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Im Schatten der Schuld

 

 

Im Schatten der Schuld

 

Kriminalroman

von

W. von Neuhof

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89

 

Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

„Kinder – ich bitt’ euch, – Ruhe! Hier wohnen doch noch mehr Leute, und es ist zwei Uhr nachts!“

Aber Olaf Longreens Gäste hatten der Bowle etwas zu stark zugesprochen, und lachend und polternd ging’s weiter die vier Treppen hinab, hinter dem Bowlenspender her, der mit einem flackernden Licht in der Hand selbst nicht mehr ganz sicher auf den Füßen vorraustappte.

Unten an der Haustür nochmals eine lärmende Abschiedsszene.

„War famos!“

„Bin voll wie ’ne Unke!“

„Das Bild und die Medaille haben wir gehörig genossen – müssten beide selbst auch eigentlich triefen!“

„Gute Nacht, Kinder – kommt gut heim!“ Dann wandte sich Olaf an den nüchternsten der vier Kumpane.

„Peter, gibt acht, daß sie keinen Unfug treiben,“ sagte er leise und hastig zu einem schlanken Herrn, der durch seine elegante Kleidung ebenso sehr von diesen Bohemiens abstach wie durch blasierte Ruhe und eine gewisse vornehme Lässigkeit in seinen Bewegungen. „Die Nachtwächter von Alt-Schmargendorf haben uns ohnehin schon auf dem Strich. Also laßt die Laternen brennen und verschleppt keine Ladenschilder oder Handwagen.“

Peter klemmte das Monokel fester und warf einen halb mitleidigen, halb ironischen Blick auf die drei anderen, die da Arm in Arm einen Gassenhauer gröhlend mitten auf dem Asphalt des Fahrdammes weiterzogen.

„Ich werde schon aufpassen! Gute Nacht, Olaf. Und – besten Dank. Fidel war’s doch! Nur schade, daß ich so unheimlich viel vertrage und nie in Stimmung komme.“

Sie schüttelten sich fest die Hand, und Olaf Longreen verschwand im Hause. Bevor er aber noch die Haustür schließen konnte, löschte ein Windstoß die Kerze aus. Nachtbeleuchtung besaß das alte, einsame Gebäude nicht. So mußte der Maler denn den Leuchter auf den Boden stellen und in den Taschen nach Streichhölzern suchen. Das war nicht so leicht. Er merkte jetzt erst, daß er doch eine ganze Menge über den Durst getrunken haben mußte. Das Bücken fiel ihm schwer, und die Zündhölzer spielten rein Versteck mit ihm. – Verdammt – er hatte doch stets eine Schachtel bei sich – stets, bei einem so leidenschaftlichen Raucher wie ihm eigentlich selbstverständlich!

Aha. – In die Schlüsseltasche der Beinkleidern hatten die Dinger sich verirrt, – natürlich auch eine Folge des Alkohols. Sie gehörten doch in die Weste.

Drei Hölzchen rieb er mit unsicheren Fingern an – ohne Erfolg.

Er fluchte leise.

„Verflixte Bowle!“

Da – was war das eben gewesen? – Er lauschte. Die Haustür stand noch weit offen. Draußen lag das bläuliche Licht des Vollmondes auf den kahlen, eingezäunten Bauterrains zu beiden Seiten der Straße, auf den bescheidenen Anfängen der Laubenkolonie, die allmählich auch hierher vordrangen, auf Pappdächern kleiner Holzhäuschen, auf hellgestrichenen Gittern für Rankengewächse und den hie und da auf Stangen befestigten kleinen Windmühlen, die kinderliebe Väter für ihre Sprößlinge zusammengebastelt hatten.

Ja, was war das nur eben gewesen? Wie ein Schuß hatte es geklungen. Fraglos – wie ein Schuß. Sollten etwa die angeheiterten Brüder einen Zusammenstoß mit einem der Nachtwächter gehabt haben?! – Leicht beunruhigt trat Olaf Longreen vor die Tür und spähte die Straße entlang. Von dort her, wohin die fidele Rotte Korah sich gewendet hatte, war der Knall gekommen. Und jetzt glaubte der Maler auch in der Ferne an der Straßenkreuzung so etwas wie eine dunkle Masse unterscheiden zu können, um die sich ein paar Gestalten bewegten. –

Peter Arnberg war hinter den drei Bekannten, die unverdrossen stets denselben Vers brüllten,

„So lange der Kopp in den Schlapphut paßt,

wird keine Arbeit angefaßt!“

hergeschlendert. Auch ihm jagte das Blut schneller durch die Adern. Aber die Bowle hatte ihn nur beweglicher gemacht, seine halb anerzogene Gemessenheit in natürliche Frische verwandelt und sein Hirn empfänglicher für äußere Eindrücke werden lassen.

Das unbebaute Gelände ließ sich trotz der Laubenhäuschen stellenweise weithin überblicken. So sah Peter Arnberg denn mit einem Male auf der nach rechts abzweigenden Straße zwei Strahlenkegel von Autolaternen aufleuchten. – Wenn der Kraftwagen hier entlangkam, – hm, – hoffentlich bogen die drei da vorn auch aus.

Er beschleunigte seine Schritte, denn den Brüdern war nicht zu trauen. In der kühlen Luft dieser Vorfrühlingsnacht waren die Bowlengeister in ihren Köpfen offenbar ganz rappelig geworden, und das Gleichgewichtsgefühl nahm zusehends ab. Der Fahrdamm hätte für die drei noch einmal so breit sein müssen. Und ob sie in dieser Verfassung dem Auto ausweichen würden, war doch sehr fraglich.

Peter Arnberg war jetzt dicht hinter ihnen. Aber nun – recht merkwürdig! – schien in den dahinjagenden Kraftwagen plötzlich ebenfalls eine starke Unsicherheit, die Richtung einzuhalten, gefahren zu sein. Die Laternen glitten nicht mehr geradeaus, sondern beschrieben Schlangenlinien, und nun, gerade am Kreuzungspunkt der Straßen und keine zweihundert Meter vor Olafs vergnügten Gästen, gab’s plötzlich einen Knall, worauf die beiden weißen Lichter ebenso urplötzlich verschwanden und das Auto hielt.

Die drei Untergehakten waren stehen geblieben.

„Oh, eine Panne!“ brüllte der Redakteur Pinker, der in seinem dünnen, langen Pelerinenmantel und dem Riesenschlapphut von hinten wie eine Fledermaus aufsah.

Und Wipprecht, der Schriftsteller, rief: „Jungens, da gibt’s was zu helfen! Hilfreich sei der Mensch, edel und gut –“

Die Rotte Korah setzte sich in Trab, während Olafs Kollege Mix mit überschnappender Stimme kreischte: „He, Auto – wir kommen, – keine Sorge, wir werden den Zaun schon pinseln! Wozu bin ich denn Kunstmaler!“

Peter Arnberg mußte lachen. Diese drei hilfreichen Geister waren gerade die richtigen für eine Panne!

Er schaute wieder nach dem Kraftwagen hin. Leider schob sich jetzt ein Wolkenfetzen vor den Mond. Und so konnte Arnberg nur undeutlich erkennen, wie jetzt drei Gestalten in auffälliger Eile von dem Auto sich trennten und davonliefen.

Seltsam! Was bedeutete das?! Es sah ja beinahe so aus, als ob die Leute dort flohen! Und – denselben Eindruck mußten wohl auch die drei Bohemiens bekommen haben, da sie jetzt mit lautem „Hussa – hussa – Hasenjagd!“ ein Kriegsruf, den Pinker sehr häufig auch bei den unmöglichsten Gelegenheiten gebrauchte, einzeln in eine Art von schwankendem Kamelgalopp übergingen und dadurch ihre Absicht kundtaten, die Verfolgung der Fliehenden aufzunehmen. Daß diese Absicht nur eine Augenblicksregung, vom Alkohol eingegeben, sein konnte, war klar.

Die Jagd zog sich mit lautem „Hussa – hussa – haltet sie – haltet sie!“ die nach links führende Straße weiter. Auch Peter Arnberg hatte seine Schritte beschleunigt, dachte aber gar nicht daran, die Hetze mitzumachen, sondern wandte sich dem Auto zu, daß mit dem rechten Vorderrad auf der Bordschwelle der Straße stand.

Der Mond war wieder hinter dem Wolkenstück hervorgekrochen, so daß Arnberg schon von weitem auf dem Vordersitz eine nach vorn über das Schutzleder hingesunkene Gestalt wahrgenommen hatte. Und diese Beobachtung hatte ihn veranlaßt, sein Interesse ausschließlich dem Kraftwagen zu widmen.

Schon stand er dicht davor. Es war der Chauffeur, der da vornüber hing, den Kopf tief nach unten. Die Mütze war ihm abgefallen, und Peter Arnberg sah hier einen zweiten Mond schimmern, eine riesige Glatze.

Er trat hinzu und rüttelte den Mann. Da sank der Körper haltlos zur Seite.

Arnberg erschrak. Irgend eine dunkle Vorahnung stieg in ihm auf, daß hier Dinge sich abgespielt haben könnten, die alles andere als harmlos waren.

Wäre er völlig nüchtern gewesen, hätte er sich wohl kaum weiter mit dem Manne beschäftigt. Er liebte Aufregungen nicht, ging allem ängstlich aus dem Wege, was ihn in seiner Ruhe stören konnte. Er hätte eben den nächsten Schutzmann oder Beamten der Wach- und Schließgesellschaft benachrichtigt und damit ja auch seiner Bürgerpflicht genügt.

So aber, in dieser gehobenen Stimmung, überlegte er nicht lange, sondern versuchte, den Körper des Chauffeurs aufzurichten. Der Mann war ja sicherlich ohnmächtig, vielleicht war er beim Aufrennen des Autos gegen die Bordschwelle irgendwo mit dem Kopf gegengestoßen.

Nun hatte Arnberg den Oberkörper glücklich gegen die Rückwand gelehnt, nun konnte er auch einen Blick in das blasse, bärtige Gesicht werfen. Das Mondlicht spiegelte sich in ein paar glasigen Augen, die weit aufgerissen waren.

Plötzlich hinter Arnberg eine rauhe Stimme:

„Was gibt’s hier?“

Er fuhr herum, ließ unwillkürlich den schweren Körper wieder los, der jetzt halb unter das Schutzleder rutschte.

Arnberg sah sich einem Schutzmann und einem älteren, elegant gekleideten Herrn mit grauem Spitzbart gegenüber.

Der Beamte wiederholte seine Frage. Nachdem er gehört hatte, was seit dem Abschied vor der Haustür des Gebäudes da drüben geschehen war, untersuchte er nun selbst den Chauffeur. Er besaß offenbar ungewöhnliche Kraft, da es ihm sofort gelang, den Körper lang auf den Vordersitz zu legen.

Jetzt drehte er sich den beiden Herren wieder zu, die schweigend und abwartend dagestanden hatten.

„Der Chauffeur hat einen Stich in der linken Brustseite. Da – sehen Sie, meine Herren,“ sagte er bedächtig. Er hob seine rechte Hand. Die war jetzt dunkel. Und fuhr dann fort: „Das Blut ist unter der Lederjacke hervor dem Mann auf die Oberschenkel geflossen.“

„Das sieht ja wahrhaftig ganz nach einem Verbrechen aus,“ meinte der Herr, der mit dem Beamten zusammen auf dem Schauplatz erschienen war.

Der Schutzmann, ein Hüne, schien das Wort Nerven nicht zu kennen, wischte jetzt seine Hand mit dem Taschentuch trocken, nickte und erklärte: „Ich werde das Polizeipräsidium benachrichtigen müssen.“ Dabei warf er einen mißtrauischen Blick auf Peter Arnberg. Dem entging dieses prüfende Mustern nicht. Und froh, daß jetzt weitere Zeugen für die Wahrheit seiner Angaben nahten, deutete er auf die drei Bohemiens, die soeben von der ergebnislosen Jagd zurückkehrten und sehr laut das Erlebte besprachen.

„Dort kommen die Herren, die ich vorhin erwähnte,“ meinte er mit Betonung. „Aber ich möchte gleich bemerken, sie sind nicht ganz nüchtern.“

Nein – nüchtern waren sie nicht. Aber sie wurden es überraschend schnell, als der Schutzmann auch ihnen von der Wunde in der Brust des Chauffeurs Mitteilung machte und auf das kleine Loch in der braunen Lederjacke zeigte – und auf die blutigen Beinkleider.

„Der Mann ist tot,“ meinte der Beamte nun, nachdem er nach dem Puls gefühlt hatte. „Auch die Augen verraten es ja. – Würde einer der Herren vielleicht dort drüben nach dem Cafee gehen und an das Polizeipräsidium telephonieren?“ bat er.

Karl Pinker, der Redakteur, zog schon seinen Fledermausmantel aus.

„Ich laufe wie ein Windhund, bin im Augenblick wieder zurück.“ Und er trabte davon in der Richtung auf den großen Häuserblock, der da vorn in der Nähe der Ringbahnstationen Schmargendorf sich erhob und in dessen Mitte ein paar helle Vierecke, die erleuchteten Fenster des Cafees, aufblinkten.

Der Schutzmann wandte sich an die anderen Herren.

„Wir werden warten müssen, bis die Mordkommission eintrifft. Inzwischen könnten Sie mir ja einige Fragen beantworten.“ Er sah Wipprecht und Mix an, die ganz verstört waren und sich die schweißbedeckten Stirnen abtupften.

Die beiden nickten mechanisch.

Dann mischte sich der Herr mit dem grauen Spitzbart ein. Er trug einen goldenen Klemmer, und in seiner ganzen Erscheinung lag eine gewisse Vornehmheit.

„Ich bin Arzt, Doktor Runkel aus Berlin W., Ansbacher Straße,“ sagte er zu dem Beamten. „Darf ich mir die Leiche mal oberflächlich ansehen?“

„Bitte sehr! Aber – wenn möglich nicht berühren,“ erwiderte der Schutzmann höflich.

Er hatte sein Notizbuch vorgeholt.

„Ich könnte mir gleich die Adressen der Herren aufschreiben,“ meinte er. „Also – Doktor Runkel, Ansbacher Straße, – Hausnummer?“

„Achtzehn.“

„Gut, achtzehn. – Kommen Sie doch bitte mit bis zur Laterne dort,“ forderte er nun die drei Gäste Olaf Longreens auf.“ Hier kann ich zu wenig sehen.“

Die Laterne war vielleicht acht Schritt entfernt.

Wipprecht und Mix gaben alles Nötige an, dann auch als letzter Peter Arnberg.

„Ich wohne Grunewald, Delbrückstraße zwei.“

„Und Ihr Beruf?“ fragte der Schutzmann, den Bleistifte beleckend.

Arnsbergs Antwort ließ etwas auf sich warten. Er blickte angestrengt mit halb zugekniffenen Augen nach dem Auto hinüber.

Dann erwiderte er hastig:

„Ah so – Beruf? – Rentier!“

Der Beamte schaute auf.

„Rentier?“ Und er betrachtete sich mit offenbarer Ehrfurcht diesen Herrn, der noch so jung aussah und doch schon über alle Alltagssorgen erhaben war.

„Allerdings – Rentier, denn die Fabrik meines verstorbenen Vaters ist in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden, – Peter Arnberg, Maschinenfabrik, Spandau.“

„Ah – ich weiß, ich weiß!“ nickte der Schutzmann. „Die Firma kennt ja jedes Kind.“

Dann fragte er Wipprecht und Mix aus.

Der maulfaule, dicke Mix überließ es dem Freunde, Bericht über die Jagd zu erstatten.

„Es waren zwei Kerle und ein Weib,“ erzählte der Schriftsteller. „Aber sie hatten einen zu großen Vorsprung. Außerdem – hm ja – wir waren etwas unsicher auf den Beinen.“

Der Schutzmann grinste.

„Herr Arnberg hat schon von dem Bowlenabend erzählt,“ meinte er voller Verständnis.

Wipprecht ergänzte seine Angaben noch freiwillig.

„Der eine der Kerle bog auch gleich rechts ab und sprang über einen Zaun. Das war der schlaueste. Das Weib und der zweite Mann verkrümelten sich dann nach links in einen engen Weg, der zwischen den Laubenkolonien dort hindurchläuft. Auch sie kamen uns bald aus den Augen.“

Der Beamte hatte offenbar viel Interesse für diese sonderbare Autopanne. Die näheren Feststellungen waren ja eigentlich Sache der Kriminalpolizei, aber aus Eifer richtete er doch noch mehrere Fragen an den Schriftsteller.

„Sie sprechen immer von Kerlen und einem Weibe. Wollen Sie damit andeuten, daß die Entflohenen den einfachen Volksschichten angehörten?“

„Kann ich nicht sagen.“ Wipprecht zuckte die Achseln. „Alles spielte sich so schnell ab, daß ich eben nur Gestalten erkannte. Über die Kleidung weiß ich nichts. Nur eben, es war eine Frau dabei, eine weibliche Person, genauer ausgedrückt. – Hast du mehr gesehen, Mix?“

Der dicke Maler schüttelte den Kopf. „Ich keuchte ja als letzter hinterdrein. Ganz vorn war Pinker. Vielleicht daß der –“

„Haben Sie einen Hilferuf gehört, als das Auto so plötzlich hielt?“ wandte der Beamte sich wieder an Wipprecht.

„Nichts, gar nichts, – nur den Knall.“

„Wohl von einem Pneumatik, wie?“

„Nein, ich möchte eher behaupten, in dem Motor ist eine Explosion erfolgt.“

„Die Pneumatiks sind unversehrt,“ sagte Doktor Runkel, der soeben sich wieder zu den anderen gesellt hatte.

Peter Arnberg hatte eine Bemerkung auf den Lippen, behielt sie aber für sich, zumal der Arzt jetzt hinzufügte:

„Ich darf wohl nach Hause gehen, Herr Schutzmann. Mein Zeugnis kommt ja hier kaum in Betracht, wie Sie wissen. Und meine Adresse haben Sie. Ich war bei einem Kranken und bin hundemüde.“

„Aber bitte sehr, Herr Doktor. Sie haben ganz recht. Was sollten Sie zu dieser Sache aussagen?! – Haben Sie was Neues an der Leiche entdeckt?“

„Nichts. Ich habe mich ja auch gehütet, sie anzurühren. – Gute Nacht, meine Herren.“

Wieder wollte Arnberg etwas bemerken, brachte es aber nur bis zu der Einleitung:

„Verzeihung, – weshalb –“

Er hatte das Wort an Doktor Runkel gerichtet.

Der blickte ihn überrascht an. „Sie wünschen, mein Herr?“ fragte er. „So sprechen Sie doch bitte weiter!“

„Ja – weshalb mögen die Entflohenen nur den Chauffeur ermordet haben,“ meinte Arnberg nachdenklich. „Eigentlich kann man nach dem, was meine Freunde und ich beobachtet haben, doch nur annehmen, daß ein Mord vorliegt, den einer der Entwichenen verübt hat.“

Der Arzt lächelte. „Ich bin nicht Detektiv, mein Herr. Aber ich gebe Ihnen von meinem Laienstandpunkt aus völlig recht. – Gute Nacht nochmals, meine Herren.“ Er schritt eilig in der Richtung nach dem Bahnhof Schmargendorf zu davon.

Peter Arnberg schaute ihm lange nach. Und plötzlich sagte er zu dem Beamten:

„Ich bin auch müde. Kann ich nicht morgen auf dem Polizeipräsidium meine Aussage machen. Ich möchte heim.“

„Bedaure wirklich, Herr Arnberg. Ich darf dies nicht gestatten, – es geht nicht. Sie sind doch einer der wenigen Zeugen –“

Der junge Rentier klopfte mit dem Spazierstock gegen seine Beinkleider.

„Es wäre mir lieber, Sie ließen mich fort,“ meint er leicht gereizt. „Vorhin schauten Sie mich so mißtrauisch an. Glauben Sie etwa noch immer daß ich –“

„Aber ich bitte Sie – Herr Arnberg! Das war doch bloß man so ein flüchtiger Gedanke! – Aber – bleiben müssen Sie! Der Herr Chef der Kriminalpolizei kommt sicher mit heraus, und da könnte ich einen üblen Wischer abkriegen, wenn ich die Zeugen eigenmächtig entlassen habe.“

Arnberg blickte vor sich hin. „Und wenn ich nun einen sehr schwerwiegenden Grund habe, bald nach Hause zu –“

„Tut mir wirklich leid,“ unterbrach ihn der Beamte. Und fügte hinzu: „Setzen wir uns dort in die Nähe des Autos auf eine Bordschwelle. Es kann noch eine gute halbe Stunde vergehen, ehe die Kommission da ist.“

Peter Arnberg folgte dem Vorschlag jedoch nicht, sondern wanderte mitten auf dem Fahrdamm auf und ab, offenbar tief in Gedanken versunken, da er auf Wipprechts Anruf: „He, Millionensöhnchen, bist du denn gar nicht müde?“ nichts erwiderte, als hätte er die Worte überhaupt nicht gehört.

 

2. Kapitel.

Olaf Longreen stand noch immer vor der Haustür.

Die frische Nachtluft tat ihm gut. Er merkte, daß die Bowlengeister sich allmählich verflüchtigten.

Hin nun wieder blickte er nach der Straßenkreuzung hinüber. Er hatte jetzt schon trotz der großen Entfernung erkannt, daß der dunkle Fleck dort ein geschlossenes Auto war, und hatte sich weiter gesagt, der Knall würde wohl von einem geplatzten Reifen hergerührt haben.

Er gähnte mehrmals herzhaft und fühlte, wie er müde und schläfrig wurde. Gerade wollte er dann in das Haus zurück, als er von rechts her auf dem Asphalt leise klappernde Schritte vernahm. Er drehte gleichgültig den Kopf.

Ah – eine Dame! Sieh da! Und so spät und so allein in dieser abgelegenen Gegend! – Sie kam offenbar von Alt-Schmargendorf her. Vielleicht hatte sie sich verlaufen, die letzte Straßenbahn verpaßt. Hier auf diesem von neuen Straßen durchschnittenen Bauterrain war das Zurechtfinden bei Nacht für einen, der nicht gut Bescheid wußte, wirklich schwierig.

Die Dame hatte den Herrn im bloßen Kopf jetzt ebenfalls gesehen, verlangsamte ihre Schritte und blieb dann stehen. Der Maler stellte fest, daß sie einen dunkelgrauen Seidenmantel und einen Filzhut trug, um den ein schwarzer Schleier geschlungen war, der bis zum Kinn herabreichte.

„Mein Herr,“ sagte sie jetzt, ohne näherzukommen, „würden Sie mir den Weg nach der nächsten Autohaltestelle beschreiben?“ Während sie sprach, schaute sie sich suchend um. Ihre Stimme klang schwach, und es schien Longreen so, als ob sie auch leicht vibrierte.

„Die nächste Autohaltestelle? – Oh, die liegt noch recht weit ab, – in Halensee. Und der Weg ist schwer zu beschreiben.“

„Was tu ich da nur?!“

Der Ton war ängstlich, fast verzweifelt.

Dann kam sie plötzlich auf den Maler zu, musterte ihn von Kopf bis Fuß, besonders aber sein Gesicht, und fragte dann:

„Mein Herr, wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?“

„Wenn es in meiner Macht steht –“

„Sagen Sie mir, wen ich vor mir habe. Ich nehme an, einen Kavalier, der meine eigentümlichen Lage nicht –“

„Ich bin der Kunstmaler Olaf Longreen,“ erwiderte er, ohne sie aussprechen zu lassen. Er merkte immer mehr, daß sie völlig erschöpft war. Und sein Herz war weich wie das eines guten Kindes.

„Sie wohnen hier, nicht wahr? Sind Sie Junggeselle? Und – könnte ich mich in Ihrer Wohnung einen Augenblick ausruhen, falls ich Ihnen keine Ungelegenheiten bereite und – wir allein sind. – Mein Gott, – verstehen Sie mich nicht falsch, denken Sie nicht schlecht von mir. Ich kann mich aber kaum noch aufrecht halten –“ Ein wehes Schluchzen drang unter dem dicken Schleier hervor.

Dann schaute sie wieder die Straße entlang, erst nach Alt-Schmargendorf zu, dann nach dorthin, wo sich um das ferne Auto noch immer Gestalten bewegten. Ihr Blick blieb eine Weile auf dem dunklen Fleck haften, den der Kraftwagen auf dem mondbeschienenen Asphalt bildete.

Longreen war unangenehm überrascht. Wie – sie wollte zu ihm in sein Atelier?! Und blitzschnell arbeiteten seine Gedanken, prüften alles, was sich aus einer Erfüllung dieser Bitte an Folgen ergeben konnte. Er hatte Pflichten gegen seiner Braut, die ihm blindlings vertraute. – Hella war gewiß ein großzügiger Charakter. Aber ob sie einen solchen Ritterdienst billigen würde?!

Da sagte die tief verschleierte Fremde schon wieder:

„Sie zögern mit der Antwort, mein Herr. – Ich will Sie nicht weiter belästigen. Entschuldigen Sie, daß ich –“ Sie konnte nicht weitersprechen. Sie weinte.

„Kommen Sie! Ich bin Kavalier –,“ und er wies auf die offene Haustür.

*

Peter Arnberg bog in die Delbrückstraße ein.

Von der Grunewald-Kirche drangen die Schläge der Turmuhr undeutlich herüber, – vier Schläge, – vier Uhr morgens. Die Mordkommission hatte die Gäste Longreens recht lange aufgehalten.

Er schloß die Gitterpforte des Vorgartens auf und stieg die Steinstufen zum Haupteingang der kleinen Villa empor, die er allein bewohnte und die er erst erworben hatte, als er sich vom Geschäft ganz zurückzuziehen beabsichtigte, und die Firma dann Aktienunternehmen wurde.

Gleich darauf hatte er in seinem sogenannten Arbeitszimmer das elektrische Licht angeknipst, wehrte die stürmische Begrüßung Alarichs, seines prächtigen Dobermanns, zerstreut ab und warf sich wie er war, ohne Hut und Mantel abzulegen, in den Klubsessel neben dem kaminartigen, breiten Ofen.

Alarich schlich enttäuscht auf sein Lager zurück, war mit einem Satz wieder auf dem Diwan, drehte sich ein paarmal um sich selbst und legte sich, blinzelte aber unverwandt nach seinem Herrn hinüber, mit dem er heute recht wenig zufrieden war.

Arnberg ging das seltsame Erlebnis dieser Nacht nochmals in Gedanken durch.

Noch nie hatte er etwas so Aufregendes durchgemacht trotz seiner achtundzwanzig Jahre, – noch nie! Aber er empfand den Nervenkitzel dieser dunklen Mordsache nur als unangenehme Belästigung. Er hatte nur ein einziges Interesse, seitdem er seine Stellung als zweiter Direktor der Aktiengesellschaft Arnberg aufgegeben hatte: seine Briefmarkensammlung!

Seine Freunde nannten es eine fixe Idee, konnten nicht begreifen, daß man eine solche Sammlerneigung nach der streng wissenschaftlichen Seite hin ausgestalten konnte. –

Arnberg erhob sich plötzlich und schaltete auch die Stehlampe auf seinem Schreibtisch ein, nahm ein Berliner Adreßbuch aus dem Bücherschrank und blätterte darin, bis er die richtige Seite gefunden hatte.

Als er den dicken Band wieder zuklappte, hatte sein schmales Gesicht, das zumeist einen gelangweilt blasierten Ausdruck zeigte, einen deutlichen Zug scharfen Nachsinnens angenommen.

Langsam putzte er sein Monokel und starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Dann schüttelte er wie unzufrieden mit sich selbst den Kopf, zündete sich eine Zigarette an und begann mit lautlosen Schritten auf dem dicken Teppich, der fast den ganzen Parkettboden des Zimmers bedeckte, auf und ab zu gehen. Erst ein Geräusch in Nebenzimmer veranlaßte ihn, die Tür nach dorthin schnell zu öffnen.

„Wie, Munkel, – Sie sind noch auf?“ fragte er.

„Ich habe auf den Herrn Leutnant gewartet.“

Albert Munkel trat ein und blieb neben der Tür stehen.

„Aber das ist doch Unsinn, alter Freund! Ich habe Ihnen ein für allemal gesagt, daß Sie schlafen gehen können, wenn ich bis zwölf nicht zurück bin.“

„Sehr wohl, Herr Leutnant. Heute hatte ich ja auch eine besondere Veranlassung zum Aufbleiben. Meine Tante hatten mir die alten preußischen Marken geschickt, – Herr Leutnant wissen ja Bescheid. Und die wollte ich gern sofort persönlich übergeben. Es sind zwei Exemplare darunter, die –“

Arnberg winkte ab.

„Lassen Sie das bis morgen, Munkel. Heute habe ich den Kopf von anderen Dingen voll. – Da – setzen Sie sich neben Alarich auf den Diwan. Ich will Ihnen was erzählen.“

Munkel ging gehorsam, wenn auch mit recht erstauntem Gesicht, auf den befohlenen Platz. Sein linkes Bein schleppte etwas nach. Er war ein magerer, häßlicher Mensch, kaum viel älter als sein Herr, an dem er mit einer Treue hing, die vielleicht noch die des Dobermanns übertraf, was schon etwas heißen wollte. Er trug eine einfache, dunkle Dienerjacke mit silbernen Knöpfen, dazu einen blendend weißen Stehkragen und eine ebenso zarte weiße Schleife. Pinker, der Redakteur behauptete immer, Munkel sehe wie eine gutmütige alte Eule aus mit seiner Hakennase und dem kleinen Kinn.

Arnberg nahm seine Promenade wieder auf.

„Ich habe vor kaum drei Stunden einen Mord miterlebt,“ begann er.

Munkels Hand, die Alarichs Kopf gestreichelt hatte, sank schlaff herab.

„Mord?“ meinte er leise.

„Ja. Und zwar einen Mord, der wahrscheinlich sehr störend in unser Leben eingreifen wird.“

„Das wäre sehr zu bedauern, – gerade jetzt, wo wir doch die preußischen Marken alle neu ordnen und –“

„Hören Sie von den Marken auf, Munkel! Ich sagte Ihnen ja schon, ich habe jetzt an anderes zu denken! Und wenn ich das sage, muß doch wirklich schon eine sehr wichtige Veranlassung dazu vorliegen.“

„Ganz sicher, Herr Leutnant! – Und der Mord?“

Peter Arnberg erzählte.

„– dann kam die Kommission in zwei Autos angejagt. Der Polizeiarzt stellte fest, daß der Chauffeur tatsächlich erst ermordet sein konnte, als die drei Unbekannten flohen, – also von einem dieser Leute fraglos. Nachdem man uns vier Zeugen dann umständlich vernommen hatte, wurden wir entlassen.“

Arnberg ging an das Likörschränkchen und trank einen Kognak.

Munkel wagte jetzt einzuwenden:

„Ich begreife nicht, Herr Leutnant, weshalb diese an sich sehr rätselhafte Geschichte –“

„Schon gut. Glaube ich Ihnen gern. Aber die Geschichte hat eben noch verschiedene Häkchen.“

Arnberg war vor dem Diwan stehen geblieben.

„Ja – und diese Häkchen, alter Freund, habe ich hübsch heimlich mit nach Hause genommen, das heißt, vor den Herren der Kommission verschwiegen. Ich hätte es sicher nicht getan, wenn ich nicht etwas reichlich von Olafs Bowle intus gehabt hätte, die meinen sonst allem Aufregenden recht abgeneigten Geist stark verwirrt haben muß, da mit einem Male der verrückte Gedanke in mir auftauchte, diese Häkchen allein näher zu prüfen. Jetzt, wo ich total nüchtern bin, könnte ich mich selbst dieser blöden Idee wegen ohrfeigen. Aber – es ist eben zu spät zur Umkehr.“

„Ich – ich verstehe von alledem nichts, Herr Leutnant. Wenn ich gehorsamst bitten dürfte –“

„Kommt schon, – kommt schon – Also, als wir mit dem Schutzmann unter der Laterne standen, sah ich, daß der Doktor Runkel auf der von uns abgekehrten Seite des kaputten Autos die Tür öffnete und hineinkletterte. Nachher hatte er etwas unter seinen Mantel geknöpft, was nicht da gewesen war, als er mit dem Schutzmann auf dem Schauplatz erschien. Der Mantel hatte an der linken Seite eine recht auffallende Aufbauschung, die vorher fehlte. Es war ein Zufall, daß ich’s bemerkte. –

Nein – wenn ich mir die Sache jetzt nochmals überlege, es war doch kein Zufall. Schon als der Beamte mit dem Doktor plötzlich auftauchte, war mir nämlich eine Kleinigkeit an Runkels Anzug aufgestoßen, seine Schuhe – Lackschnürschuhe mit braunem Einsatz – waren nämlich recht beschmutzt, ganz frische Erde haftete daran. Und wie ich das sah, dachte ich unwillkürlich – die Bowle war daran schuld! –: die Stiefel scheinen vor kurzem über frisch umgegrabenen Acker gelaufen zu sein. –

Und weiter dachte ich, wenn’s einer der drei entflohenen Leute wäre?! – Sie sehen Munkel, man muß Bowle saufen, um – Detektiv zu werden!“

Das Eulengesicht lächelte zustimmend.

„Kurz, ich hatte mit einem Male gegen den Doktor einen ungewissen Verdacht geschöpft. Als er sich dann verabschiedete, wollte ich ihn fragen, was er eigentlich in dem Auto zu suchen gehabt hätte. Ich tat’s aber nicht, sondern nahm mir vor, ihm heimlich zu folgen. Denken Sie, Munkel, ich – ich wollte jemandem nachschleichen! Toll, nicht wahr?! – Leider ließ mich der Schutzmann nicht fort. –

Dann kam Pinker zurück, der als trainierter Windhund das Telephonieren übernommen hatte. Der Doktor war kaum zwei Minuten weg, und Pinker und Runkel, Ihr halber Namensvetter – bis auf die Anfangsbuchstaben, – hätten sich also unbedingt begegnen müssen, da die Straße nach dem Bahnhof Schmargendorf keine Abzweigungen mehr hat. Durch unverfängliche Fragen, an Pinker gerichtet, stellte ich diese Tatsache fest, daß der Doktor also merkwürdigerweise von der Straße abgebogen war und zwar nur den einen der engen Wege, die mehr Fußpfade, zwischen den Lauben hindurchführen. –

Als die Kommission dann eintraf, wäre es doch meine Pflicht gewesen, diese vier Punkte, erstens schmutzige Schuhe, zweitens Einsteigen in das Auto, drittens aufgebauschter Mantel, viertens Verlassen der geraden Straße, zu erwähnen. Ich schwieg – aus einem sehr einfachen Grunde! Ich hatte mich nämlich schon selbst hineingelegt, als ich dem Schutzmann nicht erklärte, weshalb auch ich angeblich nach Hause wollte! – Jetzt war der Doktor weg! Hätte ich nun meine Neuigkeiten vor den gestrengen Herren der Kommission ausgekramt, dann wäre fraglos ein kleines Ungewitter auf mich herabgeprasselt – und dies mit Recht! –

Ich schleppte also die vier Häkchen still verborgen in meinem Busen mit heim. Vorhin habe ich dann im Adressbuch nach Doktor Runkel gesucht. Es gibt weder in der Ansbacher Straße noch überhaupt in Berlin einen Arzt dieses Namens. Mithin – habe ich – und das ist meine feste Überzeugung! – dem Entkommen eines der drei Entflohenen Vorschub geleistet, denn dieser angebliche Doktor ist ja dem Schutzmann unweit des Tatorts begegnet und zwar auf der Straße nach Bahnhof Schmargendorf, hat den Beamten auf den verdächtigen Knall aufmerksam gemacht und sich ihm angeschlossen – natürlich nur, um etwas aus dem Auto zu holen, was dort zurückgeblieben war, als wir, eine brüllende Horde, die drei Leute in die Flucht jagten.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Munkel.

„Ja – nun sitze ich schön in der Patsche, alter Freund! Das Donnerwetter ist ganz angebracht. – Was bleibt mir also als halbwegs anständigem Staatsbürger übrig, als mein friedliches Leben aufzugeben und mich mit diesem Kriminalfall zu beschäftigen?! – Verdammte Bowle!“

Munkel stand auf. Sein Gesicht strahlte förmlich.

„Herr Leutnant – wir werden die Häkchen schon aufbiegen, wir bringen die Sache schon wieder ins rechte Geleise! – Ich darf doch mithelfen, nicht wahr?“

„Dürfen? Nein, Sie müssen! – Und nun – ins Bett!“

 

3. Kapitel.

Albert Munkels Dienerzimmer lag ebenfalls im Erdgeschoß, nach hinten hinaus. Es war ein einfenstriger, behaglicher Raum. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder, aus illustrierten Zeitungen ausgeschnitten und in zierliche Rahmen aus gebeiztem Zigarrenkistenholz gebracht; alles Motive aus dem Zirkusleben, darunter aber auch verschiedene Photographien berühmter Klowns, auf denen Widmungen standen, wie: „seinem Kollegen Albert Munkel z. frdl. Erinnerung“.

Der jetzige herrschaftliche Diener war auf eine nicht ganz alltägliche Weise zu Peter Arnberg gekommen. Der junge Millionär hatte vor drei Jahren als Reserveoffizier eines Kavallerieregiments in der Provinz eine achtwöchige Übung abgeleistet. Damals war ihm Munkel, der gleichfalls als Reservist übte, als Bursche zugeteilt worden. Bei einer Nachtübung hatte Arnberg als Patrouillenführer mit zwölf Mann einen Fluß zu durchschwimmen versucht. Sein Pferd wurde jedoch in der Mitte des Stromes unruhig, und der Leutnant wäre infolge einer Verkettung besonderer Umstände sicherlich ertrunken, wenn Munkel ihm nicht unter Nichtachtung seines eigenen Lebens zu Hilfe gekommen wäre. Hierbei erhielt er einen Hufschlag gegen das linke Schienbein. Der Knochen war zersplittert, heilte erst nach längerer Zeit zusammen, es blieb aber sowohl eine Beinverkürzung als auch eine Schwäche zurück, die den braven Menschen für den Zirkusberuf völlig untauglich machte. Daher nahm Arnberg ihn zu sich, und keiner von beiden hatte es bisher bereut, daß der damalige Patrouillenritt diese Folgen gehabt hatte.

Munkel war kein ungebildeter Mensch. Als früherer Klown beherrschte er fünf fremde Sprachen fließend. Außerdem besaß er, vielleicht infolge seines häufigen Aufenthaltes im Auslande, aber auch einen scharfen Blick für Menschen und Dingen, ein treffsicheres Urteil, das Hand in Hand ging mit reichen, vielseitigen Lebenserfahrungen. Schließlich war ihm noch ein Bildungseifer eigen, den er gerade in seiner Stellung bei Arnberg umso leichter befriedigen konnte, als der Millionär eine Bibliothek von mehreren hundert Bänden besaß, deren Werke ihm jeder Zeit zur Verfügung standen.

Munkel setzte sich an seinen Schreibtisch aus Fichtenholz, rückte die elektrische Lampe näher und begann bei einer Zigarre eifrig zu schreiben.

Dieses nächtliche Abenteuer seines Herrn war so ganz nach seinem Geschmack. Er war ein unruhiger Geist, der die Abwechslung, das Außergewöhnliche und Aufregende liebte, sehr im Gegensatz zu Peter Arnberg. Das Zirkusblut war bei ihm immer noch nicht ganz zum Schweigen gekommen.

Munkel schrieb sich alles auf, was sein Herr ihm vorhin erzählt hatte. Dann fügte er noch eine Reihe von Fragen hinzu, die er nummerierte und für die die Antworten erst noch gefunden werden mußten.

Dann ging er schlafen. Um halb acht morgens schnurrte der Wecker und entriß ihn wirren Träumen, in denen ein Auto und der ermordete Chauffeur die Hauptrolle gespielt hatten.

Zu seinem Erstaunen fand er den Herrn bereits fertig angezogen im Arbeitszimmer. Arnberg hatte einen Band seiner Briefmarkensammlung auf dem großen Mitteltische liegen und war damit beschäftigt, eine Anzahl altpreußischer Marken loszulösen.

„Morgen, Munkel. – Bringen Sie mir gleich mal die Sendung Ihrer Tante. Ich will die Marken nach dem Katalog abschätzen und der Frau gleich das Geld senden.“

„Aber Herr Leutnant können doch noch gar nicht recht ausgeschlafen haben,“ meinte der Diener mit leisem Vorwurf. „Ist etwa der Mord daran schuld? – Auch ich habe davon geträumt.“

„Der Mord? – Ach so – richtig – die vergangene Nacht! Nein, mein Alter, die Geschichte ist schon wieder so gut wie vergessen. – Nur die Marken, und das Frühstück bringen Sie mir hier her.“

Munkel verschwand kopfschüttelnd. Noch drei Mal versuchte er, seinen Herrn im Laufe des Vormittags auf den Mord und den in der frühen Morgenstunde gefaßten Entschluß, die Untersuchung des Verbrechens selbst in die Hand zu nehmen, aufmerksam zu machen. Doch Peter Arnberg sagte stets „Später, später!“ und blieb bei seinen Briefmarkenschätzen.

Munkel hatte dies schon so halb und halb vorrausgesehen. Seit jener merkwürdigen Liebesgeschichte gab es für seinen Herrn ja nur eine Leidenschaft: Briefmarken! Und seit jener Zeit hatte Peter Arnberg sich auch erst dieses müde, gleichgültige Wesen angewöhnt, das vielleicht doch nur den Eindruck von Übersättigung und Blasiertheit machte, dessen Ursachen aber wohl tiefer lagen. Wo sollte Munkels Herr also jetzt plötzlich eine Teilnahme für Ereignisse zeigen, die ihn doch nur infolge einer Verkettung besonderer Umstände etwas angingen, – für die Angelegenheiten Fremder, eben eines armen Chauffeurs, der aus vorläufig recht dunklen Gründen niedergestochen worden war?!

Der Diener sah ein, daß er hier einmal die Vertrautheit mit seinem Wohltäter dazu ausnutzen mußte, ihn nachdrücklichst auf jene Pflicht hinzuweisen, die Peter Arnberg sich selbst durch sein Verhalten am Tatort durch das Verschweigen seiner wichtigen Beobachtungen aufgeladen hatte. –

Um zwölf Uhr machte Arnberg sich wie immer zum Ausgehen fertig. Als Munkel ihm in den kurzen Sportpaletot half und Stock und Hut bereithielt, sagte er bescheiden, aber bestimmt:

„Herr Leutnant dürfen den Mord nicht unbeachtet lassen. Jedes Verbrechen verlangt seine Sühne. Wenn Herr Leutnant in dieser Sache nichts unternehmen, könnte man, falls die Kriminalpolizei sich mit der Person dieses Doktor Runkel näher beschäftigt, leicht den Vorwurf gegen Herrn Leutnant erheben, den Tätern Vorschub geleistet zu haben.“

Peter Arnberg sah seinen Diener scharf an. Sein schmales etwas blasses Gesicht, um dessen Mund stets ein Zug von müdem Verzichten lag, lebte auf. Hinter dem randloses Monokel glitzerte das weit geöffnete Auge in ärgerlicher Erregung.

„Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht ganz. Wie sollte denn die Kriminalpolizei dahinter kommen, daß ich mehr weiß, als ich aussagte?!“ Arnbergs Stimme klang ein wenig unsicher.

„Herr Leutnant haben Herrn Pinker doch gefragt, ob dieser dem Arzte begegnet wäre. Ein Zufall kann die Polizei hierauf aufmerksam machen. Dann wird sie wieder Herrn Leutnant fragen, weshalb jenes Ausforschen Pinkers über Runkel? – Und so ein Kriminalkommissar bohrt und tastet, bis er die Wahrheit heraus hat. Wenn dann der Schutzmann sich vielleicht nach erinnert, daß Herr Leutnant gleich nach dem Arzt fort wollten, so sitzt die Karre fest!“

Peter Arnberg nickte. „Kann schon sein, Munkel. Es lag ja aber auch gar nicht in meine Absicht, die Sache ganz an den Nagel zu hängen. Nur – was könnten wir denn tun? Wir sind doch beide keine gelernten Detektive, mein Alter.“

Munkel merkte, sein Herr suchte Ausflüchte. Und daher erwiderte er:

„Wenn Herr Leutnant mir gestatten wollten, mich so ein wenig zu betätigen. – Mir wäre es eine angenehme Zerstreuung, und Herr Leutnant wüßten dann doch, daß von unserer Seite bereits Schritte eingeleitet sind – zur eigenen Gewissensberuhigung.“

Arnberg lächelte halb ironisch, halb gutmütig.

„Nur zu, alter Junge, nur zu! Sie haben unbegrenzten Urlaub. Und – Geld spielt natürlich auch keine Rolle. Vielleicht stellen Sie einmal fest, ob der Chauffeur verheiratet war. Hier haben Sie fünfhundert Mark für Auslagen. – Wiedersehen! Ich bin um zwei zu Tisch zurück. Sagen Sie es der Mielke.“ Das war Arnbergs Haushälterin, die etwa ebenso lange bei ihm war wie Munkel.

Als der junge Millionär, der den Dobermann mitnahm, verschwunden war, brummte Munkel hinter ihm drein: „Das war eben wieder ganz mein Herr, wie ein Leib und Leben! Fünfhundert Mark – zu Auslagen! Sollte natürlich heißen: „Hat der Chauffeur Familie hinterlassen, so drücken Sie ein Pflaster auf die Wunde, bestehend in ein paar Blauen!“ Ja – ja, so ist er!“ –

Peter Arnberg schlug den Weg nach Schmargendorf ein. Zwanzig Minuten später hatte er die Straßenkreuzung erreicht, die schon Schauplatz eines Mordes geworden war. Das Auto hatte man bereits weggeschafft. Nichts – nichts deutete darauf hin, daß hier ein rätselhaftes Verbrechen verübt worden war.

Arnberg bog jetzt nach links ab und schritt auf das einsame Haus zu, in dem Olaf Longreen in einem Dachatelier wohnte. Einige hundert Meter weiter lag in einer Senkung Alt-Schmargendorf.

Der Millionär begegnete dicht vor dem Hause zwei Männern, die einen Wolfshund an einer langen Lederleine bei sich hatten.

Alarich knurrte das klug aussehende Tier an, und sofort rief einer der Männer: „Machen Sie Ihren Dobermann fest!“ Das klang kurz und befehlend.

Arnberg pfiff, und Alarich blieb an seiner Seite.

Der Maler war daheim.

„Es ist mir sehr lieb, daß du kommst,“ begrüßte er den Freund. – Sie kannten sich erst zwei Jahre – durch ein Bild, das Arnberg von Longreen gekauft hatte. Und durch den Maler hatte er dann auch die drei Bohemiens Pinker, Wipprecht und Mix kennen gelernt.

„So? – Was gibt es denn?“ fragte Arnberg und hing Mantel, Hut und Stock in den kleinen Vorflur.

„Sehr merkwürdige Dinge,“ meinte Olaf, indem er seinen rotbraunen Spitzbart streichelte und die Stirn in Falten legte.

„Wohl die Autogeschichte?“ Arnberg drückte hinter sich die Ateliertür ins Schloß und setzte sich dann in einen Korbsessel, der neben dem Rauchtischchen in einer Ecke des langgestreckten Ateliers stand. Dieses Atelier unterschied sich von anderen dadurch, daß es eine Fülle wertvoller Kunstgegenstände enthielt, auch nur echte Teppiche und Vorhänge. Aller Flitterkram fehlte hier und daher wirkte es so stilvoll – fast vornehm. Longreen war seit drei Jahren sehr in Mode, und seine Bilder fanden stets sofort Käufer. Vorgestern hatte er dann noch die Nachricht erhalten, daß seine neueste Schöpfung „Frühlingsboten“ auf der Düsseldorfer Ausstellung mit der großen goldenen Medaille ausgezeichnet worden war. Deshalb auch der Bowlenabend.

„Autogeschichte?“ Der Maler stand, beide Fäuste in den Taschen des Sammetrockes, vor dem Freunde. „Nein, darum handelte es sich nicht. – Was ist denn mit dem Auto? Ich sah in der Nacht, als ihr soeben weggegangen wart, drüben nach dem Bahnhofe zu an der Straßenkreuzung etwas stehen, was ich für einen Kraftwagen zu halten geneigt war. Vorher hörte ich einen Knall, und –“

„– du bist daher auf der richtigen Fährte,“ vollendete Arnberg. „Ich weiß nur nicht, welche Sache interessanter ist – deine oder meine. Bei dem Auto riecht es stark nach Blut. Wie riecht’s bei dir?“

„Nach – nach – richtig, es war wohl Arabia, das teure, eigenartige Parfüm von Lohse.“

„Also – Weibersache,“ sagte Arnberg sehr gedehnt und sehr nachdenklich. „Ei, Ei, Olaf, – du als Verlobter – und Arabia!“

Longreens etwas plumpe Gestalt beugte sich weit vor.

„Hella darf davon natürlich nichts erfahren. Sie ist zu eifersüchtig, so vernünftig sie sonst auch ist. – Es war das seltsamste, was ich je erlebt habe.“

„Dasselbe darf ich mit Recht von meinem Abenteuer behaupten. Aber – zuerst kommst du an die Reihe, obwohl ich im allgemeinen Novellen nicht liebe, in denen doch stets ein Weib herumspukt.“ Er hatte noch einen anderen Grund, weshalb er dem Freunde den Vortritt ließ, – Arabia.

Longreen setzte sich in den zweiten Korbsessel an das Tischchen. Während Arnberg aus einem geschnitzten Zigarrenkasten sich eine gelbbraune Holländer herausnahm und anzündete, begann der Maler zu erzählen, was sich in der Nacht zugetragen hatte:

„– ich ging also mit dem brennenden Licht voraus, und die Fremde folgte. Mir war nicht ganz wohl zu Mute, Peter, wahrhaftig nicht. Hätte sie mir nicht so leid getan und hätte sie nicht auch einen so durchaus damenhaften Eindruck gemacht, ich wäre nie darauf eingegangen, gegen halb drei Uhr morgens einem jungen Weib in meinem Atelier Aufnahme zu gewähren. – Als wir hier oben angelangt waren, legte sie sich in denselben Korbsessel, in dem du jetzt sitzt. Nein – sie sank mehr hinein. Sie war wirklich völlig erschöpft. Ich brachte ihr ein Glas Portwein. Sie trank ohne Ziererei, nahm aber den dichten Schleier nicht hoch. Er war so dicht, daß ich die Gesichtszüge dahinter nur ahnen konnte. Aber sie muß wundervolle dunkle, große Augen und ein feines Näschen gehabt haben. –

Eine Weile schwieg sie, atmete sehr unruhig und starrte vor sich hin. Unter dem langen Seidenmantel trug sie einen blauen Rock, und sie hatte Lackschuhe an, die sehr beschmutzt waren – mit frischer Erde. Der schwarze Seidenstrumpf des rechten Fußes hatte am Knöchel einen langen Riß. – Das war es, was ich bemerkte, wie sie, mehr keuchend als atmend, regungslos dasaß.“

Arnbergs Kopf war hochgeschnellt, als Longreen die dunklen großen Augen und das feine Näschen erwähnt hatte. Sein Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck angenommen. Und als der Maler von den beschmutzen Schulen und dem Riß im Strumpf sprach, nahm er das Monokel schnell aus dem Auge und begann es eifrig zu putzen. Wer Arnberg genauer kannte, wußte, daß das Monokelputzen bei ihm dasselbe bedeutete, als wenn andere sich gedankenvoll den Bart streichen oder mit der Hand grübelnd über die Stirn hinfahren. – „Schmutzige Lackschuhe,“ dachte Arnberg, – „merkwürdig! Und eine Dame! Und der falsche Doktor Runkel hatte auch Erde an den Stiefeln“.

„Endlich fing die Fremde zu sprechen an,“ fuhr Longreen fort, der sich inzwischen ebenfalls eine Zigarre angezündet hatte. „Sie sagte ungefähr folgendes: „Mein Herr, ich weiß jetzt, daß ich einen Kavalier vor mir habe, der einem hilflosen Weibe seinen Schutz nicht verweigern wird. Ich bin hier fremd. Ich kann jetzt in der Nacht nicht nach Berlin zurück. Seien Sie barmherzig und gewähren Sie mir bis zum Morgen Unterkunft.“ –

Es war eine sehr weiche, sehr melodische Stimme, Peter, und in der ganzen Art, wie die Fremde diese Bitte vorbrachte, lag deutlich die Angst, ich könnte aus diesem Ansinnen ungünstige Schlüsse auf ihren Charakter, ihre ganze Persönlichkeit ziehen. Manchen Satz bekam sie kaum über die Lippen. Und hin und wieder verschleierten auch wieder mühsam zurückgedrängte Tränen ihre Stimme. –

Du wirst zugeben, meine Lage war nicht angenehm. Auf der einen Seite stand Hella, auf der anderen meine bekannte Gutmütigkeit. Letztere siegte. –

Dort auf dem türkischen Ruhebett könnte sie ruhen, sagte ich der Fremden, und sie dankte leise mit einem: „Gott vergelte es Ihnen!“ – Wir haben dann kaum noch zwanzig Worte gewechselt. Sie bat um eine Erfrischung. Sie hätte Hunger. Ich trug auf, was ich vorrätig hatte, sagte ihr dann gute Nacht. Ich merkte, sie wollte allein sein. Dort an der Tür nach meinem Schlafzimmer steckte ich den Schlüssel von dieser Seite ins Schloß, recht auffällig. Dann meinte sie ernst, beinahe etwas vorwurfsvoll: „Ich werde mich nicht einschließen. Ich weiß, bei wem ich mich befinde.“ – An Schlaf war bei mir zuerst natürlich nicht zu denken. Ich lag im Bett und lauschte, ob nicht ein Geräusch aus dem Atelier zu mir dringen würde. Doch es blieb alle still. –

Ich will ehrlich sein, Peter, ich schalt mich einen Esel, weil ich diese Person, die noch unter so seltsamen Umständen zu mir gekommen war, bei mir behalten hatte. Ich dachte an meine Kunstgegenstände. Wenn es eine Diebin war, so eine ganz raffinierte?! Mir wurde recht heiß unter der Zudecke. Dann schlief ich doch ein – und erwachte erst um halb zehn. Die Bowle war daran schuld.“

Der Maler machte eine Pause.

„Als ich mehrmals recht kräftig an die Tür geklopft hatte,“ fuhr er fort, „und als keine Antwort aus dem Atelier kam, öffnete ich. Der Raum war leer, die Fremde fort. Mein erster Blick war natürlich auf das Ruhebett gefallen. Und dort bemerkte ich einen Zettel. Es war ein Abschiedsgruß von ihr –“

„Zeige mir den Zettel,“ bat Arnberg schnell.

Longreen stand auf und ging zum Schreibtisch und nahm aus einer Schublade die Hälfte eines Briefbogens heraus. Als er das Papier dem Freunde reichte, meinte er achselzuckend:

„Wie vorsichtig sie gewesen ist! Weder ihr Gesicht ließ sie sehen noch hat sie sich durch ihre Handschrift irgendwie verraten wollen. Die Schrift ist verstellt. Mein Malerauge erkannte das sofort.“

Arnberg stierte wie hypnotisiert auf die Zeilen. Buchstaben sahen kindlich unbeholfen aus. Und doch hatte die Fremde ihre wirkliche Schrift nicht ganz verheimlichen können. Hie und da gab es eine Schleife, einen Buchstaben, der die versuchte Irreführung zu Schanden machen konnte.

„Peter – was hast du?“ fragte Longreen plötzlich. „Du bist ja ganz bleich geworden! Und – deine Hände zittern.“

Arnbergs Augen schienen sich an den Worten festgesaugt zu haben. Er hatte die Frage des Malers offenbar überhört.

Auf dem halben Briefbogen stand:

Ich danke Ihnen für Ihren Edelmut! Ich weiß jetzt, daß Sie verlobt sind. Ich verstehe nun, weshalb Sie zunächst vor dem Hause zögerten, mir Schutz zu gewähren. Werden Sie glücklich – das wünscht Ihnen aus vollem Herzen – eine Unglückliche! – Noch eine letzte Bitte, erzählen Sie niemandem, unter keinen Umständen, daß ich bei Ihnen war! Sie retten mich dadurch vielleicht vor einem traurigen Schicksal!

 

4. Kapitel.

Olaf Longreen wollte gerade abermals fragen „Peter, was hast du?“ als draußen die Flurglocke schrillte.

Der Maler ging öffnen und kam dann in Begleitung eines korpulenten, kleinen Mannes zurück, der eine goldene Brille trug und mit seinem glattrasierten Gesicht ganz nach einem einfachen Landpfarrer aussah.

„Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragte der stets höfliche Longreen, indem er auf einen altertümlichen Sessel deutete.

Der Mann blieb jedoch stehen, schaute nach Arnberg hin und meinte:

„Ich möchte Sie allein sprechen.“

„Vor dem Herrn habe ich keine Geheimnisse. Es ist mein Freund Peter Arnberg,“ erwiderte der Maler.

„Arnberg? – Richtig, ich entsinne mich. Das trifft sich gut. – Nicht wahr, Herr Arnberg, Sie haben doch wohl heute früh die Autosache miterlebt?“

Der junge Millionär stand auf und kam näher.

„Allerdings. – Aber, woher –“

„Ich bin der Kriminalwachtmeister Schöttler meine Herren. Hier ist meine Legitimation.“ Und zu Arnberg gewandt: „Sie sind der Freund Herrn Longreens, bei dem gestern doch nach Ihrer Aussage der Bowlenabend stattfand. Da war es nicht schwer sich zu denken, daß Sie eben der Zeuge von heute Morgen sein müssen.“

„Nehmen Sie doch Platz, Herr Schöttler,“ sagte der Maler höflich. Er war völlig ahnungslos, weshalb der Beamte ihn besuchte. Er hatte ja stets ein so gutes Gewissen. Und daher begriff er auch nicht recht, daß der sonst so phlegmatische Peter ihn plötzlich am Rockknopf nahm und nach der Schlafzimmertür zerrte, wobei er lachend rief:

„Verdammt noch eins – nun gibt mir aber endlich das Glas Portwein! – Herr Schöttler, trinken Sie auch eins mit, oder sind Sie Antialkoholiker?“

Der Wachtmeister blieb ernst.

„Ich danke. Ich komme in dienstlicher Angelegenheit.“

„Na – aber wir beide, die wir von dem gestrigen Festabend übel verkatert sind, dürfen doch wohl erst noch schnell einen Schluck uns zu Gemüte führen?“ meinte Arnberg und zog den Freund halb gewaltsam in den Nebenraum. –

Longreen begriff nichts – nichts.

„Wenn es nicht lange dauert – bitte!“ nickte Schöttler mit leisem Lächeln. Für einen Kater hatte er Verständnis.

Arnberg drückte die Türe im Schloß. Die Freunde waren allein. Und jetzt veränderte sich des Millionärs Gesicht urplötzlich.

„Kamel!“ flüsterte er wütend. „Nein – bist du aber auch stupide, Mensch! Merktest du denn gar nicht, daß ich dir was zu sagen hatte, bevor Schöttler dich wegen der Fremden auspumpen konnte?! – Olaf, – ich bitte dich also um eins, kein Wort davon, daß die Person bei dir war – kein Wort, – oder wir sind geschiedene Leute! Ich erkläre dir alles nachher.“

Dann lief er durch die zweite Tür in die winzige Küche, wo er sehr gut Bescheid wußte, und kam mit einer Flasche Portwein und drei Gläsern schon nach wenigen Sekunden zurück. Im Augenblick hatte er dann auch die Flasche entkorkt, die Gläser gefüllt und eins dem Maler in die Hand gedrückt.

„Trink!“ befahl er kurz. „Los zum Deubel, runter mit dem Zeug!“ Und er stürzte den Inhalt seines Glases auf einen Zug hinunter, riß die Tür nach dem Atelier auf und – prallte förmlich zurück.

Schnell sich fassend rief er: „Was tun Sie denn da, Herr Schöttler?“

Der Beamte kniete vor dem Korbsessel, auf dem Peter Arnberg vorhin gesessen hatte, stand jetzt aber langsam auf, hob einen Bleistift mit Nickelhülse in die Höhe und erwiderte:

„Ich sah mir hier ein wenig die Kunstgegenstände an, und dabei fiel mir mein Bleistift aus der Hand.“ Dann kehrte er zu dem Polsterstuhl zurück, ließ sich gemächlich darauf nieder und meinte: „Ich habe nicht viel Zeit. Darf ich jetzt einige Fragen an Sie richten, Herr Longreen?“

„Bitte sehr.“ Der Maler hörte selbst heraus, wie unsicher dieses „bitte sehr“ klang, ärgerte sich über seine Ängstlichkeit und fügte schnell hinzu: „Haben sich etwa die Unterbewohner über den Lärm beklagt, den wir gestern vielleicht verübt haben können? – Die Bowle war verd… schwer.“

Arnberg hatte sich auf einen niedrigen Hocker dem Beamten gegenüber gesetzt und winkte jetzt Longreen zu, ebenfalls Platz zu nehmen.

Schöttler erwiderte auf des Malers Frage: „Nein, um ruhestörenden Lärm handelt es sich nicht.“

„Da bin ich aber gespannt!“ meinte Longreen, den Erstaunten spielend. Jedenfalls trug diese gelungene Probe von Schauspielerei ihm einen anerkennenden Blick Arnbergs ein. Aber den zweiten Hocker neben dem Freunde zu benutzen, wagte er doch nicht. Er fühlte sich freier, ungezwungener, wenn er stehen blieb. Schöttler schaute zu dem rotblonden Künstler auf.

„Wirklich – gespannt sind Sie?“ fragte er. „Haben Sie denn in der letzten Zeit nicht irgend etwas erlebt, was vielleicht auch die Polizei so ein wenig interessieren könnte? Denken Sie bitte nach. Ich will damit ja gar nicht sagen, daß Sie sich einer Verfehlung schuldig gemacht haben. Nein – ganz im Gegenteil. Ihr Ruf ist unantastbar.“

Olaf Longreen führte den Pinsel gewiß schnell und sicher, aber seine Gedanken arbeiteten langsam. So dauerte es denn eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, daß Schöttler mit seinen Worten doch eigentlich schon das Abenteuer mit der Fremden angedeutet hatte. Ihm wurde jetzt noch unbehaglicher zu Mute. Was sollte er tun?! –

Daß auch gerade Peter Arnberg noch verlangt hatte, er solle schweigen! Eine ganz niederträchtige Lage! Aber – antworten mußte er. Und daher sagte er nun achselzuckend:

„Ich besinne mich wirklich auf nichts, Herr Schöttler!“ Er war froh, als er die Worte heraus hatte.

„Hm, hatten Sie nicht in dieser Nacht noch Damenbesuch?“ fragte der Beamte, immer noch den Maler von unten fixierend.

Longreen war es, als ob er eine Ohrfeige bekam. Er wurde rot und lächelte in seiner Verwirrung etwas blöde. Dann nahm er all seinen Mut zusammen, da er soeben gesehen hatte, wie Arnberg ihn eine wütende Grimasse schnitt. Und in seiner Verzweiflung erwiderte er ohne langes Überlegen:

„Ich bin verlobt, Herr Schöttler. Und wenn meine Braut davon erfährt – Sie verstehen wohl!“

Der Beamte nickte. „Gewiß – gewiß! – Es ist nur seltsam, daß die – die Dame so mitten in der Nacht – denn bis zwei Uhr hatten Sie doch Gäste bei sich! – Sie noch besuchte!“

Longreen liebte Peter Arnberg mehr wie einen Bruder. Ihm wollte er das Opfer bringen – nur ihm, und so tun, als handelte es sich hier um ein Liebesabenteuer. Damit war die Gegenwart der Fremden in seinem Atelier ja am unverfänglichsten zu erklären. Nachdem er sich erst einmal zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, wurde er auch ganz ruhig.

„Wir haben Sie eigentlich erfahren, Herr Schöttler, daß die Dame noch gegen halb drei morgens zu mir kam?“ fragte er, jetzt auch seinerseits den Beamten scharf fixierend.

„Durch eine der Damen aus der zweiten Etage.“

„Ah – natürlich, – die Biedermännerchen! Die haben auch nichts Besseres zu tun, als zu spionieren.“

Und Peter Arnberg fügte hinzu: „– gräßliche Vogelscheuchen, diese drei Schwestern! Wie können solche Schlangenzungen nur ausgerechnet Biedermann heißen! – Eine von diesen Beautys hat wohl wieder am Flurtürguckloch gelauert, wie?“

Schöttler neigte den Kopf. „Die Damen wollen durch den Lärm, den Sie, meine Herren, beim Verlassen des Hauses auf der Treppe machten, aufgewacht sein.“

Olaf Longreens Sicherheit schwand schon wieder. Er dachte: „Himmel – wenn es diesen Weibern einfallen sollte, bei Hella mich zu denunzieren! Das kann ja dann recht genußreich werden.“

Da fragte Schöttler schon: „Hatten Sie denn die Dame zu sich bestellt, Herr Longreen?“

Der Maler empfand plötzlich ein geradezu erlösendes Gefühl allgemeiner Wurstigkeit. Mochte jetzt geschehen, was da wollte! Die Karre war ja ohnehin schon nur allzu tief im Dreck! Und nachher mochte Peter Arnberg dann zusehen, wie er alles wieder einrenkte – auch gegebenen Falles bei Hella!

„Nein, Herr Schöttler, – nicht bestellt,“ sagte er, sich zu einem Genießerlächeln zwingend. „Die Dame hatte in Alt-Schmargendorf die letzte Straßenbahn verfehlt. Sie kennt mich nun – hm, ja, recht gut, und da ist sie eben auf den Gedanken gekommen, mich aufzusuchen, obwohl wir uns seit einem Jahr nicht mehr gesehen haben. Der reine Zufall war’s, daß ich noch vor der Haustür stand. Ich hatte nämlich, nachdem Peter Arnberg sich als letzter von mir verabschiedet hatte, in der Ferne einen Knall gehört und fürchtete, daß womöglich meine stark bezechten Gäste dort mit einem Wächter der Ordnung in Streit geraten wären und daß es zu Gewalttätigkeiten gekommen sein könnte. Daher blieb ich noch vor der Türe stehen, und dann kam eben – die – die Dame von Schmargendorf her die Straße entlang.“

Peter Arnberg hätte dem Freunde um den Hals fallen mögen! Glänzend hatte er seine Sache gemacht, geradezu glänzend.

Schöttler wiegte den ernsten Pastorenkopf wie unzufrieden hin und her.

„Schade – schade,“ meinte er. „Ich hatte schon gehofft, hier eine Spur zu finden. Wirklich schade!“

„Eine Spur?“ fragte Longreen, böser Ahnungen voll. „Das klingt ja ganz – ganz gefährlich.“

„Wissen Sie noch nichts von dem, was in der verflossenen Nacht in der Nähe dieses Hauses geschehen ist, – nichts von dem Auto?“ meinte Schöttler langsam.

„Auto? – Oh – ist das etwa dieselbe Geschichte – nun verstehe ich! Sie sagten doch, daß Peter Arnberg dabei als Zeuge beteiligt gewesen wäre, und mein Freund wollte mir gerade, als Sie kamen, sein Erlebnis mitteilen. – Nein – bisher weiß ich nur, daß ein Auto dabei eine Rolle spielt. Und dieses Auto glaube ich in der Ferne an der Straßenkreuzung auch erkannt zu haben.“

Das wieder war so bieder und ehrlich, daß Schöttler jetzt jedes Mißtrauen gegen Longreens Aufrichtigkeit fallen ließ.

„Ich will Ihnen ganz kurz schildern, was passiert ist,“ sagte er merklich freundlicher. Und er faßte die Ereignisse geschickt in ein paar Sätzen zusammen, wurde dann aber plötzlich von Arnberg unterbrochen, als er eben hervorheben wollte, daß auch eine Dame – eine weibliche Person – sich unter den Fliehenden befunden hätte.

„Pardon,“ war der junge Millionär ihm ins Wort gefallen. „Olaf – gieß’ mir mal – nein, uns allen dreien, einen Schluck Portwein ein. Der Kater rumort mir schon wieder im Schädel. Ich muß das Biest ersäufen!“

Der Maler schritt auf die Anrichte zu. Und Arnberg wandte sich an Schöttler: „Bitte weiter. Sie wollten gerade darauf hinweisen, daß eine Frauensperson mit entfloh und daß Sie den Verdacht hatten, diese Donna Lucretia Borgia könnte die Dame gewesen sein, die die Biedermännerchen glücklich ausgegucklocht hatten.“

Von der Anrechte her ein Klirren – Longreen hatte ein Glas umgeworfen. Er kehrte den beiden Anderen den Rücken zu. So konnte auch Schöttler nicht sehen, daß er leichenblaß geworden war – zum Glück nicht sehen! Und plötzlich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: „Peter hat dich absichtlich hier nach der Anrechte geschickt und auch absichtlich dem Beamten sozusagen das Wort entzogen, um selbst diese schreckliche Bemerkung zu machen, daß jene Entflohene von dem Beamten hier gesucht wurde, hier bei ihm – bei Olaf Longreen.“

Arnbergs Lachen folgte dem Klirren des Glases fast unmittelbar. „Scherben bedeuten Glück, Olaf! Alter Junge, du scheinst ja noch einen netten Tatterich zu haben. Ja – ja – die Bowle – und der späte Besuch.“

Schöttler grinste und zwinkerte Arnberg zu.

Dann kam Longreen mit den Portweingläsern. Die Blässe seines Gesichts war einer tiefen Röte gewichen. Ihm hämmerte das Herz in der Brust. Und seine Hände zitterten bedenklich, so daß die Gläser auf dem Tablett hin und her rutschten.

Die drei Herren stießen miteinander an.

„Prosit – Herr Schöttler, – auf daß Sie die Mörderbande bald erwischen,“ sagte Arnberg vertraulich.

Und Longreen dachte: „Kann der Peter nur Komödie spielen! Unglaublich! Wer hätte ihm das zugetraut!“

Schöttler aber meinte, das Gesicht verziehend: „Oh – es ist ein sehr schwieriger Fall, Herr Arnberg, wirklich! Eine so dunkle Geschichte, wie sie mir in meiner Praxis noch nicht vorgekommen ist!“

„So, so. Na – davon verstehen wir, Longreen und ich, ja nichts! – Nur eine Frage! Weshalb vermuteten Sie, die flüchtig gewordene Frauensperson könnte sich gerade hierhin gewendet, gerade in diesem Hause Zuflucht gesucht haben?“

Schöttler lächelte Arnberg listig an. „Erkennen Sie mich gar nicht wieder, wirklich nicht? Ich bin Ihnen doch vorhin begegnet – vor dem Hause. Mein Kollege Matzig führte doch unseren Polizeihund Max an der Leine!“

„Ah – natürlich, natürlich! Und der Wolfshund hat wohl die Fährte der Frau hier bis zum Hause verfolgt, wie?“

„Ja – aber Max war seiner Sache offenbar nicht ganz sicher. Trotzdem habe ich mich dann hier bei dem Portier erkundigt, ob er etwas Besonderes in der Nacht bemerkt hätte. Während wir noch sprachen, erschien das eine Fräulein Biedermann und reichte dem Hauswart einen Brief für den Grundstückseigentümer. „Es ist eine Beschwerde,“ erklärte sie sehr aufgebracht. „Der Maler muß ausziehen – oder wir tun ist. Heute früh hat er seine betrunkenen Freunde zum Hause herausgelassen, und dann brachte er sich noch ein Weibsbild von der Straße mit herauf! Wir sind anständige Damen! Dieses Haus aber wird durch Herrn Longreen zu – zu einer Stätte des Lasters gemacht!“ So, Herr Arnberg, brachte mich der Zufall mit Fräulein Amanda Biedermann zusammen. Ich hätte ja sicher auch ohne diesen Zufall ihre Bekanntschaft gemacht, da ich nicht davor zurückgeschreckt wäre, nötigenfalls jeden einzelnen Hausbewohner zu verhören, um festzustellen, ob nicht vielleicht einer etwas Wichtiges wüßte. Ich bin sehr hartnäckig, wenn ich eine Spur verfolge. – Fräulein Amanda hat mir dann erzählt, was sie mit ihren Schwestern ausgegucklocht hatte, – wie Sie sich vorhin so treffend ausdrückten, Herr Arnberg.“

Schöttler nahm seinen Hut in die Hand. „Ich muß gehen, habe mich hier schon viel zu lange aufgehalten. – Gehorsamer Diener, meine Herren. Und vielen Dank für die Herzstärkung.“ –

Der Kriminalwachtmeister traf vor dem Hause mit seinem Kollegen Matzik zusammen.

„Nichts zu machen, Matzik,“ meinte er. „Der Maler hat zwar Damenbesuch gehabt, aber die, die wir suchen, war’s leider nicht. Ich konnte es mir auch nicht recht denken. Der Longreen ist doch ein Künstler von Ruf. Wie sollte der eine Person bei sich aufnehmen, die in eine so blutige Sache mit verwickelt ist!“

Und die beiden Beamten zogen mit dem Polizeihund davon.

 

5. Kapitel.

Longreen horchte an der offenen Flurtür, bis die Schritte Schöttlers sich in der Tiefe des Treppenhauses verloren hatten. Dann zog er die Tür zu, schloß von innen ab, legte noch die Sicherheitskette vor und kehrte in das Atelier zurück.

Peter Arnberg saß wieder in dem Korbsessel und hatte die Abschiedszeilen der Fremden in der Hand.

Der Maler pflanzte sich dicht vor ihm auf.

„Peter, sag’ mal, bist du denn in drei Teufels Namen total übergeschnappt, daß du uns in eine solche Patsche bringst?! Mensch, wir haben eben einen Beamten belogen, an der Nase herumgeführt! Weißt du, was das für Folgen haben kann?!“

Arnberg nickte nur, faltete den halben Briefbogen sorgfältig zusammen und legte ihn in seine Brieftasche.

„So rede doch, Mensch!“ rief Longreen, halb verzweifelt, halb wütend die Arme hochreckend. „Vorhin hast du mich Kamel tituliert, – gestatte, daß ich jetzt dasselbe tue! Wie in aller Welt kamst du nur auf die Idee, daß ich dem Schöttler verheimlichen sollte, was ich nur zu gut wußte, – weshalb sollte ich dieses Weib schützen, die zu den Mördern des Chauffeurs gehört – ganz sicher – ganz sicher! Alles spricht ja dafür, alles, – die beschmutzen Schuhe, ihre Müdigkeit, ihre Angst!“

Arnberg deutete auf den zweiten Korbsessel.

„Setz’ dich, Olaf! Und – brülle nicht so! Es steht dir nicht! Du wirst dann geradezu plebeisch.“

Diese Worte trafen den Maler wie ein Guß eiskalten Wassers. Er wurde verlegen, ließ sich schwer in den Korbsessel fallen und sagte unsicher: „Ich begreife deine Gelassenheit nicht, Peter –“

Arnberg starrte auf das lebhafte Muster des Perserteppichs und auf den Dobermann, der sich vor dem Rauchtischchen behaglich ausgestreckt hatte.

„Eigentlich haben viele Hunde es doch weit, weit besser als die meisten Menschen,“ begann er dann. „sie werden verhätschelt, gut gefüttert, ahnen nicht, daß sie mal sterben müssen, haben keine Sorgen – das reine Schlaraffenleben! Dagegen wir Menschen?! Da kann einer noch so reich sein, wie z. B. ich – die Steuerbehörde schätzt mich auf vier Millionen! – Da kann man wie ich noch so vorsichtig allen Aufregungen aus dem Wege gehen, um in sein Dasein nicht unnötig Unruhe hineinzubringen, hilft alles nichts, – denn in einer drei mal verwünschten Sekunde raunt einem so ein innerer Teufel etwas zu, und – bums – schon sind wir die Reingefallenen.“

Arnberg nahm sich aus einem Glaskästchen eine Zigarette.

„Was soll diese Einleitung?“ meinte Longreen kopfschüttelnd. „Du wirst mir immer mehr ein Rätsel, lieber Peter.“

Arnberg blies vier tadellose Rauchringe in die Luft.

„Höre zu, was sich in der Nacht zutrug, als wir uns vor der Haustür gute Nacht gesagt hatten,“ fuhr er dann bedächtig fort. „Und schau den vier Rauchringen nach. Nimm sie als Symbol dessen, was ich der Mordkommission verheimlichte, – vier blitzartig in mir aufgestiegene Verdachtsgründe, vorläufig in der Luft schwebend ohne innere Festigkeit wie der blaue Qualm, den meine Lippen zu Ringen formten. Vorläufig! – Und wie die Rauchringe sich jetzt da oben zu einer kleinen Wolke vereinigen, – Wolken verfinstern die Sonne, bringen Sturm und Unwetter oft! – So haben auch meine vier Verdachtsgründe bereits ihren Schatten auf mein stilles Dasein geworfen. – Ich will dir das näher erklären.“

Was Olaf Longreen jetzt hörte, war genau dasselbe, was Munkel morgens nach vier Uhr im Arbeitszimmer seines Herrn erfahren hatte.

„So begann die Geschichte,“ fügte Arnberg dann hinzu. „Und belastet mit diesen vier Punkten: schmutzige Schuhe Runkels, Einsteigen Runkels in das Auto, aufgebauschter Mantel und Abbiegen Runkels vom geraden Wege, kam ich vorhin zu dir. Du empfingst mich sofort „Ich habe sehr merkwürdige Dinge erlebt!“ und erzähltest dein Abenteuer, erwähntest gleich zu Beginn das Parfüm Arabia – Arabia! Ich kenne es ja so genau. Und daher stiegen in mir sofort Erinnerungen auf – keine glücklichen, Olaf, nein! – Du sprachst weiter von den großen, dunklen Augen, dem feinen Näschen. Auch das paßte, traf zu – die Erinnerungen wurden noch lebendiger. – Und schließlich zeigtest du mir ihren Abschiedsgruß. Die Handschrift war verstellt. Trotzdem erkannte ich sie wieder –“

Peter Arnberg sprach jetzt ganz leise.

„Alles stimmte! Arabia – sie benutzte es stets – weil es mir gefiel. – Die Augen, das Näschen, auch die melodische Stimme und – die Handschrift! Olaf, die Frau, die hier bei dir Schutz suchte, die durch die Laubenkolonie entflohen war, die sich so die Lackschuhe beschmutzte, einen Riß im Stumpf hatte und die so geheimnisvoll tat, habe ich einst geliebt – liebe ich vielleicht noch –“

Longreen saß unbeweglich da. Alles hatte er erwartet, nur diese Eröffnung nicht!

Und Peter Arnberg sprach weiter.

„Auf dieser Frau lastete, wie ich mir schon vor dem Erscheinen Schöttlers sagen mußte, ein schwerer Verdacht. Sie war ohne Zweifel das entflohene Weib, die Gefährtin von – Mördern. –

Ein rätselhaftes Verbrechen war verübt worden. Und ich hatte die ersten losen Fäden, an denen man sich vielleicht zu einer Lösung dieses Rätsels hintasten konnte, in der Hand, eben jene vier Verdachtsmomente. Munkel peitschte mein Gewissen auf. Ich sollte mich des Falles annehmen, es wäre meine Pflicht. So kam ich zu dir, um mit dir diese Sache durchzusprechen. Du bist mein bester, mein einziger Freund. Von dir erfuhr ich nun – und es war – als griffe mir eine glühende Zange nach dem Herzen! – daß die, die ich noch liebte trotz allem, was gewesen, die Genossin von Verbrechern zu sein schien. Und da, Olaf, da habe ich still für mich einen Schwur beim Andenken meiner seligen Eltern geleistet, nicht zu ruhen und zu rasten, bis ich aufgeklärt habe, wie Käti Marla nach drei Jahren hier in Berlin wieder auftauchen konnte – und in solcher Gesellschaft, – der von Mördern! –

Ich kenne sie, Olaf! An diesem Verbrechen hat sie keinen Anteil – nie und nimmer! Und weil ich sie so gut kenne, wollte ich nicht, daß die Polizei hier ihre Fährte aufnimmt und weiterverfolgt. Ich fühle mich selbst Manns genug, den Schleier zu lüften, der über diesen Ereignissen der vergangenen Nacht ruht; und in mir hat sich mit dem Schwur eine Wandlung vollzogen; ich werde wieder sein wie früher, – denn meine Blasiertheit, mein Phlegma, meine Interesselosigkeit waren nur – dumpfe Trauer um ein verlorenes Glück. Das ist mein wahres Angesicht, Olaf! Und – begreifst du jetzt, weshalb ich so viel List aufbot, um Schöttler zu täuschen, weshalb du mir dieses Opfer bringen solltest?“

Longreen streckte dem Freunde die Hand hin.

„Schlag’ ein, Peter! Jetzt bereue ich es auch nicht im geringsten mehr, dir beigestanden zu haben! Und – ich will dir auch weiterhelfen, so gut ich es vermag!“

Sie tauschten einen festen Händedruck aus, schauten sich an, nickten sich ernst zu.

Dann erhob Arnberg sich, begann im Atelier langsam auf und ab zu gehen, blieb plötzlich vor dem Diwan stehen, sagte leise:

„Wenn ich denke, daß sie hier noch vor wenigen Stunden geruht hat, sie, die ich mit allen Mitteln habe suchen lassen, die es gibt, um einen Verschwundenen wieder aufzufinden. Wie ein Wink des Schicksals kommt es mir vor! Ja, wie ein Zeichen, daß ich nun endlich darüber Aufschluß erhalten werde, weshalb sie mich damals verließ. – Ich werde dir diesen Roman sofort erzählen, Olaf. Komm’, begleite mich nach Hause, iß mit mir zu Mittag. Ich kann heute nicht allein sein. Ich muß einen Menschen um mich haben, dem gegenüber ich mich frei aussprechen darf –“

Longreen sagte nur: „Sehr gern, Peter, – sehr gern,“ und verschwand in seinem Schlafzimmer, um sich zum Ausgehen fertig zu machen.

Arnberg wanderte weiter auf und ab.

Dann trat er plötzlich in die offene Tür zum Nebenraum.

„Olaf, hast du meine Photographien aus dem Rahmen genommen?“ fragte er hastig.

„Welche? Im Atelier stehen drei von dir.“

„Die neueste – die auf dem Schreibtisch.“

„Nein – bestimmt nicht! Gestern abend war sie noch da.“

„Dann – dann hat Käti Marla das Bild jetzt bei sich – ohne Frage! – Olaf – du glaubst es gar nicht, wie sehr mich diese Entdeckung beglückt. – Sie hat sich mein Bild angeeignet! Weiß du, was das bedeutet?“

„Daß auch sie dich noch liebt!“

*

Hella Renz kam aus der Leipziger Straße, wo sie Besorgungen gemacht hatte.

Sie stieg leichtfüßig aus dem Auto, nickte dem Chauffeur, der nun schon acht Jahre im Dienste des Kommerzienrates stand, vertraulich zu und betrat den Vorgarten. Mit den Päckchen in ihrer Rechten hin und her schlenkernd lief sie die Treppe zu der stattlichen Villa empor, die ihr Vater sich erst vor einem Jahre hier draußen am Rande des Grunewaldes dicht am Hundekehlensee hatte bauen lassen.

Auf der großen Diele mit den Kadiner Kacheln – man munkelte allgemein, daß Renz gleich für zwanzigtausend Mark Kacheln gekauft und bald darauf den Titel Kommerzienrat erhalten hätte! – traf sie mit ihrer Mutter zusammen, die dort höchst eigenhändig den Staub von den kostbaren Vasen und alten Zinnsachen wischte, während Master Almeida Shoost, der Mitinhaber einer Maschinenfabrik in Margate, sich mit seinen langen dürren Gliedern in einem Klubsessel herumrekelte.

Shoost zog nur etwas die Beine an, winkte Hella gönnerhaft mit der Hand zu und sagte auf englisch:

„Ich begrüße Sie, Miß Renz. Es ist mir ein Genuß, Ihrer Mutter zuzusehen. Sie hat große Übung im Säubern von alledem da.“

Hella hatte der Kommerzienrätin die Wange geküßt und wandte sich nun dem Engländer zu:

„Sprechen Sie doch deutsch, wenigstens in Gegenwart meiner Mutter, Master Shoost. Sie wissen doch, daß sie Ihre Muttersprache nicht beherrscht.“

Er musterte sie begehrlich. In seine kalten, grauen Augen kam ein Flimmern.

„Wie schön Sie sind, Miß Hella – dieses Kostüm kleidet Sie wieder vorzüglich.“

„Sie sollen deutsch sprechen,“ wiederholte sie. Aber es klang schon bedeutend milder als die erste Aufforderung, Rücksicht auf ihre Mutter zu nehmen.

„Ihre Sprache ist nur ein großes Hindernis für geschäftliche und – andere Beziehungen, Miß Hella. Die ganze Welt sollte gezwungen werden, englisch zu sprechen. Man würde dadurch viel Zeit sparen, auch Geld – für Korrespondenten.“

Die Kommerzienrätin, eine große, stark geschnürte Dame mit einem feisten Doppelkinn, schwenkte das Staubtuch wie eine Fahne und sagte: „Gehen wir doch in den Salon. Mein Mann muß ja gleich kommen. – Sie bleiben doch zu Tisch, Master Shoost.“

„Ja. Ich habe mit Master Renz etwas zu bereden.“ Er stand auf, reichte Hella den Arm und führte sie über den hellen Flur in das Musikzimmer, wobei er ihr auf englisch wieder allerlei zuflüsterte und ihren Arm leicht drückte.

Sie machte zwar einen schüchternen Versuch, sich ihm zu entziehen, lächelte aber dabei und sagte nur:

„Sie sind unausstehlich!“

Im Musikzimmer bat Shoost sie, ohne von Frau Renz weiter Notiz zu nehmen, sie möchte ihm etwas vorspielen.

