen des Detektivs kenne.
Peterlein besann sich erst etwas.
„Ja, – genannt hat er ihn mir wohl. Aber ich habe ihn total vergessen – total,“ erwiderte er ebenso vorsichtig flüsternd. „Der Mann erzählte mir jedoch, daß er auch nach Kairo wolle und zwar in einer beruflichen Angelegenheit.“
Mühlen zuckte vor Schreck zusammen. – Sollte seine Ahnung zutreffen, sollte es wirklich Bernitzki gewesen sein?!
„Hieß der Mann vielleicht Bernitzki?“ fragte er noch leiser.
„Ja – ja – so hieß er – Bernitzki – Bernitzki!“ trompetete Peterlein jetzt freudestrahlend, so daß auch die anderen fünf am Tische aufmerksam wurden.
„Leise, – ich bitte Sie!“ fuhr der Baron ihn daraufhin ärgerlich an. – Aber es war schon zu spät.
Astrid Busterley war es, die jetzt neugierig rief:
„Was es sein mit Bernitzki, Herr Baron?“
Mühlen hielt es für am richtigsten, die Wahrheit zu sagen. Sonst wäre die schöne Engländerin womöglich argwöhnisch geworden. Er erzählte also, was Peterlein ihm berichtet hatte, und fügte hinzu:
„Natürlich ist Bernitzki ganz zu Unrecht verhaftet worden. Der und stehlen! – Ich begreife die ganze Sache nicht! Sagen Sie mal, Herr Peterlein, wurde die unglückselige Geschichte denn nicht sehr bald aufgeklärt und Bernitzki wieder aus der Haft entlassen?“
„Keine Ahnung, Herr Baron. Der Dampfer „Triest“ ging ja schon eine Stunde später in See. Kennen Sie denn diesen Bernitzki genauer?“
„Ja. Und deshalb halte ich es für gänzlich ausgeschlossen, daß er einen Hoteldiebstahl verübt haben soll. – Na – lassen wir die Sache ruhen. Sie wird sich schon aufklären.“ –
Nach Tisch kam der Stabsarzt zu Mühlen auf das Zimmer.
„Eine nette Bescherung, Baron, wie?! – Bernitzki verhaftet – ausgerechnet der Mann, auf den wir hier so sehnsüchtig warten!“
Er ließ sich in einen Korbsessel fallen und rauchte ein paar schnelle Züge aus seiner Zigarre.
Mühlen antwortete nicht gleich. Dann meinte er aber, indem er die drohende geballte Faust nach der Richtung ausstreckte, wo die Zimmer der schönen Astrid lagen:
„Du entgehst mir doch nicht, Weib! Du hast bei dieser Tragödie dort im Dschungeltempel die Hand mit in Spiel gehabt! – Kommt Bernitzki nicht bald her, reise ich allein nach Indien!“
Dann wieder nach einer Pause: „Ich habe in Brindisi im deutschen Generalkonsulat einen Bekannten. An den telegraphiere ich sofort, wie es mit der Angelegenheit Bernitzki sich eigentlich verhält.“
Merstka nickte zustimmend. Und eine halbe Stunde später ging die Depesche schon ab.
Die Antwort traf am nächsten Nachmittag ein.
„August Bernitzki ist dem deutschen Generalkonsul wegen noch anderer Verbrechen auf Antrag ausgeliefert worden und wird nach Berlin demnächst abtransportiert. Gruß – Holster“
Der Baron war geradezu versteinert bei dieser Nachricht.
„Mir unbegreiflich,“ sagte er zu Merstka, mit dem er in den Park hinter dem Hotel gegangen war, um die Sache in Ruhe durchsprechen zu können.
„Nicht der erste Fall, in dem ein Privatdetektiv sich als gefährlicher Gauner entpuppt,“ meinte der Doktor achselzuckend. „August Bernitzki war also eine Niete. – Was nun, Baron?“
„Ich reise allein, wie ich schon gestern sagte,“ erwiderte Mühlen bestimmt. „Übermorgen abend geht ein Dampfer von Suez nach Kalkutta. Den benutzte ich.“
Die beiden Herren bogen gerade in einen kleinen Schmuckplatz im hinteren Teile des Parkes ein. Dort standen unter ein paar Fächerpalmen zwei weißlackierte Gartenbänke. Und auf der einen saß Hildegard, – Hildegard mit vom Weinen geröteten Augen, das Taschentüchlein noch in der Hand, mit dem sie die Tränen getrocknet hatte.
Bei dem überraschenden Erscheinen ihres Bruders und des Barons hier an diesem abgelegenen Orte wurde sie vor Verlegenheit feuerrot. Am liebsten wäre sie davongelaufen.
„Du hier, Hilde?“ fragte der Stabsarzt ebenso erstaunt wie besorgt. Es entging ihm nicht, daß die Schwester eben noch geweint haben mußte. Und plötzlich fielen ihm nun allerhand geringfügige Beobachtungen ein, die er jetzt erst zu einer Beweiskette dafür zusammenschließen zu können glaubte, daß Hildes Tränen die Aussichtslosigkeit einer in ihr schnell erwachten Liebe zu Ernst Rickmer gegolten hatten.
Hilde haßte Astrid Busterley, wenn sie dies auch zu verbergen suchte; sie wurde stets verlegen, wenn der Ingenieur sie ansprach; ihre Stimmung war seit Tagen seltsam wechselnd, ebenso wie sie stets versuchte, gemeinsamen Ausflügen fernzubleiben, – um nicht mitansehen zu müssen, wie Rickmer immer mehr sich in den Netzen des schönen Weibes verfing.
Der Baron brachte die peinliche Situation sehr taktvoll und geschickt durch ein paar Scherzworte ins Gleichgewicht, nahm den Doktor dann unter den Arm und zog ihn mit sich fort.
Am Nachmittag desselben Tages hatte Merstka mit seiner Mutter eine Aussprache, bei der er ohne Scheu seiner Vermutung Ausdruck gab, Hilde sei vielleicht deswegen jetzt so launenhaft und auch so wenig auf ihre Gesundheit bedacht, weil sie sich in Rickmer verliebt habe, der doch in seiner Blindheit schon ganz Sklave Astrid Busterleys geworden sei.
Die Regierungsrätin, deren sorgende Mutteraugen ebenfalls für diese aufkeimende Neigung bereits allerlei Anzeichen wahrgenommen hatte, begann nun ganz nach Frauenart in recht zweckloser Weise über Astrid herzuziehen, indem sie alles Mögliche vorbrachte, das mit großer Zungenfertigkeit herausgesprudelt wurde.
Erst hörte der Doktor kaum hin. Dann aber wurde er aufmerksam – ganz unwillkürlich.
„Ja – und noch zu allem eine Person, an er vielleicht nichts echt ist – nichts! Die Haare soll sie sich zum Beispiel bestimmt färben. Das hat das Stubenmädchen Jeanette Hilde selbst erzählt. Die Jeanette ist ganz verliebte in Hilde, schwärmt sie geradezu an. Und die Busterley haßt sie, vermutlich deswegen, weil der Zimmerkellner, der blonde, fixe Karl Winter, sich um die kleine, kokette Französin weit weniger kümmert als um die gefärbte Astrid, hinter der er rein wie ein Schatten her ist. Ja, die Jeanette hat einmal ein Porzellanschälchen mit einem Farbrest im Schlafzimmer der Busterley gefunden, der fraglos nichts als ein Haarfärbemittel und so scharf war, daß –“
Der Stabsarzt hatte seine damalige Unterredung mit Winter zwar nicht vergessen gehabt, aber jedenfalls nicht mehr an diese Haarfärbemittelgeschichte gedacht, die ihm recht bedeutungslos für die ganze Angelegenheit erschienen war. Jetzt traten ihm die Mitteilungen des Kellners mit allen Einzelheiten wieder ins Bewußtsein und jetzt schätzte er sie anders ein. In dem Kampfe gegen dieses Weib durfte man nichts, aber auch gar nichts unbeachtet lassen, was mit ihrer Person irgendwie zusammenhing.
Er unterbrach daher jetzt auch den Wortschwall der Mutter und sagte:
„Ich weiß – ich weiß. Das Mittel war so scharf, daß es von den Fingerspitzen gar nicht zu entfernen war, während es von den blonden Haaren der Brigitte, der englischen Kollegin Jeanettes, nicht angenommen wurde. Winter hat mir dies alles bereits selbst erzählt, bevor Ihr noch hier eingetroffen wart.“
„Natürlich färbt sie sich ihre rotbraune Perücke, diese fragwürdige Person, an der wahrscheinlich noch mancherlei anderes unecht sein dürfte, nicht nur Haarfarbe und das gebrochene Deutsch!“ ereiferte sich die Rätin. „Unsere arme Hilde! Du kennst sie nicht so wie ich, Fritz! Wenn sie sich wirklich aus Rickmer etwas macht, wird sie nie über diese Herzensenttäuschung hinwegkommen. Man müßte diesen Mann doch vor jener rotbraunen Betrügerin nochmals warnen, die sich so geschickt in unseren Kreis eingeschlichen hat. Aber mit Nachdruck müßte es geschehen! Ich tue es vielleicht, wenn du dich damit nicht befassen willst.“
„Auf keinen Fall darfst du das, Mama, auf keinen Fall!“ meinte der Doktor hastig. „Bedenke, wie dir eine solche Einmischung ausgelegt werden könnte, dir als der Mutter einer heiratsfähigen Tochter, deren stille Neigung Rickmer vielleicht schon erraten hat. Außerdem ist Rickmer ja von mir schon genügend auf die Fragwürdigkeit dieser jungen Dame hingewiesen worden. Im Augenblick ist bei ihm jedoch nichts zu erreichen. Der Baron hat ebenfalls schon sein Heil versucht. Rickmer ist jedoch in diesem Punkte nicht zu belehren, obwohl er genug Grund zum Mißtrauen gegen Astrid Busterley hätte. Er verteidigt sie aufs wärmste, wird ganz aufgeregt, wenn man nur ein wenig Kritik an ihr übt. Deshalb dürften Mühlen und ich uns ja auch gar nicht anmerken lassen, daß wir Astrid noch immer im Verdacht haben, den Ingenieur heimlich chloroformiert zu haben. Er denkt kaum noch daran, hält jene Vorfälle für eine Ausgeburt seiner überreizten Nerven. –
Nein, nie und nimmer gestatte ich, Mama, daß du dich irgendwie sozusagen in Hildes Interesse bloßstellst. Hilde wird schon selbst mit sich fertig werden und mit ihrem Herzen, falls es wirklich Feuer gefangen haben sollte! –
Am einfachsten ist, wir ziehen uns, angeblich in Rücksicht auf Hildes Gesundheit, ganz zurück. Oder noch besser, wir wechseln den Aufenthaltsort, gehen nach einem anderen Luftkurort am Wüstenrande. Auswahl ist ja genug vorhanden.
Hilde muß Rickmer vergessen. Und das ist am leichtesten zu erreichen, wenn sie ihn nicht mehr sieht. Sie kennt ihn ja erst ganz kurze Zeit. Allzu tief kann die Herzenswunde also noch nicht sein.“
Frau Merstka war sofort bereit, das „Pyramiden-Hotel“ zu verlassen. Kaum hatte sie sich in diesem Sinne geäußert, als Hilde eintrat.
Der Doktor hielt es für angebracht, die Angelegenheit sogleich ins Reine zu bringen.
„Hör’ mal, Kleines,“ sagte er herzlich, „dein Aussehen in den letzten Tagen gefällt mir nicht recht. Der Trubel hier im Hotel ist nichts für dich. Du brauchst mehr Ruhe. Wir werden daher morgen schon nach Fayum gehen und dort Privatquartier beziehen. Das bestimme ich als Arzt, verstanden?! Und mein Schwesterlein hat also zu gehorchen.“
Aus Hildes Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen. Ihre Augen wurden noch größer. Und schwer stützte sie sich mit den Händen auf die Lehne des Stuhles, hinter dem sie stand.
Ein paar Sekunden blieb sie ganz regungslos.
Dann sagte sie tonlos, aber fest:
„Ich gehe nicht nach Fayum. Ich bleibe hier. Ich fühle mich ganz wohl – wirklich! Mir gefällt es hier.“
Der Stabsarzt bemerkte der Schwester jähes Erbleichen. Er erschrak. Hier handelte es sich nicht mehr um die Anfänge einer Liebe, hier war bereits das volle, unberührte Herz der Schwester mit jeder Faser mitbeteiligt. Das erkannte er jetzt erst.
„Du wirst mit nach Fayum kommen,“ erklärte er fast streng. „Es ist zu deinem Besten! Das kannst du uns beiden, der Mama und mir, schon glauben.“
Aber Hilde schüttelte den Kopf. Mit gesenkten Augen sagte sie:
„Ich bleibe! Ich habe hier eine Mission zu erfüllen. Vergeßt nicht, daß ich mündig bin. Ich lasse mir nicht in meine Entscheidungen hineinreden. In Fayum würde ich dahinwelken. Davon könnt ihr überzeugt sein.“
Der Doktor wurde ärgerlich.
„Hilde, sei nicht töricht! Was heißt das, in dieser Weise uns mit deiner Großjährigkeit zu drohen, wo wir nur dein Wohlergehen im Auge haben! – Eine Mission?! – Was für eine denn?! – Hier handelt es sich um deine Gesundheit! Und wir haben die Mission, dich zu behüten, – also auch eine Aufgabe, die uns heilig ist!“
Hilde schaute den Bruder jetzt offen an.
„Ich soll Rickmers wegen fort. Ich ahne es. Nun denn – gerade seinetwegen bleibe ich! Ich werde ihn aus den Krallen dieses gewissenlosen Weibes befreien, werde beweisen, daß sie mit ihm nur ein verbrecherisches Spiel treibt, ihm die Zeichnungen ablisten will. – Das ist meine Mission.“
Eine stille Größe sprach aus Haltung und Worten dieses jungen Mädchens, das sein Herz an einen Mann verloren hatte, der einer raffinierten Kokette zum Opfer zu fallen drohte. Und dieser Größe beugte der Doktor sich, vor diesem starken Herzen, das einen Kampf um den Geliebten nicht scheute.
Gerührt und innig schloß er Hilde in die Arme.
„Gut, – wir bleiben also! Und ich will dir helfen, Schwesterlein, so viel in meinen Kräften steht,“ erklärte er.
Über Hildes Gesicht rannen ein paar Tränen. Aber schnell hatte sie sich wieder gefaßt.
„Nimm Platz, Fritz!“ bat sie leise. „Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen. – Damals als der Baron unvorsichtigerweise erzählt hatte, daß er den Detektiv telegraphisch nach hier beordert habe, hat die Busterley – oder wie sie sonst heißen mag – am nächsten Morgen eine chiffrierte Depesche nach – Brindisi geschickt an James Busterley! – Jeanette hat mir die Papierschnitzel des Entwurfes des Telegramms gegeben, die die angebliche Engländerin in dem Papierkorb liegen gelassen hatte, wohl in der Annahme, daß niemand sich um die Fetzen kümmern werde. Ich habe die Papierstückchen zusammengeklebt. Es sind alles nur Zahlen und Buchstaben darauf, und ich finde mich damit bis jetzt nicht zurecht.“
Der Stabsarzt war aufgesprungen.
„Brindisi – James Busterley,“ fragte er erregt. „Ja, woher weißt du, daß es sich bei den Schnitzeln um eine Depesche handelt und gerade nach Brindisi und für Astrids Bruder?!“
„Das hat die frische Löschblattunterlage des Damenschreibtisches uns verraten, auf der Astrid das ausgefüllte Depeschenformular getrocknet hat. Jeanette sorgt dafür, daß das Löschblatt stets neu ist. Und mit Hilfe eines Spiegels kann man die abgedrückten Wörter spielend leicht entziffern. Auch jenes Löschblatt habe ich noch. Die Adresse ist bequem zu lesen. Alles übrige sind Chiffren.“
„Kleines – das ist wirklich von größter Wichtigkeit!“ meinte Merstka ganz begeistert. „Wenn es uns gelingt, die Chiffredepesche zu lösen, so erhalten wir vielleicht den schriftlichen Beweis, daß Miß Astrid alles andere nur kein harmloser Engel ist. – Bringe mir doch mal das Löschblatt und die zusammengefügten Papierschnitzel.“
Nun – der eifrige Doktor erlebte trotz zweistündiger Arbeit eine böse Enttäuschung. Auch ihm gelang es nicht, auch nur ein Wort von dem eigentlichen Inhalt des Telegramms herauszubringen. Es war wie eine richtige Rechenarbeit, dieser Dechiffrierversuch. Für die Buchstaben des Alphabets waren Zahlen gesetzt. Aber in welcher Reihenfolge, Anordnung und in welchem Zusammenhang, das war nicht herauszufinden.
Merstka suchte dann den Baron auf, um ihm die große Neuigkeit mitzuteilen.
Mühlen spielte gerade auf der Terrasse mit Albert Peterlein eine Partie Schach.
„Ich habe etwas sehr Dringendes mit Ihnen zu besprechen, lieber Baron,“ sagte der Doktor hastiger und aufgeregter, als Mühlen ihn bisher gesehen hatte.
„Betrifft es die bewußte Sache?“ fragte der Baron schnell.
„Allerdings. – Wir wollen auf Ihr Zimmer gehen. Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub.“
Mühlen entschuldigte sich bei Herrn Peterlein, der wie immer freundlich lächelnd erklärte, er würde die Stellung der Figuren notieren, damit man die Partie ein andermal zu Ende führen könne, und sich auch sofort von einem Kellner Tinte und Feder bringen ließ.
Oben in des Barons Wohnsalon hatte dann Merstka kaum erst mit seinen interessanten Mitteilungen begonnen, als es klopfte und einer der Hoteldiener für den Baron von der Mühlen einen kleinen, versiegelten Briefumschlag mit offenbar eben erst geschriebener Adresse und dem Zusatz „Eilt sehr!“ überbrachte.
Mühlen schnitt den Umschlag auf, nachdem er die Buchstaben des Petschafts A. B. ahnungslos flüchtig gemustert hatte.
Darin lag eine Visitenkarte
August Bernitzki
und mit Tinte stand darunter: „wartet draußen im Korridor.“
Der Hoteldiener war schon wieder gegangen.
Mühlen reichte Merstka die Karte.
„Denken Sie – Bernitzki ist da!“
Dann eilte er in den Flur hinaus.
Dicht vor der Tür stand Albert Peterlein.
„Ich darf also eintreten, Herr Baron?“ fragte er mit einem listigen Lächeln.
Mühlen war starr.
„Sie – Sie sind –?“
„Pst! – Vorsicht!“ fiel ihm der Andere leise ins Wort und schob ihn ins Zimmer.
Es dauerte eine geraume Weile, bis die beiden Herren sich von dieser Überraschung erholt hatten.
Peterlein saß da und freute sich, daß dieser Streich ihm so gut geglückt war.
„Ich hätte die Maske vielleicht erst nach Tagen gelüftet,“ meinte er. „Aber Ihre beabsichtigte Reise nach Indien und diese wichtige Unterredung, Herr Baron, zu der der Herr Stabsarzt Sie holte, änderte meinen Plan.“
Mühlen musterte den Detektiv noch immer sehr prüfend. Dann schüttelte er den Kopf, reichte Bernitzki herzlich die Hand und sagte:
„Jetzt erst, wo ich weiß, wen ich eigentlich vor mir habe, erkenne ich Sie, lieber alter Freund und Lehrer! Sie verstehen es meisterlich, Ihr Äußeres zu verändern, auch die Sprache. Einfach unglaublich! – Aber – eigentlich sollen Sie doch in Brindisi sich als Häftling befinden?! – Reden Sie, ich bitte Sie! Wie Sie bemerkt haben dürfen, Merstka und ich platzen demnächst vor Neugier.“
Die drei Männer setzten sich, Mühlen reichte Zigarren und Zigaretten herum, klingelte nach dem Zimmerkellner, bestellte eisgekühlte Getränke und fragte Bernitzki zwischenein, ob dieser Wert darauf lege, daß auch Rickmer zu dieser ersten Beratung hinzugezogen werde, da der Ingenieur doch an der ganzen Angelegenheit mit das größte Interesse habe.
Der Detektiv meinte, er könne dies weit weniger gut beurteilen als der Baron und der Doktor. Er sei in die Sachlage bisher noch zu oberflächlich eingeweiht.
Die beiden anderen Herren waren sich schnell einig.
„Rickmer wird als befangen abgelehnt,“ schlug der Stabsarzt vor. – „Angenommen!“ pflichtete Mühlen bei.
Nachdem der Kellner die Getränke gebracht hatte, begann Bernitzki mit der Schilderung seiner Abenteuer in Brindisi. Er faßte sich dabei sehr kurz.
„Ich bin dort offenbar das Opfer eines sorgfältig vorbereiteten Planes geworden,“ erklärte er mit einem geringschätzigen Lächeln, das nur dem gelten konnte, der einen August Bernitzki auf so plumpe Weise hineinzulegen versucht hatte. „Die Geschichte ist es gar nicht wert, lange erörtert zu werden. Ich wurde auf die Anschuldigung des angeblich Bestohlenen hin verhaftet, durchschaute das Manöver aber sofort, ließ mir den deutschen Generalkonsul kommen und verabredete mit diesem alles Nähere. So wurde ich als Häftling in das Konsulatsgefängnis überführt, klärte von dort aus den Hoteldiebstahl, den ich verübt haben sollte, auf und blieb doch auf meine Bitte hin wegen – „anderer Schandtaten“ noch in Haft. Jedenfalls ist dieser Master Goorwall, der mir die Suppe eingebrockt hat, um mich unschädlich zu machen, sicherlich noch jetzt des Glaubens, ich säße hinter festen Mauern oder aber befände mich auf dem Transport nach Deutschland, um dort abgeurteilt zu werden. Kurz – der Streich, den man mir in Brindisi gespielt hat, hängt fraglos mit unserer Angelegenheit hier zusammen. Goorwall ist eben ein Verbündeter dieser Miß Busterley, die hier die Engländerin vorzustellen sucht.“
„Wie sah dieser Goorwall aus?“ fragte der Doktor schnell, da er sofort an James Busterley dachte, an den Astrid die Chiffredepesche postlagernd nach Brindisi geschickt hatte. –
Und er hatte mit dieser Vermutung recht. Aus Bernitzkis Beschreibung ging hervor, daß es sich nur um Astrids angeblichen Bruder handeln könne.
Nach dieser Feststellung verbeugte der Detektiv sich in absichtlich übertriebener Höflichkeit vor dem Baron und sagte:
„Ich gestatte mir zu gratulieren, hochverehrter Herr Mandant! Wir haben soeben ein kleines Vorgefecht gewonnen. Wir wissen jetzt nämlich mit aller Bestimmtheit, daß die schöne Astrid vor mir Angst hatte. Deshalb gab sie Master James Busterley-Goorwall telegraphisch in Geheimschrift Anweisung mich in Brindisi kaltzustellen. Wer aber Angst hat, hat ein schlechtes Gewissen. Und – „hast du ein schlechtes Gewissen, hast du auch was berissen!“ – So, meine Herren, und nun müssen Sie erzählen, – alles was Sie wissen, jede Kleinigkeit, – jede! – die Ihnen mit unserer Sache zusammenzuhängen scheint. Ich werde mir alles kurz notieren. Das gesamte Material verarbeite ich dann nachher allein. Aber, wie gesagt, – halten Sie nichts für überflüssig zu erwähnen, nichts!“
Erst kam nun Merstka an die Reihe. Zum Schluß seiner Angaben überreichte er Bernitzki auch die von Hilde zusammengeklebten Papierfetzen und das Löschblatt.