„Aber nichts von diesem Richard Wagner,“ fügte er hinzu.

„Weshalb lieben Sie diese Musik eigentlich nicht?“ –

Hella schlug ein paar Takte aus Lohengrin an.

„Wagner muß von jedem Engländer gehaßt werden. Er hat dadurch, daß er die deutschen Heldensagen vertonte, und noch mit solchem Erfolg, viel zur Hebung des deutschen Nationalbewußtseins beigetragen. Wenn Deutschland heute überall unser Konkurrent auf dem Weltmarkt ist, so trägt er mit die Schuld daran.“

Sie schaute ihn überrascht in das eckige, wie aus Stein gemeißelte, völlig bartlose Gesicht. Er hatte bisweilen eine recht merkwürdige Auffassung von Dingen, die das Deutschtum angingen.

„Hassen Sie Deutschland, Master Shoost?“ fragte sie, den Geisha-Walzer leise andeutend.

Er beugte sich zu ihr hinab.

„Sie liebe ich!“ raunte er ihr heißt zu.

Frau Renz hatte in einem Kupferstichalbum geblättert.

„Ihr sprecht schon wieder englisch,“ sagte sie laut und fühlte etwas wie Genugtuung über Almeida Shoosts gierige, auf ihre schöne Tochter gerichtete Augen. „Ich werde wirklich noch die Berlitz-Schule besuchen müssen.“

Der Engländer nickte ihr zu. „Tun Sie das nur. In dreißig Jahren ist die ganze Welt ja doch englisch. Dann brauchen Ihre Urenkel Deutsch nur noch nebenbei zu lernen.“

Frau Renz fand, daß Shoost entzückend unverschämt sein konnte. Nur – Urenkel, das hätte er anders ausdrücken können! Wozu mußte er sie daran erinnern, daß ihr einziges Kind sich ausgerechnet mit diesem Maler verlobt hatte! Almeida Shoost – das wäre ein anderer Schwiegersohn gewesen! Dessen Onkel Cecil war sogar Lord! –

Da trat der Diener ein und meldete, daß der Herr Kommerzienrat sich bereits im Speisezimmer befände.

Hella zeigte auf die vorhin abgelegte Jacke und den Hut.

„Nehmen Sie das mit, Friedrich!“

„Oh – Sie wollen zu Tisch stehen im Straßenkleide, Miß Hella?“ fragte Shoost entsetzt, indem er an seinem tadellosen, schwarzen Jackenanzug mit weißer, tiefausgeschnittener Weste hinabsah – bis auf die endlos langen, plumpen Lackstiefel, deren Spitzen sich zu wahren Knollen hochwölbten, neueste amerikanische Mode – unschön und zwecklos!

Hella errötete. – Frech war der Mensch – frech! Aber man konnte ihm schwer etwas übel nehmen. „Die Engländer sind ja alle so“, dachte sie; „und man wird doch ein ganzes Volk nicht erziehen wollen.“

Da kam ihr Frau Renz zu Hilfe:

„Dinieren tun wir erst abends, Master Shoost,“ meinte sie würdevoll.

Der grinste und reichte Hella wieder den Arm.

Die Kommerzienrätin fand das bei diesem Millionär selbstverständlich. Ihr Schwiegersohn hätte sich das nicht herausnehmen dürfen, sie zu übersehen. Er war ja auch nur Maler und Deutscher.

Kommerzienrat August Renz saß im Speisezimmer in der Fensterecke auf einem geschnitzten Schemel und hatte einen Stoß Zeitungen auf den Knien, eine davon aber weit ausgebreitet dicht vor den kurzsichtigen Augen.

Er erhob sich beim Eintritt des Paares schnell und begrüßte Shoost mit vielen Bücklingen, die noch stark an seine Jugendzeit als Reisender der Lederwarenfabrik Moses Rosenthal Söhne erinnerten.

Er war mittelgroß, mager und sehr sorgfältig angezogen. Sein Gesicht erinnerte ein wenig an das des Fürsten Bülow, des früheren Reichskanzlers, worauf er sehr stolz war. Familie Renz hielt daher auch einen schwarzen Pudel, ganz wie Bülows, der auch Mohrchen hieß, aber nicht viel beachtet wurde. Keiner der drei war tierlieb, und Frau Renz hatte sogar eine Abneigung gegen Hunde, die nur Flöhe ins Haus brächten, wie sie mal bei einem Festessen zu ihrem Tischherrn, einem Grafen und Excellenz, zu dessen Entsetzen gesagt hatte. Aber das war schon lange her. Jetzt passierten ihr solche Entgleisungen nicht mehr.

August Renz bestellte Sekt.

„Einen so werten Gast muß man feiern,“ meinte er.

Es war trotzdem unverkennbar, er war merkwürdig zerfahren und aufgeregt.

„Gustel, was hast du nur, du bist heute so sonderbar?“ fragte seine Frau denn auch sehr bald.

„Später, Kinder, später. Eine Neuigkeit – geradezu unglaublich!“

Der Erfolg dieser Andeutung war, daß auch Almeida Shoost bat, lieber mit der Geschichte herauszurücken. Sonst denke doch jeder nur fortwährend an das, was er erst noch erfahren sollte.

„Gut, – wie Sie wünschen! Aber ein Glas Burgunder. – Zum Wohle, Master Shoost!“

Shoost lümmelte sich mit beiden Ellbogen auf. Platz genug hatte er ja, da an jeder Seite des großen Tisches nur einer saß. „Ich bin sehr neugierig,“ meinte er, nachdem er Hella beim Zutrinken wieder recht aufdringlich in die Augen gesehen hatte.

August Renz erzählte mit kurzen Pausen, um hastig die Bissen hinunterschlingen zu können.

„Also denkt euch, in der vergangenen Nacht ist der Anton Lamka, der Chauffeur von Halfners, – ermordet worden.“

Frau Renz kreischte auf. –

Worauf Hella sagte: „Aber Mama, man beherrscht sich doch.“ –

Almeida Shoost schaute gleichgültig auf den Kommerzienrat.

„Nur ein Chauffeur?“ meinte er.

„Na – schließlich ist das doch auch ein Mensch,“ sagte August Renz mit Nachdruck. „Zumal dieser Anton Lamka, der schon fünfzehn Jahre bei Halfners ist.“

„Halfner – der Bankier?“ fragte Shoost.

Renz nickte. „Bei dem wir noch letztens zur großen Abfütterung waren. – Eine ganz seltsame Geschichte, dieser Mord. Die Polizei ist ratlos. Ich habe Halfner vor kaum einer halben Stunde auf der Börse gesprochen. – Dich wird es interessieren, Hella, daß der Mord auf Schmargendorfer Gebiet verübt worden ist, gar nicht weit von Longreens Wohnung ab.“

„Wirklich, Papa? – Oh, könnte man sich den Schauplatz nicht mal ansehen? – Morgen haben wir wieder unser Literaturkränzchen. Da hätte ich doch gleich etwas Sensationelles zu berichten.“

„Ich finde, auf diese Art dauert es eine Stunde, ehe wir alle Einzelheiten erfahren haben,“ sagte Shoost, nochmals Kompott nehmend.

„Ja, wenn ihr mich alle Augenblicke unterbrecht,“ verteidigte sich Renz. „Ich werde jetzt also alles der Reihe nach berichten, ganz wie Halfner es mir vortrug. –

Halfners waren gestern bei Baurat Lüders eingeladen und hatte sich ihr Auto für ein Uhr bestellt. Als die Fete endlich um dreiviertel zwei zu Ende war, suchten sie vergeblich unter den vor der Villa haltenden Kraftwagen nach dem ihrigen, bis der Chauffeur von Mingel, dem Rennstallbesitzer, Halfner mitteilte, Lamka wäre soeben mit dem Auto weggefahren, – wohin, wisse er nicht. Die beiden Chauffeure sind gut bekannt miteinander. – Jedenfalls sei ein Herr plötzlich an Lamka herangetreten, hätte mit ihm kurze Zeit gesprochen und dann den Platz neben Lamka auf dem Vordersitz eingenommen, worauf der große Naumannwagen sehr schnell davongerast sei. – Um zwei Uhr zehn Minuten etwa wurde dann – gib acht, Hella! – von ein paar Freunden Longreens an einer Straßenkreuzung auf Schmargendorfer Bauterrain ein Auto gefunden, und darin lag mit einer frischen Stichwunde im Herzen der arme Anton Lamka – tot – ermordet. Es war Peter Arnberg, Longreens Freund, der das Verbrechen zuerst entdeckte, während diese drei anderen – Herren, die sich leider auch Longreens Freunde nennen dürfen, in ihrer Bezechtheit die Verfolgung von drei Personen aufnahmen, die sicher im Auto gesessen hatten und entflohen, als Arnberg und seine Begleiter von Longreens Wohnung her sich näherten. Das Auto ist jetzt schon wieder in der Garage bei Halfners, die Polizei aber hinter den Mördern her. Ob sie einen von den Entflohenen fassen wird, erscheint jedoch sehr fraglich. Der Kriminalkommissar Backländer, der den Fall untersucht, hat zu Halfner ganz im Vertrauen gesagt, ihm wäre eine so rätselhafte Sache noch nicht vorgekommen. Die Polizei fahndet natürlich in erster Linie auf den Herrn, der Lamka doch offenbar dazu veranlaßt hatte, mit dem Auto davonzufahren, obwohl er seine Herrschaften abzuholen hatte. Bisher ist auch in dieser Richtung nichts ermittelt worden – nichts – nichts! – Na – was sagt Ihr nun, Kinder? – Ist das nicht wirklich ein Verbrechen, an dem sich der beste Detektiv die Zähne ausbeißen kann?!“

Shoost zerkrümelte ein Brötchen, knetete einen herzförmigen Klumpen und drückte mit dem langen Nagel des rechten Zeigefingers ein paar lateinische Buchstaben hinein. Während des Kommerzienrates Bericht hatte er immer stiller dagesessen, nachdenklich vor sich hingeschaut und das Herz wahrscheinlich ganz in Gedanken geformt.

Hella erkannte die Herzform der Brotmasse. Zu gern hätte sie gewußt, ob Shoost nicht die Anfangsbuchstaben ihres Namens eingekerbt hatte. Ihrer Eitelkeit schmeichelte die glühende Bewunderung, die der Engländer ihrer Schönheit zollte.

Inzwischen hatte August Renz sich durch einen Schluck Burgunder gestärkt und winkte jetzt dem aufwartenden Diener zu, die Sektschalen zu füllen.

Dann sagte er: „Denkt euch – unter den Entflohenen soll sich auch ein Weib befunden haben, – selbstredend, – ein Weib: cherchez la femme, – alte Geschichte!“

Hella hatte nur noch Augen für das Brotherz.

Sie ließ das silberne Messerbänkchen fallen, dachte, Shoost würde es ihr aufheben. Friedrich war ja gerade hinausgegangen.

Aber Shoost tat, als hätte er nichts davon wahrgenommen. Da sagte sie: „Wollen Sie nicht so liebenswürdig sein!“

Nun mußte er. Und sie griff schnell nach dem Brotherz und verbarg es im Schoße unter der Serviette.

Shoost tauchte mit dem Oberkörper wieder auf und legte das Messerbänkchen auf einen leeren Teller – mit spitzen Fingern, als wäre es in Schmutz gefallen.

„Nach dreißig Jahren wird man in solchen Fällen nach den Dienern klingeln – auch in Deutschland hoffentlich!“ meinte er, ohne jemand anzusehen. –

August Renz war etwas enttäuscht, daß seine Erzählung so wenig beachtet wurde.

„Was sagen Sie zu dem Morde, Master Shoost?“ meinte er. „Bei Ihnen in England laufen doch die geistvollen Detektive scheinbar in Rudeln herum. Vielleicht haben Sie auch so eine ähnliche Begabung wie den große Sherlock Holmes. Scharfsinnig seid Ihr Briten ja alle.“

„Und unverschämt – so unverschämt,“ dachte Hella und hoffte, daß bald Mahlzeit gesagt würde, damit sie das Herz betrachten konnte.

Almeida Shoost lächelte ganz wenig. „Der Deutsche wird nie einen guten Detektiv abgeben. Scharfsinn allein genügt nicht. Rücksichtslosigkeit und Ausdauer sind ebenso wichtig. – Im übrigen ist dieser Mord wirklich recht merkwürdig. Ich werde mich damit beschäftigen.“

„Sie? – Sie wollen?!“ Renz schüttelte den Bülowkopf. „Sie scherzen wohl, Master Shoost?“

„Ich will beweisen, daß ein einziger Engländer mehr kann als die ganze deutsche Kriminalpolizei.“ Das klang so kühl, als käme ihm auch nicht im entferntesten zum Bewußtsein, welche Geringschätzung aus seinen Worten sprach.

„Da bin ich doch neugierig!“ meinte die Kommerzienrätin, die die Speisen kaum anrührte. Sie wollte mit Gewalt schlanker werden. Aber sie stammte leider aus einer Bäckerfamilie, und ihre Eltern in Magdeburg hatten zusammen in ihren besten Jahren viereinhalb Zentner gewogen. Es lag also erbliche Belastung vor.

„Ich auch!“ fügte Hella hinzu. „Sie müssen mich stets bitte auf dem laufenden über Ihre Erfolge halten, Master Shoost. Ich denke es mir sehr interessant, den Detektiv zu spielen.“

„Ich werde mir einen Londoner Detektiv kommen lassen, Miß Hella,“ sagte Shoost. „Mit dem gedenke ich dann zusammen zu arbeiten.“

„Ah so!“ lachte Renz. „Hören Sie, Sie sprachen doch eben davon, daß Sie allein –“

„Habe ich nicht gemeint. Ein einziger Engländer, natürlich ein Fachmann, – das meinte ich. Ich habe in solchen Dingen keine Erfahrungen. Und wenn ich „beschäftigen“ in Bezug auf mich sagte, so hieß das nur – Geld ausgeben dafür.“

Friedrich erschien mit einem silbernen Tablett.

Vier Briefe lagen darauf; einer für Hella.

Und sie sagte sofort vorwurfsvoll: „Eine ganz unbekannte Handschrift? Und – Poststempel Schmargendorf? – Ich muß doch gleich –“

Sie riß den Umschlag auf, überflog dem Briefbogen.

„Ah – das ist stark,“ entfuhr es ihr plötzlich. Sie war erst flammend rot, dann sehr blaß geworden.

„Was gibt’s denn?“ meinte der Kommerzienrat.

„Oh – nichts, was euch angeht, Papa,“ erwiderte sie zerstreut.

Gleich darauf sagte Frau Renz: „Gesegnete Mahlzeit,“ was Shoost wieder ein Lächeln entlockte.

Die beiden Herren zogen sich in des Kommerzienrats Arbeitszimmer zurück, auf Frau Renz wartete schon die Masseuse und Hella setzte sich ins Musikzimmer.

Hier nahm sie sofort das Brotherz und schaute es sich am Fenster an. Sie erlebte eine Enttäuschung. Es waren nicht die Buchstaben, die sie erwartet hatte, – die zweite Enttäuschung heute, – denn der Brief kam von Fräulein Amanda Biedermann und begann: „Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen über Ihren Bräutigam ein wenig die Augen zu öffnen –“

 

6. Kapitel.

Wenn die Kollegen von Hans Backländer sprachen, sagten die, die ihm nicht wohlwollten, stets „das leichtsinnige Huhn“, die anderen aber, und sie waren in der Mehrzahl mit neidloser Anerkennung „der kluge Hans“ – letzteres wohl hergeleitet von dem denkenden Wunderpferde[1], das es einst gegeben haben soll.

Als Hans Backländer den bunten Rock an den Nagel hängte – ganz freiwillig geschah es nicht! – bezahlte seinen Vater zum letzten Male des Sohnes Schulden, drückte ihm dreihundert Mark in die Hand und eine Fahrkarte für die 2. Kajüte nach Neuyork. Am nächsten Morgen hatte der Leutnant a. D. die Fahrkarte verkauft, sich mit einem Polizeirat, der Reserveoffizier jenes Regiments war, in dem das verrückte Hänschen so viel dumme Streiche gemacht hatte, telephonisch in Verbindung gesetzt und gefragt, ob es Zweck habe, sich um eine Anstellung bei der Berliner Kriminalpolizei zu bemühen.

So wurde Backländer Kommissar. Doch seine Vorgesetzten erlebten auch hier nicht viel Freude an ihm, und einmal war es nahe daran, daß das leichtsinnige Huhn „gegangen wurde“, wie man zu sagen pflegt. Bei dieser Gelegenheit faßte Backländer sich ein Herz, ging zu seinem Chef und erklärte diesem, daß er bisher an der falschen Stelle verwendet worden sei. Überwachung von Taschendieben nehme sein Interesse nicht genügend in Anspruch, um den Kraftüberschuß in ihm aufzubrauchen, und aus diesem Kraftüberschuß heraus ließ er sich eben zu allerhand Torheiten verleiten. Er bitte daher gehorsam, ihn doch „mit Schwerverbrechern“ zu beschäftigen.

Der Chef wollte prüfen, ob das leichtsinnige Huhn wirklich recht hätte. Und, siehe da, – so wurde aus dem Huhn ein Hans – der kluge Hans! Gewiß – ganz konnte er seine wahre Natur auch jetzt noch nicht verleugnen. Aber sein Übermut hielt sich in bescheidenen Grenzen. –

Backländer saß in seinem Dienstzimmer und rauchte eine dicke Zehnpfennig-Zigarre. Besser, er qualmte. Und das tat er stets, wenn er recht scharf nachdachte.

Vor ihm auf dem Tische lag ein dünnes, sehr neu aussehendes Aktenstück. Auf den Deckel stand:

Anton Lamka – Mord

Es war das erste Kapitalverbrechen des Deliktes Mord, das man Backländer anvertraut hatte, nachdem er ein gutes Dutzend Geldschrankknacker zur Strecke gebracht hatte.

Er war so in seine Gedanken vertieft, daß er ein bescheidenes Klopfen an der Tür überhörte.

Draußen stand Heinrich Schöttler, den man in Verbrecherkreisen nur den „Pastor“ nannte. Er sah auch wirklich so aus.

Schöttler klopfte abermals, ebenso ohne Erfolg. Dann steckte er leise den Kopf durch die Tür. Das Zimmer glich einem Desinfektionsraum. Backländers Gestalt war in den Rauchschwaden nur undeutlich zu erkennen.

„Gestatten Sie, daß ich nähertrete, Herr Kommissar?“

Backländer fuhr herum.

„Ach, Sie – nur zu! – Tag, Schöttler. Machen Sie aber mal erst die Fenster auf. – So. Und nun – was haben Sie mit dem Hunde ausgerichtet?“

Nachdem Schöttler sich einen Stuhl herangezogen hatte setzte er sich an die andere Seite des Tisches.

„Darf ich gleich eingehend berichten?“ fragte er dann. „Oder erst kurze Übersicht?“

„Wenn’s interessant ist. – Eingehend!“

„Ich denke. – Wir, Matzik und ich, nahmen also Max mit. Er arbeitet auf schwacher Fährte am zuverlässigsten. – Zunächst versuchten wir die Spur des einen Mannes zu verfolgen, der über den Zaun rechts geklettert war. Wir konnten nur feststellen, daß er durch drei der kleinen Gärten bis zu einem Pfade gelaufen war, der parallel zu der Straße sich hinzieht, die nach Bahnhof Schmargendorf führt. Auf dem vielbetretenen Pfade war’s vorbei mit der Kunst! Dann probierten wir’s mit der Spur des anderen Mannes und der weiblichen Person. Erfolg, bei dem Manne bis auf der Erkenntnis, daß er einen kleinen Koffer bei sich hatte – Eindruck auf einem frischen Maulwurfshaufen! – nichts weiter! Der Kerl hatte sich nach Schmargendorf zu verkrümelt und zwar auf einem gepflasterten Wege. –

Mehr Glück hatten wir mit dem Weibe. Die hatte sich von ihrem Genossen bald getrennt, war in einen der Gärten der Laubenkolonie geschlüpft und über verschiedene niedrige Zäune gestiegen – bis zu dem hohen Holzzaun, der den Hof des einsamen Hauses umschließt, wo der Maler Longreen wohnt, bei dem die vier Herren sich ihr Räuschchen geholt hatten. Um diesen Holzzaun war die Frau nach Schmargendorf zu herumgegangen und hatte dann etwa hundert Meter vom Hause entfernt die Straße betreten. Max wurde hier auf dem Asphalt unsicher, drängte aber doch immer wieder nach dem Hause hin.“

Schöttler erzählte dann weiter von seiner Zufallsbekanntschaft mit Amanda Biedermann und von seinem Besuch bei dem Maler – alles ganz genau – und fuhr fort:

„Wir wollten uns also schon wieder auf den Heimweg machen, der Matzik und ich, als mir etwas einfiel. Die Biedermann hatte mir gesagt, sie hätte die ganze Zeit über hinter der Flurtür am Guckloch gestanden, eben von dem geräuschvollen Auszuge der Gäste aus dem Atelier bis zu dem Moment, wo Longreen mit der – Dame wieder nach oben ging. Der Maler aber hatte mir erzählt, er wäre gut zwanzig Minuten unten vor der Haustür gewesen, um seinen Schädel etwas ausdünsten zu lassen. Ich dachte nun, es ist doch nicht sehr wahrscheinlich, daß das alte Fräulein die ganzen zwanzig Minuten an der Flurtür auf die Rückkehr des Malers gelauert haben wird – zwanzig Minuten! Ob sie nicht vielleicht aus dem Fenster geschaut hatte, um den Radaumachern nachzublicken?! Und – wenn sie dies getan, dann hatte sie vielleicht auch die Begrüßung mitangesehen, die zwischen Longreen und jener Nachtschwärmerin stattfand! Und diese Begrüßung hätte ich mir zu gern, falls eben ein Zeuge dafür da war, näher beschreiben lassen. Aus folgendem Grunde: Longreen ist zwar ein harmloser Mensch und hat mit unserer Sache nichts zu tun. Konnte nicht aber jene Dame, mit der er seit einem Jahre nicht mehr zusammen gewesen sein wollte, inzwischen auf noch schlimmere Abwege geraten und die Person sein, die aus dem Auto mit entflohen war? Möglich war dies allemal. Und daher sagte ich mir, vielleicht ist der Amanda Biedermann bei der Begrüßung zwischen Longreen und jener Frau etwas aufgefallen, falls sie eben beobachtet hat, – etwas, eine Kleinigkeit, aus der du weitergehende Schlüsse ziehen kannst! –

Ich machte also wieder kehrt und saß keine fünf Minuten später der alten Jungfer abermals gegenüber. Drei Schwestern hausen da zusammen, alle so von der Sorte „Feindschaft der ganzen Welt, weil wir keinen Mann gekriegt haben!“ – Man spricht von säuerlichen alten Jungfern. Na – die drei da sind sauer – giftsauer! –

Ich merke sofort, daß Fräulein Amanda über mein Erscheinen nicht gerade enttäuscht war. Sie schien etwas verlegen. – Aha, vielleicht hatte sie mir wirklich verschiedenes verschwiegen und daher ihre Unruhe. –

Ich ging denn auch sofort forsch zum Angriff über.

„Weshalb sagten Sie mir vorhin nicht, gnädiges Fräulein, daß Sie auch eine Weile zum Fenster hinausgeschaut und gesehen haben, wie Herr Longreen die Dame ansprach?“

Die Giftsaure wurde rot, senkte schämig den Kopf und flüsterte verwirrt: „Ich wollte nicht zugeben, daß ich so – so neugierig bin.“

Und nun, Herr Kommissar, nun holte ich aus Amanda Biedermann durch zahlreiche Fragen den untrüglichen Beweis dafür heraus, daß – Longreen mich ganz grob belogen hat. –

Die alte Jungfer hat nämlich die Begrüßung vom Fenster aus nicht nur beobachtet, sondern auch belauscht, und in der Stille der Nacht verstand sie jedes Wort, das der Maler und das Weib wechselten. Die beiden waren sich ganz fremd. Das Weib hat Longreen von der Mitte der Straße aus angesprochen und nach der nächsten Autohaltestelle gefragt; nachher aber gebeten, ob sie sich nicht in des Malers Wohnung etwas ausruhen dürfe.“

Hans Backländer hatte sich weit vorgebeugt.

„Schöttler, Mensch, – das ist ja enorm wichtig,“ stieß er jetzt hervor.

„Allerdings. Es unterliegt jetzt keinen Zweifel mehr, daß das entflohene Weib die Nacht bei Longreen zugebracht hat. Nicht nur die Aussage der alten Jungfer spricht dafür, – nein, – hier ist ein weiteres Beweisstück.“

Er hatte einen Briefumschlag aus der Brusttasche hervorgeholt und schüttelte ein hartes Klümpchen Erde, das viele weiße Pünktchen zeigte, auf den Deckel des Aktenstücks „Anton Lamka – Mord“.

„Als die beiden Freunde den Portwein holten,“ erklärte er, „habe ich natürlich so etwas im Atelier herumgeschnüffelt und dabei dies hier unter einem Korbsessel gefunden. Es ist Erde, mit Kalk vermischt. Und in solche Erde war das Weib auf der Flucht durch die Laubengärten mit dem rechten Fuß getreten. –

Sie wissen, Herr Kommissar, ich gebe auf solche Beweisstücke eigentlich nicht viel, da sie uns leicht zu Trugschlüssen verleiten können. Deswegen hatte ich das in Sicherheit gebrachte Erdklümpchen auch gegenüber den für wahr gehaltenen Angaben Longreens für unwichtig gehalten. Als aber Amanda Biedermann die Begrüßung schilderte, da – dachte ich über den Brocken Erde anders! Und das hätten Sie doch auch getan, Herr Kommissar.“

Backländer nickte und sagte: „Selbstredend! – Nun lassen Sie mich mal ein Weilchen diese Neuigkeit verdauen, Schöttler.“

Des früheren Leutnants frisches Gesicht, dem der kleine blonde Schnurrbart und das in der Mitte glatt gescheitelte Haar im Verein mit einem sehr energischen Zug um den Mund noch immer etwas vom Offiziere gaben, zeigte einen grüblerischen Ausdruck. Dann sagte er unvermittelt:

„Longreen und Arnberg stecken unter einer Decke. Ich bin überzeugt, daß sie wissen, wer das Weib war – eben die aus dem Auto. Sie wollten sie schützen, haben einen Beamten deshalb belogen. – Weshalb aber? Aus Ritterlichkeit? – Ausgeschlossen! Die Sache muß einen tieferen Grund haben. Vielleicht hat das Weib sich Longreen anvertraut, ihm einen hübschen Roman erzählt, sein Mitgefühl wachgerufen. Aber dieser Roman muß eben so beschaffen gewesen sein, daß der Maler gänzlich umgarnt wurde, muß gewisse Einzelheiten enthalten haben, an Hand derer Longreen sozusagen nachprüfen konnte, ob das Weib Schonung verdiente. Es war also bei ihm nicht lediglich Ritterlichkeit. Er sucht sie zu decken, weil er eben Einzelheiten kennt, die unbedingt für jene Frau sprechen. Und diese Einzelheiten müssen wir in Erfahrung bringen, Schöttler!“

„All das habe ich mir auch schon überlegt, Herr Kommissar. Ich fürchte nur, Longreen und Arnberg werden höchstens bei einer eidlichen Vernehmung die Wahrheit sagen. Wenn ich mir jetzt so bestimmte Szenen während meines Besuchs im Atelier wieder vergegenwärtige, so wird mir immer klarer, daß die beiden Herren mich wirklich ordentlich reingelegt haben. Ich denke da zum Beispiel an die Art und Weise, wie Arnberg seinen Freund, um Portwein zu holen, ins Nebenzimmer zog. Der Portwein war Mittel zum Zweck. Die Brüder wollten nur einen Moment allein sein und Kriegsrat halten. Und nachher, als Longreen das Glas zerbrach, – auch ein Trick, nehme ich an, – vielleicht um meine Aufmerksamkeit abzulenken. Jedenfalls ist der Arnberg der gefährlichere. Ich halte ihn für ganz gerieben. So einer, der den Blasierten spielt. – Ich schlage vor, Herr Kommissar, wir lassen die beiden sofort scharf beobachten. Keinen Schritt dürfen sie unbeaufsichtigt tun.“

„Ganz meine Meinung. – Wir könnten sie ja natürlich auch zur Vernehmung herbestellen und ihnen so etwas vom Meineidparagraphen erzählen. Dann kämen wir schneller und billiger zur Wahrheit. Aber wir wollen den Herren doch mal beweisen, daß wir die schlaueren sind, daß die Polizei sich nicht so leicht hinters Licht führen läßt. – Bestimmen Sie also ein paar recht gewandte Leute, Schöttler, die sich Longreens und Arnbergs zärtlich annehmen.“

Backländer sah nach der Uhr. „Gleich vier. Um vier habe ich mir den Chauffeur des Herrn von Mingel bestellt. – Was halten Sie von der Geschichte eigentlich, Schöttler? Haben Sie sich schon ein Urteil gebildet?“

Der „Pastor“ zuckte die Achseln. „Eine verzwickte Sache ist’s. Vorläufig kann ich gar nichts sagen.“

„Mir geht’s genauso. Ein Glück, daß wir wenigstens die eine Tatsache schon festgestellt haben, – wo das Weib die Nacht über gewesen ist. Schade, daß dieser Redakteur Pinker, der vorderste der Verfolger, in seiner Bezechtheit hinfiel. Sonst hätte er die Frau doch wohl erwischt.“

„Und er besinnt sich gar nicht, wie sie gekleidet war?“

„Nein – nichts – nichts! Wir haben auch nicht den geringsten Anhalt dafür, wie diese drei Leute ausgesehen haben. – Ah – es klopft. Wahrscheinlich der Chauffeur. – Herein!“

Wilhelm Brunke machte sofort einen sehr günstigen Eindruck auf die beiden Beamten. Ein heller Berliner in gesetztem Alter, gab er sehr genau Auskunft über das, was er wußte. Aber – viel war es nicht.

Vor der am Savigny Platz gelegenen Villa des Baurats Lüder waren in der vergangenen Nacht etwa zwölf Privatautos zum Abholen ihrer Besitzer vorgefahren. Der erste Wagen in der Reihe war der des Bankiers Halfner gewesen. Die Chauffeure hatten vor dem Hauseingang zusammen gestanden und sich unterhalten. Auch Anton Lamka war dabei gewesen. Dann hatte jemand aus der Richtung des vordersten Kraftwagens plötzlich „Lamka – Lamka!“ kurz und befehlend gerufen. Der hatte sich umgedreht und noch gebrummt „Nanu, wer ist denn das?!“, war dann langsam auf das Auto zugegangen, neben dem ein Mann – nein, ein Herr, gestanden hatte. Wie er angezogen war, konnte man nicht erkennen. Jedenfalls hatte er einen Mantel an. Lamka schien mit dem Herrn zu verhandeln, und gleich darauf waren sie in der Richtung nach Kurfürstendamm davongefahren.

„Von den anderen Chauffeuren kann wohl keiner etwas mehr bekunden als Sie, Herr Brunke?“ fragte Backländer. „Das, was Sie hier eben zu Protokoll gegeben haben, ist mir schon vormittags von dem Kriminalschutzmann mitgeteilt worden, der Sie in meinem Auftrag aufgesucht hatte.“

„Nein, mehr kann keiner wissen, Herr Kommissar. Ich bin ja aus Neugierde dem Lamka noch ein paar Schritte nachgegangen, dann aber stehen geblieben.“

„Besinnen Sie sich mal ganz genau auf die Szene, Herr Brunke, wie der Herr Ihren Bekannten anrief. Ist Ihnen da nicht irgendetwas aufgefallen? Vergegenwärtigen Sie sich alles recht genau.“

Brunke schüttelte den Kopf. „Ich habe schon von allein genug daran gedacht. Lamka ist doch mein Freund. Und da will man doch auch das Seine tun, um die Sache aufzuklären. – Hm – nur etwas – etwas –“

„Na, – das wäre?“

„Ja, ich kann mich vielleicht auch täuschen. Aber mir schien es so, als ob Lamka, nachdem er gesagt hatte, so zu sich selbst „Nanu, wer ist denn das?“ sich plötzlich besann, wer da gerufen haben könnte. Mit einem Mal nickte er nämlich so mit dem Kopf und ging schneller.“

„Sehr wichtig!“ meinte Backländer. „Sehen Sie, Herr Brunke, gerade Sie als herrschaftlicher Chauffeur werden mir doch zugeben, daß Lamka, der Halfners abholen sollte, nicht auf die Aufforderung eines Fremden hin noch weggefahren sein wird, wo er doch damit rechnen mußte, daß der Bankier jeden Augenblick den Wagen brauchen konnte. Nein – der Herr muß meines Erachtens sogar ein guter Bekannter von Halfners gewesen sein, den Lamka so weit respektierte, daß er eben auf dessen Aufforderung oder Bitte in sich dazu verstand jenem das Auto zur Verfügung zu stellen. Und der Unbekannte wußte ja auch Lamkas Namen.“

Brunke nickte eifrig. „Ich verstehe, Herr Kommissar. Natürlich muß Lamka den Herren sogar recht gut gekannt haben. Unsereiner wird doch nicht mit einem Fremden losgondeln – ausgeschlossen.“

„Wissen Sie vielleicht noch etwas anzugeben, Herr Brunke?“ fragte Backländer freundlich und hielt dem Chauffeur seine Zigarrenasche hin. „Da – bedienen Sie sich nur –“

„Ne – mehr weeß ich wirklich nich! Nun bin ich ausgepumpt. Höchstens – ich komme eben von der armen Frau. Die sitzt nun mit vier Kinderchen da. Ein Jammer! Aber es finden sich doch immer noble Menschen, die gern helfen. Die Frau Lamka hatte nämlich gerade Besuch, als ich bei ihr war, um sie so ein wenig zu trösten. Und der Herr hat ihr – denken Sie! – vierhundert Mark in die Hand gedrückt, als er ging – vierhundert Mark. Da bleibt doch was übrig nach Abzug der Begräbniskosten – sicher!“

„Was Sie sagen! Vierhundert Mark! – Wer war dieser Wohltäter denn?“

„Oh – ein sehr nobler, alter Herr, – sehr noble angezogen, weißer Bart, Goldkneifer mit viel Brillanten an den Fingern. Nur etwas zittrig war er schon.“

„Blieb er denn lange bei der Witwe? Nannte er seinen Namen?“

„Lange? – Vielleicht zehn Minuten! Und er hieß – es war so ein bekannter Name – richtig: Henning – Henning!“

„Wie führte er sich bei Frau Lamka ein? Was sagte er, als er sie begrüßte?“

„Er käme als Beauftragter des Witwenunterstützungvereins –“

„Halt! – Wirklich? Witwenunterstützungverein?“

„Ganz bestimmt.“

Backländer wandte sich an Schöttler. „Stellen Sie doch mal schnell fest, ob es einen solchen Verein gibt, und wenn ja, ob – na – Sie wissen schon!“

Schöttler verließ eilig das Zimmer.

„Gut, Herr Brunke, – fahren Sie fort.“

„Na, dann sprach er der armen Frau sein Beileid aus, notierte sich die Namen und das Alter der Kinder und fragte auch, wer ich wäre. So kamen wir ins Gespräch.“

„Und Sie haben ihm erzählt, wie es geschah, daß Lamka mit dem Fremden wegfuhr?“

„Gott ja – warum nicht!“

„Und weiter?“

„Weiter?! – Er ging dann bald, und vorher gab er eben der Lamka vier Hundertmarkscheine und sagte: „Der Verein wird auch weiter für Sie sorgen, liebe Frau.“ – Es war ein sehr netter alter Herr. Mir gab er auch noch drei Zigarren. Aber eigentlich hatte ich gedacht, sie würden besser sein – nach den Brillantringen zu urteilen. Mehr als zwölf Pfenniger waren’s nich.“

„Haben Sie an dem Herrn irgend ein besonderes Kennzeichen entdeckt, – eine Narbe, einen Hautfleck oder sonst dergleichen?“

„Hm – ja, – richtig! Er hinkte ein wenig.“

Backländer schrieb sich verschiedenes auf ein Blatt Papier. Dann erklärte er Brunke, die Vernehmung wäre beendigt.

„Sprechen Sie aber am besten mit niemandem über das, was wir hier verhandelt haben. – Ich danke Ihnen sehr!“

Brunke ging. Gleich darauf kam Schöttler zurück.

„Den Verein gibt es nicht!“ gab er Bescheid. „Der einzige Verein mit ähnlich klingenden Namen ist der Hilfsverein für die Witwen kaufmännischer Angestellter mosaischer[2] Konfession, – und der scheidet wohl aus!“

„Gewiß! – Also hat der hinkende alte Herr gelogen!“ –

Backländer seufzte. „Schöttler, Schöttler, – die Geschichte wird immer verwickelter, Gott sei’s geklagt! Wer mag nur dieser Alte gewesen sein, der gleich vierhundert Mark springen läßt und vorher den Brunke fraglos ausgehorcht hatte?“

Der „Pastor“ hob die Schultern bis zu den Ohren.

„Keinen Schimmer! – Jedenfalls muß auch die Lamka überwacht werden. Vielleicht kommt der Alte nochmals zu ihr.“

„Gut. Veranlassen Sie auch hier das nötige.“ Der Kommissar stand auf. „Ich will zu Halfner hin, mal nachfragen, ob der mir nicht einen Wink geben kann, wer der Herr gewesen sein könnte, der Lamka mit dem Auto von Savigny Platz um dreiviertel zwei etwa weggelockte. Um dreiviertel zwei! Und zwanzig Minuten später war Lamka eine Leiche.“

Schöttler half seinem Vorgesetzten in den Mantel.

Gerade als er Kommissar den Hut aufsetzte, klopfte es. Es war der Wachtmeister Matzik, der die Polizeihunde unter sich hatte. Er schien erregt, rief offenbar triumphierend:

„Herr Kommissar, ich habe soeben das Auto nochmals durchsucht. Dies hier fand ich in den Polstern!“ Er hielt eine Krawattennadel hoch, ein goldenes Hufeisen mit drei kleinen Brillanten.

Backländer faßte sich nach dem dunkelgrün und blau gestreiften Binder, lächelte und sagte:

„Ah – ein Fund a la Sherlock Holmes! – Ich danke Ihnen verbindlichst! Die Nadel gehört mir. Ich muß Sie vormittags bei der Durchsuchung des Autos verloren haben.“

Die drei Beamten lachten herzlich. Und Matzik meinte: „Mir kam die Nadel gleich so unheimlich bekannt vor.“

 

7. Kapitel.

„Wo ich Munkel?“ fragte Peter Arnberg seine Haushälterin, als er in Begleitung Longreens daheim angelangt war.

Frau Mielke erwiderte unfreundlich: „Weiß ich nicht.“

„Sie scheinen schlechter Laune zu sein, Marie?“

„Kein Wunder! Um zwei Uhr wollte der gnädige Herr zurück sein zum Essen, und jetzt ist’s halb drei. Der Braten wird wie Leder sein!“

„Na – dann essen wir eben mal Leder. – Also – Munkel ist ausgegangen?“

„Ja.“

„Wann denn?“

„Keine Ahnung. Er muß rausgeschlichen sein – ganz leise.“

„Gut. – Dann soll Anna bei Tisch bedienen.“

Anna war das Stubenmädchen.

Während der Mahlzeit sprachen die Freunde nur über gleichgültige Dinge. Den Kaffee ließ Arnberg in sein Arbeitszimmer bringen.

Jeder machte es sich in einem Klubsessel bequem.

„Schade, daß Munkel nicht da ist,“ meinte Arnberg. „Er hätte an unserer Beratung teilnehmen können.“

„Du sagtest doch, du hättest es ihm freigestellt, auf eigene Faust zu handeln. Vielleicht ist er schon an der Arbeit.“

„Ich habe auch schon daran gedacht.“

„Was soll nun geschehen, Peter?“ fragte Longreen nach einer Weile.

„Ich überlege mir das gerade.“ Arnberg wollte noch etwas hinzufügen. Aber das Stubenmädchen kam und überreichte ihm eine Karte.

„Der Herr bittet vorgelassen zu werden.“

Die Karte war eben erst, wie an der frischen Tinte zu erkennen, ausgeschrieben worden. „L. E. Knum“ stand darauf.

„Komischer Name,“ meinte Arnberg. Dann glitt plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht.

„Ich lasse bitten. – Führen Sie den Herrn gleich hier herein, Anna.“

„Was gibt’s so heiteres?“ fragte der Maler erstaunt.

„Da – lies die Karte.“

„L. E. Knum,“ buchstabierte Longreen. „Eigenartig ist der Name ja, aber –“

„Von rückwärts noch eigenartiger. – Ah, da ist der Besucher schon.“ Arnberg erhob sich und ging dem weißbärtigen Herrn entgegen.

„Womit kann ich dienen? Was verschafft mir die Ehre?“

Anna hatte die Tür ins Schloß gedrückt. Sofort änderte sich Arnbergs Ton.

„Munkel – Mensch, – die Verkleidung ist ja großartig!“ Und er klopfte ihn anerkennend auf die Schulter.

„Für einen früheren Zirkusklown kein Kunststück, Herr Leutnant.“

Ja – aber, woher Bart, Perücke? Etwa gekauft?“

„Nein. Erinnerungsstücke an einst, Herr Leutnant.“

Longreen sagte jetzt auch: „Glänzende Maske!“

Und Arnberg mit übertriebener Höflichkeit: „So setzen Sie sich doch, hochverehrter Herr L. E. Knum! Und – erzählen Sie!“

„Leise – leise, Herr Leutnant. Die Anna könnte nebenan sein. – Hm, ich putzte mich also in meinem Dienstzimmer bei verschlossener Tür so aus, wie die Herren mich hier sehen. Schlimm war es nur, unbemerkt aus dem Hause zu kommen. Aber es gelang. Auf dem Kurfürstendamm kaufte ich mir bei einem Händler die „B.Z. am Mittag“. Es stand wirklich schon ein langer Artikel über den Mord drin. So erfuhr ich den Namen des Toten und den des Autobesitzers. Der Chauffeur heißt Anton Lamka, das Auto gehört dem Bankier Halfner.“

„Halfner?!“ riefen Longreen und Arnberg wie aus einem Munde.

„Ja, – Herrn Halfner!“ Und Munkel berichtete weiter, was er bisher ausgekundschaftet hatte. Als er erwähnte, daß er der Witwe von den fünfhundert Mark vierhundert dagelassen hätte, unterbrach Arnberg ihn.

„Das gehört doch nicht mit zur Sache! Also, – was erzählte Ihnen der Chauffeur des Herrn von Mingel?“

„Recht wichtige Dinge.“ Munkel schilderte genau, wie er diesen Brunke zum Sprechen gebracht hatte.

„Ah!“ meinte Longreen eifrig. „Nun wissen wir doch schon so verschiedenes.“

„Munkel, Sie sind eine Perle!“ lobte Arnberg gleichfalls. „Ich würde Ihnen aber raten, nicht nochmals zu der Witwe hinzugehen. Die Kriminalpolizei erfährt durch den Brunke sicherlich, daß eine Herr Henning bei der Frau Lamka gewesen ist. Und Ihr famoser Verein wird auch Verdacht erregen.“

„Ich hätte mich dort auch nicht nochmals sehen lassen,“ meinte der ehemalige Klown, der zu seiner Freude feststellte, daß sein Herr jetzt wieder dem Kriminalfall lebhaftes Interesse entgegenbrachte. „Wozu wohl auch, Herr Leutnant? Ich habe dort mehr erreicht, als ich hoffen durfte.“

„Das ist richtig.“ Arnberg stand auf. „Ich werde die Anna fortschicken, damit wir ungestört sind. Die Mielke schläft ja nachmittags regelmäßig bis fünf. Die ist also ungefährlich.“

Als das Stubenmädchen die Villa verlassen hatte, um ihrem Herrn aus dem Kaufhaus des Westens eine bestimmte Sorte Wildlederhandschuhe zu holen, schlüpfte L. E. Knum in sein Zimmer und verwandelte sich wieder in den Diener Munkel. Dann kehrte er zu den beiden Herren zurück. Diese hatten inzwischen beraten, ob man Munkel ganz ins Vertrauen ziehen sollte.

„Setzen Sie sich,“ meinte Arnberg lächelnd. „Als L. E. Knum sehen Sie fraglos vornehmer aus. Aber mir sind Sie als Munkel lieber, mein Alter! – Nun will auch ich Ihnen im Einverständnis mit Longreen von einigen Neuigkeiten berichten, denn wir hier bilden vor allem einen Dreibund mit dem allgemeinen Zweck, diesen Mord aufzuklären.“

Als Arnberg dann im Laufe seiner Schilderungen der Vorgänge im Atelier auch schließlich den Namen Käti Marla nannte, glänzte Munkels Gesicht vor lauter Freude. Und herzlich sagte er, als Arnberg eine kleine Pause machte:

„Herr Leutnant – endlich, endlich eine Spur von Fräulein Marla! Wie froh bin ich darüber!“

„Ja, ich glaube es Ihnen, Munkel, treue Seele! Sie kennen ja die traurige Geschichte, haben mir so manches Mal Mut zugesprochen. Aber – die Spur ist leider wieder verloren gegangen!“

„Sagen Herr Leutnant das nicht! Wir werden die Fährte finden! Ich merke ja, daß Herr Leutnant jetzt wieder der alte sind.“

„Gewiß – gewiß! Doch – was hilft uns das? Wir müssen tätig sein, etwas unternehmen, um einen Schritt vorwärts zu kommen bei unseren Nachforschungen. Nur keinen Stillstand! Stillstand ist Rückschritt!“

„Ich möchte mir das eben Gehörte erst in Ruhe überlegen. Eile mit Weile! – Ah – das Telephon!“

Arnberg ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer von den Stützen.

„Hier Arnberg – Peter Arnberg. – Jawohl! – Guten Tag, gnädiges Fräulein. – Ja, Longreen ist hier. – Gut – sofort!“

„Olaf,“ wandte er sich an den Maler. „Hella ist am Apparat. Sie will dich sprechen.“

Longreen meldete sich.

„Tag, Liebste. – Wie?! – Einen Brief?! – Langsamer, ich verstehe kein Wort. Du scheinst ja sehr erregt zu sein. – Von wem? – Fräulein Biedermann?“

Im Hintergrunde stieß Arnberg ein: „Nette Bescherung!“ aus, und Munkel schnitt ein sehr bedenkliches Gesicht.

„– so, des Briefes wegen? Gut – bin in einer halben Stunde bei  euch! – Nein – werde zu niemandem darüber sprechen. – Schluß – Wiedersehen!“

Er legte den Hörer sehr langsam auf die Stützen zurück, drehte sich sehr langsam um. Seine Augen suchten die Peter Arnbergs.

„Du – die Biedermann hat –“

Arnberg hob die Hand. „Weiß schon, Olaf! Denunziantin! – Die Sache ist oberfaul! So ein Frauenzimmer!“

„Gestatten die Herren vielleicht einen Vorschlag,“ meinte Munkel bescheiden. „Wäre es nicht am richtigsten, Fräulein Renz die Wahrheit zu sagen? Ihr Fräulein Braut, Herr Longreen, wird gerade als Weib für diesen Roman volles Verständnis haben und auch – schweigen,“ fügte er zum Schluß hinzu.

Arnberg und der Maler atmeten sichtlich erleichtert auf.

„Munkel, Sie sind mehr wie eine Perle, sind ein Riesendiamant!“ sagte Arnberg ganz heiter und zuversichtlich. –

Und zu Longreen: „Ich begleite dich ein Stück. Gehen wir!“ –

Sie schritten dann die Königsallee entlang dem Hundekehlensee zu.

Longreen war recht schweigsam geworden. „Wenn die Aussprache nur gut endet,“ meinte er.

„Mit einem solchen Armensündergesicht darfst du natürlich nicht vor Hella hintreten. Dann ist die Sache schon verfahren. Du hast doch ein reines Gewissen!“

„Ich kann mich so schlecht verteidigen. Und Hella ist oft so – so –“

„Na – wie denn?“

„– so sehr heftig, fast lieblos –“

Peter Arnberg hätte beinahe laut gesagt: „Eben ein Mädel aus Berlin W. – verwöhnt, eigenwillig, frühreif, eitel, genußsüchtig, dabei leider von Natur noch gerissen wie eine Frau von Welt nach vielen Lebensstürmen!“ Aber er behielt diese Ansicht über Hella doch wohl besser für sich! Olaf war, obwohl Künstler, was Weiber anbetraf, naiv wie ein Kind.

Wieder eine Weile Schweigen. Dann hatte Longreen die letzte Scheu, sich einmal gründlich das Herz frei zu reden, überwunden.

Als Einleitung kam ein tiefer Seufzer. Dann:

„Überhaupt – Hella! Ein Thema, dem ich gern ausweiche. Aber es quälen mich in letzter Zeit zu viele Bedenken. Ich weiß nicht, Peter, ob ich bei dieser Verlobung doch nicht hätte vorsichtiger sein sollen. Ich bin doch eigentlich Bräutigam geworden ohne mein Zutun. Gewiß – ich liebte Hella. Aber – gedacht habe ich an die Möglichkeit nie, daß aus uns mal ein Brautpaar werden könnte. Hätte ich damals bei dem Fest in der Philharmonie nicht so viel Sekt getrunken, mir wäre kaum der Mut gekommen, sie zu fragen, – na, du kennst den Erfolg ja. – Nur zu bald fühlte ich dann, wie kühl besonders meine Schwiegermutter mir gegenüber blieb. Solche Leute wie Renz und Frau – er ist ja wohl etwas weniger mit dem Emporkömmlingstick behaftet – wollen stets um jeden Preis mit Hilfe der Kinder ihre Herkunft noch mehr verschleiern – durch eine Heirat, natürlich Adel oder doch höheres Beamtentum! Und da wurde ich zum Störenfried dieser Pläne. Das hat man mir nicht vergessen! – Zunächst war mir diese frostige Behandlung durch meine Schwiegereltern recht gleichgültig, weil eben Hellas warme Zärtlichkeit mich entschädigte. Seit einiger Zeit findet nun dieser Ausgleich nicht mehr in solchem Maße statt, daß es nicht Momente gibt, in denen ich das Gefühl habe, ich – ja, wie soll ich mich ausdrücken? – ich könnte vielleicht für Hella den Reiz der Neuheit eingebüßt haben. Du weißt ja, Peter, – ich kam ganz plötzlich als Maler in Mode, fand überall Anerkennung, wurde tatsächlich berühmt. Und – ob es nicht diese meine Berühmtheit ist, die Hella ebenso sehr liebt wie meine Person, darüber gerate ich immer mehr in Zweifel. Die Freude über die letzte Auszeichnung, die Düsseldorfer goldene Medaille, enthielt für mich einen bitteren Tropfen, insofern, als Hella plötzlich wieder überaus zärtlich wurde, nachdem unser gegenseitiges Verhältnis noch kurz vorher immer merklicher in die Bahnen einer Art Freundschaft ohne tieferen seelischen Gehalt hinübergeglitten war. Die goldene Medaille brachte mit einem Schlage die ersten Zeiten nach unserer Verlobung zurück. Das war für mich ein Scheinglück. Ich wußte jetzt, was Hella an mir liebte. Doch nein – ich will nicht ungerecht sein. Ich fürchte nur, daß es der Name Olaf Longreen sein könnte, dem ihre Zärtlichkeit gilt. Ich lebe in Zweifeln – und das ist für mich, der ich alles Unklare hasse, ein unerträglicher Zustand.“

Sie waren inzwischen in die Nähe der Renzschen Villa gelang.

Arnberg blieb stehen.

„Ich hätte diesen Gegenstand längst einmal berührt, Olaf, wenn mich nicht die Furcht davon abgehalten hätte, dir wehe zu tun,“ sagte er, den Freund fast mitleidig betrachtend. „Ihr beide paßt eben nicht für einander. Du bist ein tief veranlagter Charakter, hast dabei doch soweit die sogenannte künstlerische Ader, daß dir diese Geldsackmenschen, denen das Vornehmtun als Pflicht erscheint, stets fremd bleiben müssen, – auch Hella, die, in der ungesunden Luft von Berlin W. aufgewachsen, selbst als deine Braut noch nicht eine gewisse Koketterie abgelegt hat, ganz abgesehen davon, daß sie deinen künstlerischen Bestrebungen ein recht geringes Verständnis entgegenbringt und dir vielleicht später zum Hemmschuh wird. – Verzeih’, wenn ich soeben ganz offen war. Aber ich halte es für besser, dir gehen bei Zeiten die Augen auf! Wie du dich hierbei durchkämpfst, ist jedenfalls allein deine Sache. Einen Rat kann ich dir nicht geben. – So – leb’ wohl! Ich bin heute zu Hause, falls du meiner noch bedarfst.“

Sie drücken sich die Hand, und Longreen schritt sehr langsam weiter.

Arnberg drehte sich einmal nach ihm um, sah, wie der Freund mit gesenktem Kopf wie einer, dessen Seele eine schwere Last trägt, dahinschlich. „Du wirst unsere Sache heute schlecht vertreten!“ dachte er. „Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle –“

Hella wartete bereits auf Longreen. Sie hatte sich in einen der Klubsessel auf der Diele gesetzt und regungslos wohl fünf Minuten vor sich hingebrütet. Ihre Stimmung war dadurch nicht besser geworden. Was Olaf bei ihr für stets rege Eifersucht hielt und wovor er sich fürchtete, war etwas ganz anderes, hatte wohl mit dieser selbstsüchtigen, einer gesunden Kritik nicht fähigen Regung eines mißtrauischen, liebenden Herzens etwas Verwandtes, entbehrte aber ganz jener entschuldbaren Bestandteile, die gerade die Eifersucht kennzeichnen.

Als Longreen eintrat, erhob sich Hella schnell, kam ihm entgegen. Sie war bereits vollständig zum Ausgehen angezogen. –

Die Begrüßung war von beiden Seiten kühl, ein matter Händedruck, wobei sie sagte: „Du hast dir sehr viel Zeit gelassen. Wir wollen ein Stück spazieren gehen.“

Er wieder war unsicher und scheu, verteidigte sich aber doch. „Zeit gelassen? Ich bin sofort aufgebrochen. Arnberg begleitete mich noch bis hierher.“

Sie durchschritt schon eilig den Vorgarten, sprach zu ihm nach rückwärts: „Arnberg – immer Arnberg! Er ist nur schuld daran, daß du –“ Sie beendete den Satz nicht. Aber ihre Stimme klang gereizt.

Es dämmerte bereits. Ein scharfer Nordwest wehte über den Grunewald hinweg, brachte kräftige Düfte des frühlingsfrohen Forstes mit.

Sie schlugen die Richtung nach Hundekehle ein. Mohrchen, der Pudel, hatte sich von selbst ihnen angeschlossen. Hella beachtete die Freudensprünge des hübschen, klugen Tieres nicht. Nur Longreen streichelte Mohrchen den zottigen Kopf, wenn der Pudel, eine Liebkosung erwartend, sich an ihn drängte.

Hella schienen es absichtlich darauf anzulegen, daß Longreen die Aussprache beginne. Der schaute sie, als sie beharrlich schwieg, verschiedentlich prüfend von der Seite an. Sein Künstlerauge freute sich über die feine Linienführung ihres Profils, aber sein Herz raunte ihm zu, nicht zu übersehen, wie feindselig gerade die Haltung ihres Kopfes war und was die zusammengepreßten Lippen verrieten.

Da quoll auch in ihm die Bitterkeit hoch. Er war ein guter Mensch, aber kein Schwächling. Er hatte Energie genug bewiesen in dem harten Kampf, den er durchhalten mußte, ehe er mit seiner Kunst, die sich keiner bestimmten Richtung anschloß, sich durchsetzte. Er fühlte heute vielleicht zum ersten Male deutlich, – und etwas wie Scham überkam ihn da, daß er Hella nur allzu sehr verwöhnt und daß sie diese seine Nachgiebigkeit und Herzensgüte nie recht gewürdigt, nur dazu benutzt hatte, ihn zu beherrschen. Ja, – Peter Arnberg hatte nur zu sehr recht mit seiner Bemerkung gehabt, sie paßten wirklich nicht zusammen, dieses verwöhnte, eigenwillige und eitle junge Weib und er, dem die Ideenwelt der Familie Renz etwas so ganz Fremdes war. Vielleicht hätte er Hella ändern können, vielleicht wäre es ihm gelungen, sie von ihren Fehlern und Schwächen zu befreien. Dazu hätte aber auf ihrer Seite eine große, starke Liebe vorhanden sein müssen, und bei ihm – die Fähigkeit, eine Frau erziehen zu können, – was ihm jedoch nicht gegeben war.

Hella bog jetzt rechts ab, auf den Fußweg zu, der hinter dem Restaurant Hundekehle erst ein Stück durch den Wald und dann am Seeufer entlangführt.

Ihr Schweigen bedrückte ihn nicht mehr, vermehrte nur seine Bitterkeit, die bald zu einem Gefühl heftiger Empörung wurde. Und dann, ganz plötzlich, kam es ihm über die Lippen, scharf und kalt, so daß sie zusammenzuckte:

„Möchtest du nicht endlich den Mund auftun! Du hast mich sprechen wollen – also bitte!“

„In dir scheinen das Schuldbewußtsein doch recht rege zu sein,“ sagte sie, sich schnell wieder fassend. „Sonst hättest du wohl längst von diesem Brief begonnen.“

„Der Ankläger fragt, nicht der Beschuldigte, zumal wenn der sich schuldlos fühlt!“

Hella war diesen herrischen Ton an ihm nicht gewöhnt. Sie wurde wieder ein wenig unsicher.

„Du kennst den Inhalt des Briefes?“ forschte sie tastend.

„Ich kann mir denken, was er an giftiger Lüge enthält. Die drei Weiber haben nichts Besseres zu tun, als sich um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern. Mich hassen sie, wie alle Menschen, die jung und lebensfroh sind, – dich auch. Nicht aus Mitgefühl ist dieser Brief entstanden, sondern aus dem Wunsche heraus, Unfrieden zu stiften, uns beide dadurch zu trennen.“

„Mag sein. – Wer war die weibliche Person, die du noch so spät nachts mit in dein Atelier nahmst, nachdem du sie – auf der Straße aufgelesen hattest?“ Sie versuchte es ihm gegenüber wieder mit jener etwas ironischen Überlegenheit, vor der er noch stets bisher kapituliert hatte.

Doch heute verfing dieses Mittel nicht.

„Wenn du bei diesem Tone beharrst, wird keine Verständigung möglich sein,“ sagte er kühl, indem er sich mit Gewalt zur Ruhe zwang.

„Ton – Ton?!“ fuhr sie auf. „Verlangst du vielleicht von deiner Braut, sie solle wehleidig um Auskunft bitten, weshalb ihr Herr Verlobter es für gut befand, weiblichen Nachtbesuch zu empfangen?“

„Ich verlange nur so viel Vertrauen von meiner Braut, daß sie sich sagt, es müssen doch schon ganz besondere Gründe für diesen – Nachtbesuch vorgelegen haben.“

„Diese Gründe will ich wissen. Ob ich ihre Stichhaltigkeit anerkennen kann, wird sich finden.“

„Du wirst sie anerkennen müssen,“ meinte er achselzuckend. Über ihn war mit einem Male eine große Ruhe gekommen. Das, was er getan, sah er jetzt erst in wahrem Licht. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. In seiner Erinnerung stand wie ein seltsames Bild ganz deutlich die rührend hilflose Gestalt des abgehetzten Weibes, der er Aufnahme gewährt hatte, klang eine logische Stimme, die zu ihm sprach: „Ich nehme an, einen Kavalier –“ – Sie hatte an den Ehrenmann sich gewand, und er hatte als solcher gehandelt, – nichts weiter.

Hella lachte auf. „Müssen?! – Du bist mir heute unverständlich. Dir scheint wenig daran zu liegen, daß ich dir verzeihe.“

„Verzeihen?! – Du vergreifst dich im Ausdruck. – Doch lassen wir dies Wortgeplänkel. Ich werde dir erzählen, was gestern nacht geschehen ist. Vorher aber muß ich deine feste Zusicherung haben, zu jedermann über diese Dinge zu schweigen. Versprichst du mir das?“

„Warum nicht? – Ich werde doch ohnehin nicht unter die Leute tragen, daß mein Verlobter mich – bloßgestellt hat.“

„Auf meine Person kommt es hier nicht an,“ meinte er. „Es gilt jemand anders vor Schaden zu bewahren, vor schlimmerem – als böswilligem Klatsch. – Also du sagst mir unbedingte Verschwiegenheit zu?“

„Ja doch – ja! – Du tust schrecklich geheimnisvoll.“

 

8. Kapitel.

Olaf verlangsamte seinen Schritt und begann damit, wie seine Gäste etwas sehr laut nach dem tollen Abend das Haus verlassen hätten, wie dann später die Fremde auf ihn zugekommen wäre. Das sprach er noch ohne Schwung, ohne innere Anteilnahme. Aber je lebendiger die Erinnerungen in ihm wurde, desto mehr erwärmte er sich an diesen merkwürdigen Geschehnissen.

Hella brauchte nichts zu fragen. Er vergaß keine Einzelheit, nichts, erzählte dann von dem Besuche des Wachtmeisters Schöttler, von Peter Arnbergs überraschend schlauem Eingreifen, um dem Beamten die Wahrheit zu verheimlichen, und schließlich auch von dem etwas rätselhafte ausklingenden Liebesroman des Freundes.

Erst hier warf Hella eine Bemerkung ein.

„Ah – ich weiß schon,“ sagte sie wieder mit deutlicher Ironie, „man hat ja damals in Berliner Gesellschaftskreisen genügend diese Verirrung durchgehechelt und belächelt. Eine Buchhalterin?! Weswegen so viel Wesens zu machen. Arnberg mit seinen Millionen wird jeden Tag wieder ein ebenso hübsches Mädel haben können.“

„Schweig!“ schnitt er ihr jedes weitere Wort ab. „Schweig! Du verunglimpfst ein Geschöpf, das meinem Freunde noch heute teuer ist, wenn er auch – nein, erst sollst du alles hören. Ich fürchte nur, Arnbergs Hoffnung, daß gerade du als Weib für diese Unglückliche – und das ist sie sicher! – Mitgefühl haben würdest, dürfte eitel sein.“

Er schaute sie prüfend von der Seite an. Doch sie schwieg, blickte geradeaus. Ihren Gesichtsausdruck vermochte er nicht mehr genau zu erkennen.

„Käti Marla,“ fuhr er fort, „war in der Arnbergschen Fabrik bereits einen Monat Buchhalterin, als Peter auf sie aufmerksam wurde. Auch nicht auf eine alltägliche Weise. Sie kam sich bei ihm über die Zudringlichkeit eines der Angestellten zu beschweren. Er war überrascht, eine vollkommene Dame und – eine Schönheit von großem Liebreiz vor sich zusehen, dazu noch, wie er dann von ihr erfuhr, ein Mädchen aus guter Familie. Der Vater, Oberregierungsrat, hatte wegen Krankheit sich pensionieren lassen müssen. Die Mutter, seit Jahren kränklich, stets in Behandlung von Autoritäten und zur Kur in Bädern, kostete mehr, als die Familie aufbringen konnte, zumal noch ein Sohn da war, der als Assessor ebenfalls Zuschuß brauchte. Aus Not, aber auch aus Pflichtgefühl half Käti Marla verdienen. Die Stellung bei Arnbergs war ihre dritte. Zweimal hatte sie kündigen müssen, da es leider nur zu viele Rohlinge unter den Männern gibt, die jedes berufstätige schöne Weib als leichte Beute betrachten. Nun – an Peter fand sie sofort einen sehr energischen Verteidiger. Jener Angestellte flog – und zwar noch an demselben Tage. Mein Freund aber hatte erfahren, daß es tatsächlich das gibt, was man Liebe auf den ersten Blick nennt. – Ich will mich kürzer fassen, kenne die Entwicklung dieser Liebe auch nicht näher, weiß nur, daß Peter nach drei Wochen entschlossen war, sich mit Käti Marla zu verloben. Er hatte sie oft nach Hause begleitet – der Oberregierungsrat wohnte in Spandau – aber von der Familie noch niemanden sonst kennen gelernt. Da, als er eingesehen hatte, daß die Marla für ihn die Frau war, die ihm ein ganzes Lebensglück, eine harmonische Ehe, mehr noch, eine innige Kameradschaft versprach, merkte er eines Tages eine auffallende Änderung in ihrem Wesen, eine scheue Traurigkeit, ein tiefes seelisches Bedrücktsein. Und dieser Zustand verschlimmerte sich zusehends. Bald begann sie ihm sogar auszuweichen, auch kühler, zurückhaltender zu werden. Noch war das entscheidende Wort von seiner Seite nicht gefallen. Aber sie mußte wissen, daß er sie liebte, daß er um sie warb mit Zartheit und Achtung, wie eben ein Mann in seiner Stellung nur der Frau begegnet, die er zu heiraten gedenkt.

Der arme Peter hat mir erzählt, wie nahe es ihm ging, als er sah, daß Käti Marla ihm immer mehr entglitt, daß alles Bitten und Flehen seinerseits, sie solle sich ihm doch anvertrauen, vergeblich blieb und nur den Erfolg hatte, daß sie sich noch ängstlicher in sich zurückzog wie eine Schnecke in ihr Häuschen. Trotzdem nahm er sie eines Tages in seine Arme, gestand ihr seine Liebe, küßte die sich zuerst noch schwach Wehrende, wurde wieder geküßt, schaute für eine köstliche Viertelstunde in glückstrunkene, große, dunkle Augen, fühlte, daß ihr Herz ihm ebenso restlos gehörte wie ihr das seine. Und dann kam plötzlich das Seltsame, Unfaßbare. Sie hatten in einer Efeulaube des Gartens hinter dem Direktionsgebäudes gestanden, an einem kühlen Herbstabend war’s gewesen. Plötzlich aus der Ferne ein Pfiff, ein gellender, die Luft zerreißender Pfiff, sechs Töne, wahrscheinlich der Anfang eines Marsches oder dergleichen, meint Peter. Da war Käti Marla aufgefahren, hatte gelauscht mit vorgestrecktem Kopf. Nochmals der Pfiff – genau dieselben sechs Töne. Und das Mädchen hatte zu zittern begonnen, hatte den Geliebten von sich gedrängt. „Es darf nicht sein – nie – niemals, vergiß mich!“ stammelte sie halb von Sinnen – und floh – floh wie ein gehetztes Reh. Er wollte ihr nach. Da – abermals derselbe Pfiff. Er kam von links her, von dort, wo der Garten an die Straße grenzte. Peter stürmte mit langen Sätzen vorwärts, nicht dem Mädchen nach, nein, – er wollte feststellen, wer dieses Signal gegeben, dieses Zeichen, das auf Käti eine derartige Wirkung gehabt hatte. Der Zaun war ein Eisengitter. Nur wenig Strauchwerk stand davor. Und Arnberg bemerkte undeutlich in der Dämmerung die Gestalt eines Mannes, nein, eines Herrn, der auf ein Auto zulief. Noch ehe mein Freund das Gitter überklettert hatte, hastete eine zweite Gestalt auf den Kraftwagen zu, – Käti Marla! Und gleich darauf sauste das Auto davon. –

Am nächsten Morgen erhielt Peter einen Brief, einen sehr merkwürdigen Brief, ein Stück braunes Packpapier, das mit Stearin zugesiegelt war. Auf dem braunen Papier stand nur, mit Bleistifte geschrieben „Lebewohl für immer! Ich werde dich nie vergessen!“ – Sonst nichts! Keine Unterschrift, keine Anrede, kein Datum. Aber in diesem Briefe hatte eine Visitphotographie gelegen, die Käti Marlas; und auf der Rückseite war eine Widmung: „Dir, dem Glück einer Viertelstunde, und doch – meines Lebens!“ – So endete dieser Roman.“

Olaf Longreen schob den Hut aus der Stirn. Ihm war warm geworden. Er sah wieder Arnbergs verzweifeltes Gesicht vor sich, dessen vor Erregung flackernde Augen, als Peter ihm all dies anvertraut hatte. Und das Mitgefühl brannte in ihm jetzt wie ein eigener großer Schmerz.

Da sagte Hella eins, und in ihrer Stimme war jene Färbung, die ihn heute schon ein paar Mal empört hatte:

„Ganz interessant! Sie ist eben ein wenig vielseitig gewesen! Der Pfiff, – nur ein sehr guter Bekannter konnte sich davon doch die Wirkung versprechen, die ja auch eintrat.“

Olaf war stehen geblieben, hatte ihr den Weg so plötzlich vertreten, daß ihre Körper zusammenprallten.

Mit leisem Angstschrei wich sie zurück. Sie fürchtete, er würde sich auf sie stürzen. Seine geballte Rechte schwebte über ihr, sank aber sofort wieder herab.

„Du – du!“ stieß er hervor, schwieg, schaute wie erwachend um sich und sagte rauh:

„Komm!“

Und Hella Renz gehorchte wortlos. In ihr war nur ein großes Staunen. War das noch Olaf Longreen? – Nein – nein! Das war ein anderer, einer, der – ihr imponierte!

„Ist das alles gewesen, was du auf meine Erzählung zu erwidern wußtest?“ fragte er dann kalt. „Es verrät nicht gerade viel Herz, wenn du ein Weib schmähst von deren Charakter du nichts Nachteiliges erfahren hast. – Doch – lassen wir dies! Es dürfte nicht lohnen, gerade mit dir über Gefühlsdinge zu sprechen.“

Sie zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen, begehrte auf: „Du – du bist roh –!“ Aber er fiel ihr ins Wort:

„Die Wahrheit verträgt selten jemand. – Der Roman ist noch nicht ganz Ende. Ich will dir auch noch den Schluß erzählen, den vorläufigen Schluß. –

Peter Arnberg begab sich mittags in die Wohnung des Regierungsrates Marla. Der Assessor Robert Marla empfing ihn, sehr höflich, sehr kühl. Auf meines Freundes Frage nach Käti erhielt er die Antwort: „Ich habe keine Schwestern mehr. Meine Mutter liegt dort drinnen“ – er wies auf das Nebenzimmer – „auf den Tod. Meine Eltern haben Käti verstoßen.“ –

Peter hat dann Tausende ausgegeben, um die Geliebte wiederzufinden, um dieses Geheimnis ihres Verschwindens aufzuklären. Das beste Detektivinstitut war für ihn tätig. Aber auch nicht die Spur eines Erfolges – nichts – nichts! Nur etwas wurde festgestellt, daß eine geheime Macht, wahrscheinlich eine ganze Menge von Eingeweihten, den Angestellten jenes Ermittlungsbureaus entgegenarbeitete, alle Nachforschungen vereitelte, alle Schritte durchkreuzte. – Nach einem Jahre hat Peter dann diese fruchtlosen Versuche aufgegeben. Und seit mehr als drei Jahren war Käti Marla für ihn eine Tote, bis sie dann heute in der verflossenen Nacht wieder auftauchte, unter ebenso geheimnisvollen Umständen, – wie ein flüchtiges Nebelgebilde, das die nächtliche Kühle dem Boden entlockt und der Morgenwind wieder zerflattern läßt. – Seltsame Menschenschicksale habe ich dir gezeigt, Hella. Mehr hinzuzufügen weiß ich nicht. Nur das eine, schweige, wenn du nicht willst, daß zwischen uns sich eine Scheidewand aufrichtet, die sich dann nicht mehr wegräumen läßt.“

Stumm schritten sie weiter. –

Hella Renz, jetzt des Glaubens, daß die emporgereckte Faust nur eine Augenblickserscheinung gewesen, nur eben ein einmaliges Aufflackern eines ihm sonst fremden Herrengelüstes, überlegte, wie sie ihre halb und halb verlorene Stellung ihm gegenüber zurückgewinnen könnte. Vorhin hatte sie daheim in der Zeitung einen langen Artikel über Olaf Longreen neuste Schöpfung, über die ihm verliehenen Auszeichnungen und die versteckte Andeutung gelesen, daß eine Berufung als Professor an die Kunstakademie eines Bundesstaates nahe bevorstehe. Die Freude, der Stolz über diese Anerkennung des Schaffens ihres Verlobten waren jedoch durch den Brief der Amanda Biedermeier nur zu schnell wieder verdrängt worden. Jetzt dachte sie an diesen Artikel, an ihre Jugend, an die Zukunft. Und lockend klang ihr im Ohr: „Frau Professor Longreen –“

Nein – Sie wollte ihn nicht verlieren. Reichtum, Adel, hohes Beamtentum, über allem stand doch der freie Künstler! Und der sollte ihr gehören – mußte, mußte!

Die Seepromenade lag hinter ihnen. Sie schritten an der gemauerten Böschung des Bahndammes entlang.

„Olaf, ich werde schweigen,“ begann sie leise. „Ich sehe ein, daß ich vorhin häßlich war. Aber – sieh, in mir lebt eine so wilde Eifersucht auf jeden, der dir nahesteht, – auf Peter Arnberg, der mich arm macht, weil er – dein Freund ist. Du sollst ganz allein mein sein – ganz, ganz –!“

„Heißt das, ich soll Peter aufgeben um deinetwillen?“ fragte er, und Mißtrauen lag in seiner Stimme.

„Nein! Nur du wirst es müssen, denn wir werden in vier Wochen heiraten. Nachher werde ich nicht mehr eifersüchtig sein, wenn wir von Norwegen im Herbst zurückkehren, dann bist du mein – bleibst es, dafür bin ich – Weib genug.“

Wieder war er plötzlich mit kurzer Wendung vor sie hingetreten.

Heiraten – in kurzem! Sie liebte ihn doch! Brauchte er einen besseren Beweis?! Sie wollte ihn für sich haben – ganz – ganz! So hatte sie gesagt. Er glaubte sie jetzt besser zu verstehen als je. Es war doch bei ihr nur diese krankhafte Liebessehnsucht gewesen, aus der das andere entsprang.

Er griff nach ihren Händen. – Es war inzwischen dunkel geworden, die Straße völlig einsam.

„Und deine Eltern, deine Mutter, Hella?“ fragte er zaghaft mit pochendem Herzen.

„Sie werden einwilligen müssen,“ meinte sie selbstbewußt. „Ich bin ihr einziges Kind, und Papa ist ja leicht umzustimmen –“

„Aber deine Mutter –“

„Überlass mir das nur, Olaf. Wir werden in vier Wochen Hochzeit feiern, so wahr ich nur dich liebe!“

Er riß sie förmlich in seine Arme, küßte sie immer wieder, wie sie sich losmachte und mit einem verwirrenden Lächeln sagte:

„Du großer Tor! Haben wir’s daheim bei uns im Musikzimmer nicht behaglicher?“

Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, gingen sie der Königsallee zu.

Er sprach nur noch von Norwegen, das er mehr liebte als den sonnigen Süden, daß er besser kannte als die Rivieraküste; von der Haukeli-Sennhütte in Telemarken mitten auf steinigem, schneeverwehtem Hochplateau, wo im Juli die eisernen Öfen brennen, wo es herrlich einsam ist, von einem Stübchen, – von der rosigen Zukunft.

Hellas Augen strahlten. Er nahm’s für den Widerschein seines eigenen Empfindens. Und es war doch nur Triumph.

Du großer Tor.

*

Almeida Shoost stand mit dem Kommerzienrat gerade in der Vorhalle, als das Brautpaar zurückkehrte.

Longreen kannte den Engländer bereits. Die beiden Herren verbeugten sich sehr knapp voreinander, dann suchte Shoost sofort Hella mit Beschlag zu belegen.

„Ich habe Ihrem Vater soeben den Vorschlag gemacht, den Kamin dort vergrößern zu lassen,“ sagte er, sie scharf musternd. „Er soll für Buchenkloben eingerichtet werden, wie auf den schottischen Herrensitzen. Und Felle fehlen hier, dicke Bärenfelle. Ich kenne eine Lady Wyngrave, die ihre Gäste nur auf der Diele empfängt.“ Er sprach wieder englisch. Er wußte, daß Longreen sich ärgern würde.

Doch Hella erwiderte deutsch, indem sie sich halb an Olaf wandte:

„In Schottland mag das Mode sein, Master Shoost. Hier würde man damit nur Anstoß erregen. Nicht wahr, Olaf?“

Er nickte nur. Und sie hängte sich wieder in seinen Arm. „Komm’, ich spiele dir aus Wagners Walküre vor. Es ist deutsche, rein deutsche Musik; es ist deutscher Geist in ihr.“ Das galt Shoost, dem Wagnerhasser, den sie abschütteln wollte.

Der Engländer verzog den Mund kaum merklich.

„Dürfte ich Sie noch um eine kurze Unterredung bitten, Miß Hella?“ bat er, wieder auf englisch.

„Ich bedaure. Ich habe Olaf versprochen, ihm vorzuspielen. Und wichtiges kann es kaum sein, was wir beide zu sprechen hätten. Außerdem, ich gebrauche meine Muttersprache, und Sie als unser Gast müßten so viel Rücksicht nehmen, hier ebenfalls sich des Deutschen zu bedienen.“

Jetzt lächelte Almeida Shoost und meinte:

„Gewiß – ganz recht! – Trotzdem bitte ich um eine kurze Unterredung.“ Er sprach deutsch. „Für mich handelt es sich dabei um eine wichtige Sache,“ fügte er hinzu.

„Gut denn. – Papa und Olaf, – ihr geht wohl voraus ins Musikzimmer.“

Die beiden Herren verschwanden. Hella nickte Olaf noch verheißungsvoll zu.

Shoost beobachtete sie, ohne sich Mühe zu geben, dies zu verbergen.

„Bitte, Master Shoost. – Was wünschen Sie?“

„Sie scheinen sich auf dem Spaziergang sehr gut unterhalten zu haben, Miß Hella. Sie sind so frisch, so angeregt. So gefallen Sie mir noch besser als sonst.“

Hella ging nach der Flurtür zu, drehte sich hier um und sagte kalt: „Ich habe mir diesen Ton oft genug verbeten. Wenn das alles ist, was Ihnen auf der Seele brennt, kann ich ja wohl wieder Olaf aufsuchen.“

Da sagte er kurz: „Geben Sie mir das von mir in der Zerstreutheit zurechtgeknetete Brotherz zurück. Sie haben das Messerbänkchen nur fallen lassen, um es sich anzueignen. Vielleicht hofften Sie, darin eingedrückt, andere Buchstaben zu finden.“

Hella wurde rot, kam langsam auf ihn zu.

„Ich – ich habe das Herz nicht genommen,“ meinte sie sehr von oben herab, ohne doch ganz den Ton zu treffen. „Fragen Sie den Diener, der den Tisch abgeräumt hat. Vielleicht hat Friedrich es weggeworfen.“

Er lächelte unverschämt.

„Wenn eine Dame mir das sagt, muß ich es wohl glauben. – Ich werde also den Diener in Gegenwart Ihres Verlobten fragen.“

Sie verstand die Drohung. Wenn Olaf hörte, daß sie auf solche Weise das Brotherz an sich gebracht hatte, würde das wieder eine Mißstimmung geben, würden vielleicht neue Zweifel in ihm aufsteigen, zumal sie Shoost stets schon gewisse Freiheiten eingeräumt hatte. –

Aber etwas Gutes hatte diese Drohung doch, sie öffnete ihr die Augen über den wahren Charakter des Engländers, den sie bisher stets für einen Gentleman gehalten hatte.

Sie sah die Gefahr, und sofort wußte sie auch ein Mittel, sie zu beseitigen, zum mindesten abzuschwächen.

„Weshalb liegt Ihnen so viel an diesem – diesem Dinge?“ fragte sie achselzuckend. „Ich begreife das nicht recht.“ Sie tat die Fragen nur, um Zeit zu gewinnen, damit sie sich das weitere genau überlegen konnte.

Er zögerte mit der Antwort etwas. Sie sah, daß er nach einer Erklärung suchte.

Dann sagte er, ihr fest in die Augen blickend: „Es soll ein Andenken sein an die einzige Deutsche, die es verdiente, Engländerin zu werden. Sie allein, Miß Hella, stehen über dem Durchschnitt der Frauen, die ich hier kennen gelernt habe. Bei allem überwiegt das Gefühl die Zweckmäßigkeit. Gefühl ist Ballast. Sie haben davon nur gerade genug, um dadurch Weib zu bleiben. Wir sind daher auch verwandte Naturen, Sie und ich. Mit Ihnen kämpfe ich gern, ebenso wie ich Sie gern die meine nennen möchte.“

Hella wurde verwirrt. Sie fühlte, wie gut er sie durchschaute. – Verwandte Naturen! Wenig Gefühl, dafür als Ersatz kühle Berechnung. Ja, so war sie. Sie wußte es nur zu gut. Sie hatte ja eben noch mit dieser Waffe gesiegt – dort am Bahndamm der Grunewaldstrecke. –

Dann ein anderer Gedanke. Er hatte soeben gelogen, Ausflüchte gesucht, dieser schlaue Master Shoost. – Gut – verwandte Naturen! Er sollte auch sie im Kampfe prüfen können.

„Ein Andenken?!“ sagte sie gelassen. „Und dabei sind nicht einmal die Anfangsbuchstaben meines Namens in das Herz gedrückt?! Sie haben also an jemand anders gedacht, als sie spielend das Herz formten. Und dann – ein Andenken an mich?!“ Sie lächelte spöttisch.

Ah – er wurde jetzt auch verlegen. Nur einen Moment, senkte die Augen, hob sie aber schnell wieder und erwiderte:

„Es gibt ein italienisches Volkslied, das ich in Genua gehört habe. Kara mia Anita beginnt es. Für mich sind sie seit langem Kara mia – mein teures Lieb. Und stets dachte ich nicht an Sie als an Hella Renz, sondern an Kara mia – daher die Buchstaben.“

Er log abermals – und ungeschickt.

„So?! Kara mia?!“ meinte sie. „Ihre italienischen Sprachkenntnisse sind nicht sehr berühmt! Der Italiener hat nur den Buchstaben C, nicht K. – Doch – wozu soll ich weiter um eine belanglose Sache Worte verlieren. – Gut – ich habe das Herz. Sie sollen es morgen zurückerhalten.“

„Oh!“ Er forschte in ihren Zügen fast mißtrauisch. „Warum nicht sofort? – Ich möchte es gleich wieder haben, – auf der Stelle.“

„Es ist in meinen Schreibtisch eingeschlossen. Soll ich erst die Treppe steigen, nur weil Sie einer Laune nachgehend nicht bis morgen warten wollen?“ Diese Bemerkung war Absicht.

Und – Almeida Shoost ging in die Falle.

„Ich bedaure, Ihnen die Mühe machen zu müssen. Es ist ein Andenken – gleichgültig ob C oder K.“

Sie lächelte ihn kokett an – wie noch heute nachmittag.

„Und wenn ich Sie nun bäte, das Herz mir zu belassen?“ sagte sie leise.

„Nur unter einer Bedingung,“ erwiderte er schnell. „Ich will es Ihnen wiedergeben, Miß Hella, es vorher aber fassen lassen – in Gold!“

Er war ihr nähergekommen. Sie standen jetzt dicht zusammen. Sie sah das heiße Flimmern in seinen Augen. Er war nicht gleichgültig ihr gegenüber. Jetzt spielte er nicht Komödie, was seine Empfindungen anbetraf. Aber das andere konnte eine Finte sein. Und so erklärte sie achselzuckend:

„Erhöht die Einfassung den Wert? – Für mich kaum. Ich möchte das Herz so behalten, wie es ist.“

Er trat zurück. „Dann holen Sie es mir bitte – sofort!“

„Gut. Aber ich hätte mehr Entgegenkommen von Ihnen erwartet.“ Sie zögerte noch davonzugehen.

Aber Shoost ließ sich wortlos in den nächsten Sessel fallen, streckte die Beine weit von sich.

Da wandte sie sich um, verließ die Diele.

In ihrem Zimmer im ersten Stock nahm sie das plumpe Stück Brotkrume, das schon ganz hart geworden war, schaute es nochmals an und reichte es dann nachher dem Engländer mit einem kurzen:

„Bitte – da haben Sie Ihren Willen!“

Dann ging sie wieder hinaus, ließ ihn ohne weiteres allein.

In dem Kamin brannte ein schwaches Kohlenfeuer. Shoost nahm den Schürhaken, fachte die Glut an und warf das zerbröckelte Herz in die aufflackernde Lohe.

Als er sich wieder aufrichtete, lag ein ironisches Grinsen um seinen brutalen Mund.

Hella, die hinter der Glastür gestanden und ihn beobachtet hatte, huschte davon.

 

9. Kapitel.

Albert Munkel hatte die Haustür hinter Longreen und Arnberg wieder ins Schloß gedrückt und die Sicherheitskette vorgelegt.

Langsam ging er in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und nahm seine Notizen über den Autounfall vor, trug das nach, was die beiden Herren ihm soeben über den Besuch Käti Marlas und des Wachtmeisters Schöttler bei Longreen mitgeteilt hatten, las das Ganze sorgfältig durch, machte noch hie und da Ergänzungen und ging dann durch den Hintereingang in dem Garten, nachdem er die eng beschriebenen Blätter in einem kleinen Koffer mit Patentschloß sicher untergebracht hatte. Die Mielke und die Anna waren ja die verkörperte Neugier.

Im Garten befreite er die Rosenstöcke von den Winterhüllen. Dabei ließ sich so gut nachdenken. Und nachdenken mußte Munkel. Es galt einen Feldzugsplan zu entwerfen. Seinem Herrn Leutnant mußte geholfen werden! Er sollte Käti Marla wiederhaben. –

Jetzt handelte es sich also nicht nur lediglich um die Pflicht, das wieder gut zu machen, was sein Herr durch das Verheimlichen seiner Beobachtungen, eben jener vier Punkte, sozusagen verschuldet hatte, – jetzt ging es um das Glück zweier Menschen!