Dann berichtete Mühlen, was ihm noch als Ergänzung der Äußerung des Stabsarztes erwähnenswert schien. Jedenfalls erhielt der Detektiv auf diese Weise einen sehr genauen Überblick über alle Vorgänge hier in Gizeh, soweit diese mit den Busterleys irgendwie etwas zu tun hatten.
Und Bernitzki war mit dem so gewonnenen Material denn auch sehr zufrieden.
„Der Anfang ist gut,“ meinte er. „Meine ganze Arbeit würde ja wesentlich erleichtert werden, wenn wir auch Rickmer mitteilen könnten, wer Herr Albert Peterlein eigentlich ist, und wenn ich ihn ebenfalls ausfragen dürfte. Ich sehe hiervon aber lieber ab. Ein Mann, der in den Fesseln eines Weibes wie Astrid schmachtet, ist höchst unzuverlässig. Er hält sie für einen Engel und wird sein Urteil so leicht nicht ändern. Und da könnte es passieren, daß er diesem Engel in einer törichten Stunde anvertraut, was er eigentlich in seinem eigenen Interesse verschweigen müßte. –
Im übrigen, meine Herren, noch eine allgemeine Bemerkung. Ich warne Sie davor, meine Fähigkeiten zu überschätzen und zu denken, daß ich so ein halber Zauberer bin, der wie die Meisterdetektivs in den Romanen jede Sache zu einem glücklichen Ende führt. Ich bin kein Doktor Buchmüller – so oder so ähnlich hat ja wohl die Adlersfeld-Ballestrem[2] ihren Detektivhelden verschiedener Romane getauft – und erst recht kein Sherlock Holmes, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein ganz gewöhnlicher Sterblicher, dessen Fahndereigenschaften durch langjährige Übung so etwas über den Durchschnitt hinausgewachsen sind. Natürlich werde ich mein Bestes hergeben, um herauszufinden, was damals in jenem Dschungeltempel nächtlichweise geschehen ist und ob etwa die beiden Busterleys für Fräulein Gerda Rickmers Verschwinden mit verantwortlich zu machen sind!“
„Also gehen wir nach Indien?“ fragte der Baron lebhaft, als Bernitzki jetzt schwieg.
„Natürlich! Und zwar bald. Meine Arbeit hier in Gizeh dürfte schnell erledigt sein, besonders da ich wohl auf Ihre freundliche Unterstützung auch weiter rechnen darf, Herr Stabsarzt. Außerdem ist hier im „Pyramiho“ auch ein Helfer von mir , den ich in letzter Zeit schon einige Male beschäftigt habe. Ohne derartige Verbindung kommen wir Detektivbureaus nicht aus. Dieser Mann ist der Kellner Winter, ein heller Kopf und zuverlässiger Charakter.“
„Nicht möglich?!“ rief Merstka erstaunt. „Ah – nun begreife ich so manches! Mir fiel gleich auf, als ich damals die Unterredung mit Winter hatte, daß er eine recht scharfe Beobachtungsgabe besaß. Deshalb also! Ihm sind derartige Dinge nicht neu!“
Bernitzki erhob sich.
„Ich gehe jetzt auf mein Zimmer und werde diese Notizen studieren. – Auf Wiedersehen, meine Herren! Und – seien Sie vorsichtig im Verkehr mit mir. Ich bin Albert Peterlein, der Privatgelehrte – vergessen Sie das nie in Gesellschaft anderer.“
„Einen Augenblick noch, Herr Bernitzki,“ bat der Doktor da. „Darf ich meiner Schwester nicht sagen, wer Sie eigentlich sind?“
„Gewiß – selbstverständlich! Auch auf Fräulein Hildegards Unterstützung hoffe ich. – Nochmals also – auf Wiedersehen!“
Der Detektiv hatte die Tür erst halb geöffnet, als sie vom Flur her ganz weit aufgestoßen wurde. Rickmer war’s, der jetzt ins Zimmer stürzte. Er sah wie ein Schwerkranker oder Irrsiniger aus – bleich, mit dicken Schweißperlen auf der Stirn, wilden Augen, wirrem Haar und heftig arbeitender Brust.
„Mühlen,“ rief er keuchend, – „Mühlen, die Zeichnungen sind weg, sind mir gestohlen worden, – alle, – die Originale sowohl als auch die Pausen!“
Es war sehr schwer, den Aufgeregten zu beruhigen. Merstka mußte energisch werden, bis Rickmer sich dann endlich zusammennahm, sich setzte und das Wesentliche übersichtlich erzählte.
In der allgemeinen Verwirrung war Bernitzki verschwunden, nachdem er dem Baron schnell ein paar Worte zugeflüstert hatte.
Rickmer legte sich den beiden Bekannten gegenüber daher auch keinen Zwang auf. In Gegenwart Albert Peterleins wäre er sicherlich bei seinen Mitteilungen zurückhaltender gewesen.
Jetzt, wo Merstkas bestimmte Art ihn dazu gezwungen hatte, mit seinem verzweifelten Gejammer aufzuhören, kam bei ihm der Rückschlag. Er sank in seinem Sessel förmlich zusammen und bot ein recht klägliches Bild vollständiger Ratlosigkeit und Verstörtheit dar.
Aus seinen Erklärungen ging als wichtigstes mit größter Sicherheit hervor, daß Astrid als Diebin nicht in Betracht kam. Und das war gerade das Unerklärliche bei der ganzen Sache, zugleich auch dasjenige Moment, welches die Angelegenheit in ein ganz neues Licht rückte, wenigstens für den Baron und Merstka, die natürlich zuerst sofort an James angebliche Schwester als die Täterin gedacht hatten.
Aber daran ließ sich nichts ändern, den ganzen Umständen nach konnte Astrid selbst die Diebin nicht gewesen sein! Sie mußte sich einer anderen Person dazu bedient haben! – Diese Überzeugung stand bei den Freunden Rickmers ebenso bald fest.
Ganz anders faßte der Ingenieur die Angelegenheit auf.
„Ihr seht jetzt, wie sehr Ihr Astrid stets Unrecht getan habt,“ meinte er vorwurfsvoll. „Als ich kurz vor dem Mittagessen heute mein Zimmer verließ, sah ich zufällig nach, ob die Skizzen noch unter den Kartons in den Mappen lagen. Sie waren da! Und als ich mich dann vor kaum fünf Minuten von Miß Busterley verabschiedete und meine Zimmer wieder aufsuchte, bemerkte ich ebenso zufällig, daß die Mappen anders lagen als vorher – nicht über–, sondern nebeneinander! Und – da waren die Zeichnungen gestohlen, obwohl Astrid bereits an unserem Tische saß, als ich zum Essen herunterkam und ich mit ihr auch wie gesagt zusammenblieb fast bis zu dem Augenblick, als ich den Diebstahl entdeckte! –
Mein Gott, so seht mich doch nicht so stumpfsinnig an! Helft mir! Ihr wißt ja, was für mich auf dem Spiele steht!“ Die mühsam unterdrückte Erregung kam wieder zum Durchbruch. Er sprang auf, rang verzweifelt die Hände und lief im Zimmer auf und ab.
Das Dschungelfieber hatte diesen energischen Mann vollständig verändert. Wer ihn noch damals in dem alten Tempel in der Wildnis gesehen hatte, wie er klar und zielbewußt die Nachforschungen nach Gerda leitete, hätte ihn nicht wiedererkannt. Das lange Krankenlager in Nagpur war ihm verhängnisvoll geworden. Seine Nerven, die bis dahin nie gestreikt hatten, versagten jetzt.
Der Baron hatte Gelegenheit gefunden, Merstka etwas zuzuraunen, während Rickmer im Zimmer auf und ab stürmte.
Der Doktor wandte sich darauf an den Ingenieur, nahm ihn am Arm und drückte ihn wieder in den Sessel zurück.
„Ruhe, Rickmer, Ruhe! Auf diese Weise verschaffst du dir die Zeichnungen nicht wieder. – Gewiß – wir werden dir selbstredend helfen! Nur mußt du dann auch befolgen, was wir dir raten. – Zunächst eine Frage. Du hältst es also für ausgeschlossen, daß Astrid Busterley irgendwie an diesem Diebstahl beteiligt ist, – ich meine, daß sie nicht etwa durch eine dritte Person die Skizzen aus deinem Wohnzimmer holen ließ?“
„Hör’ mit dem Unsinn auf!“ fuhr Rickmer ihn grob an. „Ich verbitte mir, daß –“
„Stopp, mein Lieber, – stopp! Nicht diesen Ton!“ schnitt der Stabsarzt ihm gelassen das Wort ab, indem er mit dem Baron einen vielsagenden Blick austauschte.
Und dieser Blick bedeutet: „Nein, – wir dürfen ihn, was Bernitzki anbetrifft, selbst jetzt nicht ins Vertrauen ziehen! Er ist blind – unverbesserlich!“
„– nicht diesen Ton! Wir wollen doch die zwischen gebildeten Menschen üblichen Umgangsformen wahren. – Nun zu meiner zweiten Frage. Hat dich jemand gesehen, als du in dieser Verfassung zu mir geeilt kamst oder hast du noch sonst außer uns jemandem etwas von diesem neuen Unheil mitgeteilt?“
„Beides beantworte ich mit nein,“ erwiderte Rickmer ohne Zögern.
„Gut. Dann wird dich jetzt der Baron auf dein Zimmer begleiten, wo ihr bleibt und auf mich wartet. Ich komme bald nach.“
„Ja – wozu das?“ meinte Rickmer unsicher. „Wozu soll –“
„Laß das Fragen! – Baron, nehmen Sie ihn mit.“
Mühlen wußte, weshalb der Ingenieur entfernt werden sollte. Gleich drauf ging er mit dem Opfer der Ränke einer gefährlichen Verbrecherin hinaus.
Merstka aber schloß hinter ihnen die Tür nach dem Hotelflur ab. Dann sagte er laut:
„Bitte, Herr Bernitzki!“ – Worauf dieser die nur angelehnt gewesen Tür von Mühlens Schlafzimmer ganz aufschob und schnell eintrat.
„Was sagen Sie zu dieser Wendung der Dinge?“ meinte der Doktor hastig, indem er den Detektiv erwartungsvoll ansah. „Sie haben doch alles gehört, nicht wahr? – Übrigens ein sehr guter Gedanke von Ihnen, daß Sie ins Schlafzimmer schlüpften.“
„Was ich dazu sage? – Entweder hat Astrid durch einen uns noch unbekannten Helfershelfer den Diebstahl ausführen lassen, oder aber hier haben Leute gearbeitet, die mit den Busterleys tatsächlich nicht in Verbindung stehen, sondern sozusagen auf eigene Rechnung tätig sind. – Das müssen wir unbedingt feststellen.“
Bernitzki gab Merstka dann genaue Anweisungen, wie Rickmer sich zu verhalten habe. Der Doktor versprach, alles genau zu erledigen.
*
Eine halbe Stunde später versammelte sich der „deutsche“ Tisch, zu dem ja auch Astrid gehörte, zum Abendessen. Nur Rickmer fehlte. Dafür hatte Merstka wieder Herrn Albert Peterlein mitgebracht.
Als gerade der erste Gang aufgetragen war, erschien auch der Ingenieur. Ganz langsam kam er herbei, unsicheren Ganges – wie ein Trunkener, ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen. Jeder sah ihm an, daß etwas Besonderes passiert sein müsse, jedes Mitglied des kleinen Kreises schaute ihn daraufhin bestürzt an.
Und Merstka fragte denn auch besorgt und teilnehmend:
„Was ist geschehen, Rickmer?“
„Die Zeichnungen sind mir gestohlen worden,“ preßte der Ingenieur heiser hervor, indem er den Stabsarzt mit hilflos verzweifeltem Gesichtsausdruck anstierte. Er spielte seine Rolle sehr gut.
Bernitzki beobachtete Astrid. Sie erbleichte. In ihren Blick trat helles Entsetzen. Sekundenlang blieb sie wie eine Bildsäule. – Das alles war nicht Mache, das war ehrliches Erschrecken. Sie wußte nichts von dem Diebstahl, war nicht daran beteiligt. Besserer Beweise bedurfte es nicht. Und jetzt war sie es noch, die leise über den Tisch rief:
„Wirklich – die Zeichnungen? – Wo hatten Sie sie denn verborgen?“
Bernitzkis Augen leuchteten einen Moment auf. – Astrid hatte sich eben verraten!
Da erhob sich der Stabsarzt – ganz wie verabredet.
„Komm’, Rickmer, – ich muß dich allein sprechen.“
Auch Mühlen ging mit.
Unter den Zurückbleibenden herrschte eine Weile verlegenes Schweigen. Dann fragte Albert Peterlein schüchtern:
„Um was für Zeichnungen handelt es sich denn eigentlich? – Herr Rickmer tut mir so sehr leid. Er war ganz verstört.“
Inzwischen hatte Astrid ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen, und sofort, als durch die erste Bestürzung die beiden Fragen über ihre Lippen gedrängt worden waren, eingesehen, daß sie damit einen schweren Fehler begangen hatte. Von niemandem der kleinen Gesellschaft war sie ja in dieser Sache ins Vertrauen gezogen worden. Sie durfte also eigentlich gar nichts von den Zeichnungen wissen. Sie hoffte jedoch, daß in der allgemeinen Aufregung diese ihre Fragen und deren sie so stark belastende Bedeutung nicht weiter aufgefallen wäre, suchte ihr Ungeschick nun auch wieder auszugleichen, indem sie zu der Regierungsrätin sagte:
„Gnädige Frau, sind gewesen die Bilder denn so wertvoll? Ich nicht Ahnung davon hatte, daß Herr Rickmer hat gehabt so teure Bilder. Waren es Gemälde –?“
Bernitzki prägte jedes Wort dieser Sätze seinem Gedächtnis ein. – Frau Merstka aber erwiderte:
„Ich muß sowohl Ihnen, Herr Peterlein, als auch Fräulein Busterley die Antwort schuldig bleiben. Ich bin nicht befugt, über die Angelegenheit zu sprechen. Am besten ist, wir berühren den Gegenstand nicht weiter.“
Gleich darauf kam der Kellner Winter und bestellte Herrn Albert Peterlein, daß dieser von Kairo aus am Telephon verlangt werde.
„Ein Herr Professor Müller wünscht Sie zu sprechen,“ fügte er hinzu.
„Ah – Müller, mein alter Studienfreund! – Entschuldigen Sie, meine Herrschaften. – Gesegnete Mahlzeit!“ Er verbeugte sich mit etwas altfränkischer Höflichkeit und verschwand.
Müller war nur eine bestellte Phantasiegestalt Merstkas, und Bernitzki eilte daher auch geradewegs nach Rickmers Zimmer, wo der Ingenieur teilnahmslos und ganz niedergebrochen in einem Korbsessel saß, während der Baron am Fenster lehnte und der Doktor wieder entsprechend seiner lebhafteren Veranlagung hastig auf und ab ging.
Als Bernitzki eintrat, schaute Rickmer halb überrascht und halb unwillig auf. Dann ging ein kurzes Aufleuchten über sein verstörtes Gesicht.
„Sind Sie etwa der Herr, den wir hier erwarten?“ fragte er schnell.
„Allerdings. – Sie gestatten, Detektiv August Bernitzki.“
„Wirklich? Herr Bernitzki?“ In des Ingenieurs matten Augen glomm ein Hoffnungsschimmer auf.
Der angebliche Privatgelehrte nickte und ließ sich dann an der anderen Seite des Tisches in den zweiten Sessel nieder.
„Wir können also beginnen,“ sagte er kurz. „Viel Zeit haben wir nicht. Der, der die Zeichnungen stahl, wird natürlich zusehen, daß er sie schleunigst fortschafft. Also tut Eile not. – Vergegenwärtigen wir uns die Tatsachen. Heute gegen dreiviertel zwei nachmittags waren die Skizzen noch in den Mappen. Als Sie, Herr Rickmer, dann gegen – wie spät mag es gewesen sein?“
„– gegen halb sieben Uhr nachmittags,“ ergänzte der Ingenieur.
„– also gegen halb sieben Uhr dieses Ihr Wohnzimmer hier wieder betraten, war der Diebstahl inzwischen ausgeführt worden. Der Täter hat also während dieser Stunden sein Werk vollendet, zu dem er freilich nur Minuten gebrauchte. – Wer war nun dieser Täter? – Fräulein Busterley jedenfalls nicht, auch keine von ihr beauftragte Person. Ihr Entsetzen bei der Nachricht von dem Verschwinden der Zeichnungen war so echt, wie es eben nicht echter sein konnte. – Erledigen wir gleich im Anschluß an diese Tatsache die eng damit in Zusammenhang stehende, – nämlich daß meine List tadellos geglückt ist und daß die schöne Astrid, von der Sie bisher so außerordentlich viel hielten, Herr Rickmer, uns böse auf den Leim gegangen ist. Hätte sie von der Bedeutung der Zeichnungen nichts gewußt – und wenn sie eine harmlose Vergnügungsreise und nur eine Liebhaberin indischer Jagdstreifen wäre, so hätte ihr eben die ganze Matawara-Angelegenheit ein Geheimnis sein müssen, da niemand von den hier im „Pyramiho“ anwesenden Eingeweihten sie darüber aufgeklärt hat, – so wäre ihr übergroßer Schreck höchst überflüssig, ja, unnatürlich gewesen. Sie zeigte jedoch eine Bestürzung, die deutlich bewies, daß sie für die Skizzen der Erzadern ein lebhaftes Interesse besaß, und sie verplapperte sich auch in ihrer Verwirrung recht stark, als sie einfach nur fragte „Wirklich – die Zeichnungen?“, und dann noch hinzufügte „Wo hatten Sie sie denn verborgen?“, wodurch sie zugab, daß sie wußte, daß sie versteckt gehalten worden waren, und daß sie neugierig war, dieses Versteck zu erfahren, dem sie selbst vergeblich nachgespürt hatte. – All das klang durch ihre Frage hindurch. – Noch mehr belastete sie sich aber, als Sie, meine Herren, unseren Tisch verlassen hatten. Inzwischen war die schöne Astrid nämlich zu der Erkenntnis gelangt, vorhin mit ihren beiden in einem Atem ausgesprochenen Fragen eine kolossale Dummheit begangen zu haben. Sie reihte diesem ersten Ungeschick nun ein zweites an, indem sie gleich darauf die Unwissende spielte und von „teuren Bildern“ sprach, um ja zu verdecken, daß sie wußte, es handele sich um Lagepläne von Erzgängen. Na – mit diesem Schwindel konnte sie August Bernitzki nicht hineinlegen! Wir wissen jetzt, woran wir sind, was Fräulein Astrid Busterley anbetrifft, – wir und – Sie hoffentlich auch, Herr Rickmer! Oder genügt Ihnen dieses Belastungsmaterial noch immer nicht?“
Der arme Ingenieur saß jetzt noch mehr als vorher wie ein armseliges Häufchen Unglück da. Sein Gesicht war flammend rot geworden. Er schämte sich. Und er hatte auch alle Ursache dazu.
Merstka war hinter Rickmers Sessel getreten und klopfte dem Freunde jetzt aufmunternd auf die Schulter.
„Kopf hoch, mein Alter, – wir werden die Sache schon einrenken,“ sagte er herzlich.
Rickmer stöhnte. Dann schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und schrie dazu in herber Selbsterkenntnis:
„Ich Narr – ich blinder Tor! Hätte ich nur auf dich gehört, Merstka! Aber ich war ja geradezu wahnsinnig, verrückt, von Sinnen! Ich – ich habe mich heute nachmittag, um allem Unsinn die Krone aufzusetzen, mit – Astrid verlobt!“
„Donnerwetter!“
Dieser Ausruf des Barons war die einzige Äußerung zu dieser schier unglaublichen Mitteilung.
Sonst sagte niemand etwas. Wohl zwei Minuten blieb es ganz still im Zimmer. Und der bedauernswerte Ingenieur blickte währenddessen scheu von einem zum andern, bis seine Augen hilfeflehend auf der bescheidenen Gestalt August Bernitzkis haften blieben.
Der Detektiv war es denn auch, der nun endlich das peinliche Schweigen beendete.
„Diese Verlobung kann uns nur von Nutzen sein,“ meinte er gelassen. „Falls Sie nämlich gewillt sind, in Zukunft mit mir sozusagen durch Dick und Dünn zu gehen, um eine volkstümliche Redensarte zu gebrauchen.“
„Was heißt das?“ fragte Rickmer unsicher.
„Das heißt, die Verlobung bleibt bestehen! – Sonst merkt Fräulein Astrid nämlich, daß ihre Rolle als unschuldsvoller Engel ausgespielt ist. Und sie muß ahnungslos sein, ganz und gar, muß denken, daß die Veränderung in Ihrem Benehmen, Herr Rickmer, ihr gegenüber nur auf den Diebstahl zurückzuführen ist, – denn ohne eine kleine Veränderung wird’s ja wohl nicht abgehen. Dafür muß Schön-Astrid dann auf andere Weise wieder entschädigt werden, indem nämlich ihr Verlobter ihr unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit das Geheimnis des Matawara-Syndikats, der Expedition und so weiter mitteilt. – Das muß sein, Herr Rickmer, – oder aber wir werden die Rätsel jener Dschungelnacht nie aufklären. – Wollen Sie also meine Vorschläge annehmen, so schwer durchführbar sie Ihnen auch zu sein scheinen?“
Der Ingenieur erwiderte mit einem tonlosen „Ich will!“
„Gut. Dann kann ich Ihnen auch schon jetzt sagen, daß ich davon überzeugt bin, daß Astrid Busterley und der lange James schon in Indien gegen Sie im Komplott gewesen sind. – So, meine Herren, jetzt verlasse ich Sie. Ich habe an anderer Stelle noch zu tun, möchte Sie aber bitten, im Hotel zu bleiben. Vielleicht brauche ich Sie.“
Rickmer hielt den Detektiv, der mit kurzer Verbeugung sich verabschiedet hatte, jedoch noch zurück.
„Ich möchte Ihnen nicht verschweigen, Herr Bernitzki, daß die Skizzen übermorgen von einem Vertrauensmann des Syndikats abgeholt werden sollten, wie zwischen mir und den Berliner Herren brieflich vereinbart worden ist. Ich durfte hierüber nicht sprechen. Jetzt glaube ich jedoch, mich über diese Schweigepflicht hinwegsetzen zu können. Der Herr, dem ich die Zeichnungen aushändigen sollte, wird wie gesagt übermorgen hier eintreffen. Ich kenne ihn persönlich. Es ist ein bekannter Berliner Rechtsanwalt – Doktor Siewert.“
Bernitzki wiegte sich auf den Fußspitzen hin und her.
„Sehr bekannt, sehr!“ meinte er. „Siewert hat seine wohlgepflegten Hände überall mit in dem Topf, wo es was zu greifen gibt. – So, also er sollte – hm, das macht die Sache etwas einfacher – oder vielleicht auch komplizierter, ganz wie man’s betrachtet. – Wußten die Herren in Berlin, wo Sie die Skizzen versteckt hatten, Herr Rickmer?“
„Nein. So dumm war ich doch nicht, dies einem Briefe und Männern anzuvertrauen, die an mich eine runde Million vertragsgemäß zu zahlen hatten und die immerhin auf die Idee kommen konnten, sich auf billigere Weise die Zeichnungen zu besorgen.“
„Sehr verständig gedacht!“ lobte Bernitzki. „Mißtrauen ist oft eine Tugend, besonders wenn sie auch als Vorsicht aufgefaßt werden kann.“
Dann schien ihm ein anderer Gedanke plötzlich gekommen zu sein. Er schaute sich im Zimmer um, machte ein paarmal nachdenklich „hm hm“, ging auf den Diwan zu, der an der Wand nach dem Schlafzimmer zu stand, hob die bis auf den Fußboden herabhängende bunte Diwandecke am Kopfende hoch und – kroch unter das Ruhebett, indem er zu dem Stabsarzt sagte:
„Bitte ein brennendes Licht, Herr Doktor.“
Merstka holte aus Rickmers Schlafzimmer eine elektrische Taschenlampe. Licht gab es in dem mit elektrischer Beleuchtung ausgestatteten Fremdenpalaste nicht. Die Batterie der Taschenlampe war bereits stark verbraucht. Der Ingenieur entnahm jedoch seinem Koffer eine Ersatzbatterie, und August Bernitzki war denn auch sehr zufrieden mit diesem Beleuchtungsmittel.
Was er unter dem Diwan wollte, war den anderen drei Herren nicht recht klar. Sie wagten aber nicht zu fragen, und so herrschte denn fünf Minuten lang in dem Zimmer ein erwartungsvolles Schweigen, während der Detektiv mit der eingeschalteten Taschenlampe halb unter dem Ruhebett liegend herumhantierte. Dann kroch er wieder hervor, stellte die Taschenlampe auf den Tisch neben die beiden Mappen und meinte:
„Es geht nichts über die Sauberkeit – tatsächlich! Auf Wiedersehen also, meine Herren! Und – nicht vergessen, daß ich Albert Peterlein heiße!“ –
Zwei Stunden später, gegen elf Uhr abends.
Die Damen des „deutschen Tisches“ hatten sich bereits zurückgezogen. Rickmer, der Baron und Merstka versuchten es im Spielzimmer mit einem Skat. Viel wurde es nicht damit. Der Ingenieur war zu unaufmerksam. Er dachte fortwährend an das, was Bernitzki gesagt hatte: „Der Dieb wird versuchen, die Skizzen fortzuschaffen. Eile tut not.“
Inzwischen hatte man den Detektiv nicht wieder zu Gesicht bekommen. Offenbar war er aber mit Winter zusammen an der Arbeit, da dieser seinen Dienst als Zimmerkellner im zweiten Stockwerk nicht versah.
Nach einer Viertelstunde warf Rickmer die Karten hin.
„Es geht nicht!“ meinte er. „Ich denke an alles andere, nur nicht an die Spielregeln.“
Merstka bestellte eine Flasche Sekt.
„Wir müssen dieser flauen Stimmung auf irgend eine Weise Herr werden,“ erklärte er. „Wir sitzen mit wahren Leichenbittermienen da. Zweck hat das nicht. Helfen tun wir damit keinem. – Im übrigen, lieber Rickmer, – du hast dich Astrid gegenüber sehr richtig benommen. Was wollte sie denn von dir, als du sie in den Park begleiten mußtest?“
Der Ingenieur verzog den Mund zu einer Grimasse des Abscheus.
„Ich habe getan, was Bernitzki verlangte. Schwer genug ist mir das Heucheln geworden. Dieses Weib ist ein Teufel von Lüge und Verschlagenheit. Ich erzählte ihr die Matawara-Geschichte. Sie spielte die völlig Gerührte. – Ich hasse sie jetzt. Oh – wie ich sie hasse! Man führt einen Ernst Rickmer nicht ungestraft am Narrenseil herum! Der Tag der Vergeltung wird kommen. Ich werde jedenfalls –“
„Vorsicht – Astrid!“ raunte Mühlen ihm zu.
Die schöne Verbrecherin stand in der halb geöffneten Schiebetür, die nach dem Musikzimmer führte, und schaute sich suchend um. Dann kam sie eilig auf den Tisch der beiden Freunde zu.
Merstka tat, als bemerke er sie zuerst, erhob sich und ging ihr entgegen. Sie war auffallend bleich, und in ihren Augen lag ein Ausdruck hellen Entsetzens.
Was mußte ihr nur begegnet sein, daß selbst ihre Schauspielerkünste nicht hinreichten, um diese Verstörtheit zu verbergen?! Sicherlich etwas ganz Außergewöhnliches.
Der Stabsarzt glaubte daher auch, mit gutem Recht auf ihr Aussehen anspielen zu dürfen.
„Fräulein Busterley, was ist geschehen?“
Astrid beachtete ihn nicht, nahm ohne weiteres auf dem vierten leeren Stuhl an dem quadratischen Tisch Platz und schaute Rickmer hilfesuchend an.
„Was gibt’s?“ forschte der Ingenieur leise, indem er sich zu seiner heimlich Verlobten hinüberbeugte.
Astrid schluckte ein paarmal, als bliebe ihr das Wort in der Kehle stecken. Dann sagte sie mit vibrierender Stimme:
„Man ist zweimal vom Balkon her in meine Zimmer eingedrungen – kurz hintereinander. Zwei Farbige waren’s, Inder anscheinend, in europäischer Tracht.“
Die drei Herren warfen sich überraschte Blicke zu. Und das schöne Weib sprach hastig weiter:
„Ich entnahm gerade meinem Koffer im Schlafzimmer ein Wäschestück, als ich im Nebenzimmer durch die offenstehende Tür eine Gestalt davonhuschen sah. Auf dem Nachtschränkchen lag mein Revolver. Ich ergriff ihn und eilte dem Manne nach, der auf den Balkon geflüchtet war und den ich nun wieder bemerkte, wie er gerade über die Holzwand nach Ihren Zimmern hinüberkletterte, Herr Rickmer. Ich rief ihm Halt zu, aber er war zu schnell und verschwand. Sonst hätte ich geschossen.“
In ihrer Aufregung vergaß Astrid vollständig, daß sie das Deutsche jetzt ohne jede Verunstaltung gebrauchte.
„Und der zweite Inder?“ fragte Merstka gespannt.
„Ich drehte das Licht aus und stellte mich dicht hinter die Balkontür,“ fuhr Astrid fort. „Ich rechnete damit, daß der Farbige vielleicht wiederkommen würde. Und – er kam, – kletterte über die Scheidewand, – abermals von Ihrem Balkon her, Herr Rickmer; es war hell genug, um sein Gesicht zu erkennen. Und – es war ein anderer Inder, nicht der erste, einer mit einem langen, schwarzen Bart, wie ihn die Sikhs tragen. Er glitt auf die Balkontür zu – bis auf zwei Schritt vor meine Revolvermündung. Da erst sah er mich, sprang zurück. Ich drückte ab – nochmals – nochmals. Kein Schuß – nur das Klacken des Hahnes. Man hatte heimlich die Patronen aus der Revolvertrommel entfernt. So entging auch dieser Mann mir. – Oh, ich bitte Sie, Rickmer, sehen Sie sofort auf Ihrem Zimmer nach. Vielleicht befinden sich die beiden Inder noch dort. Und – bitte, Herr Doktor, – sagen Sie Ihren Damen, daß ich diese Nacht mit ihnen zusammenschlafen möchte. Ich kann nicht allein bleiben. Ich – ich fürchte mich –“
Die Herren saßen eine Weile stumm da. Zu viel Neues war in diesen Minuten zu ihrer Kenntnis gelangt, das erst in Gedanken verarbeitet werden mußte.
Dann sagte Mühlen leise:
„Warten Sie hier auf uns, Fräulein Busterley. Rickmer und ich werden dessen Zimmer durchsuchen, und der Doktor mag mit seinen Damen sprechen.“
Der Ingenieur neigte sich, eingedenk der Rolle, die er zu spielen hatte, wieder dicht zu Astrid hin und flüsterte:
„Sei ohne Sorge. Wir werden die Sache aufklären.“
Dann gingen sie. Draußen in der Vorhalle blieben sie stehen.
„Was bedeutet das nun wieder?“ meinte Merstka. „Und weshalb diese furchtbare Angst Astrids vor den Indern? Sie ist doch sonst kaltblütig wie ein Mann mit den besten Nerven?!“
Rickmer zog die Schultern hoch.
„Mir unbegreiflich,“ meinte er.
Und Mühlen fügte hinzu:
„Jedenfalls muß sie wohl guten Grund haben, diesen oder jenen Inder wie einen Todfeind zu fürchten. So viel ist sicher, denke ich.“ –
Merstka fand Mutter und Schwester noch auf dem Balkon sitzend, wo die Damen die kühle Nachtluft genossen.
Nun gab es viel zu erzählen. Bisher hatte er heute abend noch keine Gelegenheit gefunden, ihnen über die Vorgänge dieses Nachmittags Bericht zu erstatten, besonders über die Verlobung und die wahre Persönlichkeit des bescheidenen Herrn Albert Peterlein.
Die Verlobung erwähnte er nur ganz kurz. Eine innere Stimme sagte ihm, daß Hildegard bei ihrem Interesse für Rickmer durch dieses Ereignis nur schmerzlich berührt werden konnte.
Daß er sich nicht getäuscht hatte, bewies ihm Hildes jäher Farbenwechsel. Dann erhob sie sich schnell und ging auf den Balkon hinaus.
Mutter und Sohn tauschten einen langen Blick aus. Sie verstanden sich.
Der Stabsarzt liebte seine Schwester so, wie dies nicht oft zwischen Geschwistern vorkommen wird. Aber diese tiefe, innige Zuneigung war anderer Art als die, mit der Ernst Rickmer die Wunderblume von Buckow umgeben hatte. Der Ingenieur war zunächst mehr der liebevolle Vormund und Berater Gerdas gewesen. Das hatte der Doktor nie nötig gehabt. Hilde Merstka war ein selten selbständiger Charakter von Jugend an. Klug, lernbegierig und mit offenem Blick für des Lebens traurige und ernste Seiten, war sie stets des Bruders bester Kamerad und Vertrauter geblieben, sogar in den Jahren, als beide die Kinderschuhe längst ausgezogen hatten. Dem Doktor imponierte die ganze Art dieses jungen Weibes, das ein heißes Herz unter einer gewissen kühlen Überlegenheit und verschlossenen Herbheit verbarg.
Merstka ging Hilde nach, umschlang sie, zog sie sanft an sich und sagte leise:
„Kleines, sei mal ehrlich! Rickmers Verlobung hat dir sehr weh getan, nicht wahr?“
Er mußte ein paar Minuten auf die Antwort warten.
Ganz gedämpft tönte aus der Ferne irgendwoher Streichmusik zu ihnen empor, – ein sehnsüchtiger Walzer, der sich ins Ohr schmeichelte und das Herz weich machte. Die Luft war lau und angenehm. Und die volle Scheibe des Mondes stieg eben über den scharfen Dachkonturen eines Gebäudes hoch, das inmitten eines großen Palmenhaines dort drüben lag, wo es zum alten Vater Nil hinunterging, zu dem Befruchter der weiten Felder, die einst schon die Untertanen eines Pharao bebaut hatten.
Dann sagte Hilde ebenso leise:
„Ich habe nicht ahnen können, daß mir gerade hier der Mann begegnen würde, der mein Herz als erster höher schlagen ließ. – Schicksalswalten ist’s. Ich werde mich damit abfinden. – Ich weiß, ich bin keine Astrid, keine lockende Zauberin. – Und er – er ist krank oder doch ein Genesender, der noch nicht – doch wozu diese Erörterungen?! Komm’, gehen wir hinein, Fritz. Die Hauptsache bleibt ja, daß er aus den Netzen dieses Weibes befreit wird –“
Der Doktor küßte sie auf die Wange. Arm in Arm betraten sie wieder das Zimmer.
Als der Stabsarzt von der Bitte Astrids, bei den beiden Damen die Nacht verbringen zu dürfen, gesprochen hatte, sah die Regierungsrätin Hilde unsicher an.
Diese erklärte jedoch ohne Zögern, im Interesse der guten Sache müsse man notwendig auch diesen Besuch hinnehmen.
„Lehnen wir ab, so könnte sie argwöhnisch werden. Das darf nicht sein.“
Dieses Moment war ausschlaggebend.
In dem sehr geräumigen Schlafzimmer wurde auf dem schnell aus dem Wohngemach hineingerollten Diwan ein Lager für Astrid hergerichtet.
Dann ging Merstka zu der schönen Sünderin hinunter und brachte sie zu den Seinen.
Die Rätin als weltgewandte Dame kam leichter über die peinliche Begegnung hinweg als Hilde. Aber auch diese nahm sich zusammen. Nachdem Merstka gegangen war, plauderten die drei Damen noch eine Weile von gleichgültigen Dingen und gingen dann zur Ruhe.
Astrid, die im Spielzimmer noch schnell, nur um ihre Nerven zu betäuben, ein paar Gläser schweren griechischen Weines getrunken hatte, schlief bald ein. Auch Frau Merstka atmete tief und gleichmäßig. Hilde war völlig munter. Die Fenstervorhänge schlossen nicht ganz dicht, und mitten über den gewachsten, matt glänzenden Stabfußboden zog sich ein leuchtender Streifen des Lichtes des Nachtgestirns hin.
Hildes Gedanken gingen krause Bahnen. An alles Mögliche dachte sie. An Ernst Rickmer wollte sie nicht denken. Und doch kehrte ihr Denken auf Umwegen zu ihm zurück, – fortwährend. –
Armer Baron von Mühlen! Arme Gerda! Wie treu er sie doch lieben mußte, wie er sie gesucht hatte, um sie für immer an sich binden zu können. Und dann diese traurige Botschaft. Ob Gerda noch lebte?! Ob es richtig von ihrem Bruder gewesen war, sie mit sich in die Einöden der Matawara-Berge zu nehmen? –
Da – Hilde horchte auf. –
Astrid sprach im Schlaf, warf sich unruhig hin und her.
Wie unheimlich das klang, dieses undeutliche Gemurmel in der stillen Nacht, in der Dunkelheit des großen Zimmers.
Wieder ein paar Worte. –
Hilde glaubte jetzt einen fremdländisch klingenden Namen zu verstehen.
Abermals derselbe Name, wie in tiefer Angst, dann ein qualvolles, doppelt schrecklich anzuhörendes Stöhnen.
„Mowiru!“
Hilde erhob sich lautlos, schlich nach dem Diwan hinüber. Sie wußte, daß ihre großen, dunklen Augen eine seltsame Macht besaßen.
Vierzehn Jahre war sie alt gewesen, als die Eltern sie zum ersten Mal mit in den Berliner Zoologischen Garten genommen hatten. Man kam vor den Käfig, in dem sich drei Steppenwölfe befanden, die erst vor kurzem dem Garten als Geschenk überwiesen worden waren. Da hatte Hilde versucht, ob auch die Raubtiere ebenso wie der bissigste Hund ihrem Blick nicht standzuhalten vermochten, hatte die Bestien scharf fixiert. – Und scheu waren die Wölfe alsbald bis in den Hintergrund des Käfigs zurückgewichen. Dann als das halberwachsene Mädchen mit den Eltern weitergegangen war, kamen die gelbgrauen Bestien wieder nach vorn gestürzt, wie in toller Wut gegen das armselige Menschenwesen, das so viel Macht in den Augen schlummern hatte. Als Hilde nun abermals schnell vor das Gitter trat, krochen die Steppenräuber wiederum in den fernsten Winkel. –
Da hatte der Regierungsrat Merstka gelacht und gesagt: „Mädel, du müßtest Tierbändigerin werden!“
Das war vor ungefähr acht Jahren gewesen. Die großen dunklen Augen behielten ihren Zauber, scheuchten das Getier davon – vielleicht auch die Menschen, die Männer, die sich diesem klaren Blick gegenüber unbehaglich fühlen mochten. –
Hilde beugte sich über die schlafende Gegnerin, die ihr das Herz des einen gestohlen, dem sie vom ersten Moment ihrer gegenseitigen Bekanntschaft an alles hätte geben können, all ihre seit langem aufgespeicherte Sehnsucht nach Liebe mit der flehenden Bitte: „Schenke mir das Glück!“
Wieder bewegten sich Astrids Lippen.
„Mowiru – Gift – Vergessen –“ Dann ein höhnisches Auflachen, mehr ein Kichern, teuflisch, grausam.
Hilde beugte sich noch weiter herab. Ihre Augen bohrten sich starr in das Gesicht der lebhaft Träumenden. Ihr Mund formte einen Befehl.
„Wer ist Mowiru? Ich will es wissen!“
Astrid lag jetzt ganz still, das Antlitz zur Decke gewandt.
„Wer ist Mowiru?“ wiederholte Hilde noch eindringlicher.
„Ein Thug –“ Wie ein Hauch kam es über die Lippen der Schlafenden.
Hilde wußte Bescheid. Thug oder Taggi, Anbeter der Kali, der blutigen Göttin, – ein furchtbarer Geheimbund.
Sie erschrak. Sollte etwa –?
Noch fester lag ihr Blick jetzt auf den geschlossenen Lidern der Feindin.
„Mowiru hat Gerda ermordet?“ fragte sie nun, scharf jedes Wort betonend.
Astrids rechte Hand, die auf der Decke lag, fuhr unruhig hin und her, die Finger krampften sich zusammen, öffneten sich wieder.
„Nein – nicht ermordet –“ flüsterte das schöne Weib, „– nicht ermordet. – Das Gift – Mowiru – auch Ansura –“
In demselben Augenblick bewegte die durch die offenen oberen Luftscheiben streichende Zugluft die Vorhänge, und in breiter Flut glitt das Mondlicht über Astrids Gesicht hin. Ein Ausdruck höhnischen Triumphes war darin ausgeprägt. Dann schlug sie die Augen auf, und Hilde flüchtete eilends ihrem Bette zu.
Astrid, noch ganz schlaftrunken, richtete sich auf. Die Vorgänge wehten hin und her, und in gleichen Zwischenräumen zog auch das Mondlicht über den Diwan in breitem Streifen hinweg.
Hilde sah, wie Astrids Züge sich veränderten. Angst und Entsetzen traten scharf hervor. Und dann rief die schöne Verbrecherin halblaut:
„Fräulein Merstka – Fräulein Merstka!“
Das Grauen mußte ihr das Herz zusammenpressen, das Grauen vor irgend einer Szene, die das Mondlicht in ihrer Erinnerung wachgerufen hatte; denn jetzt sagte sie mit zitternder Stimme vor sich hin:
„– wie damals im Dschungel, als der Mondschein auf den Treppen lag und die Nebel den Dschungel verhüllten –“
Vor bebender Angst offenbar dann wieder ein Hilferuf:
„Fräulein Merstka – Fräulein Merstka!“
Hilde rührte sich nicht. Und die Vorhänge hingen jetzt wieder still. – Da sank Astrid seufzend in die Kissen zurück.
Der Baron und Rickmer schalteten in den beiden Zimmern sofort alle Beleuchtungskörper ein.
„Ich kann mir gar nicht denken, daß sich hier bei dir ein Mensch versteckt haben sollte,“ meinte Mühlen leise. Zwischen ihm und dem Ingenieur hatte jetzt ebenfalls das vertrauliche „Du“ Anwendung gefunden. Das lag ja auch so nahe, wo die beiden Männer ein gemeinsames Ziel hatten, – das Schicksal Gerdas aufzuklären, nachdem die zwischen ihnen bestehenden Mißverständnisse aus dem Wege geräumt worden waren.
Rickmer wollte gerade für alle Fälle seinen Revolver aus der Schieblade des Nachtschränkchens nehmen, als ein erstaunter Ausruf Mühlens ihn veranlaßte, sich schnell umzudrehen. In der offenen Schlafzimmertür stand ein in einen grauen, leichten Anzug gekleideter Inder mit aufgeweckten Zügen.
Der Ingenieur glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
„Sirawata, du hier –? Bist du’s wirklich?“
Der Inder verbeugte sich ehrerbietig.
„Sahib, ich bin’s. Dein Brief, in dem du mir schriebst, du würdest dich hier nach Ägypten wenden, erreichte mich gerade zur rechten Zeit. Außerdem –“
Rickmer hatte dem Bruder der armen, geistesgestörten Ansura, der von ihm bei der Expedition als sein persönlicher Diener beschäftigt worden war, herzlich die Hand hingestreckt.
„Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, Sirawata. Du mußt doch aber besondere Gründe haben, daß du mir nachgereist bist.“ Dann deutete er auf den Baron. „Jener Sahib dort ist der Verlobte meiner Schwester. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Also sprich dich ruhig aus. – Komm’, nehmen wir im Wohnzimmer Platz.“
Sirawata, ebenso wie Ansura auf einer Missionsstation erzogen, war ein sehr intelligenter Mensch, konnte lesen und schreiben und besaß für einen Eingeborenen recht gute allgemeine Kenntnisse. Die würdevolle Ruhe seiner Bewegungen, der wohltuende Ton seiner Stimme und der offene Blick machten ihn zu einer sehr sympathischen Erscheinung. Er beherrschte die englische Sprache tadellos.
Nachdem die drei sich um den Tisch gesetzt hatten, fragte Rickmer gespannt, wer denn der andere Inder wäre, der sich hier im „Pyramiden-Hotel“ aufhalten würde.
Sirawata erwiderte ohne Zögern, er wisse nichts von einem Landsmann, der hier wohne. Er sei jedenfalls mit Ansura allein aus Bombay vor acht Tagen abgereist und in Kairo in einer billigen Karawanserei abgestiegen.
Deutete schon das Auftauchen Sirawatas in Gizeh, das auf so eigentümliche Art zu Rickmers Kenntnis gelangt war, auf wichtige Geschehnisse hin, so bekam diese Überraschung noch durch die verneinende Antwort des Inders einen sehr bedeutungsvollen Anstrich.
Bevor Rickmer jedoch an seinen einstigen Diener eine neue Frage richten konnte, überreichte dieser ihm einen versiegelten Brief.
„In dem Schreiben steht verschiedenes, was der weiße Sahib mit der Brille an der Schnur dich wissen lassen wollte,“ sagte Sirawata.
Rickmer riß den Umschlag auf. Der Brief war mit Bleistift flüchtig hingeworfen, der Verfasser aber kein anderer als Bernitzki. Diese teilte dem Ingenieur folgendes mit:
„Lieber Herr Rickmer!
Ich habe soeben auf etwas ungewöhnliche Art die Bekanntschaft Sirawatas gemacht. Wir – Winter und ich – faßten den braunen Burschen gerade dabei ab, als er sich mit Hilfe eines Nachschlüssels Eingang in Astrids Räume verschaffen wollte. Auf mein Zimmer zu einem Verhör gebracht, wollte er zunächst nicht recht mit der Sprache heraus. Da ich mir aber sofort zusammenreimte, daß er vielleicht nur aus Gründen, die man drüben in Indien suchen muß, für das schöne Weib ein so einbrechermäßiges Interesse hätte, sagte ich ihm dies auf den Kopf zu, woraus er wieder schloß, daß ich Ihre Leidensgeschichte kennen würde. So kam schnell ein gegenseitiges Verstehen zustande. Sirawata zeigte mir dann auch noch das Zeugnis, das Sie ihm nach Beendigung Ihrer „Jagdexpedition“ ausgestellt hatten. Nun war ich meiner Sache ganz sicher. Winter als Etagenkellner hat nachher den Inder mit Hilfe des richtigen Schlüssels in Ihr Zimmer eingelassen, wo Sirawata Sie erwarten sollte. Lassen Sie sich von ihm genau erzählen, was seit Ihrer Abreise in Nagpur geschehen ist. Sie werden daraus neue Hoffnung schöpfen können. Ich selbst fahre heute nacht noch nach Port Said. Ich verabschiede mich absichtlich nicht von Ihnen und den anderen Herrschaften, da ich allen unnötigen Fragen aus dem Wege gehen will. Astrid sagen Sie, ich, Albert Peterlein, hätte Ihnen kurz schriftlich mitgeteilt, ich wolle mit meinem „alten Freunde, dem Professor Müller“, zu Schiff eine Nilfahrt unternehmen und ließe mich allerseits bestens empfehlen. Sollte Ihre Anwesenheit irgendwo nötig sein (wohin die Jagd geht, auf der ich mich befinde, weiß ich ja noch nicht), so depeschiere ich an Sie. Ihren Zeichnungen bin ich auf der Spur. Also Kopf hoch und – jede nur erdenkliche Vorsicht gegenüber Ihrer „Braut“ die diese Eigenschaft schon noch eine Weile unverdientermaßen beibehalten muß. –
Auf Wiedersehen – A. B.“
Rickmer hatte den Brief halblaut vorgelesen, damit der Baron ebenfalls von dem Inhalt Kenntnis erhielt. Nun legte er das Schreiben vor sich auf den Tisch und schaute seinen einstige braunen Diener, einen der wenigen Zeugen jenes unheimlichen Morgens im Dschungeltempel, mit einem Gemisch von Wiedersehensfreude, Neugier und leichter Verlegenheit an.