Und der lahme Mann mit dem Eulengesicht sann und sann. Jede Einzelheit dieser geheimnisvollen Mordtat prüfte er von allen Seiten. So kam er auch auf das, was der Chauffeur des Herrn von Mingel ihm bei der armen Frau Lamka erzählt hatte, – wie Anton Lamka weggerufen worden war und wie die beiden dann mit dem Auto davongefahren wären.

Munkel war jetzt im Vorgarten tätig. Gerade vor der Arnbergschen Villa hackten zwei Männer das Asphaltpflaster auf. Das Klopfen störte den Diener. Er schaute erst einmal hin, dann nochmals.

Merkwürdig – jetzt um fünf Uhr nachmittags begannen die Leute mit einer Pflasterreparatur?! Und, da hatten sie sich wahrhaftig sogar einen jener Werkzeugwagen mitgebracht, die wie fahrbare Häuschen aussehen. Das konnte ja nett werden! Diese Hämmerei vielleicht tagelang, und dann der Gestank des geschmolzenen Asphalts nachher.

Munkel trat an die Gartenpforte und rief die Leute an.

„He – haben Sie hier lange zu tun?“

„Bis wir fertig sind,“ erwiderte der eine.

„Grobian!“ brummte Munkel.

Ein sehr wohlgenährter Straßenaufseher der Gemeinde Grunewald kam auf dem Rade vorüber, nickte Munkel zu, stieg ab und trat an die beiden Arbeiter heran.

„Nanu, wer hat denn euch hergeschickt?“ fragte er kopfschüttelnd. „Ich kenne euch ja gar nicht. Und ebenso wenig weiß ich was davon, daß hier –“

Der eine der Leute hatte ihm schnell etwas zugeflüstert.

Albert Munkel war nur noch an der Pforte stehen geblieben, weil er den ihm persönlich bekannten Aufseher fragen wollte, wie lange diese Belästigung durch die Reparatur dauern würde. Er hatte jedes Wort gehört, was dort auf dem Fahrdamm gewechselt wurde, sah jetzt auch, daß der eine Arbeiter einen Zettel hervorholte und dem Aufseher zeigte.

Als der Dicke dann weiterradeln wollte, rief er ihm zu:

„He, Herr Aufseher – einen Augenblick! – Das scheint ja eine langwierige Ausbesserung werden zu wollen, wie?“

„Freilich – freilich! – Ich habe wenig Zeit. – Auf Wiedersehen!“

Der Dicke verschwand, und Munkel kehrte sehr nachdenklich zu seinen Rosen zurück.

Fünf Minuten später stand er an einem der Vorderfenster hinter den Tüllvorhängen und beobachtete die beiden Arbeiter, die ganz offenbar zu den allerfaulsten ihrer Berufsklasse gehörten. Vorhin, als Munkel im Vorgarten war, hatten sie etwa ein Quadratmeter Asphalt an der Bordschwelle gegenüber aufgehackt. Jetzt standen sie nur herum, rauchten jeder eine Zigarre und unterhielten sich.

Munkel bemerkte seinen Herrn, der langsam die Straße entlanggeschlendert kam.

Er ging die Sicherheitskette entfernen, kehrte dann aber sofort auf seinen Beobachtungsposten zurück. So konnte er feststellen, daß sich zu den zwei Arbeitern jetzt ein dritter gesellte, eifrig mit ihnen sprach und dann nach dem Bahnhof Halensee zu verschwand.

Gleich darauf sagte Munkel zu Peter Arnberg:

„Herr Leutnant, ich glaube beinahe, die Kriminalpolizei bewacht unser Haus. Wir wollen doch mal die Probe aufs Exempel machen. Herr Leutnant könnten mal sehr eilig vielleicht bis zum nächsten Briefkasten in der Bismarckallee gehen und so tun, als ob ein Brief zu befördern wäre.“

„Ich verstehe,“ nickte Arnberg.

Die Probe ergab, daß einer der beiden Arbeiter dem Millionär von weitem folgte, nachher aber wieder zurückkehrte. –

Arnberg lobte seinen braven Munkel. „Ich sage ja, Sie sind eine Perle! Also nur weil der dicke Aufseher die Leute so merkwürdig befragte und nachher so verlegen wurde und so hastig davonradelte, kam Ihnen die Geschichte faul vor?! Ich glaube, mir wäre das entgangen.“

Das Eulengesicht lächelte bescheiden, wurde aber schnell wieder ernst.

„Warum hat man uns unter Bewachung gestellt?“ meinte Munkel grübelnd. „Ehrlich – die Sache gefällt mir gar nicht! Ich muß herauskriegen, wem das gilt, Herrn Leutnant oder mir.“

„Doch nun mir. – Weshalb Ihnen?“

„Weil ich bei der Lamka war. Kann man wissen, ob die Frau nicht schon beobachtet wurde und ob mir nicht ein Beamter bis hierher gefolgt ist?“

„Hm – nicht ausgeschlossen! Das wäre sehr unangenehm. Sie hinken, lieber Munkel, und der weißbärtige Herr Hennig hinkte natürlich auch. Hoffentlich haben die beiden Aufpasser draußen nicht schon gesehen, daß Sie lahm sind. Sie haben sich doch im Vorgarten eine ganze Weile bewegt.“

„Donner noch eins, wahrhaftig, – dann wäre ich bereits entdeckt, dann wüßten die Beamten, daß ich den alten Herrn gemimt habe. – Fatal, sehr fatal!“

Peter Arnberg ging unruhig hin und her.

„Die Geschichte wird ungemütlich, lieber Alter,“ meinte er. „Finden Sie nicht auch? – Was tun wir nur? Uns ist ja jetzt jede Bewegungsfreiheit genommen.“

„Die Anna ist noch nicht zurück, Herr Leutnant, und die Mielke vorhin ausgegangen,“ sagte er hastig. „Ich werde – verreisen! Herr Leutnant müssen mir dann eben allein die ganze Arbeit überlassen.“

Nach einigen Einwendungen Arnbergs, die Munkel schnell zu zerstreuen wußte, und genauen Verabredungen über die Art und Weise, wie sie sich Nachricht zukommen lassen wollten, machte der Diener sich zum Ausgehen fertig, packte seinen Handkoffer und verließ die Villa. –

Bald hatte er festgestellt, daß niemand ihm folgte. Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte er den Aufpasser schon irregeführt. Jedenfalls war jetzt erwiesen, daß seine Vermutung nicht stimmte. Nicht ihm, sondern Arnberg galt die Pflasterreparatur. Somit hatte die Polizei ihm auch noch nicht im Verdacht, daß er der Wohltäter der Lamka gewesen war.

Auch Peter Arnberg hatte vom Fenster aus bemerkt, daß die beiden Arbeiter Munkels zwar scharf aufs Korn nahmen, daß aber keiner von ihnen dem treuen Menschen nachschlich. Und Arnberg zog hieraus genau denselben Schluß, zu dem auch Munkel gekommen war, ihm selbst galt die Überwachung, nur ihm allein!

Diese Überzeugung trug nicht gerade dazu bei, seine Stimmung günstig zu beeinflussen. Ein Glück, daß er wenigstens noch Alarich, den Dobermann, bei sich hatte. Sonst wäre es ihm in dem leeren, stillen Hause wohl bald unheimlich geworden.

Peter Arnberg zog die Vorhänge zu und knipste die Stehlampe auf dem Schreibtisch an, suchte sich Käti Marlas Bild heraus, das sie ihm damals in dem braunen Packpapierbrief geschickt hatte, und vertiefte sich in die geliebten Züge des rassigen, feinen Gesichts.

Alarich lag unter dem Schreibsessel, träumte und winselte dabei zuweilen.

Der junge Millionär drehte das Bild um. Da stand mit Bleistift – wie oft hatte er die Worte nicht schon gelesen! –:

Dir, dem Glück einer Viertelstunde, und doch – meines Lebens!

Arnberg seufzte tief auf. – Wo mochte Kati jetzt sein, – wo, und wo war sie diese drei Jahre gewesen?! Vielleicht gehörte sie bereits einem anderen Manne! – Doch nein – hätte sie sonst sein Bild aus Longreens Atelier mitgenommen, wenn sie ihn nicht mehr liebte?!

Im Anschaun des treuen Antlitzes überkam ihn eine große Ruhe. Er würde sie finden! Auf nichts sollte es ihm ankommen, um zum Ziel zu gelangen.

Und wie vorhin Munkel begann nun auch er die letzten Ereignisse kritisch in Gedanken durchzugehen.

Dabei fiel ihm ein, ob es nicht vielleicht zweckdienlich wäre, einmal den Bruder Kätis aufzusuchen, der, wie er wußte, jetzt Rechtsanwalt war. Ebenso war ihm bekannt, daß die Frau Oberregierungsrat bald nach Käthis Verschwinden gestorben und ihr Gatte verzogen war – irgendwohin nach der Rheinprovinz.

Er suchte im Adreßbuch nach dem Bureau Robert Marlas. Der war mit drei anderen Anwälten assoziiert – Taubenstraße 18, 2, Telephon C612.

Nachdem er dies festgestellt hatte, läutete er bei dem Kommerzienrat Renz an, bat Longreen an den Apparat und sagte ihm, er solle nicht vor neun Uhr zu ihm kommen.

„Sonst was Neues, Olaf?“ fragte er noch.

„Ja. Darüber besser mündlich. Vielleicht komme ich etwas später. Erwarte mich aber auf jeden Fall.“

Inzwischen war Frau Mielke nach Hause gekommen. Arnberg bestellte das Abendrot für neun Uhr und verließ das Haus.

Nun galt es den Verfolger unauffällig los zu werden. Daß einer der Arbeiter ihm nachging, war unschwer herauszufinden.

Doch auf dem Kurfürstendamm kannte er ein Haus mit einem zweiten Ausgang nach der Bornimer Straße. Daran dachte Arnberg jetzt. Und wenige Minuten später hatte er den Aufpasser abgeschüttelt, lachte sich ins Fäustchen, nahm ein Auto und fuhr nach der Tauentzienstraße.

Auf der Treppe – er prallte förmlich zurück! – begegnete ihm ein blondbärtiger Herr – Munkel!

„Aber, lieber Alter – wo kommen Sie her?“ Und er reichten Munkel die Hand und drückte so kräftig, daß das Eulengesicht sich schmerzhaft verzog.

„Von ihm,“ flüsterte Munkel vielsagend. „Wollten Herr Leutnant auch dorthin?“

„Wenn Sie Robert –“

„Pst – pst! – Ich weiß schon!“

Auf der Straße schlugen sie die Richtung nach dem Tiergarten ein.

Und Munkel erzählte:

„Meinen Koffer habe ich in der Gepäckaufbewahrung des Friedrichstraßenbahnhofs vorläufig abgegeben. Der Gedanke, den Anwalt aufzusuchen, war mir schon in meinem Zimmer gekommen. Aber – als Munkel durfte ich nicht zu ihm. Ich ging also nach dem Zirkus Schumann, wo mein früherer Kollege Lork seit einem Jahr Manegenklown ist. Er war zum Glück schon in der Garderobe. Ich band ihm ein Märchen auf, und er half mir dabei, mich in diesen würdigen blonden Herrn zu verwandeln. Bei Robert Marla ließ ich mich dann als Hausbesitzer Meier aus Stettin melden. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, wurde ich vorgelassen. Ich bat Robert Marla um eine Auskunft, deren Inhalt ich mir vorher genau zurecht gelegt hatte. Fünf Mark hat die Sache gekostet. Wert ist sie tausend. Wenigstens das, was dann kam. Als ich nämlich die Tür schon wieder in der Hand hatte, drehte ich mich nochmals um und rief: „Bei Gott, Herr Rechtsanwalt, – nun hätte ich bald vergessen, daß ich Ihnen noch was bestellen sollte, – von einer Dame, die ich im Flur traf, unten im Hausflur. Sie bat mich, ich möchte Ihnen doch sagen, daß Sie um halb neun im „Siechen“ am Potsdamer Platz sein sollen. Sie nannte nur Ihren Vornamen, die Dame, Katharina, und meinte, sie wüßten schon Bescheid“!“ –

„Großartig gemacht, Munkel, – glänzend! – Weiter, weiter! Ich bin gespannt wie – wie –“

„– wie ich selbst es war, welchen Erfolg die List haben würde!“ ergänzte das Eulengesicht vergnügt. „Also weiter. – Bei dem Namen Katharina schnellte Robert Marla ein Stück von seinem Schreibtischstuhl hoch, wurde bleich. Ich tat, als bemerkte ich es nicht, fügte aber noch hinzu: „Also um halb neun im „Siechen“, Herr Rechtsanwalt. Guten Abend!“ – „Halt einen Augenblick!“ rief er mir nach. „Wie sah denn die Dame – nein, nein, ist schon gut, – ich danke Ihnen!“ –

Ich ging dann wirklich und wußte, daß dieser Robert Marla auf keinen Fall ein gutes Gewissen hat. Er war so verstört, wie ich selten einen Menschen gesehen habe.“

„Und was folgern Sie aus diesem Besuch, Munkel? Teilen Sie es mir genauer mit,“ sagte Arnberg ganz aufgeregt.

„Marla denkt, die Botschaft kommt von seiner Schwester Käti – Katharina. Würde er nun nichts davon wissen, daß seine Schwester sich in Gesellschaft der Mörder des Chauffeurs befand, so brauchte er doch nicht wie von der Tarantel gestochen hochzufahren und zu erbleichen. –

Gehe jede Wette ein, er weiß davon! Und er wird auch sicher um halb neuen im „Siechen“ erscheinen, wo ich auch sein werde, nur in anderem Kostüm – wo sich aber leider Fräulein Käti natürlich nicht einfinden wird.“

„Leider – leider!“ nickte Arnberg. „Trotzdem können wir aber sehr zufrieden mit diesem Erfolge sein.“

„Allerdings. Der Seidenfaden ist nämlich gefunden, an dem ich mich weiter zur Lösung all der Rätsel hinfinden werde.“

Eine Viertelstunde später trennten sich Herr und Diener mit freundlichem Händedruck. –

Kurz vor halb neun betrat Albert Munkel den Bierpalast „Siechen“, jetzt als älterer, graubärtiger Herr mit flammender Nasen- und Backenröte wie ein Gewohnheitstrinker.

Robert Marla saß im Erdgeschoß an einen Tisch, von dem aus er den Eingang bequem übersehen konnte. Es war ein langer Tisch, und am anderen Ende verzehrte ein Ehepaar sein Abendrot.

Munkel nahm dort gleichfalls Platz, bestellte mit heiserer Stimme bei dem Kellner einen halben Liter und ein warmes Gericht und vertiefte sich dann in die mitgebrachte Abendzeitung.

Marla schaute unverwandt nach der großen Drehtür. Es wurde neun, halb zehn – und der Rechtsanwalt mit jeder verrinnenden Viertelstunde nervöser. Um zehn trat ein Herr in das Lokal, glattrasiert, goldene Brille, sehr elegant angezogen, der sich suchend umschaute und mit dem Anwalt einen schnellen Blick wechselte, worauf er wieder hinausging.

Munkel beobachtete dies alles. –

Inzwischen hatten die Plätze des Ehepaares neben Munkel zwei Herren eingenommen, Bankbeamte, wie aus ihrer Unterhaltung ersichtlich war.

Marla bezahlte und brach auf. Kaum war er an der Tür, als Munkel einem der Kaufleute zehn Mark in die Hand drückte und ihn bat, seine Zeche zu begleichen, er käme sofort zurück. Hut und Mantel ergreifend stürzte er dann hinaus und atmete erleichtert auf, als er trotz des lebhaften Verkehrs den Anwalt noch erspähte, der eben über die Straße auf das Hotel „Fürstenhof“ zuging. Nun war es ein leichtes, hinter ihm zu bleiben.

Marla schlug dann die Richtung nach der Südseite des Leipziger Platzes ein. Hier, wo es ganz menschenleer war, traf er mit dem eleganten Herrn wieder zusammen. Die beiden gingen wohl zehn Minuten auf dem Bürgersteige auf und ab, trennten sich dann, ohne sich die Hand zu reichen, was auch nicht bei der Begrüßung geschehen war. Munkel fiel auf, daß sie nicht einmal vor einander den Hut lüfteten. Er schloß daraus, daß es sehr gute Bekannte, aber wohl zur Zeit verfeindet sein mußten. Er folgte dem Glattrasierten, denn der Anwalt war ja leicht wiederzufinden; nicht so der andere.

Die Jagd ging bis zum Hotel „Frankfurter Hof“ am Friedrichstraßenbahnhof. Der Glattrasierte war kaum im Hotel auf der Treppe verschwunden, als Munkel schon vor der Loge des Portiers stand, ein Zimmer verlangte und den Gepäckaufbewahrungsschein für seinen Koffer abgab, damit dieser sofort geholt würde.

Dann ließ er sich das Fremdenbuch in der Vorhalle reichen und trug sich als Anton Mündel, Kaufmann, Halle, ein.

Nachher schrieb er noch einen Rohrpostbrief an seinen Herrn und zog sich dann auf sein Zimmer zurück. Dem Portier hatte er aufgetragen, daß man ihn um halb sieben wecken solle.

Munkels Zimmer hatte die Nummer 24. Also zwei gerade Zahlen – eine Glücksnummer! – Der frühere Klown war abergläubische wie alle Zirkusleute.

Bei einer Zigarre ergänzte er dann seine Notizen, entwarf ein Programm für den nächsten Tag und ging schlafen.

 

10. Kapitel.

Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr.

„Das leichtsinnige Huhn,“ Kommissar Hans Backländer, auch „der kluge Hans“ genannt, und letzteres mit größerer Berechtigung, saß in seinem Amtszimmer. Daß er nicht soeben erst diese Stätte ernstester Arbeit betreten hatte, verriet der dicke Zigarrenqualm, der den ganzen Raum wie in Nebelschwaden einhüllte.

Backländer hatte eine miserable Nacht hinter sich. Der Fall Anton Lamka, ließ ihn nicht schlafen. Bisher war in dieser Sache so gut wie nichts ermittelt worden. Nirgends zeigte sich ein Anhaltspunkt, von dem ausgehend man hätte zielbewußt vorgehen können. Was bisher geschehen, war ein Hineintasten in ein unergründliches Dunkel.

Hans Backländer saß zurückgelehnt in den einfachen Schreibtischstuhl da und sann, grübelte, prüfte, entwarf Pläne, die er bald als zwecklos erkannte und schnell wieder in Gedanken dick ausstrich, und – war mit sich und der ganzen Welt sehr unzufrieden.

Gestern hatte ihm der Bankier Halfner eine Liste der Herren zusammengestellt, von denen vielleicht dieser oder jener den Chauffeur Lamka dem Namen nach kennen mochte – vielleicht. Aber Halfner hatte auch gleich hinzugefügt: „Sagen Sie selbst, Herr Kommissar, – kümmern Sie sich um die Namen der Chauffeure ihrer Bekannten? Wohl kaum! Es müßte denn gerade sein, daß Sie irgendwo schon sehr häufig verkehren, sehr! – Diese Liste enthält einundzwanzig Namen, ich werde Ihnen nun noch zu allem Überfluß die Namen blau unterstreichen, die zu unserem engeren Verkehrskreis gehören. Sie werden aber auch damit nichts anfangen können. Die Herren sind über jeden Zweifel erhaben, und ihr Alibi für die vergangene Nacht wird sich leicht nachweisen lassen.“ –

Trotzdem hatte Backländer durch seine Beamten bei all diesen zehn blauen Herrn Nachfrage halten lassen. Er wollte eben nichts verabsäumen, was irgendwie einen Fingerzeig geben konnte, wer es gewesen, der mit Anton Lamka davongefahren war. Dieser Ermittlungen waren ganz ergebnislos verlaufen. Manche der Herren schieden schon ihrer Figur nach aus. Der Chauffeur Brunke hatte ja betont, der Betreffende wäre schlank gewesen. Und die übrigen konnten mehrere Zeugen nennen, wo sie sich in der fraglichen Nacht aufgehalten hatten. Vier von ihnen waren sogar mit bei Baurat Lüder eingeladen gewesen.

Backländer kam jetzt zu dem Entschluß, auch die nicht blau Angestrichenen sich über ihren Aufenthalt in der Mordnacht ausweisen zu lassen. –

„Nur nicht untätig sein,“ dachte er. „Sonst ist die Sache schon total verfahren.“

Er gab sofort die nötigen Befehle und nahm dann wieder das noch immer sehr dünne Aktenstück vor.

Longreen und Arnberg! – Hm – ob er die beiden nicht doch einfach vorlud und ihnen auf den Kopf zusagte, daß sie Schöttler belogen hatten? Wozu eigentlich die Mühe, sie ständig zu überwachen?!

Er überlegte sich das Verhalten der beiden Herren nochmals genau. Immer fester wurde da bei ihn die Überzeugung, daß Longreen und der Millionär, beides doch hochangesehene Männer, sehr triftige Gründe haben müßten, jenes Weib zu schützen, von der Sie ja nicht nur den ganzen Umständen nach wissen mußten, daß sie zu den entflohenen drei Personen gehörte, sondern auch deswegen, weil der Schöttler in allzu großer Vertrauensseligkeit ihnen mitgeteilt hatte, wie er durch den Polizeihund bis dicht an die Haustür geführt worden war. –

Ja – sehr triftige Gründe! Herren in dieser Stellung setzen sich nicht so leicht der Gefahr aus, wegen Begünstigung von Verbrechern unter Anklage gestellt zu werden. Sie mußten also notwendig von jenem Weibe Dinge erfahren haben, die sehr zu Gunsten dieser Person sprachen. –

Hm – war es dann nicht auch möglich, daß sie einfach die Aussage verweigerten, wenn er sie vorlud?! Ausgeschlossen schien ihm dies keineswegs zu sein. Es waren gebildete Leute, die sich schon über die Folgen ihrer absichtlichen Irreführung Schöttlers fraglos vorher klar geworden waren und vielleicht mit zäher Energie an ihrer Verheimlichungsmethode festhielten. Waren sie aber erst vorgeladen und war die Vernehmung ergebnislos geblieben, so hatte die Polizei nur erreicht, daß die beiden, nunmehr gewarnt, sehr vorsichtig werden würden. –

Nein – es war wohl doch richtiger, vorläufig es nur bei der Überwachung bewenden zu lassen.

Hans Backländer erhob sich, sah nach der Uhr und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Halb acht! – Wo nur Schöttler blieb? Seit gestern Nachmittag hatte er ihn nicht mehr gesehen. Und Heinrich Schöttler war doch seine Hauptstütze. Der „Pastor“ verstand was von seinem Metier, war so halb und halb sogar Backländers Lehrmeister gewesen.

Das Telephon auf dem großen Schreibtisch schrillte.

„Hier Kriminalkommissar Backländer. – Wie noch ein Mord? – Keinerlei Hinweis auf den Täter? – Die rätselhaften Fälle mehren sich ja unheimlich. – Nein, ich habe mit der Sache Lamka zu tun. An meiner Stelle ist Wilutzki der Kommission zugeteilt worden. – Guten Erfolg! – Morgen!“

Backländer hatte kaum den Hörer weggelegt, als sehr eilig Schöttler eintrat.

„Na endlich! Wo stecken Sie denn so lange, Pastor?“

„Oh, ich habe viel erlebt, sehr interessante Dinge. Die Sache Lamka kommt in Fluß.“

„Wirklich? – Setzen Sie sich! – Und dann los – erzählen! – Nebenbei bemerkt, soeben läutete mich Norbert von der Polizeiwache Friedrichsbahnhof an. Im Hotel „Frankfurter Hof“ ist ein Gast tot im Bett aufgefunden worden. – Mord, ganz zweifellos, meint Norbert!“

„Weiß schon, weiß es schon. Ich komme ja gerade aus dem Hotel.“

„Wie?! – Was hatten Sie denn da –“

„Ich werde Bericht erstatten. Und Sie – werden staunen, Herr Kommissar. –

Gestern Nachmittag wollte ich die Überwachung der beiden Herren selbst so etwas in die Wege leiten. Vor der Arnbergschen Villa in der Delbrückstraße brachte ich Helm und Fritsche als Asphaltarbeiter unter, Müller 2 aber bei dem Portier des Hauses, in dem Longreen wohnt. Der Portier ist eingeweiht und wird schweigen. Gerade als ich mir nachher nochmals die Villa Arnbergs, auch als Arbeiter verkleidet, ansah, ob sie auch keinen zweiten Ausgang nach hinten durch die Nachbargrundstücke hätte, verließen der Maler und der Millionär das Haus. Sie trennten sich in der Nähe der Villa des Kommerzienrates Renz, des Schwiegervaters Longreens. Ich blieb Arnberg auf den Fersen. Inzwischen waren unsere Asphaltarbeiter in der Delbrückstraße eingetroffen. Ich gab ihnen noch kurze Anweisungen, und hierbei erzählte Fritsche mir – der Mann ist wirklich tüchtig, – daß der Diener Arnbergs ihre Arbeiten ein etwas auffälliges Interesse gezeigt und auch einen Straßenaufseher dieserhalb angerufen hätte. Jedenfalls blieb ich in der Nähe, doch so, daß ich von der Villa aus nicht bemerkt werden konnte. Arnberg brachte dann einen Brief in den Kasten, kam aber gleich wieder zurück. Fritsche war ihm nachgegangen, und ich konnte ihm zuraunen, mal auf die Fenster der Villa achtzugeben, ob man ihn und Helm von dort aus nicht beobachte. Da ich wie gesagt das bestimmte Gefühl hatte, der Diener Arnbergs müßte gegen die Asphaltarbeiter Verdacht geschöpft haben, also wohl auch in die Heimlichkeiten seines Herrn mit eingeweiht sein, trieb ich mich weiter in der Nähe herum, eben in der Hoffnung, doch noch etwas zu erleben. Und – es kam, besser er kam, nämlich der Diener, den Fritsche mir sehr genau beschrieben hatte, und er hatte einen Koffer in der Hand – einen Koffer! „Warte, mein Junge“, dachte ich mir, „dir will ich doch mal ein wenig nachschleichen!“ –

Und dann, Herr Kommissar, bemerkte ich zweierlei, der Diener hinkte und paßte auf, ob ihm jemand folgte! Aber – er hinkte!“

„Schöttler, Pastor, sollte etwa –?“

„Sicher ist er’s, ganz sicher, – dieser splendide Herr vom Witwenunterstützungsverein! Bedenken Sie doch, Herr Kommissar, Arnberg ist Millionär. Was kommt es dem auf vierhundert Mark an.“

„Aber – welches Interesse nimmt er nur an der Witwe Lamkas?! – Der Knäuel verwirrt sich immer mehr!“

„Im Gegenteil! – Aber ich will erst mal weiter erzählen. – Also, er hinkte und – sah sich unauffällig sehr oft um, fürchtete mithin einen Spion! Auch sehr kennzeichnend! – Na – der Pastor ist doch so ein wenig schlauer als ein herrschaftlicher Diener! – Mein Mann fühlte sich bald ganz sicher. Als wir in die Elektrische einstiegen, war ich dicht hinter ihm –“

Der Bericht Schöttlers nahm eine gute Viertelstunde in Anspruch. Zum Schluß fügte er hinzu:

„Ich habe aus alledem die Überzeugung gewonnen, daß Arnberg und Longreen durch den Diener dasselbe suchen wie wir – den Mord aufzuklären!“

„Freilich, der Ansicht bin ich jetzt auch, lieber Schöttler. Aber – aus welchem Grunde tun sie es? – Nur des Nervenkitzels wegen, der in einer solchen Verbrecherjagd liegt? – Wohl ausgeschlossen!“

Schöttler nickte. „Ich habe da eine besondere Vermutung. Ob sie zutrifft, weiß ich nicht – noch nicht! Die Dame, Herr Kommissar, – die Dame!“

„Ich verstehe. Auch mir kam eben dieser Gedanke. Sie meinen, daß die Herren im Interesse dieser Frau, die sie vor uns in Schutz nehmen, sich mit dem Morde beschäftigen. Nicht wahr?“

„Ja, – das vermute ich. Manches spricht dafür. – Nun, wir werden schon Klarheit gewinnen. – So, und nun, Herr Kommissar, – der neue Mord.“

„Steht er denn zu unserer Sache in irgendwelchen Beziehungen?“

„Ich glaube. Denn der Ermordete ist jener glattrasierte Herr, der –“

Backländer sprang auf.

„Wirklich – wirklich?! Aber dann ist ja schon ein Zusammenhang gegeben, wenn auch ein recht loser. Es bleibt eben immer ein Fädchen, das beide Verbrechen verbindet!“ Er trat dicht vor Schöttler hin. „Wer ist der Tote? – Teilen Sie mir alles mit, was Sie wissen.“

„Gern. Aber viel ist es nicht. – Als der verkleidete Diener Arnbergs – daß er Albert Munkel heißt und früher Zirkusklown war, weiß ich ja jetzt von seinem Kollegen Lork aus dem Zirkus Schumann – gleich nach dem Glattrasierten im Hotel „Frankfurter Hof“ verschwunden war, bekam ich draußen vor dem Eingang glücklich den Geschäftsführer zu Gesicht, der mich erst natürlich einfach stehen lassen wollte, aber mit dem leise Wort „Kriminalpolizei“ zog ich sofort andere Saiten auf. Ich erklärte ihm, was er zu tun hätte, ging dann nach der Wache des nahen Friedrichstraßen Bahnhofs, machte mich dort etwas anständiger zurecht und kehrte in das Hotel zurück, wo ich von dem Portier erfuhr, daß Munkel sich unauffällig nach dem Glattrasierten erkundigt, auch lange im Fremdenbuch geblättert und dann auf sein Zimmer Nummer 24 gegangen wäre. Er hatte sich als Kaufmann Anton Mündel aus Halle eingetragen. Gleich darauf stand ich vor der Tür von Nummer 24. Sie kennen ja den Trick in vielen Berliner Hotels, Herr Kommissar, die innere Tür hat ein gut verborgenes Guckloch für die Angestellten, um verdächtigen Gästen etwas auf die Finger sehen zu können! –

Munkel saß in Hemdsärmeln am Tisch und schrieb. Aber er schrieb wie ein Gelehrter, der sich jeden Satz erst überlegt. Nachher schloß er die Papiere – es waren ein paar große Bogen – in seinen Koffer ein und legte sich schlafen. Ich aber wanderte nach dem Zirkus Schumann, traf den Manegenklown Lork jedoch nicht dort, sondern in einer kleinen Kneipe in der Nähe an – es war bereits dreiviertel zwölf, – legitimierte mich ihm gegenüber und erfuhr, was ich vorhin nicht erwähnte, von ihm zu allerlei über Munkel und auch über Arnberg. Munkel liebt seinen Herrn über alles und muß ein ebenso anständiger Charakter wie Arnberg sein. Lork jedenfalls traut ihm nichts Schlechtes zu und lobte ihn über alle Maßen. –

Inzwischen war es halb zwei geworden, und ich machte nun, daß ich nach Hause kam, da ich um sechs schon wieder im „Frankfurter Hof“ sein wollte. Ich mußte also ziemlich schnell schlafen – was bei uns ja häufiger vorkommt.“ –

Er schmunzelte.

„Um sechs war ich im Hotel, setzte mich in die Loge des Portiers und wartete auf Herrn „Mündel“, um mich ihm, wenn er ausging, in einiger Entfernung anzuschließen.

Um halb sieben, nachdem ich einen Stapel Journale durchgeblättert hatte, wurde es im Vorraum mit einem Male sehr lebendig. Der Oberkellner, der von dem Portier erfahren hatte, wer ich war, kam zu mir hereingestürzt, ganz blaß und an allen Gliedern schlotternd. Er erzählte, der Hausdiener der ersten Etagen hätte gegen sechs Uhr die Türen nach herausgestellten Sachen nachgesehen – Stiefeln und so weiter, und dabei wäre ihm aufgefallen, daß beide Türen der Doppeltür von Nummer 9 nur angelehnt, nicht geschlossen gewesen wären. Nach einer Viertelstunde hätte er, schon von vorhin etwas mißtrauisch, nochmals Nummer 9 sich angeschaut. Die Türen waren wieder nur angelehnt. –

So wurde man auf das Verbrechen aufmerksam. Als ich mit dem Oberkellner das Zimmer betrat, vorher hatte ich schon dem Präsidium kurz Meldung gemacht, fand ich den Toten angekleidet vor dem Bett liegen. Eine oberflächliche Besichtigung ergab als Todesursache einen Stich in die Herzgegend, außerdem wies die Leiche aber auch sehr deutlich ausgeprägte Würgemale am Halse auf. Eine Waffe war nicht zu entdecken. Ich habe dann selbst das Zimmer abgeschlossen, einen Schutzmann als Wache davorgestellt und den inzwischen eingetroffenen Polizeikommissar Sedlich, der nun das Zimmer bis zur Ankunft der Kommission absperren wollte, pflichtschuldigst auf Munkel aufmerksam gemacht, der ja für den Glattrasierten ein immerhin recht merkwürdiges Interesse gezeigt hatte. –

Nun noch einiges über den Ermordeten selbst. Ich schätze ihn auf etwa fünfzig bis sechzig Jahre. Er hat ein Gesicht von geradezu edlem Schnitt, ist hager, etwas über mittelgroß und war elegant gekleidet. Das Personal des Hotels konnte mir über die Gewohnheiten dieses Herrn Richard Meitzen, Rentier aus Bonn, wenig sagen, da er erst seit gestern früh dort wohnt. – So, das wäre alles. – Ich bin dann hier zu Ihnen geeilt, Herr Kommissar, um diesen neuen Fall, hauptsächlich aber die Ergebnisse meiner Verfolgung des Munkel, Ihnen sofort mitzuteilen.“

Hans Backländer bot Schöttler eine Zigarre an. „Da, rauchen Sie, Pastor! Sie verdienen’s! Wenn Sie nicht gestern so biereifrig gewesen wären und sich in der Delbrückstraße aufgehalten hätten, wüßten wir von all diesen Dingen, die Munkel und Arnberg angehen, nichts.“

Heinrich Schöttler schüttelte den Kopf. „Das ist ein kleiner Irrtum,“ meinte er bescheiden. „Man wäre jetzt unfehlbar nach diesem Morde im „Frankfurter Hof“ auf Munkel aufmerksam geworden, auch ohne mich. Er ist gestern abend dicht hinter dem jetzt Ermordeten ins Hotel gekommen, hat den Portier nach Richard Meitzen vorsichtig ausgeforscht, indem er ihn genau beschrieb, und fiel schon dadurch auf. Diese Hotelportiers sind sämtlich schlaue, mißtrauische Leute. Heute morgen hätte der Portier sich dann ohne Frage auf den Herrn Anton Mündel besonnen – und dann wäre die Mordkommission wohl sofort ihm etwas näher auf den Leib gerückt, wobei sicher herausgekommen wäre, daß Munkel-Mündel falschen Bart und Perücke trägt, viel künstliche Säuferröte im Gesicht hat und – wahrscheinlich! – nicht den geringsten Ausweis auf den Namen Mündel besitzt. Er wäre also fraglos verhaftet worden, und dann hätten wir ihn ja wohl auch in die Finger bekommen und etwas auspressen können.“

„Trotzdem, lieber Schöttler, – na, Sie sind eben stets zu bescheiden. – Halten Sie Munkel für den Mörder?“

„Nein!“

„Wie – ein so kräftiges Nein, und doch haben Sie Sedlich diesen Wink gegeben, sich Herr Mündels liebevoll anzunehmen?“

„Natürlich. Mündel-Munkel wird verhaftet werden. Das wollte ich auch. Er hat die Schreibereien in seinen Koffer eingeschlossen. Auf die habe ich’s abgesehen. Und auch auf ihn selbst. Er ist der Weg, der zu Arnberg und Longreen hinführt. Der Millionär wird seinen Diener kaum in Haft lassen wollen, wird dann vielleicht seine Karten aufdecken.“

„Ah – sehr richtig! – Und – wie denken Sie sonst über diesen neuen Mord, Schöttler?“

„Ich denke, wir übernehmen ihn auch, Herr Kommissar. Am besten, Sie telephonieren gleich nach dem „Frankfurter Hof“, wo die Mordkommission noch tätig sein dürfte und teilen mit, daß wir in einer Viertelstunde dort sein werden.“

Backländer saß mit nachdenklich gerunzelter Stirn eine Weile schweigend da.

Dann sagte er: „Ich habe eben versucht, denselben Gedankengang anzustellen wie Sie. – Sie meinen, die beiden Morde gehören sozusagen zusammen. Gründe: gleiche Todesursache – Stich ins Herz; Munkel, der anscheinend sich mit dem Falle Lamka beschäftigt, ist Meitzen nachgeschlichen, hat also großes Interesse für ihn, logiert sich dann sofort in demselben Hotel ein; Meitzen selbst ist erst gestern früh im „Frankfurter Hof“ abgestiegen, kann also vielleicht einer der entflohenen Männer sein; und Meitzen ist schlank, so daß man unwillkürlich auf den Gedanken kommt, er könnte der Herr sein, der Lamka zu der Unglücksfahrt veranlaßt hat, – denn den Namen des Chauffeurs mag er von einem anderen erfahren haben.“

Schöttler nickte eifrig. „Genau dasselbe habe ich mir zurecht gelegt, Herr Kommissar. Aber – alles bleibt vorläufig unsicher, bleibt Vermutung, die auf sehr losem Sande als Bretterhäuschen errichtet ist, das jeder neue Windstoß umblasen kann. – Ich denke aber, wir brechen auf.“

Ein Auto brachte die beiden Beamten nach dem Hotel. Unterwegs sagte Hans Backländer zu dem „Pastor“:

„Was nur der Rechtsanwalt Marla mit der Geschichte zu tun haben mag, bei demn doch Munkel vor dem Besucher des Bierpalastes „Siechen“ war? Und – weshalb änderte Munkel seine Verkleidung, als er ins „Siechen“ ging. Offenbar war er doch erst hinter dem Marla her, wollte ihn beobachten! – Es ist eine unglaublich verworrene Sache, wahrhaftig!“

„Das alles wird uns Munkel selbst noch heute aufklären, wenn ich mich nicht sehr irre,“ meinte der „Pastor“ gelassen.

 

11. Kapitel.

Peter Arnberg hatte am Abend vorher vergebens auf Olaf Longreen bis elf Uhr gewartet, nachdem er von dem merkwürdigen Zusammentreffen mit Munkel auf dem Wege zu Robert Marla nach Hause gekommen war.

Er wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Longreen hatte doch fest versprochen, ihn noch zu besuchen, und hatte betont, er brächte wichtige Neuigkeiten.

Jedenfalls schlief Arnberg sehr schlecht in dieser Nacht. Sein braver Munkel fehlte ihm an allen Ecken und Enden. Er hatte sich so an den treuen Menschen gewöhnt, daß ihm das Haus wie verödet erschien. Dazu noch all diese Gedanken, die ihm keine Ruhe ließen, dieser geheimnisvollen Mord, und besonders die neu erwachte Sehnsucht nach der Geliebten! In seinem Herzen war alles wieder lebendig geworden, was er für Käti Marla empfunden hatte, mit doppelter Kraft, stärker denn je. Und in seine unruhigen Träume nahm er dieses Sehnen mit hinüber, aber auch die bange Furcht, sie könnte vielleicht doch in diesen drei Jahren für ihn ganz verloren gegangen sein.

Bereits um sechs Uhr stand er auf, kleidete sich an und schaute erst einmal nach den Asphaltarbeitern aus. Einer der Leute saß auf einem Schemel vor dem Gerätewagen und rauchte behaglich seine Pfeife. Arnberg dachte: „Es ist doch eigentlich unglaublich, was die Polizei alles anstellt, um ganz im geheimen ihre Pläne verfolgen zu können.“

Dann ging er in den Garten hinaus. Der Morgen war kühl. Aber die frische Luft tat ihm wohl. –

Nachdem er um halb acht gefrühstückt hatte, leutete er Longreen an, der ebenfalls Telephon besaß.

Der Maler meldete sich erst nach einer geraumen Weile, schien auch sehr schlaftrunken zu sein.

„Es wurde gestern sehr spät bei meinen Schwiegereltern,“ erklärte er. „Ich bin aber Punkt zehn bei dir. Ich würde früher kommen, aber ich habe für halb neun ein Modell bestellt, den Eremiten, und der Alte ist stets sehr besetzt.“

Arnberg wurden die Stunden, bis Longreen endlich erschien, zur Pein. Er kam sich wie ein Gefangener vor. Die beiden Aufpasser dort draußen auf der Straße waren ihm doch recht unangenehm. Das Bewußtsein, unter Beobachtung zu stehen, wirkte nachteilig auf seine Stimmung ein.–

Longreen war recht heiter, begrüßte Arnberg sehr herzlich und schien gar nicht zu merken, wie einsilbig der Freund war. Er hatte einen mittelgroßen, umschnürten Pappkarton mitgebracht und auf den Sofatisch in Arnbergs Zimmer gestellt, klopfte jetzt mit dem Zeigefinger dagegen und meinte:

„Peter – hier habe ich was für dich – du wirst staunen! Packe nur aus.“

Arnberg löste ohne großes Interesse die Schnur, hob den Deckel des Kartons ab und – stutzte. Dann griff er zu, hob – einen grauen Damenseidenmantel und ein graues, schlichtes Damenfilzhütchen empor.

Er war ganz bleich geworden.

„Olaf – Olaf, sollte dies etwa –“

„Jawohl, dies sind Käti Marlas Mantel und Hut. Beweise, der Arabiaduft, der dem Mantel anhaftet, – Arabia, Peter! – Ich fand die Sachen heute im Atelier in dem großen Kostümschrank, als ich für den Eremiten eine Kutte suchte. Sie waren ganz hinten in einer Ecke gestopft. Da ich mir nun sagte, das Fräulein Marla nicht gut im bloßen Kopf das Haus verlassen haben kann, sah ich meine Sachen durch und – stellte fest, daß mir ein feldgrauer Filzhut, den zur Not auch eine Dame tragen kann,  und – ein Lodenumhang fehlten. Begreifst du, Peter? Mein Gast hat sich unkenntlich machen, in anderer Kleidung die Straße betreten wollen.“

Arnberg stand da wie eine Bildsäule. Dann drückte er das Gesicht in die weiche Seide. Und Longreen war es, als hörte er ein leises Aufschluchzen.

Der Maler wollte den Freund ablenken und fuhr fort:

„Setz’ dich bitte. Ich habe ja so viel zu erzählen.“

Arnberg nahm im nächsten Klubsessel Platz. Den Mantel breitete er über seine Knie und streichelte ihn oft verstohlen.

Olaf Longreen hatte sich ihm gegenüber an den schweren geschnitzten Bücherschrank gelehnt. Er sprach hastig, angeregt und man merkte, wie glücklich er war.

„Es hat also gestern zwischen Hella und mir eine recht erregte Aussprache gegeben. Natürlich wegen des Briefes der Amanda Biedermann. Aber ich habe gesiegt, Peter, – auf der ganzen Linie! Ich erzählte Hella deinen Liebesroman. Ihre Zwischenbemerkungen reizten mich. Ich wurde sehr energisch. Sie hatte wirklich beinahe Angst vor mir. Zum Schluß erklärte ich, wenn sie mir nicht unbedingtes Schweigen über diese Dinge gelobe und dieses Versprechen nicht einhalten sollte, wären wir fertig miteinander. Allerdings drückte ich mich milder aus, deutete etwas von einer Scheidewand an, die uns trennen würde. – Sieh, wir beide haben Hella doch wohl falsch beurteilt. Sie ist lediglich geradezu krankhaft eifersüchtig, auf alles, auf jeden, – auch auf dich. Sie wurde ganz demütig nach dieser halben Drohung, sie fühlte wohl zum ersten Mal den Herrn, den Stärkeren in mir. Und da hat sie mir ganz scheu gesagt, sie wolle alles daran setzen, daß wir in kurzem – in vier Wochen heiraten können. – Denk’ dir – in vier Wochen! Brauchte ich einen besseren Beweis ihrer Liebe?! – Peter, Peter, ich bin heute sehr, sehr glücklich, wie seit langem nicht mehr. Diese Last der nagenden Zweifel an Hellas reinem Gefühl ist von meiner Seele genommen! – Nachher bei meinen Schwiegereltern hat Hella mit ihrer Mutter erst allein gesprochen. Dann fragte Frau Renz mich, ob ich gewillt wäre, die Professur anzunehmen. Du kennst ja meine Ansicht darüber. Ich möchte lieber frei bleiben, nicht bezahlter Beamter werden. Meine Kunst wird darunter leiden. – Aber – Hella sah mich so bittend an. Ich merkte, sie wünschte eine bejahende Antwort – ihrer Mutter wegen, die ja so sehr viel auf Titel und dergleichen gibt. Na – und da mußte ich wohl zustimmen. Denn sollte ich nach den Zärtlichkeiten Hellas nicht auch ein Opfer bringen? Sage selbst, Peter, – ein Nein hättest selbst du nicht über die Lippen gebracht!“

„Ich weiß nicht recht. – Aber du kannst ja am besten beurteilen, ob – nein, nein – es ist nie gut, in Liebessachen den Rat eines anderen einzuholen.“ So sagte er. Aber seine Gedanken glichen nicht seinen Worten. Er durchschaute Hela. Die Professur hatte den Ausschlag gegeben. Und nicht Olaf hatte gesiegt, sondern dieses junge, überreife Weib. Armer Olaf – die Ehe wird ein Rosenlager mit vielen Dornen für dich werden! –

Und Arnberg fügte laut hinzu: „Der Hochzeitstag ist also wirklich festgesetzt worden?“

„Ja. Nach vier Wochen, Peter, – dann ist Hella mein, dann will ich ihr die Eifersucht schon immer ausreden.“

„Ich freue mich mit dir, Olaf.“ Das klang sehr nett. „Aber sagtest du nicht gestern am Telephon, daß du auch wichtiges über die andere Sache mitzuteilen hättest.“

„Natürlich – natürlich! – Sieh mal, die Geschichte ist nun etwas sonderbar. Ich habe Hella ja gebeten, mir lieber gleich alles anzuvertrauen. Aber sie meinte, sie wäre in diesem Falle allein geeignet, Nachforschungen anzustellen. Das, was sie wußte, wäre nur ein so winziger Anhaltspunkt, daß sie niemanden vielleicht ungerechtfertigter Weise bloßstellen möchte. – Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen. Jedenfalls ist sie jetzt unsere Verbündete. Und, du kennst sie ja, sie ist wirklich klug und energisch.“

„Raffiniert und rücksichtslos,“ dachte Arnberg, aber das behielt er für sich und sagte nur:

„Hoffentlich macht sie keine Fehler, die uns schaden.“

„Ausgeschlossen! Ich weiß, was ich an Hella habe, und –“

Es klopfte. Anna brachte eine Karte.

„Der Herr bittet vorgelassen zu werden in dringender Angelegenheit.“

Arnberg hielt dem Maler die Visitenkarte hin.

„Kennst du einen Herrn Hans Backländer?“

„Nein – keine Ahnung. – Vielleicht ist’s aber wieder L. E. Knum.“ Und Olaf lächelte.

„Das könnte sein. – Gut, Anna, führen sie den Herren in den Salon.“

Das Mädchen verschwand. – Arnberg war an das Fenster getreten. Unwillkürlich schaute er nach den beiden Aufpassern aus. Die aber waren verschwunden, auch der Gerätewagen. Nur eine aufgehauene, kleine Fläche des Fahrdammes bewies noch ihre Tätigkeit.

Arnberg wußte nicht, wie er sich dieses plötzliche Aufgeben der Überwachung erklären sollte.

Schon teilte er Longreen mit, was gestern noch geschehen war, – ganz kurz, mit wenigen Worten. Dann fuhr er fort: „Ich habe mir’s eben überlegt. Munkel kann dieser Besucher nicht sein. Er hat mir erst gestern abend erklärt, er dürfe sich hier selbst in einer Verkleidung nicht sehen lassen, weil er hinke. Ich fürchte, –“

„Was denn?“

„– daß wir schon die Hereingefallenen sind! Unsere Absicht, die Privatdetektive zu spielen, dürfte entdeckt sein. Ich kann mich ja auch irren. – Na – wir werden ja bald wissen, was dieser Herr Hans Backländer ist. Entschuldige mich. Ich bin sofort wieder da – falls eben die Kriminalpolizei jetzt im Salon sitzt, denn dann kannst du auch gleich – deinen Senf dazu geben.“ –

Backländer schaute sich in den mit unaufdringlicher Vornehmheit ausgestatteten Raume mit einem leisen Gefühl des Neides um. Ja – Millionäre hatten es doch gut! – Hm – aber dieser Millionär ließ sich sehr Zeit! – Und dabei hatte er es so eilig. Wenn man gleich in zwei Mordsachen die Untersuchung führt, ist jede Minute kostbar.

Ah – endlich! – Peter Arnberg trat ein, kam langsam auf den Besucher zu, der sich aus dem Seidensessel erworben hatte, verbeugte sich knapp und fragte:

„Was verschafft mir die Ehre?“ Ihm war etwas leichter ums Herz geworden. Dieser Herr sah mehr nach einem Offizier in Zivil als nach einem Kriminalbeamten aus.

„Ich komme Ihres Dieners Albert Munkel wegen,“ sagte der Kommissar höflich. „Sie gestatten aber wohl, daß wir Platz nehmen. Unsere Unterredung dürfte etwas länger dauern.“ Diese Sätze klangen schon sehr nach einem Beamten, der wünscht, aber dort eigentlich befielt.

Peter Arnberg gab sich keiner Täuschung mehr hin. Er wußte, das Spiel war entdeckt.

Bevor Backländer sich setzte, wies er noch auf die Fenstervorhänge und meinte:

„Es ist hier sehr dunkel. Darf ich den Kronleuchter einschalten?“ Ohne eine Antwort abzuwarten tat er es. Nun war es im Salon allerdings hell – wie im klaren Sonnenschein.

Arnberg ließ diese Eigenmächtigkeit schweigend über sich ergehen.

Sie saßen sich gegenüber, kaum drei Schritt trennten sie. –

Backländer schaute Arnberg prüfend an. – Ein recht sympathisches, feines Gesicht, sagte er sich.

Und das glitzernde Monokel Arnbergs hielt diesen Blick ruhig aus.

Dann begann der Kommissar:

„Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin?“

„Ja. Vermutlich ein Beauftragter der Polizei.“

„Sehr verständig, daß Sie sofort der Wahrheit die Ehre geben. Dann werden wir uns auch schnell einigen. – Ich bin Kriminalkommissar. Hier meine Legitimation.“

„Danke. Ich glaube Ihnen auch so.“

„Würden Sie mir nun erklären, Herr Arnberg, aus welchem Grunde Sie Ihre Beobachtungen über jenen angeblichen Doktor Runkel uns vorenthalten haben?“

„Ah – dann sind Sie bereits unterrichtet?“

„Ja. – Sie hätten das nicht tun sollen. Die Polizei hätte genauso gut Ihre Interessen wahrgenommen hinsichtlich der jungen Dame wie Sie und Ihre Vertrauten, – nein besser, weit besser. Wir würden selbstredend dafür gesorgt haben, daß der Name Fräulein Marlas nicht in die Öffentlichkeit gedrungen wäre, wenn es sich etwa irgendwie ermöglichen lassen.“

Peter Arnberg hatte plötzlich die Hände um die Armlehnen des Sofas gekrallt und sich halb erhoben.

„So wissen Sie alles – alles?“ stieß er hervor.

„Jawohl. – Erschrecken Sie nicht, Herr Arnberg, – Ihr Diener ist vor zwei Stunden im Hotel „Frankfurter Hof“ verhaftet worden. Er hatte Ihnen noch gestern einen Rohrpostbrief geschrieben. Der ist jedoch abgefangen worden. In Munkels Koffer fand ich eine sehr übersichtliche Niederschrift der ganzen Vorgänge. Außerdem hatt er auch bereits freiwillig alles zu Protokoll gegeben, was er wußte.“

Arnberg fuhr sich mit der Hand über die feucht gewordene Stirn.

„Mein Gott – verhaftet? Weswegen denn? Nur weil er – für mich tätig war, weil er –“

„In jenem Hotel ist ein Gast ermordet worden,“ unterbrach ihn Backländer.

Arnberg wurde blaß.

„Quälen Sie mich doch nicht so!“ kam’s ganz heiser über seine Lippen.

„Das liegt wirklich nicht in meiner Absicht. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wohin es führt, wenn man kein Vertrauen zur Polizei hat. – Ich werde Ihnen alles genau mitteilen, und dann –“

„Einen Moment!“ Arnberg hatte sich schon wieder gefaßt. „Mein Freund Olaf Longreen ist drüben in meinem Arbeitszimmer. Ich darf ihn wohl holen.“

„Ich bin sehr einverstanden damit.“ –

Eine Viertelstunde später hatte Backländer sich mit den beiden Herren vollkommen verständigt. Es gab keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen.

Arnberg fragte in einer Gesprächspause dann, ob Backländer eine Erfrischung annehmen würde.

„Gern. Zwischen Verbündeten gibt’s ja keine Beamtenbestechung,“ erwiderte der kluge Hans gutgelaunt.

Arnberg klingelte. Sehr bald erschien jemand.

Diese Jemand blieb mit kläglichem Gesicht an der Tür stehen und fragte:

„Herr Leutnant befehlen?“

Arnberg sprang auf, ging eilig auf seinen Diener zu.

„Lieber Alter – wirklich Sie – Sie? Schon wieder frei?“ Und er drückte ihm immer wieder die Hand.

„Frei – hm – eigentlich nicht!“ meinte Munkel, schon wieder mit leisem Schmunzeln.

„Eigentlich nicht? Was heißt das?“ fragte Arnberg schnell.

„Nun – Herr Mündel sitzt angeblich noch in Untersuchungshaft wegen Mordes, – für die Zeitungen, das Publikum und die wahren Täter. Aber Albert Munkel durfte durch einen Seitenausgang nach Hause. So wollte es Herr Backländer.“

Arnberg lachte jetzt ganz fröhlich auf.

„Ein feiner Trick, Herr Kommissar!“

„Stimmt, ganz guter Gedanke von mir. Heute abend wird in allen Zeitungen stehen, daß ein gewisser Anton Mündel unter dem Verdacht der Ermordung des Herrn Meitzen im Kittchen sitzt.“

„Mein Alter – bringen Sie uns Burgunder und ein paar Kaviarschnitten, aber dalli!“ meinte Peter Arnberg. „Und vier Gläser, Munkel, vier, denn Sie sollen mit anstoßen.“

Als das Eulengesicht verschwunden war, sagte Backländer ganz ernst: „Ein sehr brauchbarer Amateurdetektiv, tatsächlich! Wir verdanken ihm wichtige Aufschlüsse. Ich habe ihn schon gebeten, uns weiter so ein wenig zu helfen.“

Dann nach einer Pause: „Meine Herren, ich wollte Sie nur daran erinnern, daß Sie mir jede Kleinigkeit mitteilen müssen, mag sie noch so locker mit unserer Sache zusammenhängen. Denken Sie also mal genau nach. Nachher muß ich Sie dann mitnehmen, Herr Arnberg. Sie sollen sich die Leiche im „Frankfurter Hof“ ansehen. Es ist nämlich schon festgestellt, daß der Ermordete sich erst ganz kürzlich den Bart hat wegrasieren lassen, – ein Grund mehr für mich anzunehmen, daß er vielleicht dieser Doktor Runkel ist und vielleicht auch der, der Lamka bewog, die Fahrt mit ihm anzutreten, die des Chauffeurs Verderben werden sollte.“

Olaf Longreen, der sich bisher ziemlich schweigsam verhalten hatte, wandte sich jetzt an Arnberg:

„Was meinst du, – ob ich auch Herrn Backländer berichten soll, was Hella angedeutet hat?“

„Natürlich, – erzähle nur.“

So erfuhr der Kommissar von Hellas Anerbeten, sich des Falles Lamka auch ihrerseits annehmen zu wollen. Und er lächelte etwas zu.

„Alle jungen Damen sind ein wenig sensationslüstern. Wird wohl nicht viel auf sich haben mit dem Anhaltspunkt. Trotzdem – auch das soll geprüft werden. Nur dürfen Sie Ihre Braut nicht darauf vorbereiten, Herr Longreen, daß ich sie vielleicht mal um eine Unterredung bitte.“

„Wie Sie wünschen. Ich fürchte nur, Hella wird es mir sehr verübeln, daß ich –“

Backländer unterbrach ihn. „Darauf darf keine Rücksicht genommen werden. Eine Braut verzeiht auch wieder, besonders wenn es umso wichtige Dinge geht wie hier und die staatliche Behörde dieses Verschweigen verlangt hat.“

Der kluge Hans konnte sehr kurz angebunden sein, wenn es darauf ankam.

 

12. Kapitel.

Backländer ging voran, und Arnberg folgte etwas zögernd.

Der vor der Tür des Hotelzimmers postierte Schutzmann hatte diese für die Herren aufgeschlossen und blieb im Flur stehen.

Arnberg schaute scheu nach dem Bett hin, wo der Tote auf der Steppdecke lag. Aber der Anblick der Leiche hatte nichts Grausiges. Die Beamten der Kriminalpolizei hatten sie auf Backländers Befehl für den Photografen und auch für Arnberg zurechtgemacht, – leicht geschminkt, den Bart durch einen falschen ersetzt und die Brille gegen einen Kneifer ausgetauscht, – so hatte ja Doktor Runkel ausgesehen.

Arnberg stutzte, als ihm einfiel, daß der Tote glattrasiert gewesen sein sollte. Der Kommissar klärte ihn hierüber auf und fragte dann, ob der Mann dort mit den angeblichen Runkel Ähnlichkeit habe oder nicht.

„Auffallende Ähnlichkeit, ich möchte sogar mit aller Bestimmtheit behaupten, daß er es ist,“ erwiderte der junge Millionär ohne Zögern.

„Ah – sehr gut! Auf diesen Erfolg habe ich kaum zu hoffen gewagt,“ sagte Backländer hochbefriedigt. Dann zog er die Liste der Halfnerschen Bekannten aus der Tasche und deutete auf einen der nicht blau unterstrichenen Namen.

Da stand: Rechtsanwalt Dr. jur. Robert Marla.

„Sehen Sie, Herr Arnberg, das ist der nächste, mit dem ich mich eingehend beschäftigen werde, denn Robert Marla war ja gestern abend mit diesem Toten da, der sicherlich nicht Meitzen heißt, auf dem Leipziger Platz an einsamer Stelle zusammen! Er kennt ihn also. Und er wird uns sagen müssen, wer dieser Herr ist und was Käti Marla, seine Schwester, mit der Autofahrt zu tun hatte. – Wir kommen der Aufdeckung des Geheimnisses also schon bedeutend näher. Und haben wir diese beiden Morde klargestellt, werden wir auch wissen, weshalb Ihre Braut damals verschwand und jetzt erst hier plötzlich wieder auftauchte.“

„Aber damit haben wir sie selbst leider noch immer nicht gefunden,“ meinte Arnberg seufzend.

„Noch nicht, aber wir werden sie finden! Zur Zeit suchen alle verfügbaren Beamten nach einer Dame im hellgrauen Filzhut und im Lodenumhang, die vorgestern morgen Longreens Haus verlassen hat. – Dies habe ich durch den Brief angeordnet, den ich bei Ihnen schrieb und dann durch Munkel nach dem Präsidium schickte. – So, wir wären hier fertig. Vielleicht interessiert es Sie aber noch zu erfahren, daß der Mörder dieses Mannes da alles mitgenommen hat, was irgend zur Identifizierung des Toten hätte dienen können – alles, jede Kleinigkeit.“

„Und wer mag dieser Mörder sein?“

„Ganz im Vertrauen, ohne Zweifel einer der Gäste dieses Hotels. Das ist schon festgestellt. Der Mord ist gestern abend zwischen elf und zwölf verübt worden. Leider hat der „Frankfurter Hof“ zur Zeit aber nicht weniger als sechzig Bewohner, die alle in Betracht kommen können. Mehr weiß ich bis jetzt auch nicht.“

Gleich darauf verließen die Herren das Hotel. Vor dem Eingang stand ein dicker, kleiner Mann mit brennend rotem Bart und einer Hornbrille auf der Nase. Als Backländer sich von Arnberg verabschiedet hatte, sprach dieser Rotbärtige den Kommissar an der nächsten Ecke an und beide bestiegen dann ein Auto, das sie nach der Tauentzienstraße brachte.

Aber Robert Marla war nicht im Bureau der Anwaltsfirma. Einer der Schreiber gab Backländer die Auskunft, der Herr Rechtsanwalt wäre krank und sicherlich daher in seiner Wohnung Lützowufer 14 anzutreffen.

In diesem Hause hingen an der Flurtür links, zweiter Stock, vier Visitenkarten, – also „möblierte Zimmer“. Backländer läutete, worauf eine schlanke, ältere Frau erschien, die Wirtin, Frau Emmich.

Der Kommissar zeigte ihr seine Legitimation und befahl, sie solle ihn bei Herrn Marla anmelden. „Aber nur mich. Diesen zweiten Herrn hier erwähnen Sie auf keinen Fall. Sagen Sie, es wäre der Hausbesitzer Meiner aus Stettin da.“ So hatte sich Munkel bei Marla eingeführt, als er ihm mit „Katharina“ eine Falle stellte.

Frau Emmich kam sehr bald zurück und erklärte:

„Er liegt auf dem Diwan. Er muß wirklich krank sein. Ganz elend sieht er aus, aber er will sich nicht sprechen lassen.“

„Zeigen Sie mir die Tür,“ sagte Backländer kurz, schob die Frau beiseite und schlich auf Zehenspitzen weiter.

Ohne anzuklopfen, öffnete er dann und trat ein, gefolgt von dem Rotbärtigen.

Der Anwalt warf die Decke ab und sprang auf.

„Meine Herren, was soll das heißen? Ich muß doch –“

Backländer hob die bereitgehaltene Legitimationskarte hoch und streckte sie Marla entgegen.

Die Wirkung war erschütternd. Der Anwalt taumelte hintenüber und fiel auf den Diwan zurück, raffte sich jedoch schnell wieder zusammen und zeigte den beiden Eindringlingen ein geisterbleiches, verstörtes Gesicht von sonst wohl recht ansprechenden Zügen.

„Was – was – wünschen – Sie von mir?“ stammelte er leise.

Backländer zog einen Stuhl heran, setzte sich und erwiderte: „Daß Sie auf meine Fragen wahrheitsgemäß antworten, – das verlange ich.“

Der Rechtsanwalt gewann seine Selbstbeherrschung immer mehr zurück.

„Bitte – fragen Sie!“ meinte er mit fester Stimme. „Ich muß dieses Verhör ja wohl über mich ergehen lassen, obwohl ich mich krank fühle.“

Backländer fand, daß Marla eigentlich einen recht günstigen Eindruck machte. Nur in den Augen lag etwas Ängstliches, Lauerndes.

„Wo befindet sich Ihre Schwester Käti zur Zeit?“ begann der Kommissar.

Marla wurde verwirrt, blickte zu Boden.

„Ich weiß es nicht,“ stieß er dann mit sichtlicher Anstrengung hervor.

„So?! – Wann waren Sie denn zum letzten Male mit ihr zusammen?“

Der Anwalt senkte den Kopf noch tiefer und – schwieg.

„Wollen Sie nicht antworten?“ fragte Backländer scharfen Tones.

„Vor länger als drei Jahren,“ sagte Mahler leise.

„Und – wer war der Herr, mit dem Sie gestern zwischen zehn und elf Uhr abends an der Südseite des Leipziger Platzes etwa zehn Minuten auf und ab gingen, den Sie weder durch Hutabnehmen grüßten und dem Sie die Hand gaben?“

Marlas Kopf war hochgeschnellt. In seinen Augen flirrte das höchste Entsetzen. Seine Zunge beleckte, ihm selbst wohl unbewußt, die trockenen Lippen.

„Antwort!“ sagte Backländer schneidend.

Der Anwalt blickte wie ein Irrer um sich.

„Dieser selbe Herr ist nämlich in der vergangenen Nacht auf seinem Zimmer im „Frankfurter Hof“ – ermordet worden,“ fügte der Kommissar laut hinzu.

Ein Aufschrei – und Marla sank ohnmächtig vom Diwan.

Die Beamten brachten ihn bald wieder zum Bewußtsein.

Er setzte sich aufrecht, erhob sich und ging im Zimmer ein paarmal auf und ab, stellte sich auch an das von dem Rotbärtigen geöffnete Fenster und sog die frische Luft ein.

Dann nahm er wieder auf dem Diwan Platz.

„Ich bin zu dem Entschluß gekommen, nichts mehr zu verheimlichen,“ sagte er mit fast unheimlicher Ruhe. „Aber ich fühle mich noch recht schwach. Wird einer der Herren mir dort aus meinem Schlafzimmer die Kognakflasche – doch nein, ich habe sie ja eingeschlossen.“ Er zog einen Schlüsselring hervor, stand auch und verschwand in der Tür zum Nebenzimmer.

Der Rotbärtige – es war kein anderer als Schöttler, raunte dem Kommissar etwas zu, sprang auf, wollte ebenfalls in das Schlafgemach.

Zu spät. Drinnen ein Schuß.

„Dacht’ ich’s mir doch!“ rief Schöttler. „Er hat uns überlistet!“ –

Robert Marla hatte sich eine Revolverkugel in den Kopf gejagt, war aber nur sehr schwer verletzt worden und wurde noch lebend in ein Krankenhaus geschafft. Er war bewußtlos, und die Ärzte erklärten, wenn er überhaupt durchkäme, würde er jedenfalls für viele Wochen vernehmungsunfähig bleiben. –

Backländer und Schöttler saßen am Nachmittag gegen vier Uhr wieder in dem Arbeitszimmer des Kommissars.

„Das hätte uns nicht passieren dürfen!“ meinte der „Pastor“ düster. „Wir hatten die Lösung sozusagen schon in der Hand, und nun –“

„– hat sie einen Selbstmordversuch gemacht!“ fügte der Kommissar hinzu.

„Leider, leider! – Wir können doch nicht darauf warten, bis Marla wieder vernehmungsfähig wird!– Also was nun?! Können wir nicht irgendetwas tun? Nur nicht stillsitzen müssen! Stillstand ist Rückschritt, wie Sie ja selbst immer sagen!“

„Tun?! – Woher nehmen und nicht stehlen?! – Halt – doch etwas! Geben Sie mir mal den Karton her mit dem Mantel und Hut des Fräulein Marla.“

Backländer zeigte auf die in beiden Kleidungsstücke eingenähten Firmenschildchen aus Seide.

„Sehen Sie, Schöttler, beides aus derselben Stadt. – Setzen Sie sofort eine Dienstdepesche nach dorthin auch, – Anfrage nach Käti Marla, Äußeres so und so, bevorzugt Parfüm Arabia, hat melodische Stimme etc.“

Während der Pastor schrieb, ging Backländer auf und ab, überlegte nochmals alle Einzelheiten der beiden Morde und diktierte Schöttler nachher einen Notiz für die Zeitungen des Inhaltes, es solle sich derjenige melden, der angeben könne, wo ein älterer schlanker Herr – es folgte die Beschreibung des toten Hotelgastes – in Berlin gewohnt habe.

Schöttler rieb sich die Hände.

„Sehr gut, Herr Kommissar, sehr gut, so kommen wir sicher wieder einen Schritt weiter,“ meinte er.

Backländer suchte jetzt im Telephonbuch eine bestimmte Nummer, ließ sich mit dem Amt verbinden und bekam auch sofort Anschluß.

„Hier Villa Renz, Königsallee.“

„Hier Erwin Müller. – Könnte ich das gnädige Fräulein sprechen?“

„Einen Augenblick. Ist zu Hause.“

Backländer nickte dem „Pastor“ zu. „Alles haben wir verhört, was zu verhören ist, nur Fräulein Hella „mit dem geringen Anhaltspunkt“ noch nicht,“ sagte er leise.

„Hier Hella Renz“

„Kunstmaler Erwin Müller. – Ist Ihr Herr Bräutigam bei Ihnen, Gnädigste?“

„Nein. Vor einer halben Stunde fortgegangen.“

„Sehr gut. Ich hätte Ihnen etwas sehr Wichtiges über Herrn Longreen mitzuteilen – wegen der Dame.“

„Welcher Dame?“

„Nächtlicher Besuch.“

„So?!“

„Ja. Darf ich daher um eine Unterredung bei Ihnen bitten? – Ich kann in zwanzig Minuten dort sein.“

Eine Weile nichts. Dann: „Gut – ich erwarte Sie!“

Backländer legte den Hörer weg.

„Hat angebissen,“ lächelte er. „Arnberg hat mir über die junge Dame so etwas die Augen geöffnet. Da muß man sehr schlau sein, meinte er, um etwas herauszuholen, was sie nicht sagen will.“

*

Herr und Frau Renz waren in der Stadt und wollten erst abends heimkehren. Daher hatte Hella auch den Besuch des ihr unbekannten Erwin Müller getrost annehmen können.

Und wie ungeduldig wartete sie auf diesen Herrn! Dame – nächtlicher Besuch! Sollte Olaf sie etwa belogen, ihr eine zur Hälfte erfundene Geschichte erzählt haben?! Dann steckte Arnberg als treibende Kraft dahinter. Denn Olaf – der war doch viel zu harmlos, um sich eine Notlüge zurechtlegen zu können!

Hella saß im Musikzimmer. Dort empfing sie dann auch Herrn Erwin Müller.

Hm – der sah ganz und gar nicht nach einem Künstler aus. Jedenfalls war er sehr gut angezogen, und die Verbeugung und überhaupt das ganzes Auftreten waren ebenso tadellos.

Hella bat den Kommissar Platz zu nehmen – an einem kleinen Tischchen, auf dem Noten lagen. Sie setzte sich ihm gegenüber.

„Ich bin gespannt, was Sie mir mitteilen können,“ begann sie möglichst von oben herab die Unterhaltung. „Sind Sie denn ein Bekannter Olafs?“

„Jawohl, gnädiges Fräulein. Aber wir kennen uns erst seit kurzem.“

„Und was wissen Sie von jener – jener Dame?“

„Daß Sie nicht den geringsten Grund haben, auf sie irgendwie eifersüchtig zu sein, Gnädigste. Sie war vor Jahren mit Peter Arnberg verlobt und –“

„Lassen Sie! Das weiß ich alles.“

„Also auch, in welcher Beziehung Fräulein Marla zu dem Morde an dem Chauffeur Lankas steht?“

„Ja doch! – Wenn Sie mir aber nichts weiter zu sagen haben, dann –!“ Das war deutlich. Sie schaute ihn geradezu vernichtend an und dann nach der Tür – Was wollte dieser Herr eigentlich?! Eine unerhörte Zudringlichkeit, nichts weiter! Vielleicht gar ein versteckter Erpressungsversuch! In Berlin war alles möglich – alles! Trotz eleganter Kleidung und guter Manieren.

Er hatte den Blick sehr wohl verstanden, tat aber weiter ganz unbefangen, verbeugte sich und erklärte:

„Ich habe Ihnen noch mehr zu sagen, gnädiges Fräulein. – Käti Marla gehörte also mit zu den drei Personen, die aus dem Auto flohen, als die etwas lautfröhlichen Gäste Olaf Longreens sich näherten. Mithin lastet auf der jungen Dame der schwere Verdacht, eine Genossin von – Mördern gewesen zu sein, vielleicht gar der der Mitschuld an diesem schweren Verbrechen. Unter diesen Umständen hat jeder anständige Mensch die Pflicht, der Behörde schleunigst alles mitzuteilen, was zur Aufklärung dieses Mordes beitragen könnte oder zur Ermittlung des Täters, was in diesem Falle wohl dasselbe ist. Es hieße sich schwer an jenem armen Weibe versündigen, wenn man aus irgendwelchen Motiven auch nur eine Kleinigkeit verschweigt, selbst einen noch so geringfügigen Verdacht. Es braucht nicht einmal ein Verdacht zu sein, nein, nur eine Regung des Mißtrauens. Auch eine solche müßte die Polizei erfahren. – Da geben Sie mir doch wohl recht, gnädiges Fräulein.“ Seine Augen ruhten mit zwingendem Ausdruck auf ihrem Gesicht. So starr sah er sie an, daß sie unruhig wurde. Ein Unbehagen stieg in ihr auf, das schon dicht an Ängstlichkeit grenzte. –

Und jetzt fügte er noch hinzu:

„Was dabei herauskommt, wenn der Polizei etwas, ganz abgesehen von den Motiven einer solchen Handlungsweise, verschwiegen wird, hat der Fall Lamka ja bereits gezeigt. Jeder Mensch macht sie straffällig, der die tut. Leider hat ja auch Olaf Longreen den Fehler begangen, wichtige Tatsachen zu unterdrücken.“

Hella wurde nicht klug aus alledem. Was sollten diese Andeutungen? Was bezweckte der Mensch, der es wagte, sie so – so durchdringend anzustarren, als sei er ein – ein Staatsanwalt oder – da durchzuckte ihr reges, argwöhnisches Hirn ein besonderer Gedanke. Nein, nicht wie ein Staatsanwalt, aber wie ein Kriminalbeamter! Und sie dachte an die Beschreibung, die Olaf ihr vor kaum einer Stunde von dem liebenswürdigen Kommissar – ja, wie hieß er doch – Backmeister, nein, Backhändler oder so ähnlich, gegeben hatte. Natürlich war er’s, natürlich! Daß sie auch bisher so blind sein konnte! –

Und weiter dachte sie: „Aber was in aller Welt führt ihn zu mir? Weshalb schleicht er sich hier unter falschem Namen ein?“ –

Der leise Argwohn verwandelte sich plötzlich abermals in ein Gefühl von Angst. Es war immerhin ein Beamter, der ihr gegenübersaß, einer, der die Macht hatte, sie zum Sprechen zu zwingen. Doch sie würde sich nicht zwingen lassen – niemals, besonders jetzt nicht, wo sie aus Olafs Bericht über Munkels Detektivtätigkeit und über das zweite Verbrechen ihren winzigen Verdacht so wesentlich verstärkt sah. War das Bewußtsein nicht geradezu köstlich, berauschend, ein Menschenschicksalen in ihrer Hand zu haben, mit einem Manne spielen zu können wie die Katze mit der Maus?! Und – mußte es nicht schließlich ein unendlicher Triumph für sie werden, wenn sie es war, sie, die schöne Hella Renz, die den Verbrecher überführt hatte? – Oh, dieser Herr Kommissar sollte in ihr seine Meisterin finden, sollte sich wundern.

Sekunden waren nur vergangen, seit Backländer das letzte Wort gesprochen hatte. Und in diesen Sekunden hatten seine geübten Augen nur zu deutlich bemerkt, wie dieses Weibes Gesichtsausdruck verschiedentlich gewechselt hatte. Mochte sie auch noch so raffiniert sein; ihr Gesicht war ihrer Seelespiegel, ihre Mienen verstand sie nicht zu beherrschen. –

Er ahnte daher einen schweren Kampf voraus. Sie war wirklich eine nicht zu verachtende Gegnerin. –

Ach, der Kampf begann schon.

„Wie lange wollen Sie eigentlich noch diese Komödie fortsetzen, Herr Kriminalkommissaren Backhändler?“ fragte sie spöttisch.

Er lächelte nur, erhob sich: „Backländer, gnädiges Fräulein, – …länder, nicht …händler. Ihr Herr Bräutigam scheint den Namen nicht recht behalten zu haben. – Im übrigen,“ – er setzte sich wieder, – „hätten Sie mir wohl eine Unterredung gewährt, wenn ich mich mit meinem Amtstitel eingeführt hätte?“

„Warum nicht?“

„Nun, weil Sie doch sofort sich sagen mußten, daß ich nur deshalb käme, um von Ihnen mir das mitteilen zu lassen, was sie als geringen Anhaltspunkt bezeichnet haben. Und diesen Punkt wollten Sie doch für sich behalten, um selbst –“

„Ah – Olaf hat also geplaudert,“ unterbrach sie ihn hell auflachend. „Der gute Olaf! Er nimmt zu leicht alles als bare Münze. Ich habe mich ja nur wichtig machen wollen, – Ihnen will ich’s anvertrauen. Aber verraten Sie mich nicht! Ich weiß nichts – nichts! Wie sollte ich auch?! Meine Eltern verkehren nicht gerade in Verbrecherkreisen. Und wo hätte ich anderswo als hier im Hause und bei bekannten Familien Gelegenheit, Nachforschungen anzustellen?!“

„Ganz richtig, Gnädigste. – Selbstredend schweige ich. Aber Sie hätten gerade mit so ernsten Dingen nicht prahlen sollen, – nehmen Sie mir bitte diese leise Mahnung nicht übel.“

Er stand auf. „Entschuldigen Sie die Störung, gnädiges Fräulein. – Ich empfehle mich gehorsamst.“

Sie lächelte triumphierend hinter ihm drein.

Diese Männer! Wie leicht sie doch zu betrügen sind, schoß es ihr durch den Kopf. –

Der kluge Hans aber dachte auch etwas, als er die Königsallee langsam hinabschritt. „Du glaubst sehr schlau zu sein, Hella Renz. Und sicherlich hättest du dir auch nichts entlocken lassen. Aber einen Fehler hast du gemacht, du hast mir den Weg gewiesen, wie ich jetzt ganz sicher zum Ziel komme. Dein Elternhaus und die bekannten Familien – das wollen wir uns merken.“

 

13. Kapitel.

Zwei Stunden später wurde in der Villa Renz der Diener Friedrich am Telephon verlangt.

Friedrich machte ein etwas bestürztes Gesicht. Das, was ihm mitgeteilt wurde, klang so merkwürdig, so geheimnisvoll.

Aber er mußte wohl gehorchen. Man konnte ja nicht wissen. Gerade mit „den“ Leuten durfte man es nicht verderben, die ließen nicht mit sich spaßen.

Es dunkelte bereits, und er schlenderte langsam durch den Vorgarten der Straßenpforte zu, schaute ein wenig die Straße hinauf und hinunter. Ah – da kam ja schon der Briefbote dahergeradelt, hielt vor der Villa, reichte ihm eine Depesche und einen Brief und zeigte ihm dann noch etwas, daß wie eine Münze aussah. Es war die Legitimationsmarke Heinrich Schöttlers.

Als Herr und Frau Renz um acht Uhr heimkehrten, teilte ihnen Hella mit, daß Friedrich telegraphisch an das Sterbebett seiner Mutter gerufen worden wäre.

„Ich habe ihm Urlaub gegeben, da er als Ersatz für sich einen guten Freund, auch einen herrschaftlichen Diener uns schicken wollte und zwar noch heute. Er übernimmt für seinen Vertreter volle Verantwortung, wie er mir in Gegenwart der Köchin wiederholt versicherte. Wenn der Ersatzmann also stiehlt, kommt’s auf Friedrichs Rechnung.“ –

Um halb neun erschien der neue Diener mit einem mittelgroßen Koffer. Er mußte gleich bei der Abendtafel bedienen. Man erwartete ein paar gute Bekannte, – Halfners, Eberleins und Master Shoost mit einem Landsmann, der erst mittags von England eingetroffen war.

Der neue Diener hieß Anton. Schon als er sich den Herrschaften in seiner tadellosen Livree – sogar Kniestrümpfe und Halbschuhe trug er! – vorstellen kam, fällte Frau Renz das Urteil, Friedrich sehe im Vergleich zu dem Neuen wie ein Bauer aus.

Anton hatte dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar, das tadellos gescheitelt war. Der Bart, Fasson Kaiser Wilhelm, war genau so wohlgepflegt. Sehr starke Augenbrauen und eine durchsichtige Blässe im Verein mit ein Paar von dunklen Rändern umgebenden Augen verliehen seinem Gesicht etwas Fremdländisches, und Anton erklärte denn auch auf Befragen, er stamme von einer ungarischen Mutter ab. Sein Benehmen und seine Bewegungen waren von so vornehmer Würde, daß Hella sich noch kurz vor dem Eintreffen der Gäste erkundigte, wo er zuletzt in Stellung gewesen sei.

„Bei dem Herrn Grafen von Mixeika in Polkrusch in Schlesien, gnädiges Fräulein. Dann wurde ich krank und befand mich bis vor kurzem in einer Berliner Klinik.“

Seine Stimme war leise und stand ganz in Einklang mit seinen lautlosen, gemessenen Schritten. – „Er trägt sicher Gummiabsätze“, dachte Hella. –

Almeida Shoost und Master Harry Timpsear erschienen zuerst.

Anton half ihnen aus den Mänteln.

Shoost stutzte beim Anblick des neuen Gesichts. –

„Wie heißen Sie? Wo ist Friedrich?“ fragte er auf Englisch.

„Verzeihung, ich spreche außer deutsch nur französisch,“ erwiderte der Diener mit geschmeidiger Verbeugung. Und dann klärte er Shoost darüber auf, wie er zu dem Kommerzienrat gekommen sei.

Bei Tisch zeigte sich Anton genau so gewandt. Seine geräuschlose Art fiel allgemein angenehm auf.

Frau Bankier Halfner sagte denn auch zu der Dame des Hauses, sie hätte große Lust, diesen Menschen, der so eine vorzügliche Schulung besäße, sich zu sichern. Da man nur im kleinen Kreise war, fragte sie Anton, als er ihr die Bratenschüssel reichte, ob er bereits einen neuen Dienst hätte. Er entgegnete, sein früherer Herr, Graf Mixeika, hätte vor drei Tagen geschrieben, er solle möglichst bald sich auf Schloß Polkrusch wieder einfinden.

„Schade,“ meinte Frau Halfner. „Man entdeckt so selten Bediente, die einem gleich auf den ersten Blick zusagen. Wir lieben es nicht, mit unseren Leuten zu wechseln. Der arme Lamka war ja auch viele Jahre bei uns.“

„In den Zeitungen steht jetzt täglich etwas von dem Morde,“ mischte sich Almeida Shoost ein. „Der Mann war Ihr Chauffeur. Ich wollte Ihnen noch aussprechen mein Bedauern, daß Sie einen anderen suchen müssen.“

Anton stand an der Anrichte und beobachtete, während er Rotweingläser ausrieb, Hellas Gesicht. Er wollte sehen, ob das Mordthema bei ihr besondere Wirkung hervorbrachte. Ihm schien es denn auch wirklich so, als ob sie den Engländer sehr scharf und etwas lauernd musterte.

„Ja, es ist auch unendlich zu bedauern, daß gerade diesen zuverlässigen, treuen, nüchternen Menschen das Schicksal in dieser Gestalt ereilen mußte,“ hatte Frau Halfner erwidert. –

Und ihr Gatte fügte hinzu: „Er war zudem ein glänzender Fahrer. Das haben Sie ja selbst anerkannt, Shoost.“

„So? – Ich besinne mich nicht mehr.“

Master Harry Timpsear, etwas kleiner als sein Geschäftsfreund Shoost, fragte jetzt, ob man denn schon eine Spur der entflohenen drei Personen entdeckt habe. Er hatte Hella zu Tisch geführt, war aber nicht sehr gesprächig. Die deutsche Sprache beherrschte er ebenso gut wie sein Landsmann, dem er auch hinsichtlich des Gesichtsschnittes – typisch englisch – auffallend glich.

Halfner, der wohl am besten über die Maßnahmen der Polizei unterrichtet sein mußte, eben als Dienstherr des Ermordeten, antwortete, er glaube kaum, daß die Beamten bereits einen Erfolg aufzuweisen hätten. Dieser Kriminalfall wäre sicherlich ein recht schwieriges Stück Arbeit.

Einen Augenblick Stille. Dann sagte Hella mit etwas ironischem Auflachen:

„Master Shoost, Sie wollten doch einen Detektiv aus London herbeordern und der deutschen Polizei durch diesen totale Unfähigkeit nachweisen? Wissen Sie noch – gestern sprachen Sie davon – beim Mittagessen.“ Plötzlich drehte sie den Kopf nach ihrem Tischherrn hin. „Mister Timpsear, sind Sie etwa dieser Detektiv? Sie sind doch erst heute in Berlin eingetroffen? – Wirklich, beinahe möchte ich annehmen, daß ich mit meiner Vermutung recht habe.“

Harry Timpsear nickte. „Zur Hälfte, Miß Renz. Ich habe den Detektiv mitgebracht.“

„Ah – und – ich möchte so gern mal einen englischen Detektiv kennen lernen,“ meinte Hella schnell.

Dem Diener Anton entging kein Wort, keine Veränderung der Gesichtszüge, während er lautlos die Rotweingläser auf dem Tisch stellte.

„Bitte!“ sagte Shoost gleichmütig. „Wenn der Herr hier sein Geschäft erledigt hat, werde ich ihn herbringen. Vorher geht es nicht.“

Bankier Halfner fragte jetzt kopfschüttelnd:

„Wirklich Shoost, Sie haben sich einen Detektiv verschrieben? Und nur, um –“

„– um Miß Hella zu zeigen, daß England in jedem Fache das beste leistet, allerdings!“ vollendete der lange Brite kühl.

Anton fand abermals, daß Hella gerade diesen Herrn sehr sonderbar fixierte.

August Renz mit dem Bülowkopf lachte. „Sowas nennt man eben englischen Spleen! – Nehmen Sie mir die Bemerkung aber nicht übel, Master Shoost.“

„Spleen? Berechtigtes englisches Selbstbewußtsein,“ verbesserte dieser gelassen.

Dann kam Halfner auf den neuesten Mord im „Frankfurter Hof“ zu sprechen.