„Sirawata,“ sagte er dann leise, „ich weiß wahrhaftig nicht, wo ich mit den Fragen beginnen soll. Mir ist ganz wirr im Kopf. – Es ist zu viel, was heute auf mich einstürmt. Welch ein Tag – welch ein Tag! Gekrönt wird er dadurch, daß du wieder bei mir bist, alter Kamerad aus den Matawara-Bergen, und daß der Sahib „mit der Brille und der Schnur“ mir schreibt, ich dürfte neue Hoffnungen schöpfen, sowohl Gerda wiederzusehen als auch meine Zeichnungen zurück zu erhalten.“
Da mischte sich der Baron ein. Er merkte, daß Rickmer infolge seines leidenden Zustandes nicht in der Lage war, die verwickelte neue Sachlage zu überschauen. Daher nahm er die weitere Besprechung mit Sirawata in die Hand, indem er zu Rickmer sagte:
„Gestatte, daß ich einige Fragen an unseren braunen Freund richte, bevor dieser mit der Schilderung der neuesten Vorgänge in Nagpur beginnt.“
Die Unterhaltung wurde in Rücksicht auf den Inder in englischer Sprache geführt.
„Aber bitte, lieber Mühlen!“ erwiderte der Ingenieur sofort. „Mir ist es sogar sehr angenehm, wenn du für mich einspringst. Ich bin total erschöpft – total.“
Er erhob sich und füllte drei Spitzgläschen aus einer dickbauchigen Flasche.
„Das wird uns erfrischen,“ meinte er. „Zum Wohle!“
Sirawata rührte das Glas nicht an.
„Du weißt, Sahib Rickmer, ich trinke kein brennendes Wasser,“ erklärte er mit würdevoller Bestimmtheit.
Mühlen hatte sich schnell auf den Rand einer Zeitung einiges notiert.
„So, nun können wir wohl anfangen,“ begann er schon etwas ungeduldig. „Klären wir zunächst auf, was es mit dem zweiten Inder für eine Bewandtnis hat. Das ist das wichtigste, da uns vielleicht dann die Pflicht erwächst, diesem Manne nachzuspüren, der doch nach Astrid Busterleys Angaben gleichfalls auf deinen Balkon hinüberflüchtete, Rickmer. – Also, Sirawata, passe einmal genau auf. Du wurdest von dem Sahib Winter hier in diese Zimmer eingeschlossen. Was tatest du dann?“
„Ich setzte mich erst dorthin, wo du jetzt sitzt, Sahib Mühlen. Dann dachte ich daran, daß ich vielleicht in den Zimmern der weißen Schlange drüben nach dem Gifte suchen könnte, welches sich in ihrem Besitz befinden muß. Dasselbe hatte ich ja auch tun wollen, als der Sahib mit der Brille an der Schnur mich ergriff. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, kletterte über die Balkonscheidewand und schlich mich in den ersten Raum, in den man vom Balkon aus gelangt. Kaum war ich dann mit dem Durchstöbern eines dort stehenden offenen Koffers fertig, als ich die Außentür des Zimmers öffnen hörte. Ich löschte schnell mein Wachslicht aus und schlüpfte hinter den einen Schrank, wo mich ein langer Damenmantel und andere Kleidungsstücke notdürftig verbargen. – Die weiße Kobra trat ein. Ich sah sie jetzt, als sie das Licht angedreht hatte, erst zum zweiten Mal in meinem Leben und auch an diesem Tage. Zuerst bekam ich sie zu Gesicht, als du, Sahib Rickmer, nachmittags mit ihr hinten im Hotelpark warst. Da lag ich unweit von euch im Gebüsch versteckt.“
Rickmer wurde sehr rot und verlegen. Der Gedanke, daß Sirawata Zeuge gewesen sei, wie er Astrid in heißer Leidenschaft als Braut an seine Brust gezogen und stürmisch geküßt hatte, war ihm mehr als peinlich.
Doch der Inder sprach schon weiter.
„Wie ich dann das Zimmer verließ, als die weiße Kobra in ihrem Schlafgemach weilte, erblickte sie mich und folgte mir. Aber ich war geschickt genug, schnell wieder über die Wand mich zu schwingen und kroch dann hier in diesem Raum dort unter den Diwan.“
Rickmer und Mühlen tauschten einen schnellen Blick aus. Beide dachten daran, daß auch Bernitzki vor kaum einer Stunde sich halb unter das Ruhebett gezwängt hatte.
„Ich fürchtete nun jeden Augenblick, daß Leute kommen könnten, die nach mir suchten,“ fuhr der Inder fort. „Doch meine Angst war umsonst. Ich blieb also in meinem Versteck, wo ich dann zu meiner Freude bald deine Stimme hörte, Sahib Rickmer. So ist es gekommen, daß ich von einem zweiten Manne, der bei der weißen Schlange eingedrungen war, nichts wahrnehmen konnte.“
„Hast du die Patronen aus der Waffe auf dem Nachttischchen der Mem-Sahib Astrid entfernt,“ fragte Mühlen gespannt.
Sirawata nickte. „Ich tat’s aus Vorsicht. Die weiße Kobra sticht nicht nur, sie weiß auch mit dem Revolver nur zu gut umzugehen.“
Der Baron wandte sich jetzt an Rickmer.
„Unbegreiflich!“ meinte er. „Astrid hat bestimmt erklärt, der zweite Inder mit dem langen Sikhbart wäre ebenfalls nach hierhin über die Scheidewand geflüchtet. – Wer wohnt auf der anderen Seite neben dir? Vielleicht ist der Bärtige weiter dorthin geflohen.“
„Keine Ahnung! Es ist ein einzelnes Zimmer, das zumeist an Durchreisende abgegeben wird,“ erwiderte Rickmer.
Mühlen überlegte.
„Wir müßten nach Winter klingeln,“ meinte er dann. „Der wird ebenfalls für diesen zweiten Inder viel Interesse zeigen.“
„Sahib Winter ist nicht mehr im Hotel,“ sagte Sirawata lebhaft. „Er reiste mit dem Sahib mit der Brille an der Schnur gleichzeitig ab. Dieser hat dies in seinem Briefe wohl zu erwähnen vergessen.“
„Das ist ärgerlich,“ erklärte Mühlen enttäuscht. „Eigentlich müßten wir doch sofort feststellen, ob hier im „Pyramho“ ein Farbiger mit langem dunklem Bart wohnt. Wir dürfen nichts versäumen, was mit der ganzen Angelegenheit irgendwie zusammenzuhängen scheint. Bernitzki würde uns mit Recht schwere Vorwürfe machen, wenn wir dieser Sache nicht ebenfalls mit aller Energie nachgingen.“
Rickmer war schon aufgestanden und an die Flurtür geeilt, neben der das Telephon hing, das mit dem Hotelbureau verbunden war.
Der Ingenieur läutete das Bureau an und erhielt sehr bald den Bescheid, daß zur Zeit außer einem japanischen Kaufmann und einem chinesischen Ingenieur keine exotischen Gäste im „Pyramho“ vorhanden seien.
„Seltsam, mehr als seltsam!“ sagte Mühlen darauf. „Dann hat der Bärtige sich also hier eingeschlichen. Wer mag es nur sein? Und – was wollte er bei Astrid, – was suchte er dort?!“
Der Baron hatte unwillkürlich Sirawata dabei fragend angeschaut.
Der erklärte jedoch mit der Ruhe der vollen Wahrhaftigkeit:
„Sirawata kann dem Sahib Mühlen hierüber keinerlei Aufschluß geben.“
„Was tun?“ meinte der Baron achselzuckend. „Sollen wir den Hoteldirektor benachrichtigen und mal die Nebenräume einer Durchsuchung unterziehen? – – Ich würde davon abraten. Wir müßten ja dann dem Direktor notwendig eine Erklärungen abgeben, die ihm zu viel von dem verraten würden, was uns beschäftigt.“
„Sehr richtig! – Lassen wir den zweiten Inder also vorläufig laufen,“ stimmte Rickmer zu.
Mühlen richtete das Wort wieder an den Inder.
„Jetzt also nach Nagpur! – Vorwärts, Sirawata, – aber fasse dich kurz!“
Der Inder verbeugte sich würdig.
„Ich werde mir alle Mühe geben, Sahib!“
„Die Polizeisoldaten und die beiden englischen Detektivs, die Sahib Rickmer, als er einmal im Krankenhaus in Nagpur einen fieberfreien Tag hatte, auf seine Kosten nach dem Dschungeltempel im Westen der Matawara-Berge schickte, fanden in dem alten Heiligtum bekanntlich zwei Leichen, – die Darba-Sings, unseres Gefährten, der sein Dolchmesser hatte suchen wollen, und eines zweiten Landsmannes von mir, dem Gesichtsschnitt nach eines Radschputen. Darba-Sing war erdrosselt worden. Der Radschpute hatte eine Revolverkugel im Schädel, die einer der englischen Detektive aus dem Kopfe des Toten herausholte. Der erwürgte Darba-Sing bildete den besten Beweis für meine Vermutung, daß auch die Mem-Sahib Gerda den Thugs zum Opfer gefallen sei. So nahm ich damals an. –
Die Polizei hatte in dieser Sache weiter keinen Erfolg. Der Trupp kehrte nach Nagpur zurück und brachte als einzige Zeichen seiner Tätigkeit die Photographien der bereits halb verwesten Leichen der beiden Toten, die die Detektivs aufgenommen hatten, und die Revolverkugel mit.
Sehr bald darauf verließ Sahib Rickmer, erst halb genesen, Nagpur. Er beschenkte mich überreich, und ich wäre ein glücklicher Mann gewesen, wenn nicht das Unheil in Gestalt meiner kranken Schwester Ansura mir dauernd vor Augen gestanden hätte. So blieb auch die Erinnerung an jene Dschungelnacht stets lebendig in mir, ebenso das Gedenken an den Schwur, den ich an dem Morgen, als Ansura das Gedächtnis verloren hatte, geleistet, daß ich alles tun würde, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen und die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.
Wir, Ansura und ich, bewohnten nun wieder unsere Hütte im Eingeborenenviertel von Nagpur, die so lange leer gestanden, als wir mit Sahib Rickmer durch die Dschungeln und Berge gezogen waren.
Am vierten Tage nach der Abreise Sahib Rickmers kam dann ein Mann zu mir, ein Inder aus den wohlhabenden Kreisen, der sich Kutima-Kuti nannte und in Delhi beheimatet sein wollte. Später zeigte sich, daß der Mann mich belogen hatte, was seinen Namen und Wohnort anbetraf.
Dieser Kutima-Kuti reiste angeblich als Händler und tat so, als sei er zufällig nur in unsere Hütte gelangt. Er bot mir verschiedene Dinge aus seinem Koffer zum Kauf an, breitete auch vor Ansura schöne Schleier und Tücher aus und war so bescheiden mit seinen Preisen, daß ich ihm verschiedenes abnahm. Bald merkte ich aber, wie er offenbar absichtlich das Wort immer wieder an meine arme Schwester richtete, deren Zustand inzwischen insofern etwas besser geworden war, als sie, wenn auch die Erinnerung an früher in ihrem Geiste völlig fehlte, doch bereits wieder mit einigem Verständnis der Gegenwart gegenüberstand. Sie lebte so, als habe ihr Dasein erst von dem Augenblick an begonnen, als Sahib Rickmer sie an jenem Morgen im Dschungeltempel die Treppe aus der Wildnis emporsteigen sah und als er sie dann anrief. Alles mußte sie langsam neu lernen und ihrem Gedächtnis einprägen – alles: ihren Namen, den meinigen – und so fort. Sie war wie ein Kind, das man ins Leben einführt und das auffallend schnell begreift, was um sie her vorgeht. Oft genug hatte ich versucht, die Erinnerung an früher durch eindringliches und liebevolles Befragen zu wecken. Doch es war vergeblich.
Dasselbe wollte nun ohne Zweifel auch der angebliche Händler. Er sagte mir so nebenbei, er habe in der Zeitung von den seltsamen Begebenheiten in dem alten Heiligtum gelesen, – von dem Verschwinden einer weißen Mem-Sahib und dem Unglück meiner Schwester.
Als ich erst wahrnahm, daß Kutima-Kuti ein so sonderbares Interesse für Ansura und für die Rätsel jener Nacht hatte, da gab ich sehr genau auf alle seine Worte acht, stellte mich aber völlig harmlos.
Kutima-Kuti blieb wohl an die zwei Stunden bei uns. Nachmittags kam er wieder. Abermals fragte er erst Ansura allerlei, forschte dann auch mich wieder aus. Was er von uns erfuhr, konnte ihn nicht befriedigt haben, da er plötzlich sein Benehmen änderte und etwa folgendes zu mir sagte:
„Sirawata, ich will mich dir anvertrauen. Ich weiß mehr als die Polizei über den einen der Toten aus dem Dschungeltempel. Der, der erschossen wurde, war ein Verwandter von mir. Als ich in meiner Heimat Delhi aus den englischen Zeitungen von den beiden Leichen und auch von deren genauer Beschreibung Kenntnis erhielt, vermutete ich gleich, daß der Erschossene niemand anders als Mowiru, mein Halbbruder, sei. Ich forschte genauer nach und erfuhr, er habe gerade zu jener Zeit in Nagpur geweilt, als dort ein Engländer namens Busterley für eine Jagdexpedition Leute anwarb. Kurz vorher war die andere Expedition, an der auch du, Sirawata, und deine Schwester teilnahmt, nach Norden zu aufgebrochen. Ich möchte nun von dir wissen, ob ihr im Dschungel irgendwo mit dem Trupp des Engländers zusammengetroffen seid. Ich vermute nämlich, daß dieser Sahib Busterley, der die Vorbereitungen für seine Expedition in Nagpur möglichst geheim gehalten hatte, Grund besaß, deinem Sahib Rickmer zu folgen, ohne daß ihr etwas davon ahnen solltet. Busterley hatte nun auch – du siehst, wie eifrig ich meines Halbbruders wegen tätig gewesen bin! – eine weiße Mem-Sahib genau so wie Rickmer bei sich. Das Haar dieser Mem-Sahib war wie das Laub des Dukgar–Baumes nach langer Trockenheit, – braunrot. Und diese Begleiterin Busterleys besaß einen Revolver, den sie hier in Nagpur erst kaufte, eine selten gute Waffe von einem nicht gerade häufigen Kaliber. Die Kugeln der Patronen des Revolvers, die die braunrote Mem-Sahib gleichzeitig bei demselben Manne erwarb, hatten vier Ringe und neun Längskerben zwischen den Ringen. Und ein solches Geschoß brachte Mowiru den Tod. Die Kugel hat die Polizei ja aus dem Schädel entfernt und bewahrt sie auf. Ich habe sie gestern gesehen. Vielleicht ist es also die Gefährtin des Sahib Busterley gewesen, die meinen Halbbruder tötete. Vielleicht! Busterleys Expedition ist dann nicht wieder in Nagpur erschienen. Wo er mit seinen Leuten und der braunroten Mem-Sahib geblieben, vermag niemand zu sagen. Oder – kannst du mir darüber Aufschluß geben? – Du sollst eine große Summe erhalten, wenn du mir alles mitteilst, was du weißt.“
So sprach Kutima-Kuti. Ich konnte mir das Geld nicht verdienen. Ich wußte nichts.
Als Kutima-Kuti uns wiederum unverrichteter Sache verlassen hatte, überlegte ich mir nochmals alles ganz genau, was er mir anzuvertrauen genötigt gewesen war, um auch mich zum Reden zu bringen. Ich sagte mir, daß sein Verdacht, die braunrote Mem-Sahib sei jenes Mowiru Mörderin, vieles für sich hatte. Ich war schließlich auch der Ansicht, ich hätte dir gegenüber die Pflicht, nunmehr selbst nachzuforschen, ob jener Sahib Busterley vielleicht nur zum Schein Tiger und anderes Raubwild habe erlegen, in Wahrheit aber dir habe nachspionieren wollen, zumal es sich doch um Millionenschätze an Edelerzen handelte.
Nun – ich habe nachgeforscht. Wie ich das tat, kann ich jetzt hier nicht genauer schildern. Jedenfalls brachte ich schon am nächsten Tage heraus, daß derselbe Chinese, den wir in der Nähe Nagpurs auf dem Rückmarsch im Dschungel erschöpft und völlig am Geiste krank auffanden, gleichfalls einer der wenigen Leute der Expedition des Sahib Busterley gewesen war. Dieser Schi-Sao, in Nagpur als vorzüglicher Koch einst vielgesucht, hatte in seiner geistigen Verfassung nun leider eine so auffallende Ähnlichkeit mit der meiner bedauernswerten Schwester, daß aus ihm auch nicht ein Wort über jene zweite Expedition herauszubringen war. Er wußte nichts mehr, nichts, hatte alles vergessen. Seine Erinnerung begann erst undeutlich von dem Moment an, als wir ihn damals in der Wildnis verirrt angetroffen hatten. Immerhin war der Chinese für mich eine wertvolle Persönlichkeit. Er hatte, bevor die Expedition Busterleys Nagpur verließ, sich hie und da mit Mowiru, dem gleichfalls für das Unternehmen angeworbenen Radschputen, zusammen gezeigt. So fand ich einige Leute, die mir wieder darüber Auskunft geben konnten, ob Mowiru wirklich in Nagpur ganz fremd gewesen war. Dies schien nicht der Fall zu sein. Ich stellte fest, daß er mit verschiedenen Männern verkehrt hatte, von denen man im Volke behauptete, sie seien Mitglieder des über ganz Indien verbreiteten Bundes der Thug. Als ich dies erfuhr, lichtete sich scheinbar schon etwas das Dunkel, das über dem Tode der beiden Männer im Dschungeltempel schwebte. Ich vermutete, Mowiru habe Darba-Sing zu Ehren der blutigen Kali erdrosselt und die braunrote Mem-Sahib dann den Radschputen erschossen. Um mir hierüber Gewßheit zu verschaffen, ging ich zu einem eingeborenen Geheimpolizisten, den ich gut kannte, und bat ihn, mir alle Aufzeichnungen zu besorgen, die die englischen Behörden in ihrem steten Kampfe gegen die Thugs gesammelt hatten. In dem Aktenband stieß ich dann auch auf eine Stelle, bei deren Durchsicht mir der Herzschlag einen Augenblick stockte. Da war nämlich darauf hingewiesen, daß die Führer der Thug-Brüderschaft angeblich ein Gift, einen Pflanzensaft, kennen sollten, der das Gedächtnis völlig auszulöschen imstande sei.
Du wirst begreifen, Sahib Rickmer, wie sehr mich diese kurze Notiz in den Geheimakten erregte. Ich war jetzt ganz fest davon überzeugt, daß Sahib Busterley und seine Begleiterin damals in der Nähe des Dschungeltempels gewesen sein mußten, als wir jenen Morgen des Schreckens erlebten, und daß Mowiru tatsächlich ein Thug war, der vielleicht mit Wissen der beiden Busterleys sowohl Ansura als auch später den Chinesen durch das Gift des Vergessens – so wurde es in den Geheimakten bezeichnet – unschädlich gemacht hatte und dann selbst zum Dank als unbequemer Zeuge von den Engländern getötet worden war.
Drei Tage waren inzwischen seit Kutima-Kutis Besuchen bei uns verstrichen. Das Verlangen, die Angelegenheit nunmehr ganz aufzuklären, hatte bei mir, verstärkt durch den Wunsch nach Rache, immer mehr zugenommen. Als Kutima-Kuti daher am vierten Tage wieder bei mir erschien, hielt ich mit meinen Vermutungen ihm gegenüber nicht zurück. Er hörte schweigend zu. Da fragte ich ihn direkt, ob er nicht wisse, daß Mowiru ein Thug gewesen. Seine Antwort war ein Achselzucken. Dann sagte er: „Du bist ein kluger Mensch, Sirawata. Aber nutze diese Klugheit nicht dazu aus, in Geheimnisse einzudringen, die gefährlich sind.“ – Mit diesen Worten verabschiedete er sich. Abends brachte mir dann ein Knabe einen Zettel. Darauf stand: „Du hast mir gesagt, wo Sahib Rickmer sich befindet, – in Ägypten. Du hast mir auch sonst genützt. Dafür sage ich dir, die Busterleys sind noch immer hinter deinem Sahib her. Vielleicht triffst du sie ebenfalls in Ägypten und bei ihnen die blonde Schwester deines einstigen Herrn als Dienerin.“ –
Kaum hatte ich den Zettel gelesen, als ich nach dem Hause eilte, wo Kutima-Kuti abgestiegen war. Ich mußte mehr von ihm über die Busterleys erfahren, um jeden Preis. Doch er hatte Nagpur bereits mit der Bahn vor zwei Stunden verlassen. Da nahm ich Ansura mit mir und begab mich nach Delhi, nachdem ich meine Hütte verkauft hatte. Hoffte ich doch, Kutima in Delhi aufzufinden. Doch die Reise war umsonst. Dort gab es keinen Kutima-Kuti. Unter diesen Umständen entschloß ich mich, dir, Sahib Rickmer, nach Ägypten zu folgen. Gestern bin ich in Kairo angelangt. Ich habe Ansura mitgebracht. Aber noch etwas anderes – das weiche, blonde Haupthaar der Mem-Sahib Gerda, das ich eines Tages fern von dem Dschungeltempel auf der Spur einiger Reiter fand, als wir auf dem Rückwege nach Nagpur begriffen waren. Ich verschwieg dir damals diesen Fund, um dich zu schonen. Ich glaubte eben, deine Schwester sei tot. Nun aber denke ich, sie lebt und wird vielleicht jenes Hindumädchen sein, das die braunrote Mem-Sahib aus Indien mitbrachte, wie mir der Sahib mit der Brille an der Schnur erzählt hat. Er sprach von dem indischen Liebeslied, das du im Park hörtest, von der angeblichen Haarfarbe, die Busterleys Schwester besaß und die doch mehr die Haut der Finger als das Haar färbte.“
Rickmer schnellte jetzt förmlich aus seinem Sessel hoch. Sein Atem ging keuchend, und mit belegter Stimme preßte er die Worte hervor:
„Bernitzki wird recht haben! Ich begreife jetzt alles. Man hat Gerda das verräterische blonde Haar abgeschnitten, ihr die Haut braun gefärbt und –“
„– und Sahib Bernitzki meint, auch sie habe das Gift des Vergessens zu kosten bekommen,“ vollendete der Inder leise. „Wie sollte sie sonst so gehorsam die Rolle der indischen Dienerin gespielt haben?!“
Rickmer sank aufstöhnend in den Sessel zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
„Das Lied – die Stimme!“ murmelte er. „Ich hätte sofort die Wahrheit ahnen müssen! – – – Und so nahe ist Gerda mir gewesen – so nahe!“
Eine geraume Weile blieb es ganz still in dem hell erleuchteten Zimmer.
Dann sagte der Baron, der bleich wie der Tod geworden war, indem er Rickmer die Hand reichte:
„Seien wir froh, daß Gerda lebt. Wenn sie auch mit James Busterley abgereist ist – Bernitzki wird sie finden!“
Die beiden Männer schauten sich düster und doch voller Hoffnung an. In ihren Augen lag der ganze Schmerz der traurigen Gewißheit, daß sie vielleicht die, die sie so unaussprechlich liebten, als eine geistig nur noch halb Zurechnungsfähige wiedersehen würden. –
Es klopfte. Auf Mühlens „Herein“ erschien Doktor Merstka. Schnell wurde ihm berichtet, was Sirawata soeben erzählt hatte.
Der Stabsarzt nahm jetzt die weitere Leitung dieser Aussprache in die Hand. Rickmer und der Baron waren seelisch ganz niedergebrochen.
„Trägt Kutima-Kuti einen langen, schwarzen Bart? Kann er der zweite Inder sein, den Astrid erblickte?“ fragte er Sirawata.
„Nein. Der angebliche Halbbruder Mowirus hatte ein bartloses Gesicht.“
„So scheidet der Verdacht also aus, daß die Thug-Brüderschaft der schönen Verbrecherin nachstellt,“ meinte Merstka.
Sirawata schüttelte ernst den Kopf.
„Ich gebe für das Leben der weißen Kobra nicht viel. Sie hat sicherlich Mowiru das Gift des Vergessens abgenommen, nachdem er durch ihre Kugel gefallen. Sie weiß über die Thugs mehr, als sie wissen darf. Der Arm der Brüderschaft reicht über die ganze Erde.“
Merstka nickte. „Deshalb vielleicht auch Astrids Angst vor dem Alleinsein! Deshalb mag sie zu meinen Damen geflüchtet sein!“
Der Baron hatte sich jetzt wieder gefaßt. Die furchtbare Nachricht, daß die Geliebte vielleicht ihr Leben lang in halber geistiger Umnachtung werde dahintrauern müssen, hatte in ihm etwas Neues zur Entstehung gebracht: den heißen Wunsch, Vergeltung an denen zu üben, die sich an Gerda vergangen hatten! Und dieser Wunsch ließ ihn nun all seine Willenskraft zusammennehmen, um dieses Ziel auch zu erreichen.
„Was tun wir nun?“ fragte er. „Sollen wir hier untätig bleiben?! Das halte ich nicht aus. Ich –“
„Wir können nichts als abwarten und klug sein,“ unterbrach der Doktor ihn begütigend. „Und klug sein heißt vorsichtig sein! Astrid darf nichts von der Anwesenheit Sirawatas erfahren. Sie muß harmlos bleiben. Hört sie etwas von Ansura, so wird sie sich keine Blöße mehr geben. Bernitzki läßt uns sicher Nachricht zugehen, wenn er es für nötig hält.“ –
Die vier Männer blieben dann noch eine halbe Stunde beisammen. –
Am nächsten Morgen beeilte Hilde sich, ihrem Bruder die Ereignisse der verflossenen Nacht genau wiederzugeben, besonders die Worte Astrids, die sie dieser entlockt hatte.
Merstka drückte die Schwester liebevoll an sich.
„Kleines, dieses erfolgreiche Experiment, diese Probe auf die seltsame Macht deines Blickes, ist für uns überaus wertvoll. Wir wissen jetzt mit aller Bestimmtheit, daß Astrid das Gift des Vergessens gekannt hat, besser, noch kennt, und daß Gerda Rickmer ebenso wie Ansura dadurch jeder Erinnerung an ihr früheres Leben beraubt worden ist.“
Hildes für gewöhnlich schon große, strahlende Augen wurden noch weiter. Tiefer Abscheu stieg auch in jeder Miene ihres eigenartig reizvollen Gesichtes aus.
„Welch ein Weib!“ sagte sie, und es ging dabei wie ein Frösteln über ihren Körper hin. „Wie beschaffen muß nur das Gewissen dieser Frau sein, die so kaltblütig für ihre selbstsüchtigen Zwecke mit Menschenleben und Menschenglück spielt! – Armer Rickmer, armer Baron! Was mag euch noch bevorstehen?! In welcher Verfassung werdet ihr die wiederfinden, die ihr vielleicht besser als tot betrauern könntet!“ –
Es war für den kleinen Kreis von Deutschen wahrlich nicht leicht, auch in den nächsten Tagen, die man noch im „Pyramho“ zubringen mußte, Astrid gegenüber auch nur einigermaßen zweckentsprechende Freundlichkeit zu zeigen. Die schöne Verbrecherin hatte sich außerdem, sicherlich aus Angst vor den nächtlichen unbekannten Besuchern, sehr eng an die beiden Damen Merstka angeschlossen und ein freies Zimmer neben deren Schlafgemach bezogen, das nur noch einen Ausgang nach dem allgemeinen Flur besaß. –
Rickmer wieder war, angeblich auf dringenden Rat des Stabsarztes, aus dem Hotel ausgezogen und hatte sich zwei Zimmer in einer Sommervilla weit außerhalb von Gizeh nach der Wüste hin gemietet, um auf diese Weise ein häufigeres Zusammensein mit seiner heimlich Verlobten zu vermeiden. Diese schien zum Glück auf trauliche Stunden zu zweien und auf Zärtlichkeiten keinen Wert mehr zu legen, seit sie wußte, daß die Zeichnungen nun doch gestohlen und ihr damit vorläufig ganz entrückt waren. Ihre Stimmung war stets die allerschlechteste. Sie war gereizt, mürrisch und wortkarg, saß gewöhnlich in finsteres Brüten versunken da und hörte kaum auf das hin, was die anderen sprachen. Ohne ihren Revolver ging sie nie mehr aus. Ob und welche Nachricht sie von James Busterley erhalten hatte, war nicht festzustellen. Sie hatte einige Male nach Brindisi telegraphiert, aber keine Antwortdepeschen bekommen. Die drei Herren des Deutschen Tisches belauerten sie unausgesetzt. Sie konnte keinen Schritt tun, der nicht kontrolliert wurde. Aber einen Erfolg zeitigte auch diese scharfe Überwachung nicht.
Rickmers und des Barons düsterer Seelenzustand wurde auch nicht gerade dadurch gebessert, daß August Bernitzki sich in ein allen völlig unverständliches Stillschweigen hüllte. Keine Zeile traf von ihm ein – nichts! Es war, als habe er die Menschen völlig vergessen, die in den der zunehmenden Hitze wegen immer ungemütlicher werdenden Gizeh seiner am Tage so und so oft gedachten, – bald mit Ausdrücken starken Mißfallens und begreiflicher Ungeduld.
So verging ein Tag nach dem andern. Hilde Merstka, die jetzt häufig in Begleitung ihres Bruders den schonungsbedürftigen Ingenieur besuchte, der die letzten Folgen des Dschungelfiebers durch eine ihm von dem Doktor verordnete Kur immer mehr überwand, trat bald zu ihm in ein Verhältnis teilnehmender Freundschaft, tröstete ihn und sagte ihm eine glückliche Lösung all dieser traurigen Schicksalsschläge voraus, wobei sie immer wieder darauf hinwies, daß vielleicht die Wissenschaft Mittel und Wege finden werde, bei Gerda die Folgen des verhängnisvollen Giftes zu beseitigen.
Rickmer, dem Astrid, die er jetzt wie eine Todfeindin haßte, zunächst auch das ganze weibliche Geschlecht verächtlich gemacht hatte, baute langsam ein neues Bild von der Allgemeinheit Weib in seiner Seele auf, als deren vollkommenste Vertreterin ihm bald Hilde Merstka mit ihrer ihm gegenüber so frauenhaft weichen, feinfühligen und verständnisvollen Art erschien.
Hilde, sonngebräunt und körperlich und geistig gleich frisch, war geradezu eine Reklame für die Heilkraft der Wüstenluft. Ein kurzer Aufenthalt hatte genügt, um sie hier völlig gesunden zu lassen.
In dieser Zeit geschah im übrigen nichts von Wichtigkeit. Nur der Berliner Rechtsanwalt Siewert traf als Beauftragter des Syndikats in Gizeh ein, war aber wie vom Donner gerührt, als Rickmer ihm in Gegenwart des Barons und des Doktors mitteilte, welch schwerwiegende Vorfälle sich hier kurz vor seinem Eintreffen abgespielt hatten. Er mußte jedenfalls unverrichteter Sache wieder abreisen und erhielt nur den einen Trost mit auf den Weg, daß es Bernitzki schon gelingen würde, die Skizzen wieder herbeizuschaffen.
Als der Rechtsanwalt dem „Pyramho“ sehr enttäuscht und mißvergnügt den Rücken gekehrt hatte, erklärte Merstka den beiden Freunden bei Gelegenheit einer vertraulichen Aussprache, daß er eigentlich diesen nicht gerade allzubest beleumundeten Herrn Siewert im Verdacht gehabt habe, bei dem Diebstahl der Zeichnungen irgendwie mitgewirkt zu haben, da dies ja die billigste Art für das internationale Syndikat gewesen wäre, in den Besitz der so überaus wertvollen Skizzen zu gelangen. –
„Der Rechtsanwalt ist jedoch in diesem Falle von mir fraglos zu Unrecht beargwöhnt worden,“ hatte er hinzugefügt. „Er wußte nichts davon, daß die Zeichnungen den Besitzer gewechselt hatten. Sein Erscheinen und sein Ärger waren zu natürlich. – Ich möchte nur gern wissen, wer jetzt überhaupt als Täter in Betracht kommt. Dieser Teil des großen Dramas, das wir als handelnde Personen miterleben, ist mir am dunkelsten und unergründlichsten. – Wer war der Dieb wer – wer?“
Dann kam der Tag, an dem Astrid morgens erklärte, sie würde nach ihrer Heimat, nach London, abreisen. Ihr Bruder habe ihr geschrieben, sie sei dort dringend nötig, um ihn zu vertreten, da er für längere Zeit in geschäftlichen Angelegenheiten ins Ausland müsse.
Ein bloßer Zufall war’s wohl, daß nachmittags keine fünf Stunden später für den Baron aus Berlin eine Depesche Bernitzkis eintraf, die die lakonische Aufforderung enthielt: „Sofort mit Rickmer und den beiden Indern herkommen“.
Der Abschied von Astrid war kühl und förmlich. Diese hatte mittags mit dem Ingenieur noch eine kurze Unterredung, bei der sie ihn bat, in eine Lösung der Verlobung zu willigen, da sie eingesehen habe, daß sie beide doch nicht füreinander paßten. Rickmer erklärte ihr mit dürren Worten, sie komme ihm mit ihrem Vorschlage nur entgegen, und das Brautpaar ging dann wie zwei wildfremde Menschen ohne jeden Händedruck auseinander.
Merstka hatte geraten, Astrid nichts von der Depesche des Detektivs zu erzählen, für den die gewissenlose „weiße Kobra“, wie Sirawata sie genannt, stets das lebhafteste Interesse durch allerlei Fragen nach dem Stande der Ermittlungen bekundet hatte.
Abends fuhr Astrid nach Port Said. Die Regierungsrätin mußte ihr auf Anraten ihres Sohnes sogar noch einen Strauß Rosen zum Abschied überreichen. Man wollte das gefährliche Weib eben bis zuletzt darüber im Unklaren lassen, wie man in Wahrheit über sie dachte.
Merstkas beschlossen, Rickmer und den Baron nach Berlin zu begleiten. Der Stabsarzt meinte, er dürfe bei dem Schlußakt des Dramas nicht untätig abseits stehen. Und Hilde sagte, sie wolle mit die erste sein, die die wiedergefundene Gerda wie eine Schwester in die Arme schließen könne.
Rickmer lächelte dazu trübe.
„Wir wissen ja noch gar nicht, ob Bernitzki sie wirklich schon James Busterley abgejagt hat,“ erklärte er. „Bernitzki ist doch wohl zunächst ausschließlich hinter dem Diebe der Zeichnungen her gewesen.“
Der Doktor jedoch unterstützte die Hoffnungsfreudigkeit seiner Schwester.
„Ich wette, wir werden in Berlin nur angenehme Überraschungen erleben. Und sicherlich werden wir dort auch mit Schön-Astrid nochmals zusammentreffen, die ebensowenig nach London geht wie wir. Das ist meine feste Überzeugung.“ –
Einen Tag später hatten der deutsche Tisch sowie Sirawata und Ansura Gelegenheit, mit einem deutschen Dampfer von Port Said zunächst nach Konstantinopel zu gelangen. Der Orientexpreß brachte sie dann auch weiter wohlbehalten nach der deutschen Reichshauptstadt.
Jakob Jakobi erschien als letzter in dem reservierten kleinen Saale des Hotel „Esplanade“ in Berlin, wo für zwölf Uhr vormittags eine Sitzung des Matawara-Syndikats anberaumt war, in der Ernst Rickmer über seine Expedition und die späteren Ereignisse Bericht erstattete.
Jakob Jakobi war ein dicker, kleiner Mann mit Wulstlippen, fleischiger Hakennase, auf der stets eine Menge feiner Schweißperlen glänzten, furchtbaren O-Beinen, einer blonden Perücke auf der Billardkugel von Schädel und – dem Titel „Geheimer Kommerzienrat“. Mit achtzehn Jahren war er aus Nützlichkeitsgründen zum katholischen Glauben übergetreten, heiratete mit fünfundzwanzig die Tochter des Loeb Ascher, der damals noch wegen betrügerischer Pleite im Gefängnis saß, und war mit fünfundvierzig Schwiegervater von zwei leibhaftigen Grafen, die bei der Gardekavallerie standen, während sein drittes Kind und sein Haupterbe in einem Bonner Korps sich zu Ehren des dreifarbigen Bandes das Gesicht zerhauen ließ. Nachdem Jakob Jakobi in dieser Weise dafür gesorgt hatte, daß seine Nachkommenschaft standesgemäß untergebracht war, und nachdem er in einer Laune von Großmut gegenüber dem Steuerfiskus sein Vermögen auf sechzig Millionen angegeben hatte, begann er seine Familie zu vernachlässigen und seine eigenen Wege zu wandeln, die zumeist hinter den Kulissen der Theater und in lauschige Boudoirs eleganter, leichtsinniger Damen führten.
Die damals etwa zwei Zentner schwere Geheime Kommerzienrätin, geborene Ascher, hatte an diesem Treiben ihres Gemahls nichts auszusetzen. Im Gegenteil, sie hielt es für eine notwendige Verschlagenheit wahrer Vornehmheit, daß verheiratete Männer Seitensprünge machten. –
Jakob Jakobi war wie bei unzähligen ganz groß angelegten Unternehmungen auch beim Matawara-Syndikat die Seele des Ganzen.
Die bereits in dem kleinen Saal versammelten elf Herren verbeugten sich, Rickmer ausgenommen, übertrieben höflich, als der Geheimrat eintrat.
Jakob Jakobi stellte den Zylinder auf einen der Lehnsessel, schob den goldenen Klemmer höher an die Augen heran und grüßte die Anwesenden mit einer herablassenden Handbewegung. Dann steuerte er direkt auf Rickmer zu.
„Sie machen ja schöne Geschichten, Herr, – sehr schöne Geschichten,“ sagte er. „Na – wir werden ja hören.“
Die Herren nahmen um den langen Tisch Platz, bevor Rickmer noch dazu kam, Jakob Jakobi wegen des ihm gegenüber angewandten schulmeisterlichen Tones zurechtzuweisen. Er hatte auch nicht im entferntesten die Absicht, sich von diesen Börsenleuten etwas gefallen zu lassen.
Der Geheime Kommerzienrat forderte Rickmer dann zu einem ganz eingehenden Bericht auf. Vorher gab es aber noch eine kleine Ablenkung, da der Baron Kallström, der schlesische Kohlenmagnat, Jakobi über den Tisch zurief:
„He, Geheimratchen, wissen Sie auch schon, daß Ihre durchgebrannte Flamme wieder im Lande ist?“
Woraufhin Jakobi den Baron verwundert anschaute und sagte:
„Wen meinen Sie, Kallström? Mir sind schon verschiedene Flammen „ausgegangen“.“
Dieser Witz wurde allgemein mit heiterem Gelächter begrüßt.
„Nun – die schöne Erzieherin mit dem wunderbaren Haar,“ erwiderte der Kohlenbaron. „Besinnen Sie sich nur! Sie waren acht volle Tage untröstlich, als diese glutäugige Asta spurlos verschwand.“
Jakob Jakobi verzog die dicken Lippen zu einem faunischen Grinsen.
„Ach so – die Astrid! – Astrid hieß sie, nicht Asta – ja, das war mal ein süßer, aber auch ein sehr teurer Käfer. – Wo haben Sie sie denn gesehen, Baron?“
„Im Wintergarten – vorgestern und gestern abend. Sie befand sich in Gesellschaft eines langen, trockenen Burschen, – scheinbar Engländer.“
„Wie? An zwei Abenden hintereinander im Wintergarten? – Was taten Sie denn da, Kallström? – Halt – richtig, die spanische Tänzerin läßt sich ja jetzt von Ihnen den Hof machen. – Aber – was mag Astrid nach dem Varietee locken?“
„Keine Ahnung!“
Jakobi zog ein sehr abgerissenes Notizbuch aus der Tasche seines Gehrocks und schrieb etwas auf. Er wollte Astrid nicht vergessen. Das Weib wog ein Dutzend andere auf.
Ernst Rickmer war zusammengezuckt, als der Name Astrid hier genannt wurde. Das konnte keine andere als die angebliche Schwester Busterleys sein, zumal Baron Kallström noch von dem wunderbaren Haar gesprochen hatte.
Nach kurzem Überlegen entschloß er sich, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Er bat den Kommerzienrat in eine der Fensternischen und sagte hier leise zu ihm:
„Herr Geheimrat, es wurde da soeben eine Dame erwähnt, die Astrid mit Vornamen heißt. Ich vermute nun sehr stark, daß diese Astrid, falls sie braunrote Haare hat, die nahen Beziehungen zu Ihnen zu ihrem Nutzen auszubeuten versucht hat.“
Jakobi zog die Nase kraus, bei ihm immer ein Zeichen von Verstimmung.
„Was heißt das? Ich verstehe Sie nicht?“ meinte er mißtrauisch.
Rickmer beschrieb nun Astrid Busterley recht genau, ohne zu erwähnen, wo und wie er sie kennen gelernt habe.
„Es ist die Astrid, die mir vor zwei Jahren etwa davongelaufen ist,“ erklärte Jakobi ehrlich. „Was soll aber dieses Weib?! Wir haben jetzt hier wichtigere Dinge zu besprechen.“
„Einen Augenblick noch, Herr Geheimrat. – Hat Ihnen Rechtsanwalt Siewert, der doch als Beauftragter bei mir in Gizeh war, erzählt, daß sich meiner Expedition eine zweite an die Fersen geheftet hatte und daß sich dabei auch eine junge Dame befand, die kurz nach mir in Gizeh auftauchte und es offenbar auf die Zeichnungen abgesehen hatte?“
Jakob Jakobi nickte zerstreut. „Ja, natürlich hat Siewert auch dies erwähnt. Das Weib war ja wohl Engländerin und arbeitete mit einem sogenannten Bruder zusammen.“
„Das Weib war „Ihre“ Astrid, Herr Geheimrat,“ sagte Rickmer mit Nachdruck. „Und jetzt weiß ich auch, woher Astrid Busterley, wie sie sich nannte, von der ganzen, so streng geheimgehaltenen Matawara-Angelegenheit etwas erfahren hat – durch Sie!“ Er sah dabei Jakobi durchdringen an.
Der wurde rot, beleckte sich verlegen die Lippen, trat von einem Bein auf das andere, zog seine helle Weste glatt und entgegnete dann sehr leise:
„Verdammt noch mal – Sie können recht haben, Rickmer! Ich bin ein Esel gewesen. Das gebe ich zu. Ich habe diese Astrid für ein harmloses Tierchen gehalten. Ja – sie hat mich mal über meine neuesten Pläne ausgeforscht, sagte, sie möchte zu gern wissen, wie große Vermögen verdient werden. Da habe ich ihr als Schulbeispiel die Matawara-Sache erzählt. – Wie konnte ich ahnen, daß – so ein Frauenzimmer – so ein Frauenzimmer – den Jakob Jakobi reinzulegen versuchte.“
Rickmer lächelte etwas geringschätzig. Und der kleine, dicke Geheimrat fuhr fort:
„Hören Sie, Bester, – die Geschichte bleibt natürlich ganz unter uns. Rechtsanwalt Siewert hat keine Ahnung, daß meine Astrid und die Busterley ein und dieselbe Person ist. Es wäre mir den übrigen Herren des Syndikats gegenüber sehr wenig angenehm, wenn ich hier als unüberlegter Schwätzer hingestellt würde. – Eine Hand wäscht die andere. Ich werde also auch für Sie nachher einspringen, wenn wir mit Ihnen ein Hühnchen rupfen, weil Sie sich die Zeichnungen haben stehlen lassen, die leider auch Bernitzki bisher nicht hat wieder herbeischaffen können.“ –
Die Sitzung verlief denn auch sehr glimpflich für Rickmer, zumal er mitteilen konnte, daß der Detektiv August Bernitzki bestimmt hoffe, die Skizzen dem Diebe abnehmen zu können.
Natürlich hatte einer der Börsenbarone gefragt, ob Bernitzki nicht angedeutet oder direkt gesagt hätte, wer dieser Dieb eigentlich sei.
Rickmer hatte der Wahrheit gemäß antworten müssen, daß der Detektiv hierüber nichts habe verlauten lassen, im Gegenteil erklärte, die Angelegenheit wäre noch nicht spruchreif, und daher hülle er sich noch in Schweigen. –
Als Rickmer dann gegen zwei Uhr nachmittags das „Esperanza-Hotel“ verließ, begab er sich im Auto sofort nach dem neuen „Eden-Hotel“ am Zoologischen Garten, wo der deutsche Kreis sich zum gemeinsamen Mittagessen wie täglich verabredet hatte.
Der Ingenieur traf nur den Baron an.
Mühlen erkundigte sich, wie die „Gerichtssitzung“ verlaufen sei. Als Rickmer ihm von Astrids Beziehungen zu Jakobi erzählte und dabei auch erwähnte, das schöne Weib sei früher Erzieherin gewesen, schlug Mühlen sich plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn.
„Erzieherin! Erzieherin!“ rief er. „Natürlich! Jetzt besinne ich mich auch, wo ich Schön-Astrid früher schon mal gesehen habe! Sie war bei dem Grafen Beckstein Gouvernante. Becksteins sollen sie dann kurzer Hand entlassen haben, weil sie mit dem ältesten, erst siebzehnjährigen Sohne, damals Fähnrich beim Leibregiment, ein regelrechtes Liebesverhältnis angefangen und dem dummen Jungen ein Eheversprechen abgepreßt hatte. – Ja, bei Becksteins habe ich sie mal getroffen. Das sind so etwa vier Jahre her. – Hör mal, lieber Rickmer, eigentlich müßten wir doch diese neueste Entdeckung, woher Astrid von dem Matawara-Unternehmen Wind bekommen hatte, sofort Bernitzki mitteilen. Was meinst du dazu? – Ihn wird es doch auch sehr interessieren, daß unsere Pseudo-Engländerin tatsächlich nach Berlin gekommen ist, was Merstka ja in Gizeh gleich behauptet hat. Und – ihr langer Begleiter im Wintergarten, – ob das nicht James Busterley gewesen sein dürfte?“
Rickmer schaute zerstreut vor sich hin.