„In den Abendzeitungen stehen lange Artikel darüber,“ sagte er mißbilligend den Kopf schüttelnd. „Die Presse sollte dem Sensationshunger der Menge nicht in dieser Weise Rechnung tragen.“

„Der Mörder ist bereits verhaftet, ein wahres Glück,“ erklärte der Kommerzienrat. „Ich kenne den Besitzer des Hotels. Reitner wird schön wütend sein. Ein solcher Mord schade dem Geschäft ungemein.“ – Und lediglich aus Höflichkeit fragte er dann Timpsear: „Wo sind Sie abgestiegen? Wohl auch im „Zentral“? Darauf ist Master Shoost ja eingeschworen. Man sagt, die Hoteldirektion hält für einen so häufigen Gast schon immer dasselbe Zimmer frei.“

Timpsear zögerte unmerklich mit der Antwort. Niemandem fiel das auf, nur dem Diener Anton, und – vielleicht auch Hella, denn sie schaute ihren Tischherrn mit einer gewissen Erwartung an.

„Natürlich im „Zentral“,“ erwiderte Timpsear dann. „Wo sonst? Es liegt am bequemsten.“

Das Gespräch lenkte nun auf Berliner Hotelneubauten über. –

*

Als sich die Gäste gegen ein Uhr nachts verabschiedet hatten, packte der Diener Anton unter Aufsicht Hellas noch das Silber weg.

Hella saß neben dem Kamin auf der geschnitzten Ofenbank und gab Anton kurze Anweisungen. Dann ließ sie sich den Schlüssel des Silberkastens reichen und erhob sich.

„Bleiben Sie noch, Anton, ich habe mit Ihnen zu reden,“ sagte sie leise. „Sehen Sie aber erst nach, ob in den Nebenzimmern niemand mehr ist.“

Er ging und kehrte bald mit der Meldung zurück, daß ein Lauscher nicht zu fürchten sei. –

Hella hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet, nickte dem Diener zu und meinte:

„Sie scheinen mir ein recht aufgeweckter Mensch zu sein, Anton! Sind Sie eigentlich Deutscher oder Ungar?“

„Mein Name Zisgary klingt vielleicht ungarisch, aber ich bin Deutscher mit Leib und Seele, auch Gefreiter der Landwehr, gnädiges Fräulein.“

„So so. Haben Sie gehört, wie bei Tisch über den englischen Detektiv gesprochen wurde?“

„Ein guter Diener hört, aber vergißt sofort wieder.“

„Nun, ich möchte diesem anmaßenden Master Shoost, der über unsere Polizei so geringschätzig denkt, einen Streich spielen. Wollen Sie mir dabei helfen?“

„Mit tausend Freuden, gnädiges Fräulein.“

„Gut. Dann suchen Sie morgen – nein, heute vormittag, da es bereits nach Mitternacht ist, festzustellen, wie dieser Detektiv heißt und wo er wohnt. Ich denke mir, Master Shoost wird im Laufe des Vormittags wohl eine Unterredung mit ihm haben. Am besten also, sie begeben sich möglichst früh ins „Zentral Hotel“ und –“

„Ich verstehe, gnädiges Fräulein, ich verstehe,“ meinte Anton, ihr im Übereifer ins Wort fallend, weswegen er sich aber sofort auch wieder entschuldigte.

„Nicht nötig, Anton. – Dann müssen Sie mir noch die Zimmernummer Shoosts und Timpsears aufschreiben. Mein Bräutigam, der heute wegen einer Sitzung im Künstlerverein nicht zu uns kommen konnte, will bei den Herren seine Karte abgeben.“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein. – Darf ich mir vielleicht einen Vorschlag erlauben? – Wäre es nicht besser, wenn ich den beiden Herren sofort folgte? Ich hörte, wie die Herren zu Herrn Halfner sagten, sie könnten leider nicht mit ins „Kaffee Kumberland“, da sie eine Verabredung im „Kaffee des Westens“ hätten. – Ich bin im Augenblick umgezogen. Gnädiges Fräulein müssten mir nur Urlaub bis heute Mittag geben.“

Doch Hella schüttelte den Kopf, lächelte und meinte: „Nein, Anton, – wenn Sie mit Ihrem charakteristischen Gesicht – pst, – es kommt jemand. – Stellen Sie den Wein noch ins Buffet, Anton, und dann müssen Sie mir noch die Noten wegpacken.“

Es war das Stubenmädchen, das Hella fragen kam, ob das gnädige Fräulein noch Befehle hätte.

„Nein, Sie können schlafen gehen. – Sind meine Eltern schon oben in ihren Zimmern?“

„Jawohl.“ –

Das Mädchen verschwand.

Hella wandte sich wieder dem Diener zu. „Nein, Anton, Shoost und Timpsear würden Sie sofort wiedererkennen, wenn sie Sie im „Café des Westens“ bemerkten. Das geht also nicht.“

„Dieselbe Gefahr würde im „Zentral Hotel“ vorliegen, gnädiges Fräulein.“

„Doch nicht! Wenn Sie die Sache schlau anfangen, so läßt sich eine direkte Begegnung schon vermeiden.“

Anton verneigte sich zustimmend. „Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. – Noch eine Frage zu meiner Information. Die beiden Engländer sind Kaufleute? Und wo beheimatet?“

„Shoost ist Mitinhaber einer Maschinenfabrik in Margate, Timpsear Direktor – hm, – ja richtig einer Firma, die hauptsächlich Motoren baut, – auch in Margate.“

„Margate – Margate?“ sprach Anton nachdenklich vor sich hin.

„Eine Hafenstadt an der Südküste Englands,“ klärte Hella ihn auf.

„Oh – ich weiß – ich weiß!“ meinte er, immer noch mit auffallend grüblerischem Gesichtsausdruck. „Margate – Margate – nun hab’ ich’s!“ Und ein Aufleuchten ging über sein Gesicht hin.

„Was denn? Was wollen Sie immer mit Margate?“ fragte sie herrisch.

„Den Zusammenhang habe ich gefunden!“ Seine Stimme, bisher stets leise, fast heiser, hatte plötzlich einen ganz anderen Klang angenommen.

Hellas Augen weiteten sich. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. – Diese Stimme – diese Stimme?! Das war doch nicht mehr der Diener Anton, der so kurz, so energisch jetzt plötzlich die Worte geformt hatte.

Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie wurde blaß, hob den rechten Arm wie beschwörend und stieß hervor:

„Sie – Sie sind – der Kommissar Backländer – kein anderer!“

Er verbeugte sich.

„Sie sollten mich erkennen, gnädiges Fräulein,“ sagte er gelassen. „Ich habe nämlich vieles mit Ihnen zu besprechen. Hätten Sie mich nicht vorhin hier noch zurückgehalten, so hätte ich’s getan. Aber so war mir’s lieber, zumal Sie sich noch weiter verraten haben.“

Hella war trotz ihrer sonstigen Geistesgegenwart so verwirrt, daß sie Backländer nur wie einen bösen Geist anstarrte und kein Wort der Erwiderung fand.

„Ich denke, wir gehen ins Musikzimmer,“ meinte der Kommissar. „Dort ist es behaglicher.“

Heller folgte ihm zögernd. Sie hatte das Gefühl, sich auf schwankendem Boden zu bewegen. Sie ahnte, daß Backländer jetzt mit ihr abrechnen würde, daß er sie in seiner Gewalt hatte.

Dann saßen sie wieder an demselben Notentischchen wie am Nachmittag, als Backländer sich als Maler Erwin Müller sich Zutritt zu der Villa Renz verschafft hatte.

Der Kommissar ging jetzt ohne Umschweife auf sein Ziel los.

„Da ich eingesehen hatte, daß ich nur durch List Ihnen das entlocken könnte, was Sie durchaus für sich behalten wollten, mußte ich diese kleine Komödie inszenieren. Der Erfolg war glänzend. Ich weiß jetzt noch mehr, als ich zu erfahren hoffte. – Bei Tisch habe ich Sie sehr genau beobachtet. Als von dem Morde gesprochen wurde, ließen Sie kein Auge von Shoost. In Ihren Blicken war ein sehr beredtes Forschen, gnädiges Fräulein. Daß der Diener Anton dies bemerken könnte, ahnten sie nicht. Auch Timpsear schauten Sie einmal recht mißtrauisch an. – Dies genügte mir vorläufig. – Nach Tisch richteten Sie es dann so ein, daß Sie mit Shoost draußen auf der Diele allein waren – etwa fünf Minuten lang. Ich hatte aufgepaßt wie ein Luchs, hielt mich möglichst in Ihrer Nähe auf. So hörte ich, wie Sie Shoost sagten, er solle nach der Diele gehen, Sie würden alsbald nachkommen. Ich war schneller als der Engländer, kroch draußen unter den linken Ecktisch, zog die Decke vorn tiefer herunter und – wartet. Shoost erschien zuerst, dann Sie. Sie standen vor dem Kamin –“

Hella war wieder bleich geworden.

„Oh – das ist schändlich von Ihnen!“ unterbrach sie Backländer und sprang auf. „Ich will nichts mehr hören! Sie sind kein Gentleman, Sie sind ein –“

„Setzen Sie sich,“ sagte er befehlend. „Setzen Sie sich! Ich diene der Gerechtigkeit, mein gnädiges Fräulein! Ich tat nur meine Pflicht! Oder soll der Mord an Lamka und jenes Herrn im „Frankfurter Hof“ etwa ungesühnt bleiben?! Und das wäre vielleicht geschehen, wenn ich nicht den – Gentleman bei Seite geworfen und Sie beide belauscht hätte.“

Hella ließ sich wieder in einen Sessel fallen, ganz matt. Was war dies nur für ein gefährlicher Mensch, dieser Kommissar! – Und über den hatte sie triumphieren zu können gehofft? – Ja, dieser Backländer war ihr gewachsen, der war noch rücksichtsloser als Shoost, – freilich rücksichtslos im Interesse der Allgemeinheit.

„Also Sie beide standen vor dem Kamin,“ fuhr der Kommissar fort. „Die Unterhaltung begann damit, daß Shoost fragte, weshalb sie ihn zu dieser Unterredung unter vier Augen bestellt hätten. – „Die Neugier,“ sagten sie. Und dann erklärten sie ihm, Sie möchten zu gern wissen, in wen er denn so sehr verliebt wäre, daß er damals ganz in Gedanken gerade jene zwei Buchstaben in das Herz eingedrückt hätten. – Shoost sagte darauf etwas von Eifersucht, und Sie erwiderten: „– Vielleicht!“ – Ich merke, Sie spielten mit ihm, und er ließ sich hinters Licht führen. – ich hörte weiter, wie Sie die Buchstaben K. M. erwähnten, auch ein italienisches Lied. Shoost sollte Ihnen durchaus die Dame nennen, die seinem Herzen so nahe stände. Er wurde dann etwas zudringlich Ihnen gegenüber, beschwor sie, ihre Verlobung zu lösen und die Seine zu werden. Jene Dame hätte er längst vergessen – längst. –

Ich habe selten jemand so schlau schauspielern gesehen wie Sie vor dem Kamin. Sie brachten Shoost wirklich soweit, daß er Ihnen eingestand, die Dame sei keine Engländerin, sondern eine Deutsche gewesen. Vielleicht hätten Sie auch noch mehr aus ihm herausgelockt, wenn Sie nicht durch Ihren Vater gestört worden wären, der plötzlich die Diele betrat und fragte, wo eigentlich der Diener Anton stecke. – Anton steckte unterm Tisch keine vier Schritt entfernt! –

Das war mein zweiter Erfolg an diesem Abend. Den ersten hatte ich bei Tisch gehabt, – weil Sie Ihren Gesichtsausdruck zum Glück nicht gut beherrschen können. Dann kam vorhin der dritte, als Sie – Shoost einen Streich spielen wollten, wie Sie mir aufzubinden versuchten. Ich wußte aber bereits Bescheid. Sie haben eben gegen Shoost Mißtrauen geschöpft. –

So – nun werden Sie mir ganz genau mitteilen, was es mit diesem Herzen für eine Bewandtnis hat. Sträuben Sie sich nicht! Ich warne Sie! Ich muß die Wahrheit erfahren, und sollte ich Sie auf der Stelle – doch nein, das wird nicht nötig sein! Warum wollen Sie nicht Hand in Hand mit mir weiter an der Entlarvung des oder der Verbrecher arbeiten?! – Ich bitte Sie also, gnädiges Fräulein, – hier, schlagen Sie ein! Vertrauen gegen Vertrauen!“ Er hatte ihr die Hand hingestreckt.

Zögernd legte sie die ihrige hinein und sagte: „Mit Drohungen hätten Sie bei mir nichts erreicht. – Was wollten Sie denn auch tun, wenn ich schwieg?“

„Ich hätte Sie sofort verhaftet – wegen Verdunkelungsgefahr. Draußen vor Ihrer Villa stehen zwei meiner Beamten Posten, seit – Anton hier ist. Ich war ein Mal bei ihnen, gab ihnen Anweisungen, nachdem ich die Dielenszene miterlebt hatte. Der eine folgt Shoost und Timpsear, – der andere steht mir noch zur Verfügung. Und er hätte Sie nötigenfalls zur Wache gebracht.“

Hella hatte ihre Hand mit einem Ruck zurückgezogen.

„Sie – Sie sind wirklich –“

„– ehrlich bin ich! – Doch nun, gnädiges Fräulein, nicht mehr dieses bitterböse Gesicht! Glauben Sie mir, wir werden noch ganz gute Freunde werden. Mit mir läßt sich sehr gemütlich verkehren, wenn man nur – gehorcht. Und das müssen auch Damen manchmal. Es gibt eben Männer, die das Wort jenes großen Frauenverächters und Philosophen gegebenen Falles beherzigen: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!“ – Aber dieses Thema gehört nicht hierher. Shoost ist mir augenblicklich auch interessanter.“

 

14. Kapitel.

Im Salon nebenan schlug die Kaminuhr mit hellem Glockenton zwei.

„Schon so spät,“ meinte Backländer. „Wir müssen uns beeilen, gnädiges Fräulein. – Also wie war es mit dem Herzen?“

Hella hatte jeden Widerstand aufgegeben. Diesem Manne gegenüber war sie machtlos, das fühlte sie. Und sie erzählte gehorsam, antwortete auf seine Fragen, – über alles, was er wollte, gab sie Auskunft.

„Die Buchstaben hatten also Ihren Verdacht erregt, zumal Shoost nachher die plumpe, ungeschickte Ausrede mit dem italienischen Liede hervorsuchte?“ meinte er, nachdem er genügend Bescheid wußte. Als sie bejahte, fuhr er fort: „Sie haben bei dem K. M. an Käti Marla gedacht. Das hätte auch ich getan. Und dies war eben der geringe Anhaltspunkt, von dem Sie Olaf Longreen gegenüber sprachen.“

Sie bejahte abermals und fügte hinzu: „Der Verdacht wurde noch stärker, als mein Bräutigam mir heute – nein, gestern nachmittag berichtete, daß der Herr, der Lamka mit dem Auto fortlockte, nach ihrer Ansicht ein guter Bekannter Halfners gewesen sein müsse. Und dies trifft auch auf Shoost zu. Wenn er in Berlin ist, besucht er Halfners regelmäßig. Und er ist sehr oft in Deutschland.“

„Auf der Liste, die Halfner mir von seinen näheren Bekannten zusammengestellt hat, ist Shoost nicht vorhanden,“ meinte Backländer. „Er wird an den Briten nicht gedacht haben. – Ihr Mißtrauen gegen Shoost ließ Sie diesen bei Tisch dann genau beobachten, als die Rede auf den Mord kam?“

„Allerdings. Und mir fiel folgendes auf: Shoost wollte offenbar absichtlich nicht zugeben, daß er den armen Lamka recht gut gekannt hatte. – Dann, ich glaube herausgemerkt zu haben, daß Timpsear etwas mit der Antwort zurückhielt, als er gefragt wurde, wo er abgestiegen sei. Ich hatte auch das Gefühl, daß er log, als er das „Zentral Hotel“ nannte. – Und in diesem Augenblick, wo ich eine Unwahrheit witterte, dachte ich plötzlich daran, daß der zweite Ermordete erst gestern früh in den „Frankfurter Hof“ abgestiegen war und daß Timpsear an demselben Vormittag nach Berlin gekommen war. – Sie, Herr Kommissar, sollten im „Zentral Hotel“, nachdem ich auf der Diele noch von Shoost erfahren hatte, daß K. M. eine Deutsche gewesen war, nur für mich als Diener Anton feststellen, ob Timpsear dort wirklich wohnte. An den englischen Detektiv glaubte ich nämlich nicht. Den hat Shoost erfunden. Zu welchem Zweck, ist mir unklar.“

„Hier bin ich anderer Ansicht, gnädiges Fräulein. Vielleicht will er sich durch diesen Detektiv nur darüber auf dem Laufenden halten lassen, was die Polizei unternimmt. Möglich ist das schon. Und wenn er ganz öffentlich hier bei Ihnen von diesem Manne gesprochen hat, so mag er dabei die Absicht verfolgt haben, für diese Berufung eines Spions eine harmlose Erklärung abgeben zu können, falls der Bursche von uns erwischt wird. – Doch diese Sache wäre ganz belanglos, wenn eben nicht wirklich vielleicht Timpsear der Detektiv wäre.“

„Nein, nein,“ fiel ihm Hella ins Wort. „Dies trifft nicht zu. Ich habe Herrn Halfner nach Tisch gefragt, ob Timpsear ihm bereits von früher her bekannt sein. Er bejahte. Erkenne ihn zwar nur flüchtig, aber Fabrikdirektor sei der Mann bestimmt.“

„Nun gut. Das mag stimmen. – Ich will Ihnen jetzt eine Neuigkeit berichten, die für uns sehr wichtig ist.“ Er erzählte von dem Selbstmordversuch Robert Marlas und spann dieses Ereignis weiter aus.

„Es hätte also beinahe noch ein drittes Opfer gegeben, daß mit der Autogeschichte in Verbindung steht. Und diese Verbindung ist Käti Marla. Ich will die Zusammenhänge kurz anführen: Käti Marla bringt die Nacht nach der Flucht aus dem beschädigten Auto bei Longreen zu, verschwindet dann wieder. Munkel lockt ihren Bruder in den Bierpalast „Siechen“, wo die Schwester angeblich mit dem Bruder zusammentreffen will, – Stichwort Katharina! Käti kommt natürlich nicht ins „Siechen“, dafür ein glattrasierter Herr, mit dem Robert Marla sich durch einen Blick verständigt, worauf beide auf dem Leipziger Platz eine Unterredung haben. Munkel folgt dem Glattrasierten in den „Frankfurter Hof“, wo dieser selbe Bekannte Robert Marlas am nächsten Tage tot aufgefunden wird. Peter Arnberg aber erkennt dann in dem Ermordeten jenen angeblichen Doktor Runkel, der fraglos mit zu den drei Entflohenen gehört hat. Als ich von dem Rechtsanwalt Marla nunmehr den Namen des Mietzen-Runkel erfahren will, versucht er sich zu erschießen. – Damit ist der Kreis geschlossen. Die beiden Morde und der Selbstmordversuch gehören also zusammen.“

„Diese Beweisführung kann kaum klarer sein. – Wie aber nun Shoost fangen, Herr Kommissar?“ Hella glühte jetzt das Gesicht vor Eifer.

Backländer lächelte. „Das wird nicht so schnell gehen, gnädiges Fräulein, wenn Sie’s auch noch so sehr wünschen. Die Beweise, die bisher dafür vorliegen, daß er mit in den besagten Kreis gehört, sind zu zählen und genügen nicht, um ihn zu verhaften. Prüfen wir diese Beweise einmal nach. –

Da wären zuerst die Buchstaben in den Brotherz, K. M., zweifellos Käti Marla. Unbewußt hat Shoost das Herz geformt, als von dem Morde gesprochen wurde. Der Mord an Lamka rief also eine Idee in Verbindung bei ihm hervor, – von der Autopanne bis zu Käti Marla. Zweitens, er hat Anton Lamka gekannt. Drittens, Shoosts Freund Timpsear hat – vielleicht! – gelogen, als er sagte, er sei im „Zentral Hotel“ abgestiegen. Und viertens – dies ist für Sie neu! –: in Käti Marlas Hut und Mantel fand ich Schildchen von Firmen aus – Margate. Die Sachen sind also dort gekauft worden, wo die beiden Engländer ihren Wohnsitz haben! – Im übrigen aber gibt es bisher keine weiteren Fäden, die Shoost mit diesen drei traurigen Ereignissen verbinden. Jeder sichere Beweis, daß er der Mörder ist oder doch mit diesem im Bunde steht, fehlt, ebenso wie eine Brücke von ihm zu Käti Marla. Man kann nur vermuten, daß er schon damals seine Hand mit im Spiel hatte, als diese junge Dame unter so merkwürdigen Umständen sich ihrem Verlobten Arnberg entzog. Nur vermuten! Und daher wird man auch der Vergangenheit Beachtung schenken müssen. –

Sie sollen auch sehen, gnädiges Fräulein, wie dunkel in ihren Motiven diese beiden Morde und der Selbstmordversuch sind. Ich will nur einige Fragen aufwerfen! Zu welchem Zweck wurde gerade das Halfnersche Auto weggelockt, was wollten die Insassen auf Schmargendorfer Gebiet, wozu mußte Lamka hingeschlachtet werden, aus welchem Grunde die neue Bluttat an Runkel-Meitzen, wozu nahm der Mörder diesem alles ab, um eine Identifizierung zu erschweren, weshalb jagte sich Marla eine Kugel in die Stirn und – weshalb hätte sich seine Schwester verborgen, die in Longreens Atelier Arnbergs Bild sich angeeignet hat, also Arnberg noch immer zu liegen scheint.“

Hella schüttelte den Kopf. „Man wird ganz wirr bei all diesen Fragen. Ich bin so gespannt, wie die Lösung dieses Knäuels von Rätseln sein wird.“

Backländer dachte: „Sensationshunger! – Welch schwieriger Frauencharakter! Sicher ein Produkt ganz falscher Erziehung!“ –

Und ein leises Gefühl des Widerwillens gegen Hella beschlich ihn. Am belastendsten für sie war ja die Szene auf der Diele gewesen vor dem Kamin. Mit allen Mitteln, die einem schönen, verführerischen Weibe zu Gebote stehen, hatte sie da dem Engländer eine eifersüchtige Regung vorgetäuscht, – auch nur der Sensationslüsternheit wegen! –

Und dieses raffinierte Geschöpf später an der Seite des gutmütigen, weltunerfahrenen Malers! Das würde eine trostlose Ehe abgeben!

„Woran denken Sie?“ fragte Hella nun schon zum zweiten Male. „Sie blicken so finster, so – feindselig vor sich hin.“

Er sah sie voll an. „Ich dachte über Sie nach, gnädiges Fräulein.“

Er erhob sich. „Über Sie! – Wenn ich Ihr Freund sein dürfte, hätte ich viel – doch nein! – Gute Nacht, gnädiges Fräulein!“

„Oh – so kommen Sie mir nicht davon,“ sagte sie schnell. „Sie müssen den Satz beenden – müssen!“

„So?! – Müssen?! Ich werde nie einem Weibe gehorchen, das in diesem Tone zu mir spricht. – Aber – wozu noch zuletzt eine Mißstimmung? – Gute Nacht –“

„Nein, – nein, – Sie sollen ehrlich sein, bitte, bitte! – Was wollten Sie vorhin sagen?“

„Gut denn! Wäre ich Ihr Freund, hätte ich viel umzumodeln an Ihrem Charakter, denn es ist Freundespflicht, mitzuhelfen, daß der andere sich seelisch nach der guten Seite hin entwickelt.“

Hella schoß das Blut jäh in die Wangen, und ihr Kopf beugte sich langsam, als hätte Hans Backländer ihr eine Zentnerlast auf den Scheitel gelegt. Und ganz leise fragte sie:

„Sie halten mich für – schlecht?“

Er schwieg, ging zur Tür. Er war zu aufrichtig, um etwas zu beschönigen.

Sie hörte das Türschloß einschnappen, blickte auf, sah sich allein.

Ihr Mund begann sich zu einem ironischen Lächeln zu verziehen. Aber dann rollten mit einem Male zwei heiße Tropfen über ihre Wangen. Das Lächeln erstarb, der Mund preßte sich schmerzlich zusammen.

Hella Renz saß vor dem Tischchen, ihr Kopf lag auf den Händen, die auf den Notenheften ruhten, und sie weinte – weinte, daß ihr Oberkörper bebte, als rüttele ein Sturm daran.

Es war ein Sturm in ihrem Innern. Vielleicht ein Sturm, der ein krankes Herz rein fegte. –

Backländer war in das Dienerzimmer ganz leise hineingeschlichen, hatte sich schnell umgezogen und stieg nun ebenso lautlos, eine elektrische Taschenlampe als Leuchte benutzend, wieder ins Erdgeschoß hinab.

Als er gerade an der Tür des Musikzimmers vorüber wollte, öffnete die sich und Hella trat in den Flur.

Vor dem weißen Lichtkegel prallte sie zurück.

„Ich bin’s, Backländer,“ sagte er leise. Er sah ihre verweinten Augen. Sollte ihr doch noch zu helfen sein?! Die Tränenspuren und der Gesichtsausdruck sprachen dafür.

„Wo wollen Sie hin?“ fragte Hella. „Etwa noch –“

„Ja, noch auf die Jagd! Zum mindestens aber meinen Bekannten draußen fragen, ob inzwischen etwas Neues sich ereignet hat. – Gute Nacht, gnädiges Fräulein.“

Sie reichte ihm die Hand, schien nach Worten zu suchen. Dann mit tränenverschleierter Stimme:

„Bleiben Sie – mein Freund. Ich – brauche Sie – gerade Sie!“ Und sie eilte schnell davon.

Er stand, schaute ihr nach, hörte das leise Knistern seidener Röcke auf der Treppe und murmelte:

„Also wirklich! Vergiß die Peitsche nicht! – Ein Rezept für Hella Renz!“

*

In der Königsallee hielt hundert Meter von der Renzschen Villa entfernt ein Taxameterwagen. Auf diesen ging Backländer zu. Es war ein Polizeiauto, wenn es auch äußerlich ganz einem harmlosen, dunkelrot gestrichenen Uhr-Töff-Töff glich, und es war eigens als Unterkunftsraum für die Beamten hierher bestellt worden.

Der Chauffeur schlief und schnarchte. Auch im Innern herrschte Stille. Dort saßen bequem zurückgelehnt und in Decken gehüllt zwei Gestalten.

Backländer rüttelte die eine. Der Mann fuhr empor.

„Wie, Munkel, Sie sind’s? Nanu, wie kommen Sie hierher?“

Auch der andere wurde munter und sagte schnell:

„Endlich, Herr Kommissar!“ – Es war der „Pastor“.

Gleich darauf fuhr das Auto in Richtung Berlin davon.

„Es muß etwas ganz Besonderes passiert sein, Munkel. Sonst wären Sie nicht hier,“ hatte Backländer geäußert, während Schöttler den Chauffeur weckte.

„Allerdings. Ich habe mich wieder mit einigem Erfolg als Privatdetektiv betätigt.“

„Aha. Bin sehr gespannt. – Ich soll also wohl mitkommen?“

„Ja – bitte.“ – Schöttler stieg wieder ein, und der Wagen ruckte an.

„Los, erzählen!“ munterte Backländer den Diener Arnbergs auf.

„Ich hatte heute – nein gestern nachmittag nichts Rechtes zu tun.  Die beiden Morde wollten mir nicht aus dem Sinn. Ich grübelte immer wieder darüber nach, während ich den Garten in Ordnung brachte. Dann litt es mich nicht länger daheim. Ich hatte mir vorgenommen, auf dem Wege nach dem Bahnhof Schmargendorf überall in den Häusern bei den Portiersleuten Nachfrage zu halten. Ein Portier steht früh auf, und vielleicht hatte einer von ihnen die verschleierte Dame im hellgrauem Filzhut und Lodenumhang gesehen. Die Gegend dort ist ja so wenig belebt, daß einem schon eine einzelne Person auffallen kann.“

„Haben Sie etwa Fräulein Marla gefunden?“ fragte der Kommissar hastig.

„Ja, ich habe sie gefunden.“

„Hören Sie, Munkel, das – das ist ja famos, glänzend, großartig.“

„Scheint nur so – leider! Sie ist schwer krank, – Nervenfieber, – phantasierte. Als Zeugin kommt sie vorläufig ebensowenig in Betracht wie ihr Bruder. – Zunächst hatte ich kein Glück. Ich ließ aber nicht nach und fragte auch in Straßen an, die eigentlich schon weiter ab lagen. Dann kam mir eine Kolonne Straßenreiniger entgegen, drei ältere Leute und zwei Frauen. – Halt, sagte ich mir, vielleicht lohnt es, diese mal auszuforschen. Sie sind ja auch schon mit Tagesanbruch auf den Beinen. – Na, und da kam ich endlich vor die richtige Schmiede. Eine der Frauen mit einem Mundwerk wie ein Windmotor – schwer zum Stehen zu bringen! – erzählte, sie und ihre Kollegen hätten morgens gegen halb sieben dicht am Bahnhof Schmargendorf eine weibliche Person getroffen, die so angezogen gewesen wäre, wie ich es eben beschrieben hatte, und die sich kaum vorwärtsschleppen konnte. Erst hätten sie geglaubt, das Weib wäre betrunken, dann aber sei die Person plötzlich umgesunken und der Portier des Eckhauses vor dem Bahnhof hätte als freiwilliger Sanitäter erklärt, daß Fräulein sei ohnmächtig und wohl recht krank. Der Portier wäre es denn auch gewesen – mal so einer von der gutmütigen Sorte! – der mit Hilfe seiner Frau die Bewußtlose zunächst in seine Wohnung geschafft hätte. Was dort aus ihr geworden, wisse sie nicht. –

Ich im Sturmschritt nach jenem Eckhaus hin. Aber – der Portier schüttelte den Kopf. Das Fräulein sei längst – längst wieder weg. Wohin, könne er nicht angeben. – Ich merkte aber, daß er mich recht mißtrauisch musterte und offenbar etwas verschwieg. Ich mußte trotzdem unverrichteter Sache abziehen. Um halb acht war ich wieder daheim. Um neun kam mein Herr mit Alarich, unserem Dobermann, zurück. Ich wußte nicht recht, ob ich ihm diesen kleinen Erfolg meiner Nachforschungen mitteilen sollte. Erst als er gegen halb zehn zufällig fragte, was ich nachmittags getrieben hätte, wollte ich ihn nicht belügen und erzählte alles. Und da hatte er’s sehr eilig, selbst nochmals mit dem Portier zu sprechen. Als wir vor dem Hause angelangt waren, trat gerade unser Sanitätsrat Fröhlich, einer der Ärzte der Grunewald-Kolonie, auf die Straße. –

Herr Arnberg ist ja nun immer recht fix mit dem Gedanken. „Wo kommen Sie her, Herr Sanitätsrat? Etwa von der Kranken, die der Portier hier von der Straße aufgelesen hat?“ fragte er ganz unvermittelt. – Fröhlich war sehr erstaunt. „Sie wissen, Herr Arnberg?“ – Das genügte meinem Herrn. Wir ließen den Doktor stehen und eilten die Treppe des Nebeneingangs hinab. In dem Kellereingang links wohnt der Portier. Das Ehepaar saß im ersten Zimmer. Es sah sehr unordentlich dort aus. Man merkte, daß Möbel umgestellt worden waren. Es war auch sehr eng. Zwei Betten standen in das Zimmer hinein, das früher sicher nicht als Schlafraum bestimmt gewesen war. – Der Portier wurde fast grob, weil mein Herr ohne anzuklopfen eingetreten war. Aber Herr Arnberg war auch sehr kurz angebunden. – „Die Dame ist hier! Wenn Sie nicht die Wahrheit sagen, hole ich die Polizei!“ – „Das können Sie ruhig! Wenn Sie jetzt aber nicht hinausgehen, zeige ich Sie wegen Hausfriedensbruchs an!“ – Wer weiß, wie lange der erregte Streit noch gedauert hätte, wenn ich mich nicht eingemischt hätte. Ich erklärte dem Portier, wen er vor sich habe. – Bei dem Namen Arnberg machte er nun ein ganz anderes Gesicht. – „Sie sind wirklich Herr Arnberg, Herr Peter Arnberg?“ fragte er. – Dann mengte sich auch seine Frau ein. „Ja, Vater, er ist’s! Ich erkenne ihn nach der Photografie.“ Nun kam die Sache ins rechte Geleise. –

Der Portier erzählte folgendes. Nachdem Käti Marla bald wieder aus der Ohnmacht erwacht war, hatte sie den Leuten zweihundert Mark gegeben und sie gebeten, ihre Anwesenheit zu verheimlichen. Ihr flehen wäre so rührend gewesen – das Geld wird wohl auch mitgesprochen haben – daß die Leute ihr das Schlafzimmer eingeräumt und sie dorthin gebettet hätten. Als das Fieber schnell stieg, hatte Käti Marla dem Ehepaar einen Zettel gegeben mit Peter Arnbergs Namen darauf. „Sollte ich so krank werden, daß das Schlimmste zu fürchten ist, so holt diesen Herrn der irgendwo in der Kolonie Grunewald wohnen muß. Er wird Ihnen alles reichlich vergelten, was Sie an mir getan haben.“ Dann hatte sie bald wieder das Bewußtsein verloren, so daß die Portierfrau den Sanitätsrat anläutete und um seinen Besuch bat. Der alte Herr war in das Geheimnis miteingeweiht worden, hatte die Kranke untersucht und ein Nervenfieber festgestellt. Er hatte zu den Portierleuten geäußert, hier liege sicher ein Liebesroman vor und auch er würde dem Wunsche des jungen, schönen Weibes nachkommen und vorläufig schweigen.

Doch jetzt war der Zustand der Kranken recht bedenklich geworden, und der Sanitätsrat hatte schon gemeint, man sollte doch vielleicht Herrn Arnberg benachrichtigen. – Soweit der Portier. Jedenfalls ist den Leuten, die doch von dem Autoverbrechen durch die Zeitung etwas erfahren haben müssen, bisher nicht im entferntesten der Gedanke gekommen, ihr schwer kranker Gast könnte vielleicht die Gefährtin der beiden ebenfalls entflohenen Männer sein.“

Albert Munkel schwieg einen Augenblick.

„Mein Herr war dann im Zimmer bei der Kranken. Man soll ja wohl nicht als Mann weinen. Aber ihm waren die Augen feucht, als er wieder zu uns anderen zurückkam. Und er sagte, indem er mich so ansah, wie er mich noch nie angesehen hat – todestraurig, so halb irr vor Weh und Verzweiflung: „Sie hat mich nicht erkannt. Sie phantasierte –“ – Jetzt ist sie bei uns. Der Salon wurde schnell als Krankenzimmer hergerichtet. Ich mußte auch noch eine Pflegerin besorgen. Auch der Sanitätsrat kam noch. Und nun ist’s ein Kampf um dieses junge Leben, ein Kampf gegen den Würger Tod, den wir da in der Villa ausfechten.“

Das Auto jagte durch die stillen Straßen. Still waren auch die drei Männer, die darin saßen.

Erst nach einer ganzen Weile fragte Backländer:

„Hat man bei Käti Marla irgend etwas gefunden, was uns dienlich sein könnte?“

„Nichts. Nur eine Fahrkarte Calais-Berlin, die in Calais vor fünf Tagen abgestempelt ist, in Berlin überhaupt nicht. Außerdem in ihrer Geldbörse noch einige englische Goldstücke.“

Da mischte sich der „Pastor“ ein. „Sie hat aber im Fieber sehr oft in Tönen höchster Angst einen Namen gerufen, Herr Kommissar. Sie haben mir ja nicht erzählt –“ Schöttlers Stimme klang vorwurfsvoll – „was sie eigentlich bei dem Kommerzienrat als Diener vorhatten. Aber ich vermute fast, es ist des selben Mannes wegen, der, wie Herr Arnberg mir zu sagen wußte, bei der Familie Renz verkehrte. Ich meine den –“

„– Engländer Almeidas Shoost,“ vollendete Backländer. „Ah – also den Namen, und in heller Angst! Und die Fahrkarte von Calais! – Das genügt mir. Ich werde Shoost verhaften, auch diesen Timpsear!“

 

15. Kapitel.

Das Auto hielt in der Delbrückstraße.

Peter Arnberg hatte im Arbeitszimmer auf den Diwan gelegen. An Schlaf war ja jetzt für ihn nicht zu denken. Der Sanitätsrat hatte erklärt, die Krisis würde vielleicht gegen morgen eintreten.

Backländer begrüßte Arnberg mit einem stummen, herzlichen Händedruck.

Alles bewegte sich lautlos, jeder flüsterte nur.

„Sie hat jetzt auch noch einen zweiten englisch klingenden Namen genannt,“ berichtet Arnberg dem Kommissar. „Ich habe aber nicht recht verstehen können. Es war so ähnlich wie Tankleer –“

„Timpsear,“ verbesserte Backländer.

„Ja – das wird’s gewesen sein. Aber – woher –“

„Später, später! – Legen Sie sich bitte wieder hin, Herr Arnberg, seien Sie verständig! Sie sehen zum Erbarmen aus –“

Es zuckte um des jungen Millionärs Lippen …

„Wenn sie stirbt!“ stöhnte er auf.

„Sie wird Ihnen erhalten bleiben. So grausam wird das Schicksal nicht sein!“ Und der kluge Hans, der nicht nur Verbrecher so gut zu behandeln wußte, faßte Arnberg unter und führte ihn zum Diwan, – liebreich wie eine Mutter ihr Kind, breitete eine Decke über ihn und setzte sich zu ihm.

„Ich möchte Sie so einiges noch fragen, bevor ich zur Verhaftung der beiden schreite,“ begann er. „Ich habe heute bei dem Kommerzienrat erfahren, daß Shoost ebenso wie Timpsear sehr häufig nach Deutschland kommen. Meinen Sie, daß dies lediglich zu geschäftlichen Zwecken geschieht? Sie haben doch Shoost auch wohl schon gekannt, als sie noch an der väterlichen Fabrik beteiligt waren?“

„Ich kenne Shoost vielleicht vier Jahre bereits, Timpsear nur dem Namen nach, eben als Direktor der Patham-Morton Fabrik in Margate. Was Shoost anbetrifft, so weiß ich, daß ihn viele geschäftliche Beziehungen mit Deutschland verknüpfen.“

„Hm – für meinen Geschmack ist er zu oft hier. – Haben Sie mal früher geschäftlich mit ihm zu tun gehabt?“

„Nein. Wenigstens zerschlugen sich die Verhandlungen. Unsere Fabrik sollte für ihn eine besondere Art von Stahlbohrmaschinen bauen. – Aber – Ihre Fragen sind so eigentümlich. Argwöhnen Sie etwas anderes hinter diesen Reisen.“

„Die politische Lage ist andauernd so gespannt,“ erwiderte Backländer mit besonderer Betonung.

Arnberg hatte sich halb aufgerichtet.

„Mein Gott, – Spionage?“

„Eine bloße Vermutung. Wird aber wohl falsch sein. Dann – noch etwas. – Damals, als die Käti Marla aus der Efeulaube forteilte, hörten Sie doch einen Pfiff. Erinneren Sie sich noch, ob es ein Liederanfang, ein paar Marschtakte oder eine willkürliche Tonreihe war?“

„Es kann aus einem Marsch gewesen sein. Bekannt kam es mir vor.“

„Wenn Sie sich doch darauf besinnen könnten.“

„Ja, aber wozu –“

„Vielleicht war einer der beiden der Mann, der den Pfiff ausstieß und dann Käti Marla im Auto mit sich nahm.“

Arnberg schloß die Augen. Die Erinnerung an jene Vorgänge lebte heute nach dem Wiedersehen der Geliebten mit einer Deutlichkeit wie noch nie zuvor auf. Die Efeulaube. Er hielt Käti eng umschlungen, das eigenartige Parfüm umwehte ihn, er war so glückstrunken. – Dann der Pfiff – der Pfiff –

„Sterne und Streifen!“ sagte Arnberg plötzlich laut.

„Was soll das?“

„Sterne und Streifen, Marsch von Sousa[3]!“ Und Arnberg pfiff leise wenige Takte.

*

Vier Uhr morgens.

Im „Kaffee des Westens“ waren nur noch etwa ein Dutzend Tische besetzt.

In einer Nische saßen drei Engländer. Nicht nur ihre Sprache, auch ihr Äußeres verriet die Abstammung.

Sie hatten sehr viel miteinander zu besprechen gehabt, hatten immer die Köpfe dicht zusammengesteckt und auch Papiere ausgetauscht.

Dies erzählte der zuständige Kellner zwei Herren, die vor wenigen Minuten eingetreten waren und von denen der eine sich als Kriminalkommissar legitimiert hatte.

Die Engländer zahlten und verließen das Kaffee. Die beiden Herren blieben in einiger Entfernung hinter ihnen, gingen aber getrennt. Und noch drei weitere Männer und ein Auto schienen zu ihnen zu gehören, die ebenfalls stets in der Nähe blieben.

Die Engländer trennten sich an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zwei blieben stehen und schauten offenbar nach einem Kraftwagen aus, der dritte verschwand in der Richtung nach dem Haupteingang des Zoologischen Gartens. Dieser dritte wurde von zwei Kriminalbeamten verhaftet, als er seinen Landsleuten kaum aus dem Gesicht gekommen war. –

Eine Autotaxe fuhr langsam vorüber. Einer der beiden Engländer winkte und rief den Chauffeur an zu halten. Gerade wollten sie einsteigen, nachdem sie als Ziel der Fahrt das „Zentral Hotel“ angegeben hatten, – da hinter ihnen ein Pfiff, sehr deutlich, – ein paar Marschtakte.

Wie auf Kommando schnellten die Köpfe der beiden herum. Ihre Augen musterten die Front der nahen Kirche.

Abermals der Pfiff.

Almeida Shoost sprach ein paar englische Worte zu Harry Timpsear, woraufhin dieser schnell auf die Gestalt eines Mannes zuschritt, die sich eben aus der dunklen Ecke einer Seitenpforte loslöste.

Gerade in der Nähe einer Laterne trafen sie aufeinander. Timpsear blieb stehen, blickte den anderen prüfend an. Der zog den Hut. Nun kam Timpsear die Erinnerung, wo er noch vor kurzem dieses blasse Gesicht mit dem dunklen Bart und dem ausrasierten Kinn gesehen hatte. Das war doch der Diener des Kommerzienrates Renz.

Da sagte der schon auf deutsch:

„Fräulein Marla schickt mich.“

„Fräulein – Marla?!“ Timpsear war zusammengefahren. Plötzlich stieg ein Verdacht in ihm auf. Aber jetzt trat auch Shoost hinzu.

Abermals sagte der Diener: „Fräulein Marla schickt mich.“

Bei Shoost der gleiche Erfolg. Heftiges Erschrecken. –

Dann Timpsear, leise, mißtrauisch:

„Zum Teufel, wer sind Sie, Mann?“

Als Antwort nur die Marschtakte.

Timpsear flüsterte Shoost auf Englisch zu: „Es ist der Diener, besinne dich, – des Kommerzienrates.“

Shoost beugte sich vor, stierte Hans Backländer ins Gesicht.

„Sie sind doch der neue Diener des –“

„Nein!“ sagte Backländer laut und hob schnell den rechten Arm hoch, „– ich bin Kriminalkommissar und verhafte Sie beide wegen Führens falscher Namen.“

Vier weitere Beamte waren urplötzlich zur Stelle, das Auto kam heran, und Shoost und Timpsear wurden nach dem Polizeipräsidium geschafft, trotz ihrer Proteste, trotz ihrer Drohungen mit dem englischen Botschafter in Berlin, der sie schon schützen würde. –

In Backländers Dienstzimmer brannten alle vier Birnen der einfachen elektrischen Krone.

Vor dem Schreibtisch saßen Shoost und Timpsear, dahinter der Kommissar und neben ihm Heinrich Schöttler, der „Pastor“.

Backländer hatte sich wieder in den alltäglichen klugen Hans, den ohne Backenbart, Perücke und Schminke, verwandelt.

Shoost und Timpsear hatten das Drohen aufgegeben und spielten die Gleichgültigen.

Das Verhör begann.

An einem Nebentischchen stenographierte ein Beamter jedes Wort mit, erst die Personalien der beiden Engländer. Als Timpsear gefragt wurde, wo er hier in Berlin wohne, gab er das Hotel „Frankfurter Hof“ an.

„So, und vor etwa acht Stunden sagten Sie zu Herrn Renz, Sie seien im „Zentral“ abgestiegen,“ hielt ihm Backländer vor.

„Weil ich heute umziehen wollte,“ erklärte Timpsear achselzuckend.

„Lassen wir das vorläufig. – Man wirft Ihnen beiden also vor, daß diese Ihre Namen nicht Ihre richtigen sind. Haben Sie Ausweispapiere bei sich? – Überhaupt – händigen Sie mir sofort den gesamten Inhalt Ihrer Taschen aus. Alles! Sonst lasse ich Sie durchsuchen. – Ihre Zigarren da können Sie behalten, Master Shoost.“

Die beiden Engländer gehorchten. Der Kommissar blätterte die Papiere durch. Zumeist geschäftliche Notizen, Geschäftsbriefe, – nichts Verdächtiges.

„Ich sehe zu meinem Erstaunen, daß wir den Verdacht der unrichtigen Namen wegen nicht aufrecht erhalten können, also einen Fehlgriff getan haben,“ meinte er. „Ich müßte Sie eigentlich wieder entlassen.“

Es trat eine Störung ein. Kriminalwachtmeister Matzik, den man aus dem Bett geholt hatte, brachte seinen Bericht über das Ergebnis der von Backländer angeordneten Nachforschungen. Dieser überflog das Blatt voller Spannung.

Da stand:

1. Runkel-Meitzen. In Berlin wahrscheinlich eingetroffen vor fünf Tagen, zuerst gewohnt Pensionat Ingenol, Taubenstraße, zusammen mit junger Dame unter Namen Ramal, Friedrich, Rentier, Köln. Dame, angeblich Tochter, Käti mit Vornamen. Gepäck Ramals trägt Kölner Gepäckadressen, der Tochter (?) solche aus Calais.

Backländer schüttelte den Kopf. Wer war nur dieser Ramal. Plötzlich eine Erleuchtung: Ramal – dieselben Buchstaben wie Marla! – Sollte der Ermordete etwa?! Ja – es mußte wohl sein! Dann war nämlich auch des Rechtsanwalts Marla Verhalten einigermaßen zu erklären. –

Begierig las er weiter.

2. Ramals (??) zum ersten Mal in Pensionat Ingenohl. – Beobachtung der Hausmädchen: Sehr schlechtes Verhalten zwischen Vater und (?) Tochter. Letztere wird sozusagen ständig bewacht. –  Ramals verlassen Pensionat am Morgen nach Lankas Ermordung. Nur der Vater (?) kommt Gepäck abholen. – Tochter Käti beschrieben wie Käti Marla, auch Seidenmantel.

Alles äußerst wertvoll, dachte Backländer.

3. Da Ramal und Marla dieselben Buchstaben, telegrafische Anfrage an Kölner Polizei über Rentier Friedrich Marla. – Antwort: Dortselbst ein Oberregierungsrat Friedrich Marla, Lange Straße 16, 2. – Hierauf telephonisch an Polizei in Spandau, ob dort im Hause, wo Marlas zuletzt gewohnt, Leute, die sich auf Friedrich Marlas Aussehen besinnen. Zwei gefunden, herbeordert, Leiche Runkel-Meitzen gegenübergestellt, als Oberregierungsrat Marla erkannt ganz zweifelsfrei.

Also doch, nickte Backländer.

4. Auf eigenen Antrieb bei vorgesetzter Dienstbehörde Marlas, der früher bei dem kaiserlichen Patentamt, über Vorleben usw. angefragt. Auskunft (geheim), entlassen nach Disziplinarverfahren wegen starken Verdachts, angemeldete Patente heimlich nach England (Abnehmer nicht zu ermitteln) verkauft zu haben. Marla großer Lebemann, Börsenspekulant, Turfwetten, Spieler. Äußerlich vornehme Erscheinung, gewinnende Umgangsformen, in Wahrheit Mann, der über Leichen ging.

Matzik, Kriminalwachtmeister.

Backländers Kopf hatte sich tiefer über das Blatt gesenkt, als er das über das Disziplinarverfahren Gesagte las. Urplötzlich fiel ein blendender Lichtstrahl in das Dunkel. Shoost und Timpsear waren in der Maschinenindustrie tätig, wo eine gute Erfindung Millionen bedeutete. Sie waren Marlas Abnehmer gewesen. Und diese Beziehungen schienen sich dann bis heute erhalten zu haben. –

Weiter aber noch, Käti Marla war damals in der Arnbergschen Maschinenfabrik angestellt gewesen. Ob man sie nun nicht, vielleicht ohne ihr Wissen, dazu benutzt hatte, wichtige Geschäftsgeheimnisse des Werkes sich anzueignen? –

Hierüber konnte möglicherweise Arnberg Aufschluß geben. – Freilich – die beiden Verbrecher und der Selbstmordversuch blieben mit ihren Motiven immer noch dunkel. Aber man war der Lösung nun schon recht nahe gekommen. –

Backländer drückte Matzik die Hand. „Ich bin außerordentlich zufrieden mit Ihnen.“ Dann gab er ihm noch ganz leise verschiedene Aufträge, worauf der Wachtmeister eilig das Zimmer verließ.

Jetzt war der kluge Hans so recht in der Stimmung, diese Engländer „einzuwickeln“. Die sollten sich wundern! –

Er wandte sich an Shoost. „Die Einzelheiten über den an Lamka verübten Mord kennen Sie aus der Zeitung, nicht wahr?“

Aha! Der Engländer hatte die Farbe gewechselt! Er schien Unrat zu wittern.

Shoost nickte nur pomadig. Aber eine gewisse Unruhe war doch zu bemerken. – Backländer sprach weiter.

„Die Dame aus dem Auto, die mit Seidenmantel und Filzhut, ist gefunden. Es ist Fräulein Käti Marla, die in Margate zuletzt gewohnt hat. Und der Ermordete aus dem „Frankfurter Hof“ ist ihr Vater und einer der beiden aus dem Auto entflohenen Männer.“

Jetzt verfärbten sich beide Engländer. Und Shoost brachte nur recht gequält heraus: „Marla? Kenne ich nicht! – Was geht mich die Sache überhaupt an?“

„Diese Unverfrorenheit sieht Ihnen ähnlich. Fräulein Marla wird Ihnen gegenübergestellt werden. Sie braucht jetzt keine Rücksichten mehr zu nehmen. Ihr Vater ist tot, und ihr Bruder – hat sich bei der polizeilichen Vernehmung erschossen.“

Shoost zuckte abermals die Achseln. – Gute Nerven hatte der Kerl, das mußte man ihm lassen.

Matzik trat wieder ein, reichte Backländer eine Brieftasche und ein Blatt Papier und flüsterte ihm etwas zu.

Der Kommissar strahlte. Nun hatte er Shoost fest! Nun gab’s für den abgefeimten Herrn kein Entrinnen mehr. Und auch der andere war überführt.

Matzik ging wieder. Und Backländer sagte zu Shoost:

„Da ich sehe, daß Sie alles ableugnen wollen, werde ich Ihnen jetzt beweisen, daß Sie der andere Mann waren, der aus dem Auto floh. Ihr Detektiv wird keine Arbeit mehr vorfinden. Die Berliner Polizei hat die Mörder schon gefaßt. Bei der Flucht bog einer der beiden Männer rechts ab. Das war Marla. Er hat dann als Doktor Runkel aus dem beschädigten Halfnerschen Auto noch etwas auf sehr listige Weise herausgeholt. Der zweite Mann trug bei der Flucht einen kleineren Handkoffer, setzte diesen einmal, um Atem zu schöpfen, auf den Boden, gerade auf einen frischen Maulwurfshaufen von ziemlich fetter Erde, so daß die Beschläge des Kofferbodens sich scharf in dem weichen Material abzeichneten. Aber auch ein Abdruck der Stiefel dieses Mannes wurde dicht daneben gefunden, – von breiten, amerikanischen Schuhen mit – Gummiabsätzen, von denen dem Linken an der Innenkante ein Stück fehlte. Der Koffer und diese Schuhe sind soeben in Ihrem Hotelzimmer beschlagnahmt worden. Sie müssen sich sehr sicher gefühlt haben, weil Sie diese Sachen nicht beseitigt haben.“

Shoost war bleich geworden. Und die Blässe blieb auf seinem Gesicht.

„Außerdem wurden aber noch,“ fuhr Backländer fort, „in dem Koffer Zeichnungen und ein Maschinenmodell gefunden, die nach dem Polizeibericht der letzten Tage in der Mordnacht, der Lamka zum Opfer fiel, einem als Erfinder bekannten Ingenieur Reuter gestohlen wurden – durch Einbruch in sein Bureau. – Sie sehen also, Shoost, daß wir auch ohne Fräulein Marla Sie hätten überführen können.“

„Ja, jetzt sehe ich es,“ nickte der Engländer.

„Sie geben also alles zu?“

„Alles? – Aber ich habe Lamka nicht ermordet, Marla tat es.“

„Und wer tötete Marla?“

„Das weiß ich nicht.“

Timpsears gelles Auflachen folgte diesen Worten unmittelbar. „Aha!“ rief er aufspringend. „Du deckst dir den Rücken, Shoost. Und auf mir soll –“ Er schwieg plötzlich.

Backländer sah Timpsear scharf an. Dieser Mensch besaß nicht Shoosts Nerven. Vielleicht …

„Sagen Sie die Wahrheit, und Sie werden milde Richter finden,“ wandte er sich eindringlichen Tones an Harry Timpsear. „In Ihrem Zimmer im „Frankfurter Hof“ sind genügend Dinge gefunden worden, die Sie als Mörder Marlas überführen. Sie haben zwar verschiedenes verbrannt, aber nicht vollständig. – Genügt Ihnen das?! – Seien Sie klug, Timpsear! Ihr Genosse Shoost versuchte eben, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, da er sah, daß das Spiel verloren ist.“

Timpsear zögerte noch. Man sah, daß er mit sich kämpfte.

Da stand auch Shoost auf, trat einen Schritt vor.

„Ich biete mich als Kronzeugen an. Ich will ein Geständnis ablegen,“ sagte er schnell, um Timpsear zuvorzukommen. „Ich gebe folgendes zu Protokoll –“

„Sie sind der größte Schurke,“ unterbrach Backländer ihn. „Aber trotzdem, setzen Sie sich wieder und erzählen Sie.“

Timpsear schien Shoost an die Kehle fahren zu wollen. Aber seine Nerven versagten. Ächzend brach er auf seinem Stuhl zusammen.

 

16. Kapitel.

Hans Backländer empfand ein würgendes Gefühl des Ekels, als er auf diese beiden Männer vor sich blickte, – bisher eng verbündete Genossen, vereint gewesen zu verbrecherischem Treiben, und jetzt Todfeinde – mit einem Schlage! Die Gier nach lockendem Golde, nach leichtem Verdienst hatte sie zusammengeführt, und die Angst um das Leben trennte sie nun wieder! Zwei Männer von Bildung und Ansehen, und doch kaltblütige, gewissenlose Schurken.

„Ich kann dann wohl beginnen?“ meinte Shoost schon wieder mit jener kalten, zynischen Frechheit, die so viele Engländer besitzen und die so oft als nationale Eigenart entschuldigt wird, besonders gern in Deutschland und den Kreisen, zu denen auch die Familie Renz gehörte.

Backländer nickte nur. „Versuchen Sie aber nicht etwa, mich zu belügen, wenn auch nur bei Einzelheiten, die Timpsear nicht nachzuprüfen vermag. Wir haben nämlich auch den dritten Mann aus dem „Kaffee des Westens“ bereits fest, der sich Parkins nennt. Er trug allerlei Notizen bei sich, die –“

Shoost unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Lassen Sie doch die unnötigen Redereien! Ich werde nicht lügen. Doch – diesen harmlosen Statisten Parkins müssen Sie nicht weiter behelligen. Er ist ein so harmloses Kaninchen. Nur eben Statist, Kulissenschieber, der kaum ahnt, wozu er Handlangerdienste leistete.“

Eine kurze Pause. –

„Darf ich mir eine Zigarre anstecken, Herr Kommissar? Ich fühle mich etwas schlapp, und ich bin Dauerraucher.“

„Meinetwegen, obwohl – halt, Shoost, Ihre Hände bleiben außerhalb Ihrer Taschen. Mein Wachtmeister hier wird die Zigarren herausholen. Wir haben zu schlechte Erfahrungen letztens bei Robert Marla gemacht.“

Dann begann Shoost, während er anscheinend mit größtem Behagen rauchte und sich um Timpsear, der ihn mit seinen Blicken vergiften zu wollen schien, gar nicht kümmerte.

„Die deutsche Industrie ist an allem schuld. Wir in England hatten mit dem aufstrebenden Deutschen Reich auf einigen Gebieten nicht gleichen Schritt halten können. Deutschland lieferte billiger und besser, Deutschland machte jeden Tag eine wichtige Erfindung, und wir in Margate sahen wie überall den Verdienst von Jahr zu Jahr kleiner werden. Der Umsatz sank in manchem Jahr sogar um fünf Prozent. Da faßte ich den Entschluß, mit Hilfe einiger guter Freunde in Deutschland eine weitverzweigte Handelsspionage einzurichten. Auch Timpsear als Direktor der Patham-Werke beteiligte sich. Vor fünf Jahren begannen also mehrere angesehene Männer diesen Krieg gegen Deutschland auf eigene Faust und eigene Verantwortung hin. Wir waren natürlich überaus vorsichtig. Unsere Helfershelfer hier in Deutschland wußten größtenteils kaum, wem sie dienten. Es war oder ist – der reine Geheimbund. Mehr über seine Organisation und Mitglieder sage ich nicht, und wenn Sie mich vierteilen. –

Unter anderem war es uns besonders wichtig, so rechtzeitig von allen Patentneuanmeldungen Kenntnis zu erlangen, daß wir wichtige Erfindungen noch rechtzeitig an uns bringen konnten, eben bevor sie als anerkanntes Patent den Schutz der internationalen Bestimmungen genossen. Wir wurden auf den alten Marla aufmerksam, der im kaiserlichen Patentamt eine leitende Stellung bekleidete und der ein leichtsinniger Spieler war. Es gelang uns, ihn in unsere Netze zu locken. Er hat große Summen von uns bezogen, uns auch viel genützt, – aber das Geld floß ihm wie Wasser durch die Finger, besser, wie Quecksilber. Er konnte es nicht festhalten. Unser Verkehr mit dem alten Marla wickelte sich unter großen Vorsichtsmaßregeln ab. Bald kam die Sache mit ihm denn auch zum Klappen. Man hatte gegen ihn Verdacht geschöpft, konnte ihm aber bei der Disziplinaruntersuchung nichts beweisen. Immerhin wurde er pensioniert, arbeitete aber für uns in aller Stille weiter. –

Trotz unseres so vorsichtigen Verkehrs hatte ich doch einmal Käti Marla kennengelernt. Ich – verliebte mich in sie. Zu derselben Zeit sollte die Arnbergsche Fabrik für mich eine besonders geartete Maschine bauen. Ich wußte, daß deren Konstruktionspläne in einem Stahlschrank in den Bureaus aufbewahrt wurden. Da brachte ich ganz unauffällig Käti Marla – sie selbst ahnte nichts von meiner Vermittlung, auch Arnberg nicht, in der Fabrik als Buchhalterin unter. Bald sah ich, daß sich dort eine poetische Geschichte anzuspinnen begann. Mir war das gleichgültig, denn ich hatte meinen Plan schon fertig, wie ich Käti Marla in meine Gewalt zu bekommen hoffte. –

Eines Nachmittags war ich nach Bureauschluß noch in dem Direktionsgebäude. Alle Angestellten hatten es schon verlassen, nur Käti Marla arbeitete noch und – Peter Arnberg. Das junge schöne Weib, das meine Sinne entfacht hatte, war gerade mit dem Ordnen von Papieren beschäftigt, die in dem selben Stahlschrank wie die Konstruktionspläne lagen. Ich setzte damals alles auf eine Karte, sagte Käti Marla, ich käme soeben aus Arnbergs im Vorderflügel gelegenem Arbeitszimmer. Sie solle mir auf Arnbergs Geheiß die Konstruktionszeichnungen zur Einsicht vorlegen. –

Ahnungslos tat sie es. In einer Viertelstunde hatte ich mir das Wesentliche der Zeichnungen notiert, gab ihr die Pläne zurück und sagte ihr nun etwa folgendes: „Ich habe Sie soeben belogen. Arnberg hat mich nicht zu Ihnen geschickt. Ich habe nur einen günstigen Zufall schlau ausgenutzt. Wenn Sie mich verraten, ist – auch Ihr Vater verloren. Sie kennen den Grund seiner plötzlichen Pensionierung noch nicht. Er wurde beschuldigt, seine dienstliche Stellung zum Verrat von Patentgeheimnissen ausgenutzt zu haben. Wenn Sie schweigen, das heißt Arnberg verheimlichen, was Sie mir vorhin zu Einsicht ausgehändigten, wird nichts geschehen, was Ihrem Vater schaden kann. Andernfalls wird es eine neue Untersuchung geben, und – na, Sie verstehen mich wohl! Ich erinnere Sie nur daran, daß Ihre Mutter auf dem Krankenlager liegt und welche Folgen für die Leidende durch – eine Verhaftung Ihres Vaters eintreten könnten.“ –

Käti Marla schwieg. Alles ging tadellos. An einem Nachmittag etwa fünf Tage später kam ich wieder nach der Fabrik, nur um Arnberg mitzuteilen, daß ich die Maschinenbestellung zurückziehen wolle. Ich überraschte das Pärchen im Garten und – stieß jenen Pfiff aus, den Käti Marla seit damals als geheimes Signal „Gefahr im Verzug“! zwischen ihrem Vater und mir kannte. Ich hatte ihr absichtlich hiervon Mitteilung gemacht, um ihr zu beweisen, wie eng die Beziehungen waren, die den alten Marla und mich verknüpften. –

In dem Mietauto brachte ich sie dann nach der Wohnung ihrer Eltern, erzählte ihr unterwegs, es wäre gegen ihren Vater eine neue Untersuchen eingeleitet worden, vorläufig ganz im geheimen, und die Rettung des Namens Marla vor öffentlicher Schande hinge einzig und allein davon ab, daß sie sofort wichtige Papiere selbst ins Ausland, nach England, nach Margate brächte. In ihrer Aufregung und Unerfahrenheit nahm sie alles für bare Münze. In der Marlaschen Wohnung war gerade nur außer der kranken Mutter das Dienstmädchen anwesend. Ich drängte zur höchsten Eile. Während sie das Notwendigste packte, stellte ich in des alten Marla Zimmer aus Zeitungen ein versiegeltes Päckchen her: die wichtigen Papiere. –

Als ich sie Käti Marla übergab, erklärte ich ihr noch, daß Arnberg selbst einer derjenigen Männer wäre, die es auf die Bestrafung ihres Vaters abgesehen hätten. Ich merkte, wie schwer sie durch diese Behauptung getroffen wurde. Dann ging’s zum Bahnhof. Ich ließ sie keinen Augenblick zur Besinnung kommen. Gegen meinen Willen warf sie dann noch einen Brief in den Kasten, den sie wohl daheim schon geschrieben hatte. Als ich ihr Vorwürfe machte, sagte sie nur: „Der Brief ist ein Schwert, mit dem ich alle Bande durchschneide, die mich hier noch festhalten.“

Ich war froh, als sie erst im Zuge saß. An demselben Abend hatte ich dann noch eine Unterredung mit dem alten Marla in dessen Zimmer, teilte ihm alles der Wahrheit gemäß mit, versicherte, ich würde seine Tochter heiraten, und beschwichtigte sein ohnehin nicht sehr reges Gewissen – durch Geld. Leider hatte uns aber Robert Marla, damals noch Assessor, zum Teil belauscht. Es kamen zu einer sehr erregten Szene, und ich konnte den für meinen Geschmack viel zu ehrenhaften jungen Herrn nur dadurch zur Vernunft bringen, daß ich ihm eröffnete, weshalb sein Vater hätte aus dem Dienst scheiden müssen und weshalb seine Schwester jetzt nach England unterwegs wäre. Zum Glück hatte er vorhin gerade nur so viel erlauscht, daß auch er dieses Märchen von den wichtigen Papieren glaubte. –

Er war völlig vernichtet. Er besaß eben zu viel anständige Gesinnung, wie die Deutschen ihre Gewissensschwerfälligkeit zu nennen pflegen. Schließlich beruhigte er sich und sah ein, daß auch er schweigen müsse! So endete auch dieser Zwischenfall sehr günstig für mich.“

Shoosts Zigarre war ausgegangen und er bat um ein Streichholz.

Backländer konnte sich nicht enthalten voller Verachtung zu bemerken: „Sie sind mehr als ein Schurke – sie sind ein Teufel!“

Shoost grinste. „Besser Teufel als gefühlloser Dummkopf! – Doch weiter. Am nächsten Morgen folgte ich Käti Marla nach Margate, wo ich sie so lange festzuhalten wußte, bis – Arnbergs Nachforschungen nach ihrem Verbleib einsetzten. Ich hatte hiermit gerechnet. Und ich wußte ihr nun zu beweisen, daß diese Nachforschungen von der Berliner Polizei ausgingen. Da gab sie aus Angst vor den Behörden den Gedanken an eine Rückkehr nach Deutschland auf. –

Leider aber mußte ich bald einsehen, daß sie mich nie lieben würde. Sie verachtete mich, haßte mich wohl auch, brauchte mich aber, da sie in Margate ganz allein dastand und ich stets so tat, als ob ich sie vor der deutschen Polizei schützte. Ich habe ja auch wirklich die Versuche Arnbergs, auf Käti Marlas Spur zu kommen, zu vereiteln gewußt. –

Sie war sehr stolz – sehr, nahm kein Geld von mir an. Das will ich hier betonen. Sie trat als Korrespondentin in meine Fabrik ein und verdiente so ihren Lebensunterhalt. Umsonst hoffte ich im stillen, daß die Zeit ihre Gesinnung ändern würde. Sie blieb mir gegenüber stolz wie eine Königin, unnahbar wie eine Sultansfavoritin. So gingen mehr als drei Jahre hin. –

Ich war wieder mal in Berlin, um persönlich mitzuwirken bei der – na sagen wir – Aneignung von wichtigen Konstruktionsplänen und eines Maschinenmodells. In Margate bewachte indessen Timpsear Käti Marla, der ich seit einiger Zeit nicht mehr recht traute. Ich fürchtete, daß in ihr Zweifel aufgestiegen sein könnten, ob ich ihr damals die Wahrheit gesagt hätte, als ich sie aus Berlin fortschickte. Mit ihrem Vater und Bruder stand sie zwar nicht im Briefwechsel, aus Furcht, ihr Aufenthaltsort könnte dadurch verraten werden, aber doch muß etwas sie mißtrauisch gemacht haben; wahrscheinlich eine bereits zwei Jahre alte Londoner Zeitung, in der ebenfalls einer der Aufrufe Arnbergs als Riesenannonce stand: „Käti, gib ein Lebenszeichen deinem P.t.r.“ –

Ich komme nun zu jener Unglücksnacht. –

Am Abend fand ich im Hotel eine Mitteilung Timpsears vor: „K. vor fünf Tagen aus Margate heimlich abgereist. Ich hinter ihr her. Sie hat in Köln ihren Vater besucht, und beide sind jetzt, wie auch ich, in Berlin. Was Sie vorhaben, weiß ich nicht. Erwarte meinen Besuch zehn Uhr abends. Hätte dich früher benachrichtigt, wurde aber in Köln durch Nachforschungen aufgehalten. Die M’s wohnen hier Pensionat Ingenohl, Taubenstraße. Fürchte von K. uns gefährliche Schritte. Lasse beide beobachten.“ –

Nach einer Stunde war Timpsear bei mir. Es war ihm gelungen, sich unbemerkt von Käti Marla an ihren Vater heranzuschlängeln, dem er mit tausend Mark schnell den Mund öffnete und der ihm berichtete, seine Tochter hätte allen Ernstes vor, mich bei der Berliner Polizei anzuzeigen; sie wollte nur erst ausspionieren, was für ein Zweck mich diesmal nach Deutschland geführt hätte, um auch gleich meine Verhaftung durchsetzen zu können. –

Timpsear und ich hielten nun Kriegsrat. Wir waren uns einig darüber, daß wir das Mädchen unbedingt in unsere Gewalt bekommen müßten. –

Die beiden Marlas waren an diesem Abend im Theater. Ich selbst hatte gerade für diese Nacht den Einbruch bei dem Ingenieur Reuter vorbereitet und konnte die getroffenen Anordnungen nicht mehr rückgängig machen. Es galt also unter allen Umständen beide Geschäfte sozusagen gleichzeitig zu erledigen, denn wenn Käti Marla womöglich in der Zeitung am nächsten Tage von den Diebstahl der Zeichnungen und des Modells las, war eine sofortige Denunziation von ihrer Seite zu befürchten. –

Der Plan, den wir dann ausführten, stammte von mir. Timpsear hat nie viel Erfindungsgeist besessen. –

Als die beiden Marlas aus dem Theater kamen, wußte Timpsear dem Alten einen Zettel in die Hand zu drücken und – ein Schächtelchen, das ein harmloses, aber starkes Schlafpulver enthielt. So geschah es, daß der alte Marla seine Tochter in eine kleine Weinstube auf dem Kurfürstendamm zu locken verstand, wo er ihr das Schlafpulver gegen halb zwei Uhr in den Kaffee schüttete. Timpsear sollte sich dort zu derselben Zeit wie zufällig einfinden. Inzwischen ließ ich durch meine Handlanger bei dem Ingenieur Reuter den Diebstahl begehen. Ich hatte mit meinen Leuten verabredet, daß ich die Beute am Bahnhof Schmargendorf um zwei Uhr morgens in Empfang nehmen würde, und zwar wollte ich im Auto zur Stelle sein. Ich saß im „Kaffee des Westens“ und wartete, bis meine Zeit gekommen war. Meine Uhr ging jedoch falsch, und ich verließ zu spät das Kaffee, fand unglücklicherweise auch kein Auto, besann mich aber noch rechtzeitig auf die Gesellschaft bei Baurat Lüder, der in der Nähe am Savygny-Platz wohnte, und daran, daß Halfners dort waren, stürzte hin, denn ich mußte ja rechtzeitig nach Eintritt der Wirkung des Schlafpulvers vor der Weinstube sein, rief Lamka an und sagte ihm, er müsse sofort mit mir nach der Weinstube fahren, wo eine bekannte Dame von mir plötzlich krank geworden wäre und nach Hause gebracht werden müßte. Ich bekäme kein anderes Auto, und ich würde ihn schon bei Halfners entschuldigen. Lamka ließ sich dann auch dazu überreden, zumal ich ihm vorlog, ich hätte von einen der heute bei Hübners geladenen Gäste nachmittags erfahren, daß dort noch um halb zwei Uhr morgens zwei berühmte Kabarettsänger einige Sachen vortragen sollten. Die Gesellschaft würde also noch gut bis halb drei dauern, und bis dahin könnte er längst zurück sein. –

Wir fuhren also nach dem Kurfürstendamm. Kurz vor der Weinstube sah ich dann den alten Marla und Timpsear, die das völlig willenlose, fast bewußtlose Mädchen untergefaßt hatten und auf mein Erscheinen warteten. –

Ich saß dann neben Lamka auf dem Führersitz. Die beiden Marlas stiegen ein, und wir jagten davon. Ich hatte Lamka weisgemacht, es wäre bereits nach einem am Bahnhof Schmargendorf wohnenden Arzt geschickt worden, dessen Operationstasche wir mit nach dem Hause der kranken Dame, deren Villa ich nach Alt-Schmargendorf verlegt hatte, mitnehmen sollten. So suchte ich vor Lamka zu erklären, daß mir ein Mann tatsächlich dann einen Handkoffer in das Auto reichte. Ich hatte das Märchen von der kranken Dame so gut erfunden, daß in dem Chauffeur nicht der geringste Verdacht aufstieg. Alles schien gut zu gehen. In Alt-Schmargendorf – die Straße werde ich unter keinen Umständen nennen! – wohnte im Erdgeschoß einer unserer Hauptstatisten. Den hätte ich herausgeklingelt und Käti Marla dort vorläufig untergebracht, während Lamka sich ja um uns nicht weiter hätte kümmern können, sondern schleunigst nach dem Savygny-Platz zurück mußte. Nachher gedachte ich das Mädchen dann nach Verabfolgung eines neuen Betäubungsmittels morgens in einem Auto eines Eingeweihten, der mir seinem Kraftwagen fraglos zur Verfügung gestellt hätte, nach Hamburg zu bringen, wo gerade die Jacht eines Geschäftsfreundes auf der Elbe vor Anker lag. Erst in England hätte Käti Marla uns dann nie mehr schaden können. –

Es sollte nicht sein! Dicht hinter dem Bahnhof Schmargendorf erbracht das Mädchen sich heftig, kam dadurch zu sich, die Wirkung des Schlafmittels ließ nach und – gleich darauf gab es einen Knall, der Motor versagte, und Lamka schimpfte wie ein Matrose, der acht Tage keinen Whisky zu sehen bekommen hat. Der alte Marla war schnell ausgestiegen, hatte nur auf die halbwache Entführte gezeigt und angstbebend gefragt, was nun werden sollte. Da hörten wir in der Ferne lautes Rufen, sahen Leute auf das Auto zulaufen. Ich handelte ohne Überlegung, als ich mein Dolchmesser zog und es Lamka in die Brust stieß. Wie eine blitzartige Traumerscheinung hatte ich die Folgen dieser Autopanne in allerlei Bildern vor meinem geistigen Auge vorüberziehen lassen: Käti Marla, die mich vielleicht schon erkannt hatte, würde die sich nähernden Leute gegen mich aufbringen, Lamka würde merken, daß ich ihn belogen hatte, im Auto stand der Koffer mit dem verräterischen Inhalt! – Ich war verloren – oder ich mußte nochmals va banque spielen! – Ich stieß zu, und ein paar Worte an den alten Marla genügten dann, ihn zu verständigen.

Er riß seine Tochter aus dem Auto heraus, zeigte auf den nach vornüber gesunkenen Chauffeur, raunte ihr zu: „Ich habe ihn erstochen – rette mich – flieh’ mit uns!“ – Sie war noch zu benommen, um nachdenken zu können. Ich packte zu, zerrte sie vorwärts. In der Linken hatte ich den Koffer, mit der Rechten stützte und führte ich das junge Weib, die meine Feindin war und mir doch folgte, – weil es sich um ihren Vater handelte. So ging die Jagd los. Das Mädchen erholte sich durch die rasche Bewegung sehr schnell, und die trunkene Rotte hinter uns blieb mehr und mehr zurück. –

Ich war ein paar Schritte voraus, drehte mich nach ihr um, gerade mitten auf dem Weg zwischen den vielen kleinen Gärten. Sie war verschwunden – entwischt! Ich hatte keine Zeit, floh weiter, kam glücklich nach Berlin zurück – ins Hotel. Morgens um sieben Uhr fand sich der alte Marla bei mir ein, gleich darauf auch Timpsear. Ersterer erzählte, wie er es angestellt hatte, seiner Tochter Handtasche aus dem Auto unauffällig herauszuholen, da ihm noch zur rechten Zeit eingefallen war, daß sie sie hatte liegen lassen. Das Täschchen hätte uns gefährlich werden können, da darin Notizen lagen, die Käti Marla sich gerade über meine Person gemacht hatte. Der Alte hatte sich Runkel genannt, Doktor Runkel, und eine beliebige Straße und Wohnung angegeben. Suchte die Polizei nun diesen Runkel, so mußte sie bald heraushaben, daß der unbekannte und wohl auch falsche Arzt fraglos einer der Entflohenen gewesen war. Wie er aussah, wußte man. Und hierin lag für uns ein neuer Anlaß zur Beunruhigung. Marla mußte sich daher den Bart abnehmen lassen und in den „Frankfurter Hof“ übersiedeln, wo Timpsear wohnte. Wir trauten dem Alten nicht mehr so recht. Er hatte uns jetzt in der Hand, seit Lamka tot war. Er sollte überwacht werden. Und unsere zweite Befürchtung war, wird Käti Marla auch nicht der Polizei in die Finger fallen! Aber wir hofften auf ihre Energie und Klugheit. Trotzdem blieben wir in Sorge. Wenn Vater und Tochter zusammentrafen, konnte zwischen ihnen eine Verständigung stattfinden. Anders, wenn wir den Alten beseitigten und alles verschwinden ließen, was eine Feststellung seiner Person erleichtert hätte.“

In diesem Augenblick öffnete Timpsear nach langer Zeit auch wieder einmal den Mund.

„Der Gedanke stammte von Shoost allein. Und mich hat er zu der Tat überredet!“ rief er kreischend.

Almeida Shoost lachte verächtlich auf. „Leugne ich’s denn?! Ja, – der Plan stammte von mir. Wir waren doch so etwas wie ein Geheimbund. Und jeder Bund muß einen Kopf haben. Harry Timpsear war stets nur ein kleiner Finger. Es gelang ihm nicht einmal, den alten Marla an jenem Tage im Auge zu behalten. Hätte ich gewußt, daß der Alte mit seinem Sohne eine Zusammenkunft gehabt hatte, dann würde ich diesen zweiten Mord verhindert haben, da er unter diesen Umständen für uns nur gefährlich und geradezu sinnlos war. Schade, daß Timpsear es im Hotel so bequem hatte, an sein Opfer heranzukommen. Vielleicht – doch Geschehenes ist eben nicht mehr zu ändern.“

Shoost legte den erloschenen Zigarrenstummel in den Aschbecher und fuhr dann fort: „Wenn Sie Wert auf Einzelheiten legen, Herr Kommissar, so verschieben Sie das Verhör auf später. Ich bin jetzt zu müde und werde nicht mehr antworten. Draußen graut der Morgen bereits.“

Hans Backländer drückte auf den Knopf der in den Tisch eingelassenen Klingelleitung. Bevor dann die Beamten die beiden Verbrecher in die Zellen des Polizeigefängnisses führten, fragte er Shoost noch:

„Weshalb verkehrten Sie so viel bei dem Kommerzienrat Renz?“

„Weil eine der größten Lederwarenfabriken sein eigen ist und er im Besitz eines Herstellungsverfahrens für Lackleder ist, das ich gern kennen lernen wollte. Dann hatte er auch eine Tochter, die es verdient, Engländerin zu sein. Und schließlich, der Schwiegersohn ist Arnbergs Freund, und ich dachte mir, auf Umwegen zu erfahren, ob Käti Marla sich etwa mit ihrer alten Liebe in Verbindung gesetzt hätte.“

„Was Nerven sind, wissen sie wohl kaum, Shoost?“ meinte Backländer kopfschüttelnd. „Nach jener Autopanne, die der Anfang Ihres Unterganges war, tanzten sie doch geradezu auf einem Vulkan –“

„Nerven?! – Wäre England geworden, was es heute ist, wenn seine Kinder nur Weiber gewesen werden – deutsche Weiber mit einem Palast von illegalen Gefühlen, zartem Gewissen und hartnäckiger Treue?!“

Da traten die Beamten ein und nahmen die beiden mit sich.

Heinrich Schöttler schaute ihnen gedankenvoll nach.

„Welch eine Nation, Herr Kommissar! Ein unheimliches Gefühl, daß sie die Weltmeere beherrschen.“

Backländer nickte zerstreut. Politische Erwägungen lagen ihm jetzt so fern. Und dann sagte er:

„Der Rechtsanwalt Marla hat damals entweder mit seinem Vater schon eine Begegnung vor dem Zusammentreffen auf dem Leipziger Platz gehabt oder ist doch jedenfalls von dem alten Marla telephonisch angerufen worden. Sonst wäre dieser doch nicht im „Siechen“ erschienen. Was mögen die beiden wohl auf dem Leipziger Platz besprochen haben? – Es sind dies und das Motive des Selbstmordversuchs – beides gehört ja sicher innig zusammen! – die einzigen Punkte, über die ich mir noch etwas im unklaren bin.“

Der „Pastor“ erwiderte: „Ich habe mir in dieser Beziehung schon eine Theorie zurechtgelegt. Ob sie stimmt, weiß ich allerdings nicht. – Als wir zu dem Rechtsanwalt kamen, war er krank, lag auf dem Diwan. Er machte auf mich den Eindruck eines seelisch Niedergebrochenen. Von dem Morde im „Frankfurter Hof“ konnte er damals noch nichts wissen. Am Tage vorher war er aber noch ganz frisch und munter gewesen. Vielleicht hat gerade die Aussprache auf dem Leipziger Platz, bei der er sich von seinem Vater so kühl trennte, ihn derart mitgenommen. – Wodurch nun? – Es wäre möglich, daß der alte Marla, der nicht viel höher zu bewerten ist als Shoost und Timpsear, ihm gesagt hatte, er solle, falls Käti sich mit ihm in Verbindung setzen würde, dieser nochmals nahelegen, über die näheren Umstände der Autopanne zu schweigen und Shoost auf keinen Fall zu denunzieren, weil eben dadurch auch alles, was Marla hieße, aufs schwerste bloßgestellt werden würde. – Der Rechtsanwalt ist nun fraglos ein Ehrenmann. Als wir bei ihm erschienen, wird er angenommen haben, alles sei entdeckt. Er sah sich als Sohn eines Verbrechers, eines Vertrauten dieses Shoost fernerhin mit einem Makel behaftet. Das vertrug sein Ehrgefühl nicht. Und daher – die Kugel.“

Später, nach Robert Marlas völliger Genesung stellte sich heraus, daß der „Pastor“ ganz richtig vermutet hatte.

 

Schluß.

An demselben Tage gegen elf Uhr vormittags.

Olaf Longreen war zu Arnberg gekommen, um diesem seinen herzlichen Glückwunsch zu der plötzlichen Besserung in Käti Marlas Zustand auszusprechen.

„Peter, du glaubst er gar nicht, wie ich mich freute, als Munkel mir vorhin all diese Neuigkeiten übermittelte, – daß deine Braut in diesem Hause als Kranke weile, die Krisis gut verlaufen sei und der Sanitätsrat sogar schnelle Genesung in Aussicht gestellt habe.“

Arnbergs Gesicht leuchtete vor innerem Glück.

„Und nun die Hauptsache, Olaf! Backländer läutete mich vor zehn Minuten an. Shoost ist in der Nacht verhaftet worden und hat ein Geständnis abgelegt, aus dem hervorgeht, daß Käti ganz rein und schuldlos dasteht. – Überhaupt Backländer! Ein famoser Mensch! Ich bin ihm zu unendlichem Dank verpflichtet, ebenso wie auch meinem braven Munkel und – deiner Braut, die das Brotherz so richtig bewertet hat.“

Longreen wurde etwas rot und verlegen.

„Meiner Braut?!“ meinte er leise. „Du wirst den Ausdruck in Be–ziehung auf Hella Renz zum letzten Male gebraucht haben. Sie hat mir heute früh – den Ring zurückgeschickt mit einem Begleitschreiben, das mir Hella in ganz neuem Lichte zeigt. Ehrlich gesagt, Peter, ich bin recht froh, daß es so gekommen ist! Ich fühle mich wie befreit. Nun wird aus dem Akademieprofessor nichts – Gott sei Dank. –

Hier ist Hellas Absagebrief. Auch du sollst sie fernerhin besser beurteilen.“ –

Lieber Olaf!

Eine Nacht liegt hinter mir, wie ich sie nicht ein zweites Mal durchleben möchte. Und doch, ich bin dem von Herzen dankbar, der mein Gewissen so wachgerüttelt hat, daß ich endlich die wahre Hella Renz vor mir sah! Und dieses Bild war so trübe, daß es mich wie ein Grauen packte.

Wir beide passen nicht für einander. Du bist zu gütig, zu vornehm von Charakter. Ich brauche jemanden, der – der Peitsche zu schwingen weiß. Ich würde dich unglücklich machen. Das darf nicht sein!

Laß uns gute Freunde bleiben, Olaf! Du wirst mich über deine Kunst leicht vergessen. Und verzeihe der, die dich so oft kränkte.

Hella

Peter Arnberg reichte Olaf den Brief zurück.

„Wer kann nur dieser Mann mit der – Peitsche sein?“ meinte Longreen sinnend.

„Backländer – nur er!“

„Ah! Dann – dann müssen wir eigentlich dafür sorgen, daß die beiden –“

Die Pflegeschwester trat ein.

„Herr Arnberg, unsere Kranke ist soeben nach erquickendem Schlaf aufgewacht. Ich habe ihr gesagt, wo sie sich befindet. Sie dürfen zu ihr – aber nur für eine Minute –“

Arnberg eilte hinaus.

Dann kniete er vor ihrem Bett, hatte den Kopf in die Kissen gedrückt und – schluchzte vor Glück.

Eine matte Hand strich über seinen Scheitel hin, eine leise Stimme hauchte:

„Peter, mein Peter. Nun bleibe ich bei dir – für immer!“ –

Draußen fuhr ein Auto vorüber. Die Hupe tönte drei Mal. Es war ein Zufall.

Und doch auch ein Signal, das darauf hinzuweisen schien, daß ohne die Autopanne die Lebenswege zweier Menschen sich vielleicht nie mehr gekreuzt hätten.

 

 

Anmerkungen:

  1. Der Kluge Hans (* um 1895; † um 1916) war ein Pferd der Rasse Orlow-Traber, das angeblich rechnen und zählen konnte. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erregte der Schulmeister und Mathematiklehrer Wilhelm von Osten mit Hans’ einzigartigem Können erhebliches Aufsehen.
  2. jüdischer.
  3. Der amerikanische Militärmarsch Stars and Stripes Forever (dt. Titel: „Unter dem Sternenbanner“) wurde 1896 von John Philip Sousa komponiert. In amerikanischen Varietés und Zirkussen wird dieses Stück nie im regulären Betrieb gespielt, da es als Zeichen für die Alarmierung des Personals genutzt wird, falls eine Evakuierung nötig ist.