„Erst mal eine andere Frage, Mühlen.“ sagte er dann. – „Ich habe vergessen, mir von Jakob Jakobi – nebenbei bemerkt ein gräßlicher Kerl! – den richtigen Namen Astrids nennen zu lassen. – Weißt du ihn?“
„Ich besitze ein miserables Namengedächtnis. Aber hier kann ich aushelfen. Der langjährige Oberinspektor meines Vaters hieß nämlich ebenso. Daran habe ich’s mir gemerkt. Also: Astrid Schaper ist ihr Name.“
„So – Schaper! Ich glaube, Mühlen, wir werden ihn nie wieder vergessen!“ Er seufzte schmerzlich.
„Nun zu Bernitzki. – Auch ich habe daran gedacht, ihn telephonisch herzubestellen. Aber, sage selbst, hat er je für uns Zeit? Wir sind jetzt vier Tage in Berlin und haben ihn gerade ein einziges Mal gesehen und gesprochen. Und was hat er uns gesagt? – Eigentlich nichts! Diese seine Geheimniskrämerei ist beinahe lächerlich, außerdem uns gegenüber eine Rücksichtslosigkeit. Ich fragte ihn nach Gerda. Antwort: „Abwarten und hoffen!“ – Ich frage ihn nach den Zeichnungen. Antwort: „Ich werde die Skizzen schon dem Diebe abnehmen!“ – Das war alles. – Und damit speiste er uns beide ab, die wir vor Ungeduld fast vergehen, endlich über Gerdas Schicksal Gewißheit zu erhalten! – Nein – ich liebe Bernitzki nicht, wahrhaftig nicht. Er hat die Untugend aller Detektivs, sich in Schweigen zu hüllen, bis die Entscheidung da ist. – Als ob wir ebenso gute Nerven hätten wie er! Ich habe sie nicht! Ich schlafe schlecht, ich denke nur an Gerda und die Skizzen.“
„Mir geht es nicht anders,“ meinte der Baron wehmütig. „Trotzdem, ich lasse auf Bernitzki nichts kommen. Und wenn es dir recht ist, telephoniere ich an ihn. Ist er nicht in seiner Wohnung, die ja auch zugleich sein Bureau umschließt, so wird einer der Angestellten ihm unsere Neuigkeiten schon übermitteln.“
„Meinetwegen – telephoniere! Was wird er erwidern? – „Abwarten und hoffen“!“
Der Baron eilte davon. Gleich darauf kamen Merstkas.
Die Unterhaltung nachher bei Tisch war sehr angeregt. Man sprach über Astrid Schaper, und Merstka stellte allerlei Vermutungen auf, weswegen sie wohl an zwei Abenden hintereinander den Wintergarten besucht haben könnte.
Als gerade der Kaffee gereicht wurde, erschien Bernitzki. Aber der Bernitzki, wie er in Wirklichkeit aussah: ein älterer, bartloser Herr mit ziemlich starker Glatze, goldener Brille und einem höflichen Lächeln, das allein nur noch an den bescheidenen Herrn Albert Peterlein erinnerte.
Der Detektiv schlug vor, man solle den schönen Nachmittag im Zoologischen Garten vergingen.
„Dort können wir ja ebenso gut besprechen, was zu besprechen ist,“ meinte er. „Außerdem haben Sie, gnädiges Fräulein,“ wandte er sich an Hilde, „Gelegenheit, Erinnerungen an die erste Machtprobe Ihrer Blicke auf Wölfe aufzufrischen.“
Auf der Weinterrasse vor dem Hauptrestaurant fand man noch einen etwas abseits stehenden freien Tisch. Die Kapelle des Elisabeth-Garderegiments konzertierte. Drüben am Ufer des Teiches stolzierten langbeinige Flamingos auf und ab.
„Beinahe ein wenig Orient,“ meinte Bernitzki. „Beinahe – hier so inmitten exotischer Tiere.“
Dann sagte er zu Mühlen:
„Vorhin am Telephon war ich sehr wortkarg. Das bin ich am Fernsprecher immer. – Nun – ich bin Ihnen für die Mitteilung überaus dankbar, Herr Baron. – Ich habe heute gerade Zeit. Daher will ich nun endlich den Herrschaften eingehender schildern, was mich veranlaßte, damals so plötzlich das „Pyramho“ zu verlassen, und was ich inzwischen noch erlebt habe.“
Nachdem August Bernitzki sich etwas umständlich eine Zigarre angezündet hatte, begann er:
„Ich habe in meinem vielbewegten Leben schon manches durchgemacht. Aber einen solchen Nachmittag und Abend wie damals im „Pyramho“, wo sich geradezu eine Überfülle von spannenden Zwischenfälle zusammendrängte, doch noch nicht. – Ich will Ihre Erinnerung etwas auffrischen, meine Herrschaften. – Kaum hatte ich mich dem Baron und unserem verehrten Doktor zu erkennen gegeben, als Rickmer mit der Unglücksbotschaft hereingestürzt kam, daß die Zeichnungen verschwunden seien. Als nächstes folgte auf meine Veranlassung die halbe Entlarvung der Baronin, die sich in ihrer Bestürzung über den Verlust der Skizzen so weit vergaß, ganz offen ihr Interesse für diese zu verraten. Dann gingen wir auf Rickmers Zimmer, wo dieser nun ebenfalls Albert Peterlein von der anderen Seite, das heißt als August Bernitzki, kennenlernte. Dann hielt ich es für gut, einmal unter den Diwan zu kriechen. Ich vertrieb mir eine Weile unter dem Ruhebett mit einer elektrischen Taschenlampe die Zeit. Aber ich suchte dort keinen Hemdknopf, wirklich nicht.
Hier muß ich nun etwas tun, was ich stets zu vermeiden suche: Meinen Klienten gegenüber sogenannte Detektivmäßige Kombinationen zu entwickeln! – Das kommt ja immer nur in Romanen vor. Im Leben greifen die einzelnen Momente von Kriminalfällen, die erfolgversprechend sind, zumeist wie ein gutgeöltes Räderwerk von selbst ineinander. Gewiß – denken und überlegen muß natürlich auch ein Detektiv. Aber dieses schöne Märchen von dem wunderbaren Scharfsinn meiner in erdichteten Erzählungen herumspukenden Kollegen ist eben – ein Märchen! – Wie kam ich nun damals dazu, unter dem Diwan etwas zu suchen, was ich nachher auch tatsächlich fand? – Sehr einfach! Ich sagte mir, daß der Dieb die in den Mappen offen daliegenden, aber gerade deshalb sehr gut versteckten Zeichnungen nur gefunden haben könne, indem er unsern Freund Rickmer heimlich dabei zu beobachten Gelegenheit gehabt haben müsse, wie dieser nachsah, ob die Skizzen noch an Ort und Stelle lagen. Rickmer hatte uns nun erzählt, daß er tatsächlich, bevor er zum Mittagessen seine Zimmer verließ, die Mappen nochmals aufgeschlagen hätte, in denen die Pläne der Erzadern sich auch wirklich noch befanden. Mithin konnte ein Mensch, der in Rickmers Räumen sich verborgen hatte, dies sehr gut mit angesehen haben. – Wo gab es nun für den Dieb ein solches Versteck? – Ich schaute mich im Wohnzimmer um und bemerkte den Diwan mit der lang herabhängenden Decke. War jemand unter diesen gekrochen, so mußte er vom Kopfende des Ruhebettes aus, ich meine, wenn er da hervorlugte, ganz gut das Tun und Treiben des Ingenieurs beobachtet haben können. – Daß dieser heimliche Beobachter nun unter dem Diwan nicht seine Visitenkarte oder ein Büschel seiner Haare oder eine Schlipsnadel oder sonst ein romanmäßiges Requisit würde zurückgelassen haben, darauf hoffte ich natürlich nicht. Nein – ich wollte nur feststellen, ob meine Vermutung überhaupt zutraf, – nämlich ob ein Mensch längere Zeit unter dem Ruhebett gelegen hatte. – Sie besinnen sich darauf, meine Herrschaften, daß die Zimmer im „Pyramho“ Stabfußböden hatten, die stets tadellos blank gebohnert waren, wie überhaupt die Sauberkeit in dem riesigen Fremdenpalast geradezu mustergültig genannt werden mußte. Ich weiß nun nicht, ob einer von Ihnen Hundebesitzer ist. Sie vielleicht, Herr Baron, als Landwirt?“
„Allerdings. Aber ich verstehe nicht recht, was –“
„Kommt noch, kommt noch! – Haben Sie auch Stabfußböden in Ihrem Schlosse, die gebohnert sind?“
Mühlen nickte nur.
„So, also ja! Nun, wenn ein Hund auf so einem gebohnerten Fußboden lang ausgestreckt auch nur eine Stunde schläft und dabei mit seinem warmen Atem vor sich stets dieselbe Stelle des blanken, gewachsten Bodens anbläst, so entsteht dort unfehlbar ein matter Fleck. – Stimmt das Herr Baron?“
„Allerdings. – Jetzt begreife ich auch schon, wo Sie mit der Hundefrage hinauswollen. – Sie nahmen damals an, daß ein Mensch, der längere Zeit unter dem niedrigen Diwan stillag, in ähnlicher Weise eine Trübung des –“
„Sehr richtig – sehr richtig!“ unterbrach ihn Bernitzki wieder. „Und dieser Mensch mußte bei der tropischen Hitze in der unbequemen Lage auch sicher reichlich Schweiß verloren haben. Sie wissen: „Von der Stirne heiß, rinnen muß der Schweiß, viele Tropfen fallen nieder, und die Spuren davon fand ich wieder“. – Entschuldigen Sie, wenn ich Schiller hier etwas verändere. – Kurz, ich leuchtete mit der Taschenlampe den Boden ab und sah den trüben Fleck, sah sogar noch geringe Spuren von Feuchtigkeit, letzte Reste von Schweißtropfen. – Mehr brauchte ich nicht. Ich wußte jetzt, wie der Dieb das famose Versteck in den Mappen ausgekundschaftet hatte. –
Winter, der vielseitige Etagenkellner, mußte mir dann bei dem weiteren helfen. Wir beide gingen das Fremdenbuch zusammen durch. Vielleicht gehörte der Dieb zu erst kürzlich eingetroffenen Hotelgästen. Am Abend vorher war das kleine Zimmer links von Ihren Räumen, Herr Rickmer, wieder mal bezogen worden, – angeblich von einem Franzosen namens Desmoudin, Kaufmann aus Rouen. Winter hatte gegen diesen Desmoudin, der vorgab krank zu sein und sich die Mahlzeiten auf sein Zimmer bringen ließ, gleich Argwohn geschöpft. Er beschrieb mir den Mann als lang, dunkelbärtig und bewaffnet mit einer riesigen blauen Hornbrille. Brillen sind immer verdächtig, besonders wenn der Träger wie hier stets in einem halb verdunkelten Zimmer hockte. – Als wir gerade noch Herrn Desmoudins Eigentümlichkeiten durchsprachen, erschien Jeanette, die flinke Französin und begeisterte Verehrerin Winters, im Bureau, wo wir über das Fremdenbuch gebeugt dastanden, und meldete, der Herr von Zimmer Nr. 232 – das war Desmoudin – gedenke sofort abzureisen, da er morgens in Kairo einen Spezialarzt aufsuchen müsse, und verlange die Rechnung. Immerhin hatten wir nun noch eine Stunde bis zum Abgang des nächsten Zuges nach Kairo Zeit. Und in dieser Stunde passierte wieder etwas sehr Merkwürdiges: Wir faßten Sirawata vor der Zimmertür Astrids ab. – Welche Folgen dies gehabt hat, ist Ihnen bekannt, meine Herrschaften. Der Inder stattete nachher der „weißen Kobra“ jenen Besuch ab, der im Verein mit dem Auftauchen des zweiten, schwarzbärtigen Inders Astrid so in Schrecken setzte, daß sie nicht allein zu schlafen wagte und dann Ihnen, gnädiges Fräulein,“ – hier wandte er sich an Hilde, „Gelegenheit gab, der von Träumen Geängstigten allerlei Geständnisse zu entlocken. –
Nachdem wir, Winter und ich, Sirawata in Herrn Rickmers Zimmer untergebracht hatten, ging mein tüchtiger Gehilfe mit der Rechnung zu Monsieur Desmoudin, von dem Jeanette behauptete, daß er ein viel zu miserables Französisch spräche, um aus Rouen zu stammen. Desmoudin hatte wieder nur eine Flamme des dreiarmigen Beleuchtungskörpers in seinem Zimmer zu brennen, liebte also offenbar die strahlende Helle nicht sehr. Winter besaß dann die Unverfrorenheit, auch die beiden anderen Flammen unaufgefordert einzuschalten – sehr zum schlecht verhehlten Ärger des Franzosen! – und besah sich diesen unauffällig etwas genauer. Es gehört nun ein guter, geübter Blick dazu, unter einer Verkleidung einen Menschen wiederzuerkennen. Winter besitzt diese Übung. Als er mich im Bureau wieder traf, sagte er mit größter Bestimmtheit: Es ist James Busterley!“
Bernitzki machte hier absichtlich eine Kunstpause und weidete sich an der Überraschung seiner Tischnachbarn, die mit „Wirklich?!“, „Nein – so etwas!“ und ähnlichen Ausrufen des Staunens diese Neuigkeit begrüßten.
Dann sprach Bernitzki weiter.
„Ich muß noch erwähnen, daß ich damals vor der Abreise aus Brindisi und nach meiner Verhaftung natürlich wieder mal die Persönlichkeit wechselte. James Busterley hatte mich als den „richtigen“ August Bernitzki des Diebstahls beschuldigt. Der, der dann mit dem Dampfer „Triest“ Brindisi verließ, war eben der Privatgelehrte Albert Peterlein seligen Angedenkens – Sie wissen doch noch: Straßengraben, Knieverletzung, störrisches Maultier und so weiter, meine Herrschaften! – Busterley hatte keine Ahnung, daß ich in Gizeh war. Er glaubte mich eben nach Deutschland abtransportiert, daher konnte ich also getrost als Albert Peterlein seine Verfolgung aufnehmen. Und mich begleitete Winter, der sich schnell in einen grauhaarigen Professor Müller verwandelt hatte. – Daß Busterley-Desmoudin die Skizzen gestohlen habe, davon war ich den ganzen Umständen nach fest überzeugt. Ich hätte ihm ja nun den Raub sofort wieder abnehmen können. Das wäre jedoch, wie jeder selbst einsehen wird, ein schwerer Fehler gewesen.
An dieser Stelle will ich nun erst noch wieder etwas weiter in die Vergangenheit zurückgreifen. – Von Ihnen, Herr Baron, und auch von dem Herrn Stabsarzt war ich an jenem denkwürdigen Nachmittag sehr genau in alles eingeweiht worden, was mit der Matawara-Angelegenheit zusammenhing. Schon aus Ihren Angaben hatte ich den Schluß gezogen, daß die indische Dienerin Astrid Busterleys, die wegen angeblicher Kleptomanie von ihrer Herrin so streng bewachte Manikela, niemand anders sei als Gerda Rickmer. Ich erinnere an das Haarfärbemittel und besonders an das indische Liebeslied im Park, an die Abreise James Busterleys, der Manikela mit sich nahm. Diese fluchtartige Abreise von einem Seitenausgang des Hotels aus war eben die Folge des verräterischen Liedes: Astrid fürchtete, Rickmer könnte durch den Gesang auf Manikela aufmerksam werden! – Diese meine Vermutung, die indische Dienerin sei Gerda Rickmer gewesen, wurde dann durch die Erzählung Sirawatas zur Gewißheit. Wenn ich nun Busterley-Desmoudin mit seinem Raube ruhig entfliehen ließ, so geschah dies nur, um mich an seine Fersen zu heften und auf diese Weise an den Ort geführt zu werden, wo er Ihre Schwester, Herr Rickmer, vorläufig untergebracht hatte.
Warum ich auf dieser Jagd Winter mitnahm? – Die Frage wäre berechtigt. – Weil ich es eben mit einem Verbrecher zu tun hatte, der Dinge bei sich trug, die Millionenwerte darstellten, und weil ich eine junge Dame finden wollte, deren Person noch kostbarer war. Da mochte ich nicht allein auf mich angewiesen sein. – Nun – ich kann gleich hier zu meiner Unehre sagen, daß dieser Busterley uns beiden nicht ein, sondern verschiedene Schnippchen schlug. Von Port Said fuhren wir mit einem dreckigen italienischen Dampfer, der noch dazu „Herzog von Aosta“ hieß, nach Brindisi. Hier verschwand Busterley uns für drei Tage spurlos. Das war der erste Reinfall. Er dürfte damals kaum geahnt haben, daß ich hinter ihm her war, handelte wohl nur aus allgemeiner Vorsicht, um jeden Verfolger von seiner Spur abzulenken. – Ich will mich nicht zu sehr auf Einzelheiten einlassen. Sonst kann ich stundenlang erzählen. – Erst nach drei Tagen hatten wir seine Fährte wieder gefunden, verloren sie aber in Venedig abermals, mußten nach Nizza, von da nach Zürich, München und langten schließlich vor sechs Tagen recht abgehetzt in Berlin an. Wir wußten, daß Busterley mit Fräulein Rickmer, die der Verbrecher zuletzt als seine Schwester ausgeben hatte – was dafür spricht, daß er ihre Hautfarbe wieder gebleicht haben muß, – hier in der Reichshauptstadt acht Stunden vor uns angekommen war, und ich ahnte, daß er versuchen würde, jetzt alsbald Nutzen aus dem Diebstahl der Skizzen zu ziehen, rechnete also damit, daß er in Berlin vorläufig bleiben werde. Daher depeschierte ich auch an Sie, Herr Baron, Sie möchten sich hier einfinden.
Wieder begann nun die Suche nach dem Paare, die sich in unserer Millionenstadt besonders schwierig gestaltete. Zwei Tage gingen ohne jedes Ergebnis hin. Dann stöberte einer meiner Angestellten Busterley auf, der sich mittlerweile wieder in seine wahre Gestalt zurückgemausert hatte und allein – ich betone, allein! – in einem Fremdenheim in der Kantstraße in Charlottenburg als Master Emmery Simpson, London, abgestiegen war. Wo er Fräulein Gerda gelassen, konnte ich nicht herausbringen, obwohl er nicht eine Sekunde sozusagen unbeobachtet blieb. Ich hatte mich nämlich sofort selbst in dem Fremdenheim der Frau Schönholz einquartiert, als Oberlehrer Doktor Lehmann aus Nakel. – Nakel war ein grober Fehler von mir. Morgens war ich bei Frau Schönholz eingezogen, und abends schon sagte mir Master Emmery Simpson im Gesellschaftszimmer in Gegenwart von sechs anderen Pensionären kalt lächelnd, daß ich ein Schwindler sei. Er wäre zufällig in Nakel bekannt, und dort gebe es keinen Oberlehrer Doktor Lehmann. Kurz und gut: Frau Schönholz, der ich keinerlei Beweise für meine Berechtigung, mich Lehmann und Oberlehrer zu nennen, beibringen konnte, schmiß mich hinaus. Es kam zu einer sehr heftigen Szene im Gesellschaftszimmer, während der Emmery Simpson unter Zurücklassung seines Koffers spurlos verduftete. Natürlich hatte er sich in Nakel telephonisch bei der Polizei nach Oberlehrer Doktor Lehmann erkundigt, da ihn sicherlich mein Auftauchen in dem Pensionat so kurz nach ihm – er war am Abend vorher erst dort zugezogen – mißtrauisch gemacht hatte und er sich überzeugen wollte, ob „Lehmann“ wirklich harmlos war.
Zu spät sah Frau Schönholz ein, daß entschieden der größere Spitzbube Emmery Simpson gewesen sei. An der Tatsache, daß ich nun wieder das zweifelhafte Vergnügen hatte, in diesem Ameisenhaufen von Berlin ein einzelnes Individuum zu suchen, ließ sich nichts ändern.
Am Morgen nach diesem abermaligen Reinfall trafen Sie, meine Herrschaften, in Berlin ein. Sämtlich sehr hoffnungsfroh und in dem Glauben, ich könnte Ihnen Fräulein Gerda sofort zuführen und die Skizzen dazu. – Was sollte ich da tun?! – Ich hüllte mich in schöne Redensarten und – machte mich sehr rar – zu Ihrem großen Ärger und zu Ihrer wohl noch größeren Enttäuschung. Inzwischen arbeiteten wir – Winter, meine Angestellten und ich, fieberhaft. Aber – ohne Erfolg. Busterley und Fräulein Gerda schien die Erde verschluckt zu haben, obwohl ich doch sogar die Polizei zu Hilfe genommen hatte. Und unsere Berliner Polizei ist gut. Allerhand Achtung vor ihr. Das sage ich als Detektiv. Und ich muß es wissen. – Wie ich nun heute gegen dreivierteldrei nachmittags in übelster Laune daheim beim Mittag sitze, schrillt das Telephon. – Ein Engel meldet sich mit einer Himmelsbotschaft: Sie, Herr Baron! – Astrid in Berlin, und Astrid mit einem langen, dürren Menschen vorgestern und gestern im Wintergarten! – Was wollte ich mehr! – Es war für mich eine Himmelsbotschaft. Und zur Zeit suchen einige „hundert“ Geheimpolizisten und Agenten die schöne, rotbraune Astrid Schaper, die leichter zu finden sein dürfte als dieser Verkleidungskünstler von James Busterley.“
„Du siehst Gespenster, liebes Kind,“ sagte James Busterley gähnend und streckte die Beine noch weiter von sich.
Astrid drehte sich um und warf ihm einen Blick zu, der den dürren Engländer eigentlich hätte zur Vorsicht mahnen müssen.
Aber James fühlte sich seit seinem letzten Geniestreich so vollständig Herr der Situation, daß ihm alle Blicke seiner schönen Verbündeten höchst gleichgültig waren.
Astrid stand hinter der Gardine des einen Fensters des im üblichen „elegant möblierten Zimmer-Stil“ eingerichteten großen Gemaches und schaute in den quadratischen kleinen Hof hinab, wo in einem winzigen Blumenbeet ein paar bedauernswerte Tulpen und Rosen nach Licht und Luft schmachteten.
Die Blumen waren es jedoch nicht, die die Aufmerksamkeit des gewissenlosen Weibes fesselten.
Auf dem Hofe erklangen die Töne einer Drehorgel und jauchzende Kinderstimmen. Dort drehte ein brauner Geselle in schäbiger, europäischer Kleidung die Kurbel seines Instruments, auf dem ein buntherausgeputztes kleines Äffchen saß, das den Kindern fortdauernd wütende Grimmasen schnitt und hin und wieder in sehr komischer Weise an seiner Kette wie ein Gummiball hochschnellte.
„Ich sage dir, es ist ein Inder,“ erklärte Astrid jetzt mit leise vibrierender Stimme. „Aber es ist nicht derselbe Drehorgelspieler, der schon gestern hier war. – Ah – jetzt schaut er verstohlen zu unseren Fenstern herauf. – Ja – es ist ein anderer, nicht der von gestern, – ohne Frage! Gestern war ein Mann ohne Äffchen hier, und er trug auch andere Kleider. Es sind also zwei auf unserer Spur –“
James Busterley gähnte abermals sehr laut.
„Du langweilst mich mit diesem braunen Burschen,“ meinte er und zündete sich seine kurze Holzpfeife wieder an, die ihm in dem einen Mundwinkel hing.
Da verließ Astrid mit schnellen Schritten das Fenster und stellte sich vor ihren Genossen hin. Ihr Gesicht war bleich vor innerer Erregung und ihre Augen flammten.
„Du bist ein kurzsichtiger Narr,“ sagte sie schneidend, und ihre Stimme war wie das Zischen einer Schlange. „Ich habe dir doch die Geschichte von den beiden Indern erzählt, die damals im „Pyramiden-Hotel“ in Gizeh in meine Zimmer eindringen wollten. Genügt dir dies wirklich nicht als Beweis dafür, daß man uns verfolgt, daß man uns nachstellt?!“
James qualmte erst ein paar dicke Wolken aus seiner Pfeife, ehe er gleichmütig erwiderte:
„Bah – verfolgt?! – Meinetwegen! Ist es so, dann handelt es sich nur um Mowiru, den Thug, – und den hast du niedergeknallt, nicht ich! Möglich, daß die edle Vetternschaft des braunen Schuftes hinter dir her ist! Was geht es mich an?! An mir hat nur dieser superschlaue Herr Bernitzki ein Interesse.“ Er lachte hämisch auf. „– Dieser Herr Oberlehrer Lehmann aus Nakel. Na – so gewitzt wie der bin ich noch alle Tage. Was will er überhaupt von mir?! Lächerlich.“
In Astrids Blicke war ein nachdenklicher, mißtrauischer Ausdruck getreten. Ihre Augen ruhten starr auf Busterleys hagerem, gebräuntem Gesicht.
„Du bist mir ein Rätsel geworden,“ sagte sie langsam. „Ich glaube, du verbirgst mir etwas, hast mich belogen. Du behauptest, keinen meiner Briefe in Brindisi erhalten zu haben, und willst deswegen, wie schon in Gizeh verabredet, hier nach Berlin gegangen sein. – Warum teiltest du mir deine Abreise von Brindisi nicht mit, warum mußte mich erst die Ungewißheit über das, was inzwischen geschehen, eiligst von Ägypten fortlocken?! Ich säße noch dort, wenn ich dir nicht aus eigenem Antriebe schließlich gefolgt wäre.“
James zuckte die Achseln.
„Dasselbe hast du mir schon beim ersten Wiedersehen vorgehalten, liebes Kind. – Wenn ich dir ein Rätsel bin, – du bist es mir schon lange! Was nämlich deine Selbstüberschätzung anbetrifft. Alle deine Pläne sind zu Wasser geworden. Während ich in Brindisi sitze, läßt du es gar noch zu, daß von einem noch schlaueren Halunken, als wir beide es zusammen sind, die Skizzen gestohlen werden! Ich denke, ich hätte alle Ursache, mit dir unzufrieden zu sein, nicht du mit mir.“
Astrids Blicke blieben von Mißtrauen erfüllt.
„Du nimmst diese Tatsache, daß die Zeichnungen jetzt für uns verloren sind, mit merkwürdiger Gelassenheit hin,“ sagte sie voller Hohn. „Genau so, wie du gar nicht einmal zu verbergen suchst, daß es dir höchst gleichgültig ist, ob ich in Lebensgefahr schwebe oder nicht. Täusche dich nicht, mein lieber James, die Inder, die uns hier als Orgelspieler verkleidet nachspüren, werden in erster Linie annehmen, daß du als Mann den Thug Mowiru erschossen hast, nicht ich als Frau, als Zugehörige des angeblich schwächeren Geschlechtes! Du bist meines Erachtens weit mehr bedroht als ich. Und wenn ich vorsichtig bin, deiner Meinung nach sogar übervorsichtig, so geschieht es mehr zu deinem als zu meinem Nutzen.“
James Züge veränderten sich. Er sah Astrid mit einem Blick aufkeimender Besorgnis an, nahm die Pfeife aus dem Munde und meinte ärgerlich:
„Verdammt, Astrid, – laß diesen Blödsinn! Du willst mir Furcht einjagen!“
Ihre kalten Augen blieben auf seinem Gesicht haften.
„Ich will nichts, als dir beweisen, daß wir beide vereint und in Ehrlichkeit miteinander dieses Spiel zu Ende führen müssen. Unsere Geldmittel sind so gut wie erschöpft. Wir müssen noch Kapital aus dem indischen Abenteuer schlagen, so gut es geht.“
„Schön gesagt, – aber wie?!“
„Manikela!“ meinte Astrid mit besonderer Betonung.
„Die hat sich als totale Niete erwiesen, denk ich! Wir müssen sehen, daß wir sie von uns abschütteln für immer. Das ist das beste.“
„Du besitzt sehr wenig Phantasie, lieber Freund. Ich bin zum Beispiel überzeugt, daß Baron von der Mühlen ganz freudig etwa eine Viertelmillion zahlen würde, wenn man ihm sagte, wo seine Braut sich befindet. Bisher ahnt er ja nichts – nichts!“
James Busterley hatte sich mit einem Ruck aus seinem roten Plüschsessel erhoben.
„Donnerwetter, Astrid, – das – das ist ein Gedanke! Und – die Sache ließe sich auch sofort einfädeln, da er sich ja zusammen mit der anderen ehrenwerten deutschen Tischrunde hier in Berlin befindet, – natürlich um mit Bernitzki die weiteren Schritte zur Suche nach Gerda Rickmer zu beraten. Gut, daß ich Bernitzki nicht aus dem Auge verloren habe, nachdem ich in München gemerkt hatte, daß er meinen Spuren folgte. Sonst wäre ich durch ihn ja nie auf Rickmer, Merstka und Mühlen aufmerksam geworden. – Also, Astrid, – der Plan ist gut. Ich werde mir die Sache mal durch den Kopf gehen lassen, wie wir die Geschichte am besten einfädeln.“
Es klopfte. Astrid ging und öffnete.
Es war die Wirtin, eine säuerliche, alte Jungfer, die der „gnädigen Frau“ die Eintrittskarten für den Wintergarten überreichte.
„Ich habe sie nur noch von einem Händler erhalten können, – einem Billetthändler, die alle hohen Aufschlag sich zahlen lassen,“ erklärte Fräulein Wernicke bekümmert. „Achtzehn Mark habe ich gegeben. Und hoffentlich –“
„Schon gut, – danke, liebes Fräulein. Hier ist das Geld,“ unterbrach Astrid sie.
Die Wirtin verschwand. Sie hatte spielend leicht an den dummen Engländern sechs Mark verdient und war zufrieden.
James hatte die Pfeife schon wieder im Mundwinkel und brummte jetzt:
„Du willst also wirklich wieder in den Wintergarten?! Die reine Verschwendung! Erkläre mir nur, was das für einen Zweck haben soll?! Es ist dann heute das dritte Mal, daß wir dasselbe Programm sehen.“
Astrid war wieder an das Fenster getreten. Das Leierkastenkonzert hatte aufgehört. – Dann kam sie an den Tisch zu James Busterley zurück.
„Ohne mich würdest du blindlings ins Verderben rennen, lieber James,“ meinte sie in ihrem alten, geringschätzigen Tone. „Wenn hier zwei Inder als Drehorgelspieler uns belauern, so ist das, wie ich schon ausführte, höchst verdächtig. Wenn aber unter der zur Zeit im Wintergarten auftretenden chinesischen Gauklertruppe Li-Mah-Ho sich ein früheres Mitglied unserer Jagdexpedition befindet, das die Vorgänge im Dschungeltempel kennt, so hat man die Pflicht festzustellen, ob nicht ein Zusammenhang zwischen den indischen Leierkastenmännern und diesem Degenschlucker besteht.“
James Augen wurden weit. Wieder nahm er die Pfeife schnell aus dem Munde.
„Etwa Schi-Sao?“ stieß er hervor.
„Natürlich. Wer sonst?! – Schi-Sao, der uns unten im Dschungel kurz vor Nagpur abhanden kam und nun hier in Berlin wieder auftaucht! – Vielleicht ist es ein Zufall – vielleicht! Aber ich will Gewißheit haben. Und daher habe ich auch gleich am ersten Abend dem Platzanweiser für die Terrasse das gute Trinkgeld gegeben, nachdem ich Schi-Saos Fratze unter den Gauklern wiedererkannt hatte. – Ein Glück, daß wir damals aus Langeweile in den Wintergarten gingen!“
James begann stürmisch im Zimmer auf und ab zu laufen. Dann blieb er vor Astrid stehen.
„Du hast recht. Es kann einen Zusammenhang zwischen den Indern und Schi-Sao geben!“ sagte er leise, und sein Gesicht drückte jetzt deutlich höchste Beunruhigung aus. „Ob der Platzanweiser aber auch der richtige Mann ist, der uns nützten kann?“ fügte er hinzu.
„Das laß meine Sorge sein, mein Lieber.“ Astrid spielte nur die Kaltblütige. Seit dem ersten Besuche des braunen Drehorgelmannes führte sie ihren Revolver stets mit sich. Und diese Angst vor der Rache der Thug-Brüderschaft war sogar stärker als das Mißtrauen, das sie gegen James Busterley hegte. Sie ahnte, daß ihr Genosse ein falsches Spiel mit ihr trieb. Aber ihre Geisteskräfte waren halb gelähmt vor Angst um ihre eigene Sicherheit, und so kam sie nicht dazu, James Busterley durch List zu entlarven. All diese Versuche hierzu blieben in den ersten Anfängen stecken.
Busterley hatte plötzlich seinen Hut ergriffen.
„Der Inder kann noch nicht weit fort sein,“ sagte er hastig. „Ich werde ihm nachschleichen. Warte hier auf mich –“
Damit eilte er hinaus, ehe Astrid ihn noch zurückhalten konnte. Sie fürchtete sich vor dem Alleinsein, schloß die Tür von innen ab und schob auch den Riegel vor.
Dann setzte sie sich in die eine Ecke des steiflehnigen Sofas und brütete vor sich hin.
*
Nachdem Bernitzki den Bekannten von Gizeh her seine Erlebnisse erzählt hatte, ging er in die Telephonzelle des Hauptrestaurants und läutete im Bureau an. Zu seiner Überraschung meldete sich Winter, der heute eigentlich die Pensionate in der Nähe des Friedrichstraßenbahnhofs hatte absuchen sollen.
„Winter … Sie? – Etwa was Neues?“ fragte Bernitzki. „Ich wollte nur Bescheid sagen, daß ich im Zoo auf der Weinterrasse sitze.“
„Was Neues – und ob! Ich habe das Pärchen aufgestört, – James und Astrid. Wohnen seit vorgestern Schiffbauerdamm Nr. 6 bei Wernicke als Ehepaar Manbealer.“
„Donnerwetter – großartig! – Sonst noch was Wichtiges?“
„Habe die Wirtin, die für Geld ihre eigene schwarze Seele verkaufen würde, bestochen. Hat mir verraten, daß die beiden abends im Wintergarten zu finden sind.“
„Ah – Wintergarten! – Kommen Sie sofort hier nach dem Zoo. Habe auch für Sie Neuigkeiten. – Schluß.“ –
Die Frau Regierungsrat Merstka wohnte in der Lützowstraße in der ersten Etage eines vornehmen Hauses. Am Abend desselben Tages gegen einviertel zwölf waren bei ihr im Salon außer ihren Kindern noch Rickmer und Mühlen anwesend.
Die Unterhaltung schleppte sich träge hin. Der Stabsarzt ging immer wieder an das offene Fenster und schaute auf die Straße hinunter.
Jetzt hielt ein Auto vor dem Hause. Die Spannung, die über dem kleinen Kreise lag, hatte ihren Höhepunkt erreicht.
„Er ist’s!“ meldete Doktor Merstka vom Fenster her und eilte dann hinaus, um unten die Haustür aufzuschließen.
Gleich darauf führte er einen weißbärtigen, alten Herrn und einen dicken Chinesen in den Salon.
Der alte Herr war Bernitzki. Nachdem er seine Bekannten begrüßt hatte, deutete er auf den Schlitzäugigen.
„Hier stelle ich Ihnen Schi-Sao vor, meine Herrschaften. Sie sehen also, ich habe einen recht überraschenden Erfolg zu verzeichnen.“
Schi-Sao setzte sich dann ebenfalls. Seine schlauen Augen wanderten neugierig über die Anwesenden hin.
„Erst will ich Bericht erstatten,“ meinte Bernitzki. „Dann soll der Chinese erzählen. – Winter und ich hatten unser Pärchen im Wintergarten schnell gefunden. Wir waren recht gespannt, was die beiden dort eigentlich vorhatten. Wir ahnten nicht im entferntesten, daß wir den da als lebendes Resultat dieses Varieteebesuches mitbringen würden.“ Dabei deutete er auf Schi-Sao, der selbstbewußt grinste und sich offenbar sehr wichtig vorkam. „Ich bemerkte dann, daß Astrid den einen Platzanweiser bei Seite nahm, mit ihm längere Zeit sprach und ihm Geld zusteckte. Nachher tat ich dasselbe – nur mit dem Unterschied, daß ich gleich hundert Mark springen ließ. Der Blaue öffnete dem Manne den Mund, und so erfuhr ich, daß Astrid gern wissen wollte, ob der Degenschlucker der Li-Mah-Ho-Truppe mit zwei Indern verkehre, die einen Leierkasten und ein Äffchen besäßen. Dann ging ich nach den Ankleideräumen der Künstler und wiederholte das Experiment mit dem Hundertmarkschein in bescheidenerem Maßstabe bei dem Degenschlucker, das heißt, ich ließ fünfzig Mark springen. So lernte ich Schi-Sao kennen. Als er mir seinen Namen nannte, wäre mir beinahe ein „Donnerwetter!“ entfahren. – Schi-Sao, der Koch der Busterley-Expedition! Das „Donnerwetter“ wäre berechtigt gewesen, nicht wahr?“
Dann wandte Bernitzki sich an den Chinesen und sagte auf englisch: „So – nun rede du, Schi-Sao.“
Und der begann denn auch in einem fürchterlichen Englisch zu erzählen:
„Ich war damals im Dschungel in der Nähe des alten Tempels bei den Pferden zurückgeblieben, als die Mem-Sahib Busterley, ihr Bruder und Mowiru sich in dem Tempel verbargen. Nachher fehlte Mowiru. Dafür brachte die Mem-Sahib ein weißes Mädchen mit, das den Verstand verloren hatte. Wir schnitten der Wahnsinnigen – wenigstens hielt ich sie dafür – später auf dem Rückmarsch die blonden Haare ab, die ich vergraben sollte. Aber ich wollte sie verkaufen und versteckte sie in meinen Kleidern. Die Mem-Sahib merkte es jedoch, schalt mich aus und warf die Haare wütend ins Gras. Das Mädchen wurde dann – ich wußte, daß es die Schwester des Sahib Rickmer war – mit Hilfe der Wurzeln der Kiri-Kassa in eine Inderin verwandelt. Aber die Mem-Sahib dankte mir meine Treue schlecht. Im letzten Lager hat sie mich betrunken gemacht und mir einen vergifteten Dorn ins Fleisch getrieben, so daß ich, als ich wieder erwachte, jede Erinnerung an früher verloren hatte.“
Mühlen war es, er jetzt nicht länger an sich halten konnte.
„Du hast das Gedächtnis doch anscheinend wiedergefunden, Schi-Sao,“ rief er in höchster Erregung. „Du sprichst wie einer, der völlig seine gesunden Sinne hat.“
„Ich habe es wiedererlangt, ja, durch die Kunst eines englischen Arztes in Nagpur, der von meinem Krankheitsfalle gehört hatte und sich dafür interessierte. Er hat mich bei Tage durch scharfes Ansehen und Striche mit den Fingerspitzen über meine Stirn zum Schlafen gebracht. Und nachdem er dies eine Woche fortgesetzt hatte, war ich wieder ganz gesund.“
„Hypnotische Kur,“ meinte Bernitzki erläuternd.
Wieder rief Mühlen da, jetzt jubelnd und hoffnungsfroh:
„Mein Gott, dann kann vielleicht auch Gerda geheilt werden!“
„Ohne Frage,“ erwiderte der Detektiv. „Aber lassen Sie Schi-Sao erst mal zu Ende erzählen, Herr Baron.“
„Als ich kaum gesund war,“ fuhr Schi-Sao fort, „kam ein Inder namens Kutima-Kuti zu mir. Er verschaffte mir eine Stelle bei der Li-Mah-Ho-Truppe, die gerade in Delhi auftrat und in wenigen Tagen nach Europa abgehen sollte. Ich war in meiner Jugend Gaukler gewesen und lernte schnell wieder die alten Künste. Weswegen Kutima-Kuti so für mich gesorgt hat, weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht wiedergesehen seitdem.“
„Der Mann wird Schi-Sao, der von Mowiru und den Vorgängen im Dschungeltempel zu viel wußte, aus Indien forthaben wollen,“ schaltete Bernitzki ein. „Ganz klar sind mir seine Beweggründe allerdings auch nicht. Jedenfalls stimmt Astrids Vermutung nicht: Schi-Sao verkehrt hier in Berlin mit keinem Inder.“
Nun konnte Mühlen wieder den Chinesen mit Beschlag belegen. Auch Rickmer fragte nach allem, was die hypnotische Kur betraf. Und nachher meinte er seufzend:
„Wenn wir nur erst wüßten, wo Busterley Gerda untergebracht hat! – Herr Bernitzki, werden Sie mir meine Schwester nicht bald wieder bringen können? Sie kennen jetzt doch den Aufenthaltsortes Busterleys und Astrids, und –“
„Ich werde!“ unterbrach der Detektiv ihn mit größter Bestimmtheit. „Vielleicht sogar schon morgen! Mir ist heute im Wintergarten ein guter Gedanke gekommen. Ich will Astrid für meine Zwecke benutzen –“
„Was heißt das?“ meinte Mühlen gespannt.
„Abwarten, Herr Baron. Sie werden schon hören, wie ich unsere Feindin „einzuwickeln“ gedenke.“ –
Bald darauf ging man auseinander.
Das „Eden-Hotel“ am Zoo beherbergte außer Rickmer und Mühlen in zwei bescheidenen Zimmern im dritten Stock auch zwei exotische Gäste, die hier auf Kosten des Barons untergebracht waren: Sirawata und Ansura, das indische Geschwisterpaar.
Die Herren hatten den Beiden ganz genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben, so zum Beispiel, daß die Geschwister das Hotel nur durch einen der Hinterausgänge verlassen und nur heimlich mit ihren deutschen Freunden verkehren sollten. Doktor Merstka war es gewesen, der zu diesen Vorsichtsmaßregeln dringend geraten hatte. Mußte man doch damit rechnen, daß James Busterley alle die Leute, von denen ihm Gefahr drohte, beobachten ließ. Und die Anwesenheit der beiden indischen Teilnehmer an der Rickmerschen Expedition hier in Berlin sollte eben verborgen bleiben.
Am nächsten Morgen erhielt Sirawata von Rickmer einen Brief auf sein Zimmer geschickt, in dem der Ort angeben war, wo der Ingenieur sich mit seinem einstigen farbigen Diener um zehn Uhr vormittags treffen wollte.
Sirawata fand sich pünktlich im Erfrischungsraum des nahen Kaufhauses des Westens ein. Rickmer erwartete ihn bereits und nahm ihn dann mit zu Bernitzki, wie dies alles am Abend vorher mit dem Detektiv verabredet worden war.
Bernitzki hatte einen Leierkasten besorgt, und mit diesem ausgerüstet mußte Sirawata dann, geführt von einem der Angestellten des Detektivs, sich nach einer Weißbierstube am Schiffbauerdamm begeben.
Dies gehörte mit zu den Vorbereitungen, die Bernitzki für seinen Angriff auf die gefährliche Gegnerin, auf die „weiße Kobra“, für notwendig hielt.
Auch er selbst suchte dann dieselbe Kneipe eine halbe Stunde später auf.
Das Haus, in dem das angebliche Ehepaar Manbealer bei Fräulein Wernicke ein großes und ein kleineres Hinterzimmer nach dem Hofe hinaus bewohnte, wurde seit gestern scharf bewacht. Gerade gegenüber diesem Hause lag auf der Spree am Bollwerk vertäut ein Obstkahn. Und dieser Kahn schien für zwei leidlich anständig gekleidete Tagediebe sehr großes Interesse zu haben. Wenigstens standen die Beiden oben am Geländer des Bollwerks seit sieben Uhr morgens und rührten sich nicht vom Fleck. Einer von ihnen war Winter, der frühere Etagenkellner aus dem „Pyramho“.
Es war mittlerweile halb zwölf Uhr vormittags geworden.
James Busterley rüstete sich zum Ausgehen. Astrid hatte eine schlechte Nacht hinter sich, litt an Migräne und wollte zu Hause bleiben, was James nur lieb war.
Als er schon den Hut auf dem Kopfe hatte, kam Astrid aus dem größeren Zimmer, das sie bewohnte, nochmals zu Busterley hinüber.
„Halte die Augen gut offen, James, – verstanden?!“ sagte sie matt. „Vielleicht findest du heraus, daß dir jemand nachschleicht. Ich denke hauptsächlich an den indischen Drehorgelspieler, den du gestern leider nicht mehr entdeckt hast.“
Sie seufzte bedrückt. „Ich will dir offen gestehen,“ fuhr sie fort, – „ich habe in der verflossenen Nacht wieder gräßliche Träume gehabt.“ Sie schauderte leicht zusammen. „Ich sah die beiden Toten im Dschungeltempel, wie ihre braunen Leiber regungslos übereinanderlagen. Dann bekam Mowiru plötzlich Leben, erhob sich und – Doch – wozu frische ich diese Träume nochmals auf?! – Bleibe nicht zu lange fort, James! Ich bin nicht gern allein. Und wenn wir erst das Geschäft mit Mühlen wegen Gerdas in Ordnung gebracht haben, werde ich schon dafür sorgen, daß niemand meine Spur wieder auffindet. Ich muß diese Inder loswerden, die hier um das Haus herumschleichen. Dann schlägt auch für uns die Trennungsstunde, James – für immer –!“
Busterley schaute Astrid prüfend an. Heute merkte er erst, wie sehr sie unter dieser Angst vor den braunen Leierkastenmännern litt. Schadenfreude erfüllte ihn. Astrid hatte sich oft genug über seine Zaghaftigkeit lustig gemacht. Nun war sie selbst plötzlich wie verwandelt. Vielleicht schlug ihr das Gewissen. Jedenfalls war es nicht mehr die Astrid, die noch in Gizeh nachts mit so viel Tollkühnheit Rickmer chloroformiert und nach den Skizzen gesucht hatte.
Dann ging er mit einem: „In einer Stunde bin ich wieder da –“
Als er das Haus verließ, machte sich einer der Tagediebe vor dem Obstkahn hinter ihm drein. Der andere, Winter, aber ging in die Weißbierstube, wo Bernitzki mit Sirawata und seinem Angestellten an einem Tische saß und geduldig auf des Angestellten Botschaft gewartet hatten. –
Astrid lag in Kleidern in ihrem Zimmer auf dem Bett. Sie hatte vorhin ein Pulver genommen und verfiel bald in einen leisen Halbschlummer. Wieder träumte sie. Aber es waren friedliche Bilder, die an ihrem Geiste zusammenhanglos vorüberzogen, Ereignisse aus ihrer Kindheit, einer wohlbehüteten Zeit in dem schlichten Hause einer pommerschen Stadt, wo ihr Vater als Steueraufseher ein bescheidenes Dasein führte, – bescheiden und zufrieden, – bis, ja bis die Sorgen mit dem einzigen Kinde begannen. Von wem die kleine Astrid diesen Hang zum Lügen und die Sucht nach Vergnügen und eitlem Tand geerbt hatte, wurde dem braven Herrn Schaper nie klar. Mit fünfzehn Jahren verließ die auffallend hübsche und voll entwickelte Astrid heimlich das Elternhaus und folgte einem reichen Güterspekulanten, der nur wenige Tage in dem Städtchen geschäftlich zu tun gehabt hatte. Der ergrimmte Vater holte sie zurück, und Astrid gelobte feierlich Besserung, trat dann auch als Erzieherin später bei verschiedenen begüterten Familien in Stellung, geriet aber schnell auf die abschüssige Bahn, die sie hinab in die Welt des Hochstaplertums führte.
Astrid träumte von dem großen Garten, in dem sie im Frühjahr stets die Spargelbeete, bewaffnet mit dem Spargelstecher, geleert hatte, von einer Truppe wandernder Zigeuner mit Bären, Affen und einem Pony, auf dem ein Zigeunermädchen ritt.
An die verschlossene Tür des Zimmers wurde geklopft – erst leise, dann immer kräftiger. Und Fräulein Wernickes ölige Stimme flötete zwischenein:
„Gnädige Frau – gnädige Frau, – ein Herr wünscht Sie zu sprechen!“
Astrid erwachte, richtete sich auf. Um ihre Lippen lag ein trauriges Lächeln. – Wie schön waren doch diese Kindheitsbilder gewesen – wie schön und rein.
Wieder die Wernicke hinter der Tür: „Gnädige Frau – gnädige Frau!“
Astrid ging und öffnete.
Neben der dürren Wirtin stand ein älterer Herr, den Astrid nicht kannte. Der trat jetzt sofort vor und sagte verbindlich:
„Gnädige Frau, – ich habe Ihnen eine Botschaft von einem Herrn Busterley auszurichten, dem ich eben auf der Straße begegnete. James ist ein alter Freund von mir.“
Astrid war des Glaubens, der Herr spräche die Wahrheit. Er trat so sicher auf.
„Bitte!“ sagte sie daher und gab die Tür frei. –
August Bernitzki war mit Astrid allein.
„Sie gestatten, daß ich Platz nehme,“ meinte er. „Unsere Unterredung dürfte doch eine Weile in Anspruch nehmen.“
Astrid wurde es beklommen zu Mut. Die Stimme und das verbindliche Lächeln dieses Herrn, der immer noch nicht seinen Namen zu nennen sich anschickte, erinnerte sie an irgend jemand, – aber an wen, an wen nur?
Sie setzte sich in den zweiten Plüschsessel an den Mitteltisch.
Da sagte der Herr auch schon:
„Sie werden sich auf mich sicher besinnen, Fräulein Busterley, wenn ich Ihrem Gedächtnis etwas nachhelfe.“
Astrid war bei der Anrede „Fräulein Busterley“ merklich zusammengezuckt.
„Ich bin nämlich Herr Albert Peterlein aus Gizeh,“ fuhr der Detektiv fort. „Hier in Berlin heiße ich allerdings August Bernitzki.“
Astrid erbleichte.
„Sie – Sie – Peterlein und Bernitzki?“ brachte sie mühsam hervor.
„Allerdings. Ein Detektiv führt viele Namen und viele Gesichter. – Doch – wir wollen zur Sache kommen. Selbstredend hat mich Ihr Freund James nicht hergeschickt. Das war nur eine Finte. – Im Gegenteil, er ahnt nicht, daß ich hier bin. Sonst würde er sicher spornstreichs zurückkommen. – Zu welchem Zweck ich in Gizeh war, wissen Sie. Es handelte sich um Fräulein Gerda Rickmer, die Sie durch das Gift der Thugs des Gedächtnisses beraubt haben und die Ihr Genosse hier in Berlin verborgen hält.“
Kalt und schneidend waren die Worte Bernitzkis. Und sie trafen Astrid wie verderbenbringender Stahl.
Sie sank, als habe ihr Körper jeden Halt verloren, in ihrem Sessel zusammen. Und ihre Augen ruhten mit einem Ausdruck ungläubigen Entsetzens auf Bernitzkis unbewegtem Gesicht.
Der Detektiv sprach weiter:
„Sie besinnen sich, daß eines Nachmittags Rickmer im „Pyramiden-Hotel“ die Skizzen gestohlen wurden. Sie waren recht fassungslos, als der Ingenieur uns am Abendbrottisch Versammelten diese Kunde übermittelte. Ist Ihnen bekannt, wer der Dieb war, der so schlau und doch wieder so dumm diesen Streich verübt hat?“
Astrid hatte Zeit gefunden sich leidlich zu fassen. In ihren Schläfen bohrte der Schmerz, und die Stirn schien ihr von einem eisernen Reifen zusammengepreßt zu sein. – Es wurde ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war heute eine ziemlich ungefährliche Gegnerin.
Mechanisch schüttelte sie den Kopf.
„Ich weiß es nicht. – Sie etwa?“ Ihr Interesse war erwacht. Die Zeichnungen waren es ja, für die sie gemordet hatte, – ein Menschenleben und das Gedächtnis von drei anderen Opfern.
Bernitzki nickte.
„James Busterley,“ sagte er kurz.
Sie fuhr empor.
„James Bust – –?!“ Das Wort blieb ihr im Munde stecken. Wie Schuppen fiel es ihr plötzlich von den Augen. Vieles wurde ihr jetzt klar. Sie hatte ja geahnt, daß er sie betrog, daß er Geheimnisse vor ihr hatte.
„Busterley hat Manikela oder besser Gerda Rickmer damals in Brindisi zurückgelassen, ist in zwei Tagen mit einem schnellen Dampfer nach Ägypten gekommen, im „Pyramho“ als Franzose aus Rouen abgestiegen, hat die Skizzen gestohlen und kehrte dann nach Brindisi zurück. An demselben Abend verschwand auch ich aus Gizeh – erinnern Sie sich noch? Ich wollte angeblich mit einem befreundeten Professor eine Nilfahrt unternehmen.“
Astrid saß jetzt regungslos da und lauschte. Als Bernitzki ihr alles an Beweisen vorgetragen hatte, was er gegen Busterley vorbringen konnte, fügte er hinzu:
„Ich bin nun zu Ihnen gekommen, um Ihnen folgenden Vorschlag zu machen. – Ich kann Sie jeder Zeit verhaften lassen. Die Beweise, daß Sie Mowiru erschossen und Gerda Rickmer, Ansura und dem jetzt im Wintergarten auftretenden Schi-Sao Gift beigebracht haben, besitze ich –“
Er schwieg einen Augenblick.
Vom Hofe herauf erklangen die Töne einer Drehorgel. – Astrid war wieder aschfahl geworden bei diesen Klängen. Obwohl es ein Wiener Walzer war.
„Ja, die Beweise besitze ich,“ wiederholte Bernitzki. „Zum Beispiel auch in Gestalt des indischen Leierkastenmannes da unten im Hofe, den Sie so sehr fürchten, daß Sie durchaus feststellen wollen, ob er etwa mit Schi-Sao unter einer Decke steckt.“
Astrid hatte sich erhoben und war unsicheren Schrittes an das Fenster gegangen, um in den Hof hinabzuspähen.
Dann sank sie schwer wieder in den Sessel zurück.
„Es ist ein Inder,“ sagte sie zusammenschaudernd. „Woher wußten Sie es, daß –“
„Ich weiß alles,“ unterbrach Bernitzki sie. „Nur nicht den jetzigen Aufenthaltsort Gerda Rickmers. Gewiß – auch den würde ich herausfinden. Mir liegt aber daran, die junge Dame sofort ihrem Bruder zuzuführen. – Wenn Sie mir nun diesen Ort verraten, bleiben Sie von der Polizei unbehelligt – auf mein Wort! Bedenken Sie, daß Sie das ganze gewagte Spiel endgültig verloren haben, daß Busterley Sie betrogen hat! Retten Sie, was noch zu retten ist, – Ihre eigene Freiheit.“
Astrid tupfte sich mit dem Taschentuche die Schweißperlen von der Stirn.
„Ich – bin – einverstanden,“ sagte sie tonlos. „Gerda Rickmer wohnt bei einem alten Ehepaare als angebliche Rekonvaleszentin in Nikolassee in der Havelstraße 2. Die Leute heißen Berding.“
„Sehr verständig von Ihnen, daß Sie nachgeben,“ meinte Bernitzki, dessen Augen in stillem Triumph leuchteten. „Erzählen Sie mir jetzt aber noch schnell, was sich damals in jener Nacht im Dschungeltempel abgespielt hat.“
Astrid gehorchte.
„Wir, – Busterley, Mowiru und ich, hatten uns in den unterirdischen Räumen des Tempels schon vor dem Eintreffen Rickmers und seiner Leute verborgen. In jener Nacht waren Gerda und ihre indische Dienerin leise auf den Vorplatz hinausgegangen. Der Vollmond lockte sie, der die Landschaft in sein wunderbares Licht einhüllte. Mowiru und ich schlichen ihnen nach. Ich wollte Gerda in meine Gewalt bringen, um durch sie einen Zwang auf ihren Bruder ausüben zu können. Die beiden Mädchen waren ein Stück die Mitteltreppe nach dem Dschungel zu hinuntergestiegen. Hier überraschten wir sie. Zwei Decken dämpften ihre Hilferufe. Und Mowiru nahm den vergifteten Dorn und stach beide drei Mal in den Oberarm. Sie wurden ohnmächtig und wir trugen nun zuerst Gerda leise in die verborgenen Kellerräume. Als wir danach auch die Inderin holen wollten, war sie verschwunden. – Das ist die volle Wahrheit.“
Bernitzki stand auf und griff nach seinem Hut.
„Mein Geschäft hier ist erledigt,“ sagte er. „Was gedenken Sie denn nun zu tun?“
„Ich?!“ Astrids Augen schwammen in Tränen. „Ich – ich will versuchen, mich mit meinen Eltern auszusöhnen. Ich habe dieses Leben satt. Mir ekelt vor mir selbst –“
Bernitzki schaute das schöne Weib ernst an.
„Wollen Sie nicht wenigstens etwas gutmachen, was Sie gesündigt haben, wollen Sie mir nicht helfen, die Skizzen James Busterley abzunehmen?“ fragte er eindringlich.
„Ja – ich will!“ Astrid blickte grübelnd vor sich hin. „Vielleicht hat er sie sogar in seinem Koffer. Der besitzt einen doppelten Boden. In diesem Versteck bewahrt er alle möglichen Dinge auf. – Wollen wir nicht gleich einmal nachsehen?“
„Haben Sie denn die Kofferschlüssel?“
Astrid errötete leicht.
„Einen, von dem er nichts ahnt,“ erwiderte sie. „Ich habe ihn mir heimlich anfertigen lassen. Hätte ich auch nur im entferntesten vermutet, daß Busterley der Dieb war, so würde ich den Koffer längst durchsucht haben.“
Wenige Minuten später hatte Bernitzki die Zeichnungen in der Tasche. Auf einen so vollständigen Sieg hatte er nie und nimmer gehofft.
Er reichte Astrid jetzt die Hand.
„Ihre Eltern werden Ihnen verzeihen, wenn Sie die rechten Worte finden,“ sagte er herzlich. „Sie haben viel gutzumachen, Astrid Schaper! Gott helfe Ihnen dabei!“
Dann verließ er das Zimmer und das Haus und schritt der Weißbierstube wieder zu.
Winter saß hier neben dem Angestellten Bernitzkis hinter ein Paar mächtigen Weißbiergläsern.
Der Detektiv nahm Platz. Wenige Worte genügten, um Winter von dem überraschenden Erfolge zu verständigen.
Dann kam Sirawata mit seinem Leierkasten zurück. Er hatte zum Schein auch noch im Nebenhause einen Wiener Walzer hören lassen.
Der Inder stellte die Drehorgel auf den Boden und setzte sich neben Bernitzki. Sein Gesicht war unbewegt, nur die dunklen Augen funkelten vor Erregung.
„Sahib Bernitzki,“ berichtete er leise in englischer Sprache, „ich hatte auf dem Hofe jenes Hauses, in dem die „weiße Kobra“ wohnt, ein seltsames Zusammentreffen. Als ich gerade mit der Musik beginnen wollte, betrat ein zweiter Drehorgelspieler den Hof, – ein Inder wie ich. Er fuhr bei meinem Anblick zurück und verschwand schnell. Es war jener Mann, der sich Kutima-Kuti genannt hatte. Und hinter ihm hatte ich flüchtig noch einen zweiten gesehen, Sahib! Einen mit einem langen, schwarzen Bart –“
„Thugs!“ sagte Bernitzki nur und wechselte mit Winter einen Blick.
Der nickte.
„Sie sind also tatsächlich hinter dem Paare her, diese Mordbrüder,“ meinte er ernst. „Hoffentlich ist Astrid Schaper vorsichtig. – Ob wir sie nicht warnen sollten?“
Bernitzki wiegte den Kopf unschlüssig hin und her.
„Sie weiß ja, daß die Thugs ihr nachstellten. – Hm – trotzdem, – ich werde nochmals zu ihr gehen. Eigentlich hat sie es nicht verdient. Aber –“
Er stand auf und verließ die Kneipe.
Im Hause Nr. 6 begegnete er auf der Treppe zum ersten Stock einem Inder mit schwarzem, langem Bart. Der Mann hatte es sehr eilig. Bernitzki blieb steten und sah ihm mißtrauisch nach. Dann schritt er weiter die Stufen empor.
Die Flurtür zu Fräulein Wernickes Wohnung war nur angelehnt. Das beunruhigte den Detektiv. Schnell trat er und ging zielbewußt auf die Tür zu Astrids Zimmer zu und klopfte – einmal, – nochmals, – immer lauter.
Dann legte er die Hand auf den Drücker. Die Tür war unverschlossen, und er trat ein.
Astrid lag auf dem Bett, – still, reglos.
Mit einem Sprung war Bernitzki neben ihr, beugte sich über sie.
Sie atmete schwach. Ihr Gesicht war wachsbleich.
Der Detektiv murmelte ein „Gott sei Dank!“ vor sich hin. Dann suchte er nach Fräulein Wernicke. Doch die Wohnung war leer. Die Wirtin mußte ausgegangen sein.
Bernitzki holte sich aus der Küche die Essigflasche und rieb mit der scharfen Flüssigkeit die Schläfen der Bewußtlosen ein, bemühte sich um Astrid gute zehn Minuten, ehe sie endlich die Augen aufschlug.
Ja, sie schlug die Augen auf! Aber es waren nicht mehr die der genußhungrigen, ränkevollen und schlauen Astrid.
Ihr Blick war so stumpf und tot, so ohne jedes geistige Leben, daß Bernitzki förmlich zurückprallte. Eine furchtbare Vermutung kam ihm. Er schob erst den linken, dann den rechten weiten, losen Ärmel des koketten Morgenkleides hoch.
Auf dem rechten Oberarm zeichneten sich auf der zarten Haut drei rote, von einem winzigen Blutkranz umgebene Punkte ab, die ein Dreieck bildeten.
Der Detektiv wußte genug.
Wieder schaute er das schöne Weib forschend an.
Astrid saß zusammengekauert auf dem Bettrand. Ihre Augen wanderten wie in maßlosem Staunen über das Zimmer hin, blieben dann auf Bernitzki haften.
„Wer sind Sie?“ fragte sie mit einer Stimme, die jede Klangfarbe verloren hatte. „Wo befinde ich mich? Und was – was –“ Sie verstummte, strich sich mit der ringgeschmückten Rechten mehrmals über die Stirn und lächelte, – lächelte ein blödes, törichtes Lächeln, indem sie nun ihr Morgenkleid hochhob und den glänzenden Stoff wie prüfend zwischen den Fingern rieb.
Da betrat Fräulein Wernicke den Flur der Wohnung. Bernitzki ging ihr schnell bis zur Tür entgegen.
„Hier ist ein Verbrechen verübt worden,“ sagte er leise. „Haben Sie einen Inder mit einem schwarzen Bart vor vielleicht einer Viertelstunde eingelassen?“
Die dürre alte Jungfer hatte nur Augen für Astrid.
„Mein Gott, was fehlt der Dame? Sie sieht so anders aus,“ stotterte sie. Dann erst kam ihr Bernitzkis Frage zum Bewußtsein.
„Ich habe niemand eingelassen. Ich war Besorgungen machen,“ sagte sie mit verängstigtem Gesicht. „Und – ein Verbrechen, meinen Sie? Was ist denn geschehen?“
„Haben Sie oder sonst jemand Fernsprecher im Hause?“ fragte er, ohne direkt zu antworten.
„Über mir, – der Kaufmann Rubinstein.“ –
So wurde die Polizei in Kenntnis gesetzt. Dann mußte die Wernicke Winter aus der Weißbierstube holen.
Inzwischen hatte der Detektiv noch verschiedene Fragen an Astrid gerichtet. Er erhielt jedoch keine Antwort, oder es waren nur völlig wirre Sätze, die sie vor sich hinplapperte.
Als Winter erschien, deutete Bernitzki auf Astrid.
„Das Gift des Vergessen,“ sagte er leise.
Winter zuckte zusammen.
„Oh – die Augen – die Augen – furchtbar!“ meinte er entsetzt. „Also war meine Sorge nur zu berechtigt!“
„Ich bin um ein paar Minuten zu spät gekommen,“ erklärte Bernitzki ernst. „Das Weib tut mir leid. Sie war auf dem besten Wege, ein neues Leben anzufangen. – Nun, ich hoffe auf die hypnotische Kur auch bei ihr –“ –
Zu derselben Zeit weilten Doktor Merstka, Hilde und Ansura bei einem der berühmtesten Berliner Nervenärzte. Professor Sülzheimer ließ sich alles genau erzählen, was über die Ursachen der geistigen Erkrankung der Inderin bekannt war.
Dann sagte er zu Merstka: „Für mich ist das Thuggift nichts Neues, Herr Kollege. Die Wissenschaft kennt es seit etwa fünf Jahren. Aber es ist bisher nicht geglückt, seine Zusammensetzung festzustellen. Fraglos ist es ein Gemisch von Pflanzen- und tierischen Giftstoffen. – Ich werde Hypnose anwenden. In leichteren Fällen soll sie nach Berichten englischer Kolonialärzte noch stets geholfen haben, das ist richtig, besonders bei einem kräftigen Organismus.“
Ansura war leicht einzuschläfern. Und schon diese erste Behandlung entfernte einen Teil der Schleier, die über des braunen Mädchens Seele lagen. –
*
Am gleichen Tage nachmittags gegen zwei Uhr in Nikolassee in der Havelstraße.
Drei Herren schritten auf Nr. 2 zu. Es waren der Baron, Rickmer und Bernitzki.
Das kleine, von wildem Wein dicht berankte Häuschen erhob sich inmitten eines weiten Gartens. –
Der Detektiv hatte an der Straßenpforte geläutert, und nach einer Weile kam ein altes, gebücktes Männchen mit einer langen Pfeife in der Hand und einem gemütlichen Samtkäppchen auf dem Kopf den von Blumen eingefaßten Weg entlang.
Und neben ihm ging Gerda. Sie hatte einen kleinen schwarzen Affenpintscher auf dem Arm, den sie zärtlich streichelte. Das helle, einfache Kleid ließ den noch immer leicht gebräunten Ton ihrer Haut noch deutlicher hervortreten. Ihr schönes, blondes Haar war bereits so weit nachgewachsen, daß sie es in der Mitte hatte scheiteln können.
Jetzt blieb sie etwas zurück. Ihre Augen waren ohne einen Ausdruck des Erkennens über Rickmer und Mühlen hingeglitten.
Der alte Herr Berding wurde in Eile durch Bernitzki von der Sachlage unterrichtet. Mühlen und Rickmer hätten kein Wort hervorbringen können.
Jetzt näherte der Baron sich zögernd der Geliebten, blieb vor ihr stehen und sagte mit zitternder, tiefbewegter Stimme:
„Gerda, erkennst du mich –?“
Man merkte, wie es in den Gesichtszügen des jungen Mädchens arbeitete, wie sie sich alle Mühe gab, die Fesseln abzuschütteln, die ihr Gedächtnis einengten. Ein leiser Schimmer von Erinnerung schien in ihrer Seele aufzuleuchten, aber er genügte nicht.
Sie schüttelte verlegen lächelnd den Kopf.
Mühlen traten Tränen in die Augen.
Auch Rickmer, Bernitzki und der alte Herr waren hinzugetreten.
Der Detektiv legte dem Baron tröstend die Hand auf die Schulter.
„Wir haben sie lebend wieder! Und das Weitere wird die Kunst der Ärzte erreichen –“
*
Die Berliner Abendzeitungen brachten an demselben Tage folgende ziemlich gleichlautende Sensationsnachricht:
Geheimnisvoller Mord
In einem nach dem Hofe führenden wenig benutzten Hausgange einer kleinen Weinstube der Friedrichstraße wurde heute gegen halb ein Uhr nachmittags die Leiche eines Mannes aufgefunden, eines gewissen James Busterley, der Polizei seit langem als internationaler Hochstapler, Hoteldieb und Falschspieler bekannt. Busterley ist zweifellos ermordet worden, und zwar erdrosselt. Um seinen Hals war ein zusammengedrehtes Tuch von offenbar indischer Arbeit eng verknotet. Von dem Täter fehlt vorläufig jede Spur.
August Bernitzki wäre imstande gewesen, diese Notiz in verschiedenen Punkten zu ergänzen. Besonders wußte er, daß die Polizei in der Brieftasche des Toten ein an den Geheimen Kommerzienrat Jakobi gerichtetes, erst vor kurzem abgefaßtes Schreiben gefunden hatte, in dem Busterley dem Börsenfürsten die Matawara-Skizzen für eine halbe Million Mark anbot. Die Aushändigung des Geldes und der Zeichnungen sollte unter so raffiniert ersonnenen Vorsichtsmaßregeln erfolgen, daß Busterley dabei kaum hätte abgefaßt werden können. Der Brief hatte natürlich keine Unterschrift. Aber daß er von dem Diebe der Skizzen herrührte, war durch Angabe verschiedener Einzelheiten über den im „Pyramho“ verübten Diebstahl genügend bewiesen.
So hatte Busterley aus seinem Raube Nutzen ziehen wollen. Doch es kam anders. –
Um es hier gleich zu erwähnen: Die Mitglieder der Thug-Brüderschaft, die Mowiru in Berlin gerächt hatten, konnten trotz aller Anstrengungen der Polizei nicht ergriffen werden. Sie waren verschwunden, als ob der Erdboden sie verschluckt hätte.
*
Professor Sülzheimer erzielte bei der Behandlung Gerdas und Ansuras einen vollen Erfolg. Bereits nach acht Tagen waren die Wirkungen des Giftes des Vergessens ganz beseitigt.
Der Augenblick, in dem Gerda ihrem Verlobten zum ersten Mal lachend und weinend um den Hals flog, erschütterte alle Anwesenden aufs tiefste.
Bei Astrid Schaper jedoch versagte des Professors Kunst.
„Die Giftdosis ist zu groß gewesen,“ meinte er achselzuckend. „Außerdem ein völlig erschöpftes Nervensystem und der furchtbare Schreck beim Anblick des braunen unerbittlichen Feindes, – das alles spricht hier mit. Vielleicht ändert sich mit der Zeit ihr Zustand – vielleicht!“
Diese geringe Hoffnung erfüllte sich nicht. Im Hause ihrer alten Eltern siechte Astrid langsam dahin. Nach einem Jahre starb sie friedlich – ohne von ihren Verbrechen etwas zu wissen, – friedlich wie ein Kind.
Es war ein merkwürdiger Zufall, daß an dem Todestage Astrids Gerda von der Mühlen ihrem beglückten Gatten den Stammhalter schenkte.
Der Baron tanzte mit dem kleinen, krebsroten Wesen in den Armen beinahe im Zimmer umher, so daß Hilde Rickmer es ihm ängstlich abnahm.
„Mein Mann war doch etwas verständiger, als vor sechs Wochen unsere kleine Gerda geboren wurde, lieber Schwager,“ sagte sie, strahlend und doch würdig. „Jetzt verschwinde hier! Dieses Zimmer ist kein Ort für Indianertänze –“
Und sie legte der blonden Wöchnerin das winzige, zappelnde und schreiende Bündel wieder in den Arm.
Anmerkungen: