Kriminalroman
von
Walther Kabel
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89
Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Abermals durchdrangen die schaurig dumpf klingenden Töne eines Nebelhorns die feuchten grauen Schleier, die die sacht dahingleitende „Gudrun“ so dicht einhüllten, daß von dem kleinen Beiboot auch nicht eine Spur zu sehen war, mit dessen Hilfe die Achtmeterjacht jetzt wegen der völligen Windstille geschleppt wurde.
Auf der vertieften Bank am Steuer saßen Dr. Blink und Hugo Holm nebeneinander. Sie hatten sich soeben durch Oppen und Brunner von der anstrengenden Ruderarbeit im Beiboot ablösen lassen und träumten jetzt in wohliger Müdigkeit vor sich hin, denn diese ganze nächtliche Fahrt hatte trotz der Gefahren, die sie barg, etwas außergewöhnlich Stimmungsvolles, beinahe Poetisches an sich.
Holm hob lauschend den Kopf, als das warnende Tut–Tut–Tut des Nebelhorns näher und näher erklang.
„Ein Dampfer,“ meinte er leise. „Hoffentlich überrennt er uns nicht –“
Blink starrte regungslos geradeaus, blieb stumm.
Holm wandte den Kopf, schaute den Freund, dessen Gesicht von der im Kajüteneingang hängenden Laterne notdürftig beleuchtet wurde, prüfend an und fragte:
„Woran denkst du, Heinz?“
Doktor Blink schob die blaue Seglermütze mehr ins Genick und erwiderte versonnen:
„Ans Sterben. Wenn der Dampfer, der dort vor uns zu sein scheint, unsere „Gudrun“ zu packen bekommt, sackt sie mit ihrem Bleikiel trotz der Luftkästen wie ein Stein weg und – wir mit. Dann haben die Flundern der Danziger Bucht eine Weile etwas zu fressen –“
„Du tust den Flundern Unrecht, Heinz. Ich glaube kaum, daß sie eine Vorliebe für Leichen haben. – Doch, alter Junge, – nun endlich heraus mit der Sprache! Schon seit Tagen habe ich bemerkt, daß deine Stimmung hundemiserabel ist. Du bist ja allerdings stets recht ernst und sogar nur zu oft weltschmerzlich angehaucht, aber so wie jetzt kenne ich dich noch nicht! Wo drückt der Schuh? Ich bilde mir ein, daß du vor mir keine Geheimnisse hast –“
Er wollte noch mehr hinzufügen. Doch das Geräusch arbeitender Schiffsmaschinen, das plötzlich halb rechts vor ihnen vernehmbar wurde, ließ ihn schweigen und angestrengt lauschen. Gleich darauf glitt an Backbord der Jacht ein riesiger, dunkler Schatten so dicht vorüber, daß die nun wieder erklingenden Töne des Nebelhorns über den Köpfen der Freunde laut zu werden schienen.
„Das Verderben hat uns fast gestreift,“ meinte Heinz Blink düster. „Meine Gedanken vorhin waren ganz berechtigt. – Ob wir wohl vor Mitternacht im Hafen sein werden?“
„Kaum. – Doch wir wollen unser Thema wieder aufnehmen. Ich bringe mich als Beichtvater und Seelenarzt empfehlend in Erinnerung. Also –“
Blink schob hastig das Mundstück seiner kurzen Pfeife zwischen die Lippen und setzte durch ein paar schnelle Züge den Tabak stärker in Brand. Dann sagte er merklich zögernd:
„Du befindest dich über meinen Seelenzustand im Irrtum, Hug. Er ist nicht anders als sonst. Nur – nur – du könntest mir einen Gefallen tun –“
Abermals sog er an seiner Pfeife, fuhr dann plötzlich fort:
„Sei bitte für einige Zeit mein Gast, Hug. Ich – fühle mich einsam in der großen Wohnung, möchte einen Menschen um mich haben, mit dem ich jederzeit über meine Arbeit in anregenden Gedankenaustausch treten kann –“
Holm antwortete nicht sofort.
„Deine Bitte überrascht mich sehr,“ erklärte er darauf langsam und offenbar recht nachdenklich. „Gerade du, der doch das Alleinsein so sehr liebt, – du willst dir einen so unruhigen Geist wie mich in deine feudale Wohnung nehmen?! – Lieber Junge, dahinter steckt irgend etwas Besonderes. Das lasse ich mir nicht ausreden. – Nein, nein, schüttele nicht den Kopf. Du bist verlegen – ohne Zweifel. Du beschwindelst mich. Dich bedrückt doch irgend etwas. Darf ich mal raten, alter Heinz? Heißt der Grund deiner seelischen Depression vielleicht Hilde?“
Blink erhob sich jäh, stieg die wenigen Stufen der Treppe zum Kajüteneingang hinab und schraubte die große Petroleumlaterne höher. Dann lehnte er sich an die Wand des Niederganges und sagte gepreßt:
„Zuweilen bist du gerade nicht sehr zartfühlend, Hug. Wenn du wirklich gemerkt hast, daß mir Hilde Brunner nicht ganz gleichgültig war, hättest du die Sache besser mit Stillschweigen übergehen sollen.“
Holm stand langsam auf und stellte sich dicht vor den Freund. Der Lichtschein der Laterne ließ sein längliches Gesicht mit der schmalen, großen Nase noch magerer erscheinen und verlieh ihm eine ins rotbraune spielende Färbung.
„Heinz,“ sagte er warmen Tones und legte Blink die Rechte leicht auf die Schulter, „als dein Vater vor vier Jahren – im nächsten Monat sind es genau vier Jahre – die Reise nach Kapstadt antrat, bat er mich, so etwas für dich, den ein wenig Weltfremden zu sorgen. Ich versprach es ihm. Bisher brauchte ich kaum je für dich irgendwie einzuspringen. Jetzt – jetzt jedoch scheint es mir sehr notwendig, deinen inneren Menschen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, denn – auch dein Aussehen gefällt mir nicht. Man könnte dich für einen Nachtschwärmer halten, so fahl ist jetzt stets dein Gesicht, und so matt sind deine Augen, ganz zu schweigen von der nervösen Hast deiner Bewegungen. – Heinz, sei offen! Ich soll zu dir ziehen, weil du nicht mit deinem Schmerz um den Verlust Hildes allein sein willst, weil du Ablenkung brauchst –“
Doktor Blink zuckte die Achseln. Es war eine müde, trostlose Bewegung. Und seine Stimme klang ebenso müde und farblos, als er nun entgegnete:
„Über diesen Verlust habe ich mich bereits getröstet. Ich bin es gewöhnt, daß das Schicksal es stets schlecht mit mir meint. Vater und Bruder verschollen, meine Erfolge als Gelehrter gleich null, – und so ist es stets gewesen und wird’s auch bleiben –“
Er lachte bitter auf.
„Vielleicht ist es von mir auch nur allzu selbstsüchtig gehandelt, einem lebensfrohen Menschen wie dir meine Gesellschaft aufzuzwingen. Ich ziehe meine Einladung also zurück.“
Hugo Holm schüttelte den Kopf.
„Es stets schlimmer mit dir, als ich dachte,“ sagte er ernst. „Wenn du dich nur überwinden könntest und offen mit dem herausrücken würdest, was dich jetzt anficht. Gut – Hilde Brunner mag damit nichts oder doch nur wenig zu tun haben. Dann ist es eben etwas anderes, das dich elend macht – seelisch und körperlich. Ich werde zu dir kommen, alter Junge, sehr gern sogar. Und dann wird wohl sehr bald die Stunde da sein, wo du aufrichtiger bist als heute – als jetzt.“
In demselben Augenblick erklang aus den grauen Nebelschwaden eine kräftige Stimme hervor:
„Hallo – Holm! Wir haben uns gründlich versteuert! Vor uns liegt ein Seesteg mit zahlreichen elektrischen Lampen. Es kann nur der Zoppoter sein. Was nun?“
„Kommt an Bord!“ rief Holm zurück. Und zu Blink gewendet: „Wir werden hier ein Motorboot heuern und uns nach dem Neufahrwasser Hafen schleppen lassen.“
„Ah – sehr gut,“ stimmte der Doktor lebhaft zu. „Dann sind wir ohne Frage vor Mitternacht in Danzig, wenn wir noch die letzte Elektrische erwischen.“
Da tauchte das kleine Beiboot an Steuerbord auf, und ein schlanker, jüngerer Mann im Sportanzug schwang sich geschickt an Deck der „Gudrun“, sagte nun vergnügt zu Holm und Blink: „Schade, daß diese abenteuerliche Rückfahrt von Hela zu Ende ist. Ich denke, wir bleiben mit der Jacht hier in Zoppot und gehen neben dem Stege vor Anker. Morgen früh haben wir sicher genug Wind, um –“
„Ne, bester Brunner,“ unterbrach Holm den jungen Referendar. „Ich habe keine Lust, unten in der Kajüte in der engen Koje zu schlafen. Ein Motorboot soll uns nach dem Hafen schleppen.“
Inzwischen war auch der behäbige Ingenieur Karl von Oppen aus dem Beiboot an Deck geklettert und rief jetzt dazwischen:
„Ganz recht – Motorboot! Sie finden doch immer das Ei des Kolumbus, Holm!“ –
Eine halbe Stunde später glitt die „Gudrun“ unter dem Vorspann eines puffenden, benzinduftenden Motorbootes in den kleinen Jachthafen des Segelklubs „Gode Wind“ langsam hinein, wurde an der ihr bestimmten Liegestelle vertäut und dann von den vier Klubmitgliedern eiligst außer Dienst gestellt. Nachdem die Segel geborgen, gingen die Herren an Land und erreichten dann auch wirklich noch die letzte Straßenbahn nach Danzig. Diese war wenig besetzt. Holm und Doktor Blink nahmen im Wagen Platz, während die beiden anderen auf der Plattform blieben, da sie rauchen wollten.
Holm sagte unterwegs ganz unvermittelt:
„Brunner hat doch eine recht große Ähnlichkeit mit seiner Schwester. Findest du nicht auch, Heinz?“
Blink nickte zerstreut, zog dann, zum dritten Male bereits, seine Taschenuhr hervor und sah nach der Zeit.
„Ob ich noch vor Mitternacht zu Hause sein kann?“ fragte er nun. „Es ist jetzt dreiviertel zwölf. Länger als zehn Minuten fahren wir kaum mehr.“
Holm beobachtete den ihm gegenübersitzenden Freund unauffällig. Blinks hatte sich jetzt eine Unruhe bemächtigte, die kaum zu übersehen war.
„Weshalb willst du denn gerade vor Mitternacht daheim sein?“ fragte Holm langsam. „Das hat doch irgendetwas zu bedeuten?! Lieber Junge – du wirst mir immer rätselhafter! Etwa ein Stelldichein – wie?!“ Es sollte scherzhaft klingen. Aber der Ton gelang Holm nicht ganz. Die Sorge um das Wohl und Wehe des Freundes war nur zu deutlich herauszuhören.
Heinz Blink war plötzlich das Blut ins Gesicht gestiegen. Dieses jähe Erröten gab Holm sehr zu denken, besonders da der Doktor nun entgegnete:
„Natürlich – Stelldichein! Was sonst!“ Und sofort fügte er auch ablenkend hinzu: „Du machtest gestern eine etwas seltsame Bemerkung über die Hartung, Hug. Erst heute stieß mir das auf. Du sagtest ungefähr: „Sie ist nicht nur Gesanglehrerin, sondern versucht sich auch in anderen Künsten, spielt vielleicht gar vierhändig mit der edlen Frau Weinhold.“ So etwa drücktest du dich aus.“
„Allerdings. Ich halte die Hartung für eine Schlepperin der gewerbsmäßig ehestiftenden Dame Weinhold.“
„Ah! Also das! – Doch nein – unmöglich, Hug! Die Hartung verkehrt in der besten Gesellschaft, und –“
„Lieber Junge,“ fiel Holm ihm ins Wort, „gerade deshalb! Gerade weil ihr alle Kreise offenstehen, kann sie am leichtesten verkuppeln helfen.“
Blink schaute jetzt den Freund eine Weile starr an. Allerlei Gedanken durchkreisten sein Hirn. Und dann beugte er sich weit vor und fragte ganz heiser vor innerer Erregung:
„Hug, wir kamen gestern zufällig auf die Hartung zu sprechen, nicht wahr? Oder – hast du absichtlich die Unterhaltung auf diese würdige Dame gelenkt, bei der doch auch Hilde Brunner Unterricht hat?“
„Ja – absichtlich! Endlich hast du es herausgemerkt. Ich wollte dich trösten. Verlobungen, die so zustande gekommen sind, wie die Hildes mit dem überpatenten Herrn von Gromp, gehen zuweilen in die Brüche –“
Blink lehnte sich wieder zurück, starrte zum Fenster in die helle Mainacht hinaus. Er sprach kein Wort mehr, bis alle am Hauptbahnhof in Danzig ausstiegen und sich trennten. Da erst sagte er halblaut zu Holm:
„Wann darf ich meinen Gast erwarten?“
„Morgen Mittag. – Auf Wiedersehen.“
Blink und der Referendar wohnten in demselben Hause. Es gehörte dem in Südafrika spurlos verschollenen Vater des Doktors. Brunners waren erst vor ein paar Tagen eingezogen. Der Kommerzienrat Brunner hatte seine in Dirschau gelegene Seifenfabrik verkauft und war nach dem nahen Danzig übersiedelt, um hier eine größere und moderner eingerichtete sich erbauen zu lassen. Blink kannte die Familie jedoch bereits ein Jahr, da Brunners auch während ihres Dirschauer Aufenthaltes viel in Danziger Kaufmannskreisen verkehrt hatten.
Der Referendar schloß die Haustür des neuen, mit allen modernen Bequemlichkeiten ausgestatteten Gebäudes auf, während Blink den Chauffeur des Autos bezahlte, das die beiden auf Blinks Veranlassung hin nach der Großen Allee gebracht hatte, wo das Blinksche Haus inmitten einer bisher nur wenig bebauten Seitengasse stand.
Brunners hatten die erste Etage – acht Zimmer – gemietet. Der Doktor bewohnte die zweite. Die Herren sagten sich vor der Flurtür des Kommerzienrats gute Nacht.
Blink hatte es sehr eilig, in sein Stockwerk hinaufzukommen. Und doch sah er vor seiner Flurtür nochmals nach der Uhr. Sie zeigte fünf Minuten über zwölf. Mitternacht war vorüber.
Eine geraume Weile stand er unentschlossen da und stierte wie hypnotisiert auf die weiße Visitenkarte, die über dem Messingschild mit der Aufschrift „Theodor Blink“ befestigt war und den Aufdruck hatte:
Dr. phil. Heinz Blink, Privatdozent
Er hatte das Schlüsselbund bereits in der Hand, schob es jetzt jedoch mit hastiger Bewegung in die Tasche zurück und verließ das Haus wieder.
„Mehr nach rechts, Erwin?“
„Möglich. Vielleicht auch nach links. Deine liebe Mama erklärt nachher ja doch, alle Bilder hängen schief. Außerdem hättet ihr auch getrost einem Dekorateur die Einrichtung überlassen können.“
Hilde Brunner stand auf der Trittleiter und hatte soeben das Bild des Großvaters August Brunner, eine scheußliche Kohlezeichnung, befestigt. Jetzt kletterte sie langsam herab und besichtigte kritisch ihr Werk.
„Erwin, es hängt gerade,“ meinte sie mit Nachdruck.
„Das behauptest du. Deine Mutter wird dir beweisen, daß du kein Augenmaß hast.“
Erwin von Gromp saß in einem tiefen, rotbraunen Saffianledersessel, hatte das Monokel eingeklemmt und lächelte jetzt sein häufiges ironisch überlegenes Lächeln.
Hilde, schlank, etwas über mittelgroß und dabei von jener Fülle, die junge Mädchen oft älter erscheinen läßt, als sie es in Wirklichkeit sind, legte den Hammer auf den runden Mitteltisch und sagte:
„Wozu immer diese Sticheleien, Erwin?! Mama versteht tatsächlich von allem etwas. Versuche doch, dich mit ihr auf besseren Fuß zu stellen. Es ist für mich höchst peinlich, wenn du sie derart bespöttelst.“
Der Ton, in dem sie den letzten Satz aussprach, klang leicht gereizt, und der Blick, mit dem sie ihren Verlobten musterte, hatte nichts von bräutlicher Zärtlichkeit an sich.
Gromp lachte auf.
„Kriegerische Stimmung, Kleines? – Scheint so! – Komm’ lieber her … setz’ dich zu mir. Ich möchte dich etwas fragen.“
„Ich muß weiterarbeiten. Wenn Papa von der Börse heimkehrt, soll er sein Zimmer fix und fertig vorfinden.“ Hilde rückte den Tritt ein Stück nach rechts und kletterte die Stufen empor. „Frage, Erwin! Wir können uns auch so unterhalten,“ meinte sie und hielt das Kohleporträt der Großmutter Lina Brunner an die Wand.
Gromp hatte die Stirn gerunzelt. Bisher war von Hilde einer solchen Bitte, die die Aussicht auf allerlei Zärtlichkeiten in sich schloß, stets entsprochen worden. Überhaupt, in den letzten Tagen war es ihm sehr unangenehm aufgefallen, daß sein Einfluß auf sie merklich zu schwinden begann. Er machte jetzt auch andere recht beachtenswerte Entdeckungen an ihr, und nach nunmehr vierzehntägiger Brautzeit enthüllte sie ihm allmählich ihr wahres Wesen, das doch offenbar himmelweit verschieden war von jener schüchternen, scheuen Hildegard, die er etwa vor zwei Monaten „zufällig“ bei der Gesanglehrerin Emma Hartung kennengelernt hatte.
Gromp räusperte sich. Da drehte Hilde sich nach ihm um.
„Huh – ein so bitterböses Gesicht, Erwin?“ meinte sie scherzend. „Kannst mir lieber helfen. Hier – halt mir mal die Großmama –“
Er winkte lässig ab.
„Ich eigne mich für solche Dinge nicht. – Hm, Kleines, – also meine Frage. Etwas sehr wichtiges ist’s. Kann unsere Hochzeit nicht vier Wochen früher angesetzt werden? Dann würden wir doch Pfingsten bereits als junges Ehepaar irgendwohin eine kleine Tour unternehmen können, zum Beispiel nach dem Harz. Das wäre doch reizend. Gerade Pfingsten, wo sich die Natur soeben frisch geschmückt hat, bietet der Harz so unendlich viel Schönes –“
Hilde ließ das Bild sinken und stand eine Weile regungslos da. Gromp konnte ihr Gesicht nicht sehen. Und hätte er es können, er wäre ohne Zweifel stutzig geworden, denn Hildes Miene verriet jetzt nur zu deutlich die in ihr regen Gedanken.
Vier Wochen früher?! Also nur noch sechs Wochen hier daheim sein und zum Elternhause gehören, das sie so sehr liebte?! Sechs kurze Wochen, und dann – hinaus in all das Neue, das ihrer wartete, dann überantwortet sein diesem Manne da, dem sie jetzt plötzlich mit so zwiespältigen Empfindungen gegenübertrat, der jetzt bereits nach dieser kaum erst begonnenen Brautzeit so viel von dem Nimbus eingebüßt hatte, mit dem er ihr damals umgeben zu sein schien, als sie ihm bei der Hartung immer wieder begegnete – zufällig scheinbar –
Zufällig? –
Was hatte doch letztens Dr. Blink in Gegenwart des Vaters gesagt – letztens, vor drei Tagen? – Fraglos ohne jede Absicht, da er wohl kaum wußte, daß sie bei der Hartung Gesangsunterricht hatte.
„Die Hartung – ein sehr bekannter Name, der leider in Verbindung mit dem der Heiratsvermittlerin Weinhold genannt wird …“
Hilde hatte sofort verstanden. Ihre Augen begegneten damals – und dies war wirklich ein Zufall gewesen! – denen ihres Vaters. Und da hatte August Brunner, der frisch gebackene Kommerzienrat zur Seite geschaut, und da – da war auch plötzlich dieser ungewisse Argwohn in Hilde aufgestiegen: Heiratsvermittlung – Weinhold – Hartung, – Papas Ehrgeiz nach einem adligen Schwiegersohn. –
Erwin von Gromp räusperte sich abermals.
„Hm – und du sagst gar nichts, Kleines? Bekomme ich denn keine Antwort? Ist das die große Liebe, die –“
Hilde griff nach dem Hammer, sagte schnell, ihrem Verlobten ins Wort fallend:
„Es wird nicht gehen, Erwin. Die Aussteuer wird bis dahin nicht fertig. Sprich mit Mama –“
Gromp erhob sich jäh und lachte ärgerlich auf.
„Immer die Mama! Gerade sie, die mir ohnedies nicht recht wohl ist!“
„Nur deshalb, weil du so oft ironisch wirst, Erwin, Glaube mir! Sie verträgt deine überlegene Art nicht. Du mußt dich ihr mehr anzupassen suchen.“
Gromp stand da und nagte mit den Zähnen die Unterlippe. – Anpassen?! Lächerlich! Er – ein geborener von Gromp dieser – Dame, die einst im Geschäft ihres Mannes hinter dem Ladentisch gestanden und Seife verkauft hatte! Aber – er mußte ja hier klein beigegeben – mußte, – leider – leider!
„Schön – ich werde mit der Mama sprechen und zwar sofort,“ sagte er leichthin. „Sie ist um diese Zeit ja wohl wieder trotz der perfekten Köchin in der Küchenregion zu finden. Auf Wiedersehen, Kleines –“
Inzwischen war in Hilde ein beklemmender Gedanke aufgestiegen. Sie mußte Klarheit bekommen. Sie ertrug es nicht länger, sich mit diesen Zweifeln abzuquälen.
„Erwin – noch einen Augenblick,“ meinte sie hastig.
Er hatte den Türdrücker schon in der Hand.
„Nun?“
„Hast du auch vielleicht bemerkt – oder von dritter Seite gehört, daß – daß die Hartung mit – mit der gewerbsmäßigen Ehevermittlerin Weinhold im Bunde steht?“
Sie beobachtete ihn scharf. Aber Gromp hatte sich zu gut in der Gewalt.
„Mit wem?! – Ehevermittlerin – Weinhold?! Den Namen kenne ich nicht. Woher hast du denn diesen – diesen Unsinn?! Die Hartung ist mit meiner Mutter befreundet, und meine Mutter verkehrt nur mit ganz zweifelsfreien Leuten.“
„Es mag auch nur so ein Gerede sein,“ sagte Hilde, unsicher geworden. „Auf mich hat die Hartung auch stets einen recht guten Eindruck gemacht –“
Gromp war dicht an die Leiter herangetreten und blickte zu Hilde empor.
„Woher also der Unsinn, Schatz?“ meinte er streng. „Ich möchte das wissen. Solchen Verleumdern oder Weiterverbreitern haltloser Gerüchte muß man energisch den Mund stopfen.“
Abermals steigerte sich Hildes Mißtrauen jetzt, denn ihres Verlobten Erregung war zu stark, falls ihn diese Sache wirklich nicht weiter berührte.
„Von Verleumdung kann hier keine Rede sein,“ meinte sie, Gromp fest anblickend. „Der Herr, der im Laufe eines gleichgültigen Gesprächs über das Danziger Musikleben diese Bemerkung über die Hartung fallen ließ, ist über den Verdacht einer Verleumdung anderer hoch erhaben.“
Erwin von Gromps Stirn zeigte wieder drei tiefe Längsfalten.
„Der Name?“ fragte befehlend.
„Tut nichts zur Sache,“ entgegnete Hilde kühl. „Im übrigen geht dich doch das alles kaum etwas an, falls du nicht gerade für die Hartung als die Freundin deiner Mutter eintreten willst.“
„Das will ich. – Wer ist der Herr also?“
Der Ton seiner Stimme war barsch und fast drohend.
Hildes Wangen überflog helle Röte.
„Dein Benehmen dürfte nicht ganz passend sein,“ sagte sie eisig. „So kannst du meinetwegen einen Untergebenen, aber nicht mich anschreien. – Von mir erfährst du den Namen nicht.“
Sie nahm den Hammer zur Hand und trieb einen Nagel in die Wand.
Eine Tür fiel hart ins Schloß. Gromp hatte das Zimmer verlassen.
Hilde setzte sich auf die große Stufe des Tritts und dachte nach. Ihr Mißtrauen war jetzt noch reger geworden. Sollte sie etwa Opfer eines fein eingefädelten Komplotts geworden sein, sollte ihr holder Liebesroman, diese heimlichen Begegnungen bei der Hartung, etwa Lug und Trug gewesen sein?!
Sie grübelte und grübelte. Dann fiel ihr Dr. Blink ein. Und mit jener Energie, die sie ohne Zweifel von ihrer Mutter geerbt hatte, wollte sie sich dort die nötige Aufklärung zu verschaffen suchen, ging eiligst den Wohnungsflur entlang und klopfte bei ihrem Bruder an, der die beiden Zimmer dicht an der Flurtür bewohnte.
Referendar Brunner war daheim, saß am Schreibtisch und studierte ein dickes Aktenstück.
„Morgen, Hillusch. Nun, was gibt’s?“
„Du sollst mich zu Dr. Blink hinaufbegleiten,“ sagte sie kurz „Frage nicht, zu welchem Zweck, Karl. Und schweige über diesen Besuch.“
Der junge Referendar schüttelte den Kopf. „Was soll das, Hillusch? Zu Blink? Ich bin ganz versteinert.“
Trotzdem stiegen die Geschwister gleich darauf die Treppe zum zweiten Stock empor.
„Wenn Mama fragen sollte, wo wir waren. Auf dem Boden – ein Bild zu suchen,“ sagte Hilde leise.
Heinz Blink hatte das eine Fenster in seinem Arbeitszimmer weit geöffnet und schaute sinnend in den Vorgarten hinab, wo die großen Magnolienbäume, gerüttelt von dem kräftigen Wind, ihre letzten zartrosa Blütenblätter wehmütig zur Erde flattern sahen.
Um seine Augen lagen dunkle Schatten. Und seine Gesichtsfarbe zeigte auch heute wieder jenes ungesunde Gelbgrau, das während der Rückfahrt von Hela Hug Holm zu der Bemerkung veranlaßt hatte, man könnte den Freund für einen leichtfertigen Nachtschwärmer halten.
Blink dachte an die verflossene Nacht, an die vorwurfsvollen Augen der alten Haushälterin, als er heute früh erst gegen neun Uhr heimkehrte, an – seine Feigheit und den täglich in ihm stärker werdenden Wunsch, sich gerade Hug Holm restlos anzuvertrauen.
Unwillkürlich ballte er jetzt in Gedanken an die peinvollen Nächte der letzten Zeit beide Hände zu Fäusten. Wieder überkam ihn urplötzlich jene geradezu sinnlose Wut, daß er am liebsten irgend etwas in Scherben geschlagen hätte. Diese Wut richtete sich gegen seine eigene Person, seinen Mangel an Mut und seine Unfähigkeit, diesen seltsamen Dingen, die ihn seelisch und körperlich so vollständig aus dem Gleichgewicht gebracht hatten, auch nur ein einziges Mal kühl-kritisch gegenüberzutreten.
Ebenso schnell erhielt sein Denken jedoch wieder eine andere Richtung. Seit Tagen hatte es nicht mehr geregnet, und die Winterfeldstraße, in der das Blinksche Haus lag, war infolge der nahen Kalkgruben mit einer dicken Schicht weißgrauen Staubes bedeckt, der jetzt, von einem Luftwirbel hochgerissen, in dicker Wolke auf das Gebäude zukam.
Dr. Blink beobachtete diese helle Staubtrombe[1] mit jenem Interesse, daß er allen Erscheinungen der Umwelt von dem Wunsche beseelt entgegenbrachte, sich vor Einseitigkeit zu bewahren, die gerade bei ihm als Hochschullehrer für Staatsrecht nur zu leicht sich einstellen konnte. Mit demselben Interesse hätte er etwa auch einer Kolonne an Arbeitern zugeschaut, die Asphaltpflaster ausbesserten oder einen Gasrohrbruch flickten.
Der Staubwirbel wanderte am Hause vorüber, hüllte nun auch für Sekunden den jungen Privatgelehrten ein, sank dann aber gleich darauf langsam in sich zusammen und gab die Aussicht auf den Fahrdamm und die Bürgersteige wieder frei.
Heinz Blink sah nun als erstes da unten eine wohlbekannte Gestalt, die gemächlich sich dem vornehmen Wohngebäude näherte, wie immer im Mundwinkel die kurz Holzpfeife und in der Rechten den merkwürdig geformten, aus Nilpferdhaut geschnittenen Spazierstock.
Hug Holm war für seine Freunde stets bereits auf die weiteste Entfernung zu erkennen, sowohl an seiner lässigen, vornübergebeugten Haltung und dem tief gesenkten Kopf, als auch an der blauen Seglermütze, die er Winter und Sommer trug. Außerdem hatte er eine Vorliebe für großkarierte, graue Stoffe, und selbst sein Winter- und Sommermantel waren ein Beweis für diesen einseitigen Geschmack.
Er hatte den Freund oben am Fenster erspäht, winkte ihm einen Gruß mit der stockbewaffneten Hand zu und verschwand dann im Hause. Blink öffnete ihm die Flurtür. Sie begrüßten sich durch einen kräftigen Händedruck und betraten dann, kurze Bemerkungen über die Staubtrombe austauschend, des Doktors Studierzimmer, das in seiner etwas allzu aufdringlichen Vornehmheit so gar nichts Persönliches an sich hatte.
Holm ließ sich in eine Ecke des Ledersofas fallen, holte einen kleinen Tabakbeutel hervor, begann seine geliebte Pfeife frisch zu stopfen und sagte dann ganz unvermittelt ohne aufzusehen:
„Anscheinend hast du auch im „Hotel zum Schwan“ nicht besser als hier daheim geschlafen. Du schaust wieder – mit Verlaub – wie Braunbier mit Spuke aus.“
Dr. Blink war leicht zusammengezuckt und dann sehr rot geworden. Er lehnte am Schreibtisch, bückte sich nun schnell und hob einen Papierschnitzel auf. So vergingen ein paar Sekunden, ehe er erwiderte:
„Ich – ich hatte mich verspätet und bekam kein Auto mehr. Deshalb blieb ich in der Stadt. Woher weißt du übrigens, daß ich –“
Holm hatte die Angewohnheit, niemand einen Satz beenden zu lassen, dessen Inhalt schon aus den ersten Worten hervorging. Er nannte das „wertvolle Zeitersparnis“, wie er denn überhaupt nichts so sehr haßte als Umständlichkeit.
„Weil ich dich gestern abend, als ich dir sagte, ich hätte eine wichtige Verabredungen, belogen habe, wenigstens so halb und halb,“ fiel er dem Freunde ins Wort. „Ich wollte endlich wissen, was hier in deiner Behausung eigentlich vorgeht und ob du tatsächlich nicht mehr wagst, eine Nacht allein in diesen Räumen zuzubringen.“
Er rieb ein Zündholz an, setzte seine Pfeife in Brand und blickte dann erst auf. Seine Augen ruhten nun mit einem Ausdruck aufrichtiger Teilnahme auf dem Freunde, und in seine Stimme trat ein weicher Klang, als er fortfuhr:
„Drei Tage bin ich jetzt dein Gast, mein lieber Junge. Drei Tage habe ich gewartet. Aber du schweigst weiter. So geht das nicht länger. Du leidest unter irgend einem Erlebnis, das höchst bedenklicher Art sein muß. Bitte, erinnere dich an unser Gespräch auf der „Gudrun“ damals im Nebel. Ich bat dich um dein Vertrauen. Du bliebst stumm. Mir fiel auf, daß du gern vor Mitternacht daheim sein wolltest. Ich habe mir in jener Nacht erlaubt, in einem zweiten Auto dem eurigen zu folgen, das Brunner und dich hierher brachte. So wurde ich gewahr, daß du sehr bald wieder das Haus verließest, mit der Straßenbahn nach Danzig zurückfuhrst und dort im Hotel „Drei Eichen“ in der Altstadt einkehrtest, nachdem du im Cafee „Kaiserkrone“ einen kräftigen Schlaftrunk in Gestalt von drei Eiergrogs eingenommen hattest. –
Ich könnte dir noch verschiedene nebensächlichere Beobachtungen mitteilen, die ich an dir in den folgenden zwei Tagen hier in deiner Wohnung gemacht habe. Es mag jedoch genügen, daß ich nunmehr auf Grund der Tatsache, daß du die verflossene Nacht, in der ich abwesend war, wieder außerhalb geschlafen hast – im „Schwan“ –, zu der Überzeugung gelangt bin, dich muß irgend etwas hier nächtlicherweise in Schrecken setzen und geradezu aus dem Hause treiben. Dieses Etwas dürfte nun ganz besonderer Art sein. Nichts Alltägliches, vielmehr recht Außergewöhnliches und zwar in dem Sinne des Unerklärlichen, das man anderen mitzuteilen sich scheut, weil man ein ironisch lächelndes Kopfschütteln fürchtet. – Ist es nicht so?“
Heinz Blink nickte. Sein Gesicht zeigte eine gewisse Verlegenheit. Er schaute vor sich hin auf das rotblaue Muster des Afghanteppichs und sagte nun leise und bedrückt:
„Es ist so. – Wärst du nicht Hug Holm, das Allerweltsgenie, so würde ich dir nun mein Kompliment aussprechen wegen deiner vollkommen zutreffenden Folgerungen, die du –“
„Schon gut. – Also etwas Unerklärliches, das dich dein Heim meiden läßt. Da du vor den Nächten hier in deinen Räumen Furcht hast, ludst du mich ein, wiesest mir dann auch den Billardsaal als Schlafraum an, weil er neben deinem Schlafzimmer liegt und die Verbindungstür offen bleiben konnte. Soweit bin ich also im klaren. Nun die Hauptsache: die Ursache deiner Angst.“
Heinz Blink kam langsam auf den runden Mitteltisch zu, hinter dem Holm saß, stützte sich schwer auf die unter dem Druck leicht knisternden, auf der Platte liegenden Zeitschriften und sagte, indem er seine Stimme bis zum Flüstern dämpfte:
„Ich selbst bin es, der mich von hier forttreibt. Hug – ich selbst!“
Er hob den rechten Arm und deutete auf einen hochlehnigen Klubsessel, der zwanglos neben dem kaminartigen, breiten Ofen stand.
„Dort saß ich zum ersten Male vor genau elf Tagen, genau um Mitternacht, während mein wahres Ich dort in der Tür der Bibliothek wie versteinert minutenlang regungslos verharrte – mit jagenden Gedanken, jagendem Herzen und angstschweißfeuchter Stirn –“
Holm hatte die tiefliegenden, grauen Augen halb zugekniffen. Sein bartloses, wettergebräuntes Gesicht verriet deutlich die Spannung, mit der er diese Aufklärung hinnahm. Nun ging es wie ein kurzes Aufleuchten über seine scharf geschnittenen Züge hin, und mit gelassener Handbewegung sagte er:
„Daß es sich hier um eine Sinnestäuschung handeln dürfte, habe ich mir gleich gedacht. Du bist ohne Frage überarbeitet. Die wenig anerkennende Besprechung deines Buches in der Fachpresse hatte deinen Nerven böse mitgespielt. Du suchtest die Scharte schleunigst durch eine neue Arbeit auszuwetzen, hattest dir dabei zu viel zugemutet, und nun streikt dein Hirn, mehr noch, leistet sich allerlei Extravaganzen. – Wenn du dich sofort nach jener Nacht, als du dich selbst dort im Sessel sitzen sahst, an mich gewendet hättest, würdest du heute mit Rucksack und Bergstock in den Dolomiten umherklettern und längst von diesem kleinen Defekt geheilt sein.“
Blink hatte sich in den geschnitzten Polsterstuhl dicht neben den Freund gesetzt und lachte jetzt bei Holms letzten Worten bitter auf.
„Kleiner Defekt! – Nein, Hug, – es ist ein großer, ein recht schlimmer sogar, gegen den auch die Bergluft nichts vermag. Es handelt sich ja nicht lediglich darum, daß ich dort in jenem Sessel mein Ebenbild im strahlend hellen Lichte des elektrischen Kronleuchters sitzen sah, – nein, – die Sache war damit noch nicht beendet. Die Erscheinung – nennen wir’s schon so! – die bis in die kleinste Einzelheit des Anzugs mir glich, sah ich so deutlich, wie ich jetzt dich hier vor mir habe. Sie saß da, die Beine übereinander geschlagen, lächelte mich mit geradezu teuflischem Hohn an, erhob sich nach einer Weile, die mir eine Ewigkeit dünkte, und – und –“ –
Blink beugte sich ganz dicht zu Holm hin und legte ihm die Hand schwer auf den Arm – „– und kam langsam auf mich zu, hob drohend die geballte Faust und schien mich ins Gesicht schlagen zu wollen. Mehr weiß ich nicht. Ich muß ohnmächtig geworden sein. Ich fand mich dort neben der Tür auf dem Bärenfell liegen. Die Uhr war dreiviertel eins. Ich bin also eine dreiviertel Stunde bewußtlos gewesen. –
Meinen Seelenzustand nach dem Erwachen brauche ich dir wohl nicht zu schildern. Ich habe hintereinander drei Gläser Sherry hinuntergegossen. Trotzdem klapperten mir die Zähne wie im Schüttelfrost aufeinander. Ich habe mich in meinem Schlafzimmer eingeriegelt, meinen Revolver auf den Nachttisch gelegt. Lache mich nicht aus. Ich wagte es nicht, das Licht auszudrehen, lag im Bett und stierte bald hierhin, bald dorthin.
Dann – dann fühlte ich etwas wie einen leichten Schmerz auf der Stirn, betastete die Stelle. Sie war geschwollen, wenn auch nur wenig. Ich nahm einen Handspiegel, sah – sah, daß ich dicht an der linken Schläfe zwei kleine Beulen hatte. Wärest du da nicht auch auf den Gedanken gekommen, diese Beulen könnten von dem Schlage herrühren, den – den die Faust meines zweiten ich’s gegen mich geführt hatte?“
„Du wirst dich beim Fallen, als du ohnmächtig wurde, gestoßen haben –“
„Nein – nein! Suche mir das nicht einzureden, Hug.“ Blinks hatte sich jetzt eine starke Erregung bemächtigt. „Bitte, schau dir dort den Platz an der Tür nach der Bibliothek an. Wo soll ich mir da zwei Beulen geholt haben –?! Zwei Beulen, die gerade so dicht nebeneinander lagen, wie die Knöchel des Zeige– und Mittelfingers einer Faust?!
Und – es kommt ja noch besser – noch ärger! Zwei Tage ließ mein Ebenbild mich in Ruhe. Ich hatte also Zeit, den Schreck etwas zu verwinden. Ich nahm mir vor, mich selbst dadurch von dieser Sinnestäuschung zu befreien, daß ich dem Schemen energisch das nächste Mal auf den Leib rückte – falls er sich eben wieder zeigen sollte. Dann mußte er ja in nichts zerfließen, dann würde ich alle Angst davor los sein. –
Zwei Tage! Am dritten Abend hatte ich in der Bibliothek ein Buch eingesehen, hatte mir ein zweites herausgesucht und hielt es in der Hand, als ich dieses Zimmer betrat und – wieder den Mann im Sessel sitzen sah – genau wie das erste Mal! Und genau wie das erste Mal stand mein Doppelgänger auf und näherte sich mir.
Er – er war stärker als ich. Ich floh, machte kehrt, schlug die Tür hinter mir zu, riegelte mich in der Bibliothek ein, lauschte mit jagenden Pulsen an dieser Tür, ob ich nicht irgend ein Geräusch vernähme. Und da – da – ja, Hug, es war keine Sinnestäuschung! – da hörte ich ein höhnisches Gelächter durch das polierte Holz hindurchdringen, gleich darauf einen so harten Schlag gegen die Türfüllung, daß ich entsetzt zurückfuhr. Dann blieb alles still. Ich habe mich nicht aus der Bibliothek herausgewagt, Hug, habe alle Lichter eingeschaltet und wachend den Morgen erwartet –“
Heinz Blink wischte sich mit dem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Sein Gesicht war fahl und verfallen. Seine Hand, die jetzt den Arm Holms umkrampft hatte, zitterte leicht. Und nach kurzer Pause fügte er tief Atem holend hinzu:
„Ich schäme mich meiner Feigheit, Hug, aber – ich kann sie nicht überwinden. Noch zweimal hat mein Doppelgänger mich in die Bibliothek gejagt. Dann – dann hatte er gesiegt! Ich wagte nicht mehr, nachts allein in diesen Räumen zu sein. Meine brave Frau Steinke hält mich für einen Bummler, Wüstling, Trunkenbold. Ich habe noch nie so viel Burgunder mir aus dem Keller heraufbringen lassen als in diesen letzten Tagen, habe die Nächte, bevor du zu mir kamst, stets im Hotel geschlafen. Die Steinke empfing mich heute früh mit einer Miene! Oh – sie ahnt ja nicht, was ich durchgemacht habe –!“
„Armer Kerl!“ sagte Hug Holm weich. „Deine Nerven sind schlimmer in Unordnung, als ich anfangs glaubte. Morgen fahren wir für einige Wochen an die Adria. Auch mir tut ein wenig Ausspannen not. Abgemacht?“
Heinz Blink lächelte bitter.
„Also soll ich wirklich vor diesem – diesem Trugbilde das Feld gänzlich räumen?! – Meinetwegen! Obwohl ich eigentlich gehofft hatte, daß du –“
„– den Kampf gegen diesen Spuk hier an Ort und Stelle aufnehmen würdest. – Nicht wahr? – Mein lieber Junge, wie sollte ich das wohl?! Derartige Folgeerscheinungen eines arg mitgenommenen Nervensystems wie diese stellen sich nur ein, wenn der – sagen wir – der Kranke allein ist. Nein – das einzig richtige ist: Luftwechsel, ganz andere Umgebung, Ablenkung, schöne Frauen, etwas Flirt, Seebäder in der blauen Adria – und meine stete Gesellschaft! – Wir reisen morgen, und damit basta!“
Dr. Blink hatte die Hand von Holms Arm zurückgezogen und strich jetzt langsam die golddurchwirkte, türkische Tischdecke glatt. Er schien noch etwas sagen zu wollen, wurde aber durch den Eintritt des alten Dieners Roderich verhindert, dem Freunde auch noch das letzte mitzuteilen – vielleicht das Wichtigste dieser mehr als außergewöhnlichen, für ihn geradezu unheimlichen Vorgänge.
„Herr Doktor, der Referendar Brunner und Fräulein Brunner lassen um eine kurze Unterredung bitten,“ meldete der grauhaarige Mann mit dem ihm eigenen singenden Tonfall.
Heinz Blink war überrascht.
„Auch das gnädige Fräulein, Roderich?“ fragte er schnell.
„Jawohl – die Geschwister Brunner. Ich habe die Herrschaften in den Salon geführt.“
„Gut. Ich komme sofort.“
Der Alte verschwand. Blink wandte sich am Holm.
„Merkwürdig, dieser Besuch –“ Dann fiel ihm etwas ein. „Sollte etwa –“ fragte er leise, wie zu sich selbst sprechend?
„Was denn?“ meinte Holm.
Blink zauderte mit der Antwort. Dann entgegnete er: „Oh – ich habe mich da leider letztens zu einer Bemerkung hinreißen lassen, die sich auf die Fragwürdigkeit der Beziehungen zwischen der Hartung und der Weinhold bezog. Es war am Vormittag nach unserer letzten nicht ganz ungefährlichen Segelpartie mit der „Gudrun“. Kommerzienrat Brunner und Tochter besichtigten die neuen Spalierobstreihen hinten im Garten. Ich kam dazu, und im Laufe der Unterhaltung hatte ich dann leider Gelegenheit, diese Verdächtigung gegen die Hartung auszusprechen. Kaum war’s geschehen, als es mich auch schon bitter gereute. Aber zuweilen treibt uns ja eine unerklärliche Stimmung zu Handlungen, die unserem Wesen geradezu zuwiderlaufen.“
„Stimmung?!“ warf Holm ein. „Hier dürfte es mehr ein seelischer Zustand gewesen sein, – der der Eifersucht auf den patenten Herrn von Gromp.“
„Eifersucht?! – Nein. – Doch lassen wir diese Frage jetzt offen. Jedenfalls fürchte ich, daß die Geschwister Brunner mich womöglich dieser Bemerkung wegen aufsuchen. Das würde eine sehr peinliche Lage für mich ergeben. Weiß ich doch nicht einmal, ob du, lieber Hug, – denn von dir erfuhr ich ja erst von diesem Kompagniegeschäft Weinhold-Hartung – auch genügend Belastungsmaterial gegen –“
„Oh – da kannst du ganz beruhigt sein. Übergenug, sage ich dir! – Doch nun geh’ und sieh zu, was die beiden Brunners wünschen.“
Hugo Holm war allein, begann seine Pfeife frisch zu stopfen und begleitete diese Arbeit mit besonderen Gedanken. Er sorgte sich um den Freund. Er war überzeugt, daß Blink ihm gegenüber in einem Punkte doch nicht ganz offen gewesen war –: Was Hilde Brunner anbetraf. –
Diese schwere Nervenüberreizung war seines Erachtens nicht lediglich auf Überarbeitung zurückzuführen. Da sprach noch anderes mit. Der Schmerz um den Verlust dieses frischen, sonnigen Mädels, das unter der Überzahl der heutigen „modernen“ jungen Damen durch ihre reizende Natürlichkeit und heitere Liebenswürdigkeit überall hervortrat, ohne dies je zu wollen. Blink hatte diesen Schmerz sicherlich noch lange nicht überwunden. Er gehörte nicht zu den Naturen, bei denen das Meiste nur die Oberfläche der Seele streift. Diese stille Neigung hatte recht tief bei ihm gesessen. Vielleicht war er sich dessen erst bewußt geworden, als Hilde für ihn verloren ging, als so ganz plötzlich und zu aller Überraschung die Verlobung mit Gromp veröffentlicht wurde.
Holm schüttelte jetzt ärgerlich den Kopf. Immer die Weiber! Auch hier wieder! Ein wahres Glück, daß er die Frauen aus seinem Leben so vollständig nach der einen bösen Enttäuschung ausgeschaltet hatte. Er war gefeit. Ihm waren sie nur mehr Studienobjekte – wie alle Menschen, denen er begegnete.
Holm paffte ein paar dicke Rauchwolken in die Luft. –
Ja – die Adria, – das war das richtige für Heinz. Und gleich morgen abreisen! – Hm – ob dort auf dem Schreibtisch oder im Bücherschrank nicht ein Fahrplan zu finden war? –
Er stand auf. Sein Blick blieb an dem Klubsessel neben dem Kamin haften. Dort hatte der andere Heinz also gesessen.
Plötzlich beugte Holm den Oberkörper vor, schaute scharf auf den Sitz des hochlehnigen Möbels, machte ein paar schnelle Schritte darauf zu und fuhr mit dem Zeigefinger über das weiche Leder hin.
„Merkwürdig!“ dachte er. „Staubtücher scheint es hier nicht zu geben –“
Dann wieder änderte sich sein Gesichtsausdruck. – Sollte etwa Heinz hier absichtlich –?
Da wurde die Tür nach dem Flur hin geöffnet.
Referendar Brunner trat ein.
„Morgen, Herr Holm. Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten? Meine Schwester hat mit Blink der Wohnung wegen einiges zu besprechen –“
Holm war dem jungen Juristen recht zugetan. Karl Brunner glich seiner Schwester nicht nur äußerlich. Auch seine ganze Art sich zu geben erinnerte an Hildes zwanglose Frische.
Der Referendar wieder verehrter Holm geradezu, den er im Segelklub kennengelernt und von dem er schon vorher so viel Merkwürdiges gehört hatte.
Die Unterhaltung zwischen den beiden drehte sich zuerst um die damalige neblige Rückfahrt von Hela. Dann sagte Brunner ganz unvermittelt:
„Dürfte ich Sie um einen Rat bitten, Herr Holm? Im Klub preist man sie ja als den besten Ratgeber in allen Dingen, dem man getrost mit jeder Angelegenheit kommen kann.“
„Bitte, lieber Brunner. Ich stehe gern zu Diensten. Aber, ich liebe die Kürze. Also –“
„Keine Sorge. Telegrammstil! – Ich bin nicht aus eigener Neigung Jurist geworden. Das war meines Vaters Wunsch. So bin ich jetzt bereits fünfundzwanzig, und muß mich mindestens noch fünf Jahre von Papa völlig aushalten lassen. Das ist so niederdrückend, so demütigend. – Dann – Ihrer Verschwiegenheit bin ich ja wohl sicher! – habe ich noch ganz besondere Zukunftspläne. Ich – ich liebe ein Mädchen, das –“
Holm hatte eine abwehrende Handbewegung gemacht, sagte jetzt: „Ich bin genau unterrichtet. Rechtes Nebenhaus Nr. 7, zweiter Stock, – Zimmervermieterin, verwitwete Frau Kanzleisekretär Döbberke nebst Tochter Gisela –“
Brunner machte ein keineswegs geistreiches Gesicht.
„Ja – woher denn in aller Welt wissen Sie, daß –“
„Oh – man wird Ihnen im Klub sicherlich auch erzählt haben, daß ich meine lange Hakennase so ziemlich in alles stecke, was in unserem schönen Danzig geschieht, und daß ich eine Vorliebe für etwas außergewöhnliche Geschehnisse habe. Blink teilte mir so nebenbei mit, wie sehr gerade Sie Ihren Eltern zugeredet hätten, die Wohnung hier in diesem Hause zu wählen. Sie haben hierbei einen Übereifer gezeigt, der Blink auffiel. Da habe ich mir denn die Freiheit genommen festzustellen, weshalb Ihnen gerade dieses Haus so sehr zusagte. Die Lösung hieß: Gisela Döbberke.“
Der Referendar schaute Holm ungläubig an.
„Dann müssen Sie mich haben beobachten lassen,“ meinte er unsicher. „Wir – Gisela und ich – sind ja so sehr vorsichtig. Ich glaubte, von unseren Beziehungen wüßte hier in Danzig niemand etwas.“
Holm lächelte.
„Dies nehmen heimliche Liebespaare stets an. – Hoffen Sie,“ fügte er voller Teilnahme hinzu, „daß ihr Vater vielleicht zufällig auf die liebreizende Blondine aufmerksam wird und es dann verständlicher findet, daß sein Sohn sein Herz an die Tochter einer armen Witwe verloren hat?“
„Ah, – wie gut Sie raten können! Es ist in der Tat so. Papa läßt mir jede Freiheit, nur – nur in einem Punkte würde er unzugänglich bleiben. Wenn ich ihm eine nicht ganz standesgemäße Schwiegertochter zuführte, – nicht standesgemäß nach seiner Auffassung, die ein wenig – sagen wir – auf dem großen Geldsack beruht!“
Holm nickte Brunner freundlich zu.
„Ich weiß jetzt, worauf Sie hinauswollen. Ich soll Ihnen sagen, ob es ratsam sei, daß Sie Ihren Beruf aufgeben und einen anderen ergreifen, der Sie schneller von Ihrem Vater unabhängig macht. – Sind Sie gern Jurist?“
„Ganz im Gegenteil. Für mich gibt es nichts Öderes als diese –“
„Was würde Ihr Vater zu einem Berufswechsel sagen?“
„Sagen?! Er würde aus der Haut fahren!“
„Eine schmerzhafte Geschichte! – Doch – bleiben wir ernst. Haben Sie eine besondere Neigung, besondere Fähigkeiten?“
„Nein. Nur eine Idee, wie ich mich selbstständig machen könnte. Meiner Ansicht nach ist damit viel zu verdienen. Ich bin ganz zufällig vor etwa einem Monat bei einem Strandspaziergang nach der Weichselmündung darauf gekommen. Ihnen dürfte bekannt sein, daß die Ostsee zwischen dem Badeort Heubude und der Weichselmündung bei jedem Seegang große Stücke sehr fetten Torfs auswirft. Dieser Torf muß aus einem Lager stammen, das sich dicht an der Küste in sehr breitem Streifen hinzieht. Mit Hilfe besonders konstruierter Eisenharken könnte man –“
„Gut – ich bin im Bilde. – Ihre Idee ist gar nicht so übel. Und wie denken Sie die Ausbeutung dieses Torflagers in die Wege zu leiten?“
Brunner gab voller Eifer die nötige Aufklärung, sagte dann zum Schluß: „Ich hoffe, Papa wird mein Unternehmungsgeist imponieren. Wer ganz klein angefangen hat wie mein Vater, müßte doch jedes Selbstständigkeitsgefühl zu schätzen wissen.“
„Nun – Ihr Vater ist jetzt Kommerzienrat. Da wird er vielleicht den einzigen Sohn gern in anderer Stellung sehen wollen als in der eines Direktors einer Torfgewinnungs-GmbH. Trotzdem – ich rate Ihnen, ganz offen mit ihm zu sprechen, vorläufig aber Fräulein Gisela aus dem Spiel zu lassen.“ – – –
Heinz Blink saß klopfenden Herzens Hilde Brunner im Salon gegenüber. Und dieses unruhige Herz schien ihm mit jedem Schlage zuzurufen: „Du hast nicht überwunden – und du wirst nie überwinden!“
Hilde ahnte von alledem nichts. Wie sollte sie auch?! Sie war Blink in Danziger Kaufmannskreisen auf Gesellschaften und Festen zwar oft genug im letzten Jahre begegnet, aber nie hatte sie bemerkt, oder auch nur bemerken können, daß er sich für sie stärker interessierte.
„Herr Doktor,“ sagte sie jetzt etwas zögernd, „es handelt sich bei der Frage, die ich von Ihnen gern beantwortet haben möchte, um etwas für mich sehr Wichtiges. Ersparen Sie mir jedoch alle näheren Erklärungen, die für mich sehr peinlich sein würden. –
Haben Sie an jenem Vormittag in Ihrem Obstgarten absichtlich in meiner Gegenwart die Äußerung über meine Gesanglehrerin getan?“
Blink senkte den Kopf. Was sollte er antworten? – Absichtlich? – Nein und Ja! – War es doch vielleicht Eifersucht gewesen, die ihn zu jener Bemerkung veranlaßt hatte? Vorhin dem Freunde gegenüber hatte er dies zwar nicht gelten lassen wollen. Und diese Zurückweisung der Unterstellung, eine eifersüchtige Regung habe ihm die Verdächtigung gegen die Gesanglehrerin auf die Lippen gedrängt, war von ihm in ehrlicher Überzeugung geschehen.
Jetzt jedoch, wo er der heimlichen Geliebten so dicht gegenübersaß, wo er die holden, weichen Züge, den melodischen Klang der Stimme und den wundervollen, madonnenhaften und doch keineswegs etwa einstudierten Augenaufschlag abermals aus nächster Nähe bewundern konnte, wo auch der still in ihm keimende Glückshunger, dieses Sehnen nach etwas Sonnenschein in seinem grauen Alltagsdasein, sich mit aller Macht meldete – sofort wurde er an sich selbst irre. Kaum war er sich über diese Unsicherheit klar geworden, als sich ihm auch sofort ein tiefes Gefühl der Scham aufdrängte.
Er, Heinz Blink, sollte wirklich aus Eifersucht zum Verleumder geworden sein?! Das paßte so gar nicht zu seinem Charakter. Alles Unaufrichtige, alle Winkelzüge waren ihm verhaßt. Er war ein Wahrheitsfanatiker, paßte auch in dieser Hinsicht sehr wenig in die heutige Welt hinein, die ungeschminkte Ehrlichkeit kaum zu schätzen weiß, sie oft für Grobheit und Ungeschliffenheit nimmt oder gar als töricht und unzweckmäßig belächelt. –
Ja – er schämte sich! Und diese Empfindung spiegelte sich nun auch in seinen Mienen so stark wider, daß die ihn aufmerksam beobachtende Hilde, seinen Gesichtsausdruck falsch deutend, leise sagte:
„Herr Doktor, Ihnen scheint meine Frage sehr ungelegen zu kommen. Wenn für mich von Ihrer Beantwortung nicht so viel abhinge, würde ich –“
Sie verstummte.
Blink hatte sie angeschaut. Und jetzt täuschte sich Hilde nicht über das, was aus diesen Augen ihr entgegenstrahlte: Schmerz, halbe Verzweiflung, heißes Sehnen.
Noch nie hatte sie in dem Blick dieses Mannes, an dem sie bisher achtlos vorübergegangen war, zu lesen versucht. Was galt ihr der junge Privatdozent, den ihre Freundinnen stets nur den Ritter Toggenburg nannten und dem doch jede mit Freuden das Jawort gegeben, denn Heinz Blink war ja reich und in angesehener Stellung.
Hilde überrieselte es seltsam unter dem Einfluß dieses stets so schwermütigen Augenpaares. Sie erschrak geradezu. Mit jenem feinen Empfinden, daß dem weiblichen Geschlecht in solchen Dingen eigen, sagte sie sich jetzt sofort, daß sie bisher diesem Manne gegenüber blind gewesen, daß er sie liebe, daß er unter ihrem Verlust bitter leide und verzehrende Eifersucht ihn wahrscheinlich zu jener Äußerung getrieben habe.
Sie erschrak. Sie, die aus ihrer eigenen Person so wenig machte, die gerade nur so viel weibliche Eitelkeit besaß, um sich stets geschmackvoll zu kleiden, sie konnte sich als Mittelpunkt einer stillen Liebestragödie gar nicht denken, wollte es auch nicht sein, litt unter der Vorstellung, daß jemand durch sie unglücklich werden könnte.
Heute, jetzt zum ersten Male wurde sie sich mit ihren kaum vollendeten zwanzig Jahren endlich der Macht des Weibes über das andere Geschlecht bewußt, wurde sie sich klar, wie leicht diese Macht von oberflächlichen, herrschsüchtigen Naturen zum Schaden vertrauensvoller, unerfahrener Männer ausgenutzt werden konnte.
Heinz Blink war für sie nun urplötzlich gleichsam aus einem großen Kreise gleichgültiger Gestalten heraus – und dicht auf sie zugetreten, Beachtung und Bewertung seiner Persönlichkeit heischend. Unwillkürlich verglich sie ihn mit ihrem Verlobten.
Hier ein von kurz gehaltenem, blondem Spitzbart umrahmtes durchgeistigtes Gesicht mit weichen, feinen Linien, dort ein rassiges, scharf geschnittenes Antlitz mit einem Zug von überlegener Blasiertheit, den sie anfangs für so unaussprechlich vornehmen und für den offensichtlichen Beweis adliger Abstammung gehalten hatte. Der Vergleich fiel ohne Zweifel, wenn man das Gesicht als den Spiegel der Seele nahm, zu Heinz Blinks Gunsten aus.
Ja – es war dies eine seltsame, bedeutungsvolle Stunde für Hilde Brunner. Sie fühlte dies selbst. Sie erinnerte sich an das, was in den letzten Tagen in ihr vorgegangen war, an ihr Mißtrauen gegen ihren Bräutigam, an ihre Zweifel, was die vom Zufall scheinbar begünstigte Entwicklung ihres kleinen Liebesromans anbetraf; erinnerte sich auch an die Szene von vorhin im Herrenzimmer des Vaters, an Gromps Erregungen, an seine herrische Art ihr gegenüber und ihre ängstlichen Gedanken aus Anlaß seiner Bitte um Verkürzung der Brautzeit. Liebte sie Erwin von Gromp wirklich so, wie ein Weib den lieben soll, dem sie fürs Leben angehören will?
Und Hilde erschrak jetzt abermals. Wohin hatte sich nur ihr Denken verirrt?! Und – wie lange wohl mochte sie nun schon so schweigsam und in sich versunken dem Manne gegenübergesessen haben, von dem sie eine Aufklärung fordern wollte, die er ihr nur geben konnte, wenn er ihr gleichzeitig eingestand: „Ich liebe dich! Deshalb wollte ich dir die Augen öffnen! Du bist betrogen worden! Was du für eine Fügung des Schicksals hieltst, diese Begegnung bei der Hartung, war lediglich ein fein vorbereitetes Spiel!“
So hätte er sprechen müssen. Doch er schwieg; in seinem Gesicht malte sich deutlich eine tiefe Seelenpein; in seinen Augen glomm das Licht schmerzlichen Entsagens.
Hilde raffte sich auf. Diese Rücksprache, über deren das Hemmende unausgesprochener und nie auszusprechender Geständnisse lastete, mußte beendet werden.
Sie erhob sich – so unvermittelt, daß Dr. Blink leicht zusammenzuckte und dann selbst hastig aufstand.
„Gnädiges Fräulein, ich –“ begann er schnell. Aber Hildes leichtes Kopfschütteln ließ ihn sofort wieder verstummen.
„Ich wünsche eine Antwort nicht mehr,“ sagte sie unsicher und senkte den Blick. „Vielleicht ist es besser, ich vergesse ganz, daß Sie einmal eine Äußerung getan haben, die – die mir auffiel.“
Blink wußte mit Frauen schlecht umzugehen. Er ahnte ja, daß Hilde nur deshalb zu ihm gekommen sein konnte, um sich Gewißheit über Zweifel zu verschaffen, die infolge jener Bemerkung in ihr rege geworden waren. Und er sagte sich auch, daß es hier vielleicht um das Lebensglück dieses lieben Geschöpfes ging, das vorläufig nur argwöhnte, sie könnte zwei kupplerischen Weibern in eine schlau gestellte Falle gegangen sein. Um ein Lebensglück! Und diese Überzeugung lud ihm nun seines Erachtens eine schwere Verantwortung auf. Durfte er schweigen? Und – wenn er ehrlich sein wollte und ihr mitteilte, was er wußte, – wie, wie nur sollte er dies tun? Grade er war dieser Lage nicht gewachsen. Ihm mangelte es an jener diplomatischen Redefertigkeit Frauen gegenüber, durch die man den Kern der Sache durch feine Andeutungen zart verhüllen kann. –
Ganz schweigen? Hilde wieder so gehen lassen, gequält von allerlei Zweifeln, wie sie zu ihm gekommen war?! Nein, nein, – das durfte nicht sein! Wenn durch seine Schuld hier ein Stein ins Rollen gekommen war, so war es auch seine Pflicht zu verhüten, daß nicht allzu großes Unheil entstand. Denn – was wußte er über die Hartung und die Weinhold? Doch nur, daß erstere die Schlepperin, die Gehilfin der anderen war. Dafür, daß auch Gromp sich durch die Weinhold eine „reiche Partie“ hatte besorgen lassen, hatte er bisher keinerlei Beweise. Ob Holm diese besaß, entzog sich bisher seiner Kenntnis.
Blink fand nur einen Ausweg aus dieser peinlichen und für ihn so peinvollen Lage: Hug Holm! Mochte Hilde sich an den Freund wenden, mochte dieser zusehen, wie er die Angelegenheit am besten erledigte.
„Gnädiges Fräulein,“ erklärte er nun mit größerer Bestimmtheit als zuvor, „wenn Sie gestatten, schicke ich Ihnen meinen Freund Holm. Er ist offenbar über das, was Sie zu wissen wünschen, besser unterrichtet als ich!“
Hilde war erstaunt.
„Herr Holm?!“
Das klang sehr gedehnt. Holm war bei den Danziger Damen nicht sehr beliebt. Er machte aus seiner Verachtung aller Weiblichkeit nie ein Hehl.
Und Hilde wiederholte nun:
„Herr Holm? – Kann er mir denn darüber Aufschluß geben, ob es von Ihnen Absicht war, als Sie die Hartung derart – verdächtigten? – Meine Frage lautete ja nicht, was Wahres an diesem Gerede sei, sondern ob Sie mit voller Überlegung jener Äußerung taten.“
Doktor Blink sah, daß man schon wieder bei dem heiklen Punkt angelangt war. Ihm wurde förmlich heiß vor Verlegenheit. Wie ein Schuldiger, der nicht bekennen darf und der es doch gern möchte, stand er vor Hilde.
Sie ahnte, was in ihm vorging. Er tat ihr leid. Sie wollte ihm den Abgang erleichtern, sagte nun freundlich:
„Meine Frage war vielleicht etwas ungeschickt gefaßt. Ich bin sicher, daß auch Herr Holm mir die Auskunft erteilen kann, auf die es mir ankommt. Man nennt ihn hier in Danzig ja allgemein den allwissenden Holm. Ich kenne ihn überdies persönlich, habe sogar einmal den Vorzug gehabt, seine Tischdame bei Konsul Eschholz zu sein –"
Sie lächelte dazu ein wenig. Blink, der dieses Lächeln wahrnahm und richtig deutete, atmete erleichtert auf. Er hatte befürchtet, daß diese ergebnislose Unterredung ihm von Hilde irgendwie verargt werden könnte.
„Holm ist drüben in meinem Arbeitszimmer. Er steht sofort zu Ihrer Verfügung,“ meinte er ordentlich befreit wie von einer schweren Last.
„Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein.“
Hilde reichte ihm die Hand.
„Auf Wiedersehen, Herr Doktor –“
Und an den Fingern, die sich an die seinen schmiegten, fühlte er die Weiche, die Wärme ihrer zarten Haut. Das Blut schoß ihm ins Gesicht. Und verwirrt und überstürzt verließ er den Salon, schloß die Tür so heftig, als wolle er sich für immer absperren von einer Versuchung, die ihm Gefahr bringen konnte.
Hilde hatte ihm mit eigenem Blick nachgeschaut. Jetzt seufzte sie tief auf, nahm wieder Platz und dachte mit recht widersprechenden Gefühlen an Holm, der den Doktor ablösen sollte.
„Außerordentlich schmeichelhaft für mich,“ meinte Holm, dem Blink im Flur leise das Nötige mitgeteilt hatte. „Du läßt deine Zunge mit dir durchgehen, und nun soll ich die Kastanien aus dem Feuer holen!“
„Tu’s mir zuliebe. Hug! Ich – ich kann doch gerade Hilde Brunner gegenüber –“
„Laß nur. Wird gemacht.“ Holm klopfte dem Freunde auf die Schulter, drehte sich um und schritt auf die Salontür zu.
„Wie geht’s, gnädiges Fräulein?“ begrüßte er Hilde zwanglos und streckte ihr die Hand hin. „Wir haben uns seit langem nicht gesprochen. Zuletzt in der Gemäldeausstellung vor zwei Monaten. Es stimmt doch, nicht wahr? – Sehen Sie, auf mein Gedächtnis kann ich mich verlassen – stets! – Sie gestatten, daß ich Platz nehme und auch gleich zur Sache komme. Mein alter Heinz hat mich soeben mit dem Zweck Ihres Besuches bekannt gemacht. Er ist Damen gegenüber etwas sehr unbeholfen, außerdem ein Mensch, der den Grundsatz hat: „Deine Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein; was darüber, ist von Übel“. Mit unserer heutigen Gesellschaftsmoral, die Notlügen und Verdrehungen nicht nur billigt, sondern sogar verlangt, wird er sich wohl nie abfinden. Sie hatten ihn mit Ihrer Frage böse in die Klemme gebracht – verzeihen Sie diese etwas zwanglose Redensart. Der Anstifter dieser ganzen, für alle Teile nicht sehr angenehmen Erörterungen bin ich. Weshalb Blink dann das, was er von mir erfuhr, vor Ihnen und Ihrem Herrn Vater äußerte, weiß ich nicht genau. – Darf ich nun ganz ehrlich sein, gnädiges Fräulein?“
Hilde nickte nur. Sie war befangen. Jetzt plötzlich erschien ihr dieser vorschnelle Entschluß, bei Dr. Blink sich Klarheit verschaffen zu wollen, höchst unweiblich und unpassend. Was sollte sie erwidern, wenn dieser wegen seiner rücksichtslosen Offenheit geradezu berüchtigte Holm sie fragte, ob sie fürchte von der Hartung getäuscht worden zu sein, was die zufälligen Begegnungen mit Gromp anbetraf?! –
Doch Holm ließ ihr keine Zeit, diese Gedanken weiter auszuspinnen.
„Ich nehme an,“ begann er wieder, „daß Sie, gnädiges Fräulein, über meine Person sehr wenig oder doch nur unzureichend Bescheid wissen. Man wird Ihnen vielleicht gesagt haben: Der Holm – nun, – ein recht wunderlicher Geselle; ein Frauenhasser und -verächter, einer, der eigentlich dem lieben Herrgott Zeit wegstiehlt, der keine geregelte Beschäftigung hat, der alles und nichts treibt, der seine Nase oft in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, der andererseits für viele schon zum Helfer aus kritischen Lagen geworden ist, den seine Freunde als gerissenen Berater schätzen, dem man nachsagt, eine Schwäche für alles Außergewöhnliche, für kleine und große Geheimnisse zu haben, ein Hans Dampf in allen Gassen, ein bescheidenes Allerweltsgenie, ein mit allen Hunden gehetzter Herr nicht leicht zu bestimmenden Alters, das er niemandem verrät, vielleicht um sich für jünger halten zu lassen, als er in Wirklichkeit ist, so wird dieser oder jener, besser diese oder jene über mich gesprochen und damit so ziemlich das Richtige getroffen haben, besonders was das eine angeht, sich ungebeten um fremder Leute Sachen zu kümmern. –
Sehen Sie, Fräulein Brunner, es gibt eben für mich eine Sorte Menschen, denen ich zu gern etwas am Zeuge flicke. Das sind die, deren Selbstsucht und Gewissenlosigkeit soweit geht, ihren eigenen Interessen das Wohl anderer zu opfern, andere zu schädigen. Hierzu gehören außer den offenkundigen Gesetzesverächtern auch alle jene feinen, eleganten Schwindler, die unter der Maske äußerer Vornehmheit Dinge begehen, gegen die es noch keine Strafgesetzparagraphen gibt und wohl auch nie geben wird. –
Sie haben mir erlaubt, ganz ungeschminkt zu reden. Glauben Sie, daß die beiden heimlich zusammenarbeitenden Damen Weinhold und Hartung Sie mit Herrn von Gromp zusammengeführt haben könnten?“
Hildes Scheu vor dieser Frage, die sie ja vorausgesehen hatte, war bereits geschwunden. Gerade diese ganze Art Holms, diesen Gegenstand zu erledigen, seine halb ironischen Bemerkungen über sich selbst und dann wieder der freundschaftlich ungezwungene Ton, mit dem er hier alles vorbrachte, hatte etwas an sich, das Vertrauen erweckte und jede Befangenheit verscheuchte.
Bevor Hilde jedoch noch etwas erwidern konnte, fuhr er schon fort: „Meine Frage ist eigentlich überflüssig. Wenn durch Blinks Äußerung nicht ein ungewisser Argwohn in Ihnen geweckt worden wäre, hätten Sie meinen Freund nicht aufgesucht. – Es ist für mich schwer, in Ihrem Falle richtig zu handeln. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Bräutigam so lieben, daß es an Ihren Gefühlen nichts ändern würde, wenn Sie erführen, er sei Ihnen gegenüber in manchem nicht ehrlich gewesen.“
Hilde, die zumeist bisher an Holm vorbei und auf die an der Wand hängenden Gemälde geschaut hatte, um den Blick dieser etwas durchdringenden, großen Augen zu meiden, sah ihr Gegenüber jetzt voll an und erwiderte, flüchtig errötend:
„Ich glaubte bisher an eine gegenseitige Neigung, die unbeeinflußt durch andere entstanden sei. Ich bin jetzt jedoch stutzig geworden. Und heute gab mir eine besondere kleine Begebenheit Grund, an dem zu zweifeln, was für mich von größter Bedeutung wäre – daß andere Einflüsse bei dieser Verlobung gänzlich ausgeschaltet waren.“
„Sie sind tapfer. Sie haben sich sehr verändert, Fräulein Brunner, – mir scheint, Sie sind reifer und selbstsicherer geworden, haben sich schnell aufwärts entwickelt und Ihr wahres Selbst gefunden. – Darf ich an Sie nun eine Frage richten, die mir die sehr erwünschte Klarheit über Ihren Verlobten verschaffen wird? Hat Herr von Gromp Ihnen die Bekanntschaft zwischen seiner Mutter und der Hartung als eine seit langem bestehende hingestellt?“
„Ja. Die beiden Damen sind ja wohl alte Freundinnen.“
„Freundinnen? Alte? – Ich habe Grund gehabt, mich für die Familie von Gromp etwas zu interessieren. Der verstorbene Regierungspräsident hinterließ seine aus Frau und drei Kindern bestehende Familie nach seinem vor sechs Jahren erfolgten Tode in sehr bescheidenen Verhältnissen. Die beiden Töchter heirateten bald – standesgemäß, aber arm. Der Sohn, sehr anspruchsvoll erzogen, hatte bereits als Student so viel Schulden, daß der damals noch lebende Vater seinetwegen ein größeres Darlehen aufnehmen mußte. Und der jetzige Regierungsassessor würde nie in die Stellung eines Landrats aufrücken, wenn er nicht genügend Vermögen besitzt, um den nötigen Repräsentationspflichten genügen zu können. Seine Mutter ist mit der Hartung erst vor etwa drei Monaten bekannt geworden. nähere Beziehungen bestehen auch heute zwischen den Damen nicht, werden vielmehr nur vorgetäuscht. Assessor von Gromp hat an die Weinhold unter bestimmten Voraussetzungen fünftausend Mark zu zahlen.“
Hilde saß wie erstarrt da. Dann rang sich eine Frage über ihre Lippen:
„Woher – woher wissen Sie sogar die Höhe der Summe, die doch wohl der – Vermittlerlohn ist.“
„Mir bleibt so leicht nichts verborgen, was ich erfahren will. Ich habe den Vertrag in Händen gehabt, den Gromp und die Weinhold vor etwa vier Wochen schriftlich abgeschlossen haben. Wie ich für kurze Minuten in seinen Besitz gelangte, ist hier ja gleichgültig.“
Er schob den Sessel zurück, erhob sich und gab Hilde die Hand.
„Ich traue Ihnen zu, selbst den rechten Weg zu finden. Ich war rücksichtslos offen. So leicht hätte das kein anderer getan. Aber Hugo Holm ist der geschworene Feind aller Betrüger und der Beschützer aller derer, die reinen Herzens sind. – Ich werde Ihren Bruder benachrichtigen, daß der Zweck dieses Besuches erreicht ist. Ich rate Ihnen, Ihren Bruder mit ins Vertrauen zu ziehen. Er hat offenbar Ihren Charakter.“
Holm verbeugte sich und verließ den Salon, wo sehr bald Karl Brunner erschien, der an Hilde ausrichtete, daß Blink sich bei ihr entschuldigen lasse, weil er sich nicht noch persönlich von ihr verabschiede; er habe gerade ein wichtiges Telephongespräch mit dem Rektor der technischen Hochschule zu führen.
Als die Geschwister dann die Treppe hinabgingen, blieb der Referendar stehen und fragte flüsternd, was Hilde denn eigentlich erst mit Blink und darauf mit Holm zu verhandeln hatte. Vorhin habe sie ihn auf später vertröstet. Jetzt wolle er aber doch wissen, was es mit diesem Besuche auf sich habe. Ganz geheuer komme ihm die Geschichte nicht vor.
Hilde nickte zerstreut: „Du hast ganz recht. Die Geschichte ist auch nicht geheuer.“
Und dann umspielte ihre taufrischen Lippen ein Lächeln, wie Karl Brunner es an seiner Schwester bisher noch nie wahrgenommen hatte. „Unten in deinem Zimmer sollst du alles erfahren, Karl,“ fügte sie ebenso geistesabwesend hinzu. Ihre Gedanken waren ja noch immer dort oben in dem kostbar eingerichteten Salon dessen, der sie heimlich liebte. Noch immer hörte sie aber auch eine Stimme, die einen ganz besonderen Klang hatte, eine kühle, selbstbewußte Stimme, die doch auch wieder so weich und herzlich sein konnte. Das war nicht die Heinz Blinks, sondern die des Mannes unbestimmbaren Alters, der zuletzt wie drohend die harten Worte ausgesprochen hatte: „Ich bin ein Feind aller Betrüger!“
Betrüger! Hierzu rechnete er offenbar auch Erwin von Gromp, ihren Verlobten. Ein scharfes Urteil über diesen war’s gewesen, daß sie als Braut nur zu leicht hätte verletzen können. Aber – und das war das seltsamste! – sie hatte nichts von Empörung empfunden, als Holm sich so vernichtend über Gromp geäußert hatte. Und jetzt in diesem Augenblick, wo ihr Bruder gerade mit dem Schnepper die Flurtür öffnete, wurde es urplötzlich klar in ihrem Inneren. Das, was sie für Gromp empfunden hatte, war nie Liebe gewesen! Sie hatte es nur dafür gehalten, dieses Gefühl harmloser Freude und Genugtuung über seine Aufmerksamkeiten, über sein immer ungestümer werdendes Werben und über den schlecht verhehlten Neid ihrer Freundinnen. Ein ganz klein wenig befriedigte Eitelkeit hatte also dabei mitgesprochen, zumal der Vater täglich Gromps Vorzüge mit Begeisterung pries und immer wieder betonte, welch glänzende Karriere der Regierungsassessor vor sich habe.
All das hatte zusammengewirkt. Und als dann die Stunde kam, wo er sie einfach in die Arme nahm und küßte, wo er scheinbar tief bewegt um ihr Jawort bat, nachdem er ihre keuschen Lippen bereits geküßt hatte, da hatte sie sich der Selbsttäuschung hingegeben, hier den Mann gefunden zu haben, dem sie vertrauensvoll für das ganze Leben angehören könne.
Das war nun etwa zwei Wochen her. Erst zwei Wochen! Und heute?! Heute hatte es wieder eine Stunde gegeben, schicksalsschwer und bedeutungsvoll für ihre Zukunft. Diese Stunde aber war der Abschluß einer Zeit geistigen Abwägens und Abrechnens mit sich selbst gewesen, einer Zeit, in der der Nimbus des adligen Namens und des ganzen Sichgebens Erwin von Gromps immer bröckeliger wurde wie ein dünner Farbanstrich, der unter der Einwirkung äußerer Einflüsse mehr und mehr losblättert und täglich deutlicher das erkennen läßt, was er mit dünnem Glanz bisher verdeckt hatte.
Diese Stunde mußte kommen. Das erkannte Hilde jetzt voller Deutlichkeit. –
Daß sie so schnell gekommen, hatte Heinz Blink veranlaßt. Und Hilde dankte ihm dies. Geradezu befreit fühlte sie sich. Gewiß – das, was ihr noch bevorstand, die Aussprache mit den Eltern und Gromp, würde an ihre Standhaftigkeit und ihren Mut noch hohe Anforderungen stellen. Aber in ihr lebte jetzt auch eine Kampfesfreudigkeit, die sie sofort ausnutzen wollte und die sie befähigen würde, auch dieses Letzte siegreich durchzufechten.
Referendar Brunner fiel aus allen Wolken, als Hilde ihm nun in seinem Studierzimmer erklärte, sie würde die Verlobung mit Gromp noch heute lösen.
Für ihn war Gromp bisher das Muster eines tadellosen, modernen Mannes der ersten Kreise gewesen. Er hatte unwillkürlich manches von dem zukünftigen Schwager angenommen, übte sich bereits heimlich im Monokeltragen und ließ sich täglich maniküren.
Als er nun aber hörte, weshalb die Schwester sich zu diesem Schritt entschlossen hatte, da sank der Regierungsassessor auch für ihn von dem hohen Piedestal[2] herab, mehr noch, er gab Holm vollkommen recht, daß man derartige Herren zu den Betrügern rechnen dürfe.
„Für ihn warst du doch nur Objekt eines Geschäfts, bei dem es für ihn Geld – deine Mitgift – zu verdienen gab,“ sagte er in ehrlicher Erregung. „Dieses Geschäft hat er durch Täuschung zum Abschluß gebracht, also – also ganz gemeiner Betrug.“
Plötzlich regte sich nun auch in ihm wieder das Blut eines Sohnes des bescheidenen Seifenhändlers, des einfachen Bürgers.
„Wenn ich auch denke, wie er unsere Mutter stets behandelt hat!“ fügte er ingrimmig hinzu. „Ein wirklich vornehmer Charakter hätte die Mama nie fühlen lassen, daß sie nicht ganz richtiges Deutsch spricht, hätte nicht derartige ironische Bemerkungen gemacht wie er –“
Hilde reichte dem Bruder die Hand.
„Auf Wiedersehen, Karl. Du stehst also jedenfalls ganz auf meiner Seite. Wenn ich Gromp noch vorfinde, mache ich gleich reinen Tisch.“
Doch der war inzwischen gegangen, wie Hilde von der Mutter erfuhr, die sie in der Küche beim Anrühren einer Mehlspeise antraf. Die Köchin war zum Fleischer gegangen; das Stubenmädchen putzte im Speisezimmer die Fenster. So waren Mutter und Kind allein.
Die Kommerzienrätin, eine schlanke, stets sehr bescheiden gekleidete Frau mit leicht ergrautem Scheitel, fragte sofort, wo Hilde denn gesteckt habe, und fügt hinzu:
„Gromp suchte dich, nachdem ich ihm klargemacht hatte, daß von einer Abkürzung der Verlobungszeit keine Rede sein könne. Habt ihr euch gezankt?“
„Nein, Mama. Aber –“
„Aber?“ Die klugen Augen der einfachen Frau, die durch den in ehrlicher Arbeit erworbenen Reichtum in ihrem schlichten, geraden Wesen in keiner Weise verändert worden war, blickten die Tochter ernst prüfend an.
„Mutter, ich – ich werde Gromp nie heiraten,“ kam es nun stoßweise über Hildes Lippen. „Ich weiß jetzt, daß er mich durch Vermittlung der Hartung kennengelernt hat, daß –“
Hilde sprach immer schneller. Ihre Worte überstürzten sich förmlich. Mit hochrotem Gesicht stand sie da, ohne jede Verlegen- oder Ängstlichkeit. In ihren Augen leuchtete die Empörung über dieses trügerische Spiel, das mit ihr getrieben worden war. Nichts verschwieg sie – nichts; schilderte die Szene im Herrenzimmer des Vaters, den Besuch bei Blink, berichtete kurz, was Holm zu ihr gesprochen hatte und schloß mit den Worten:
„Ich glaube bestimmt, daß Papa über die Mitwirkung der Hartung bei dieser – dieser für mich demütigenden Verlobung genau unterrichtet ist. Mama – sei du jetzt ehrlich mir gegenüber! Hattest du Kenntnis davon, daß –“
Da hob die Kommerzienrätin abwehrend beide Hände.
„Ich – Kenntnis?! Auch nicht die Spur! Aber der Papa –“
Sie schwieg, starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin.
Sie konnte sehr, sehr finster und drohend dreinschauen, die Frau Minna Brunner! Davon wußten nicht nur die Dienstboten, sondern auch der Herr Gemahl ein Lied zu singen.
Nach kurzer Pause ging sie jetzt auf Hilde zu, streichelte ihr die Wangen und sagte: „Kind – mir ist ein Stein vom Herzen gefallen! Wie ungern ich dich diesem Menschen überlassen hätte, hast du wohl schon gemerkt!“
Hildes Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Sie fiel der Mutter um den Hals, rief mit leisem Aufschluchzen:
„Mama, – ich bin ja so glücklich, daß auch du mich verstehst. Nur der Papa –“
„Oh – den werde ich mir schon allein vornehmen,“ meinte Frau Minna mit verfänglichem Nachdruck. „Ich fürchte, das Mittag wird ihm heute nicht recht schmecken.“
Kaum hatte Hilde den Bruder verlassen, als er nach der Uhr sah, sich dann sehr eilig weit zum Fenster hinauslehnte und nach dem rechten Nebenhause hin mit der Hand ein paar besondere Zeichen gab.
Zehn Minuten später fand sich ein junges Paar in den nahen Kalkgruben zusammen, wo die Arbeiter um die Mittagzeit nicht anwesend waren.
Karl Brunner küßte seine blonde Gisela erst einmal herzlich ab und erzählte der Geliebten dann sofort die große Neuigkeit:
„Hildes Verlobung geht auseinander!“
Gisela, ein richtiger kleiner Sprühteufel, machte da ein sehr ernstes Gesicht und sagte, sich in des Referendars Arm hängend:
„Du, Mucki, wenn du nicht stets so volltönende Loblieder auf Gromp angestimmt hättest, wäre ich schon vor drei Tagen in der Lage gewesen, dir von deinem angehimmelten Schwager in spe ein anderes Konterfei zu malen. Aber ich spiele nicht gern die Angeberin und wollte dich auch nicht aus allen Himmeln stürzen. Gromp muß sich in sehr böser Geldverlegenheit befinden. Sonst hätte er nicht die alte Eule, den Runkel, zweimal so flehentlich um ein Darlehen gebeten.“
Brunner wandte sich mit einem Ruck halb rechts um und versperrte Gisela den Weg.
„Tatsächlich?! Euren Mieter?! Wie kann man nur zu einem solchen alten Scheusal gehen, der in seinem Äußeren geradezu ein Musterexemplar der Gattung Wucherer ist. Wie schlecht muß es schon mit Gromps Kasse bestellt sein, wenn er sich nicht scheut, diesen Kerl aufzusuchen! Wirklich – Gromp sinkt immer mehr in meiner Achtung!“
„Oh – da hättest du ihn noch den Runkel bitte hören sollen, ihm doch nur mit tausend Mark auszuhelfen! Die durch Schränke verstelle Tür nach unserem Wohnzimmer läßt jedes lautere Wort verstehen, das bei der Eule gesprochen wird. Richtig gebettelt hatte er, hat auch seine baldige Heirat erwähnt und den Reichtum deiner Eltern –“
„Pfui Deubel! – Entschuldige den Kraftausdruck, Liebling, – aber – dieser Gromp, wie ich ihn bisher kannte, und der, den ich nun durchschaue, verdient nichts Besseres. – Wie er nur zu Runkel gekommen sein mag? Du meintest doch unlängst, Runkels Kundschaft seien meist einfachere Leute.“
„Anfangs nur, dann änderte sich das Aussehen der Besucher unseres Mieters, dem Mama längst gekündigt hätte, wenn er nicht so pünktlich und so gut zahlen würde. Mama wollte ihn ja dadurch loswerden, daß sie ihm sechzig Mark abverlangte, als er in das Balkonzimmer umziehen wollte. Doch die Eule zuckte mit keiner Wimper und – gibt, was gefordert wird. Wenn ich an Mamas Stelle wäre, ich hätte ihn trotzdem damals vor vierzehn Tagen, als er das andere Zimmer haben wollte, hinausgegrault – irgendwie. Doch Mama hat eben zu große Sorgen. Mucki, du hast dir ein richtiges bettelarmes Kirchenmäuschen ausgesucht –“
Brunner zog sie an sich, schaute ihr strahlend in die Augen und reklamierte leise und innig:
Ich und du, wir sind so arm
wie die Kirchenmäuschen.
Unser ist kein Eigentum
als ein Knusperhäuschen.
Ich und du, wir sind so reich,
das ist gar nicht schicklich.
Denn wir sind so unverschämt,
übermenschlich glücklich!
„Mucki – mein Hut – meine Frisur!“ schrie Gisela entsetzt auf. Und doch ließ sie sich immer wieder küssen, sagte nachher mit feucht blinkenden Augen:
„Ach, Mucki, es ist ja so schön, jung zu sein! Wenn du doch nur mit der Torfgeschichte Glück hättest!“
Brunner fiel jetzt die Unterredung mit Holm ein. Als er dessen Namen nannte, unterbrach ihn Gisela sofort:
„Du, ehe ich’s vergesse! Stell’ dir vor, auch Holm war vorgestern bei der alten Eule. Und er hatte Glück. Ihm lieh Traugott Runkel Geld. – Traugott – ist es nicht geradezu eine Schande, daß dieser Mensch so einen Vornamen führt!“
Brunner wiederholte ungläubig: „Holm – Geld geliehen?! Holm! der soll doch reich sein! – Hast du dich da nicht in der Person geirrt? Die Leute kommen doch zumeist spät abends zu Runkel, und –“
„Ganz recht,“ unterbrach Gisela ihn, „aber Holm ist doch unverkennbar. Ich lag gerade im Fenster. Seine Seglermütze, der Gang und die Kopfhaltung sind ja so charakteristisch für ihn! Nachher hörte ich sogar, wie er der Eule seinen Namen nannte.“
Brunner blickte nachdenklich auf die im Sonnenlicht blendend weiß leuchtenden Wände der Kalkgrube. Dann lächelte er.
„Du, Liebling, – das hat fraglos etwas zu bedeuten!“ meinte er eifrig. „Wenn Holm nun vielleicht nur deshalb zu Runkel gekommen ist, um dem Alten das Handwerk zu legen? Holm hat doch auch vor einem halben Jahre, wie mir erzählt wurde, den Halsabschneider Tucholski entlarvt und dessen Bestrafung veranlaßt.“
Gisela zuckte die Achseln. „Vielleicht ein komischer Kauz, der Holm. Was man von dem alles erzählt! Der Wachtmeister Pötter von unserem Polizeirevier hat zu seiner Schwester, der Frau Lehnert, die uns gegenüber wohnt, mal geäußert, Holm sei der beste Privatdetektiv hier im Osten Deutschlands und verdiene damit viel Geld, lasse dies aber niemand wissen. Er soll doch auch damals den Mord auf dem Dampfer „Triton“ aufgeklärt haben. Besinnst du dich, – wo man die Leiche in dem reparaturbedürftigen Kessel fand.“
„Ja, ich kenne diese seltsame Geschichte. Holm hat aber mir gegenüber geradezu gereizten Tones abgeleugnet, bei der Aufdeckung dieses Verbrechens irgendwie mitbeteiligt gewesen zu sein. – Doch nun will ich dir weiter berichten, was er mir geraten hat –“ –
Zu derselben Zeit saßen Blink und Holm beim Mittagessen. Der alte Roderich hatte soeben den Nachtisch, Käse, Pumpernickel und Mokka – aufgetragen und verließ nun geräuschlos das Speisezimmer.
Holm schaute ihm nach.
„Endlich allein!“ meinte er. „Mir wäre es auf die Dauer gräßlich, mich so während der Mahlzeit bedienen zu lassen. Hm, was ich fragen wollte, mein Junge, hast du das Mehl auf den Sitz des Klubsessels am Kamin gesträubt? –
Erst glaubte ich, es sei Staub. Dann aber dachte ich an die Reinemachewut deiner braven Haushälterin, die doch sicherlich nur auf Befehl den Sessel mit dem Staubtuche verschont hat. Also Mehl! Wolltest du auf diese Weise vielleicht feststellen, ob dein Ebenbild mit seiner – Kehrseite der Medaille in der feinen Mehlschicht Spuren zurückläßt? – Mein armer Heinz, derartige Ausgeburten überreizter Nerven dürften doch –“
Er verstummte vor Blinks verzweifelter Miene.
Dann sagte der Doktor auch schon, sich weit über den Tisch beugend:
„Ich kam vorhin nicht dazu, dir gerade das Seltsamste an dieser Erscheinung mitzuteilen. Ausgeburt kranker Nerven!“ Er lachte bitter auf. „Ich wünschte, ich könnte daran glauben. Ich kann es nicht. Die – Mehlprobe hat mir ja gerade bewiesen, daß dieses zweite Ich von körperlicher Beschaffenheit ist. Vor dem letzten – sagen wir – Besuch dieses Phantasiegebildes hatte ich an die Mehlprobe gedacht, und – am Morgen fand ich dann in dem Klubsessel auf dem Sitz deutliche Anzeichen dafür, daß –“
„Ausgeschlossen!“ rief Holm. „Ich bitte dich, Heinz, wie sollte dies wohl möglich sein! Ganz ausgeschlossen! Schon den Faustschlag gegen die Tür und das Hohnlachen hast du dir eingebildet. Da werden deine Augen dir wohl hinsichtlich des Klubsessels einen Streich gespielt haben.“
Blink griff nach dem von der elektrischen Krone herabhängenden Druckknopf der Klingel.
„Ich werde dir Roderich herbeirufen,“ sagte er.
Der alte Diener erschien.
„Roderich, Sie wissen, daß ich über die Umlagerung des Mehlstaubes durch den leichten, in jedem Zimmer herrschenden Luftzug jetzt Experimente anstelle,“ begann Blink sofort. „Holm will mir nun nicht glauben, daß letztens die hauchdünne Mehlschicht auf dem Klubsessel über Nacht stellenweise verschwunden und dadurch etwas entstanden war, das an die Spuren eines Menschen erinnerte, der sich auf den Sessel niedergelassen hatte.“
„Es war so, Herr Holm,“ bestätigte Roderich. Dann wurde er wieder hinausgeschickt.
„Nun?“ fragte Blink.
„Dann hattest du eben in dem Sessel Platz genommen, ohne dich zu erinnern,“ meinte Holm achselzuckend.
„Ich?! Ich?! Hug, ich habe ja meine Beinkleider, die ich in jener Nacht trug, genau überprüft. Das Mehl hätte ich daran bemerken müssen! Es gab jedoch nichts – nichts zu bemerken – leider! Mir wäre es lieber gewesen, die Beinkleider hätten Mehlspuren aufzuweisen gehabt!“
Holm schob einen kleinen Bissen Pumpernickel in den Mund. Erst nach einer geraumen Weile sagte er dann:
„Lieber Junge, – Roderich mag der Schuldige aus Unachtsamkeit gewesen sein.“
„Bitte – die Zimmer waren nach dem Flur hin abgeschlossen.“
Holm warf die Serviette auf den Tisch und begann in dem langgestreckten Zimmer auf und ab zu gehen. Dann blieb er neben Blink stehen.
„Heinz, wir wollen heute nacht mal die Probe aufs Exempel machen – ohne Mehl! Seit ich dein Gast bin, hat sich der andere, unerwünschte Besucher nicht wieder gezeigt. Da du mir jetzt erklärt hast, du hieltest dieses zweite Ich für ein Wesen, das Spuren seiner Anwesenheit hinterläßt, also für etwas Körperliches, werden wir folgendes tun –“
Und er entwickelte dem Freunde kurz seine Idee.
Blink sagte nur achselzuckend: „Meinetwegen! Obwohl ich überzeugt bin, daß dieser Gast sich gerade heute nicht einfinden wird.“
„Mag sein. Trotzdem werden wir es versuchen, diesen Schemen zu bemogeln.“
Holm gähnte.
„Ich verspüre heute eine Müdigkeit, die ich sonst nicht kenne. Ich werde eine Stunde Mittagschlaf halten. Nachher können wir dann nach Olivia fahren – in die Wälder. Ich sehne mich nach Tannenrauschen und Kiefernduft.“
Nachdem Holm es sich in seinem Zimmer bequem gemacht und auch eine Weile auf dem Diwan geruht hatte, läutete er nach Roderich.
„Bringen Sie mir bitte noch eine Tasse Mokka, Roderich,“ sagte er zu dem Alten in jenem freundlich vertraulichen Ton, den er dem goldtreuen, langjährigen Diener des Hauses Blink gegenüber stets anzuschlagen pflegte.
„Sehr wohl, Herr Holm.“
Der Alte wollte wieder verschwinden.
„Noch einen Moment, Roderich,“ meinte Holm und trat dicht vor den alten Mann hin. „Mir fällt da eben ein, daß Heinz mir vorhin von seinen Versuchen über die Lageveränderung von Staubteilchen durch Zugluft verschiedenes erzählt hat.“
Er machte absichtlich eine Pause und schaute den Diener prüfend an.
Roderichs Gesichtsausdruck veränderte sich tatsächlich. Aber es war nicht etwa Verlegenheit oder Schuldbewußtsein, die aus seiner Miene jetzt herauszulesen waren. Nein, tiefe Bekümmernis breitete sich wie ein dunkler Schatten über sein biederes, runzliges Antlitz aus. Und indem er auch seinerseits Holm fest in die Augen sah, sagte er nach halb unterdrücktem, schwerem Aufseufzen:
„Lageveränderung! Staubteilchen!“
Er hob die Schultern, seufzte wieder.
„Ich muß ja wohl daran glauben. Aber Sie, Herr Holm, Sie brauchen es nicht. Sie können zu meinem armen Herrn ganz anders reden, zum Beispiel: „Du hast dich in letzter Zeit in allem sehr verändert, Heinz. Irgend ein Erlebnis scheint dich zu bedrücken, jagt dich nachts in die Kneipen. Habe doch Vertrauen zu mir …“ –“
Roderich wollte noch mehr hinzufügen. Doch Holm hatte ihm leicht die Rechte auf die Achsel gelegt und sagte nun sehr ernst:
„Er hat Vertrauen zu mir gehabt. Ich weiß, was ihn bedrückt. – Sie Roderich, haben also ganz bestimmt nicht mit Ihrer Kehrseite die Spuren in der Mehlschicht zurückgelassen?“
„Nein. So wahr ich hier stehe!“
Dann senkte er die Stimme, begann zu flüstern:
„Auch ich glaube zu wissen, was meinem armen Herrn fehlt, Herr Holm.“
„So?!“
Wieder ein scharf prüfender Blick.
„Jawohl, – auch ich habe –“ – dabei schaute der Alte sich scheu und ängstlich um – „ihn gesehen, ihn – den Anderen –“
„Ah!“ Holm war durch diese Mitteilung so überrascht worden, daß er eine geraume Weile verstreichen ließ, ehe er fragte:
„Wann war das?“
„In der letzten Nacht, die mein Herr hier im Hause zugebracht hat, bevor Sie – Gott sei Dank! – zu uns kamen.“
Dann mußte der Alte genau berichten, was er beobachtet hatte. – Die Sorge wegen des gänzlich veränderten Wesens seines Herrn hatte ihn in jener Nacht keinen Schlaf finden lassen. Außerdem war ihm auch aufgefallen, daß Blink sich in sein Schlafzimmer wiederholt eingeschlossen hatte, was sonst nie geschah. Jedenfalls war er damals kurz nach Mitternacht aus seiner im Seitenflügel liegenden Stube auf Filzschuhen lautlos den Korridor bis zur Tür des Studierzimmers seines Herrn geschlichen und hatte durch das Schlüsselloch zu schauen versucht, um festzustellen, ob der Doktor noch arbeite. Da der Schlüssel steckte, aber der Bart den unteren Teil der Öffnung nicht verdeckte, hatte er immerhin gerade den Teil des Zimmers vor der in die Bibliothek führenden Tür übersehen können. Der Zufall hat es gewollt, daß er im rechten Augenblick gekommen war, – als Blink mit dem Buche in der Hand aus der Bibliothek trat, erschrak, dann fluchtartig wieder in das Nebenzimmer zurückschoß und die Tür dröhnend zuwarf.
„Stellen Sie sich meinen Schreck vor, Herr Holm,“ fuhr er mit zitternden Lippen fort, „als nun in meinem Gesichtsfeld kaum zwei Sekunden später von der Mitte des Studierzimmers her abermals mein Herr auftauchte, vor der Tür nach der Bibliothek halt machte, laut auflachte und dann mit der Faust gegen die Füllung schlug, noch eine Weile wie lauschend stehen blieb und darauf sehr schnell wieder nach der anderen Seite hin verschwand. Ich glaubte erst, das Opfer einer Sinnestäuschung geworden zu sein. Dann aber hörte ich, wie die aus der Bibliothek in den Wohnungsflur führende Tür verriegelt wurde. Der Riegel geht sehr schwer und kreischte laut. Also war mein Herr jetzt doch in der Bibliothek, und das Geräusch des einschnappenden Riegels deutete ich mir richtig, daß er tatsächlich vor dem anderen, dem Doppelgänger, geflüchtet war. Ich blieb darauf noch gut fünf Minuten im Flur, uneinig mit mir, ob ich mich meinem Herrn nicht bemerkbar machen solle. Schließlich ging ich doch leise in meine Stube, habe mich, ganz verwirrt von dem soeben erlebten, in meinen Großvaterstuhl gesetzt und mir diese seltsame Sache nach allen Seiten hin überlegt. Aber – es kann dabei nichts heraus – nur das eine, daß ich in jener Nacht kein Auge mehr zu tat und morgens mich wie gerädert fühlte. Mit fünfundsechzig Jahren, Herr Holm, braucht man ja nicht gerade viel Schlaf. Aber all die Stunden so daliegen und immer nur grübeln und grübeln, – das macht einen ganz krank –“
Holm winkte Roderich zu, sich auf den nächsten Sessel zu setzen. „Sie sind ganz blaß geworden, mein Alter. Die Geschichte greift Sie an.“ Er lehnte sich neben Roderich an den schweren Eichentisch. „Haben Sie jemandem von Ihren Beobachtungen damals etwas erzählt? Nein? – Sehr gut. Wir beide wollen das alles vorläufig auch für uns behalten. Heinz hat seinen Doppelgänger bereits mehrmals gesehen, – um Sie ganz einzuweihen, lieber Roderich. Und stets saß diese rätselhafte Gestalt in dem Klubsessel am Kamin.“
Der alte Diener lauschte kopfschüttelnd, meinte dann, als Holm ihn völlig ins Vertrauen gezogen hatte:
„Also Tatsache – Tatsache! Was aber – was bedeutet das nur?! Ich bin wirklich nicht abergläubisch, doch – doch in diesem Falle! Herr Holm, bedenken Sie, dieser Zweite glich ja dem Herrn Doktor auf ein Haar, hatte denselben blauen doppelreihigen Jackenanzug an, dieselbe rotbraune Krawatte mit der großen Perle als Nadel darin – dies fiel mir nämlich auf! – und auch die linke Seite des Scheitels ebenso hochgekämmt in einer Welle wie mein Herr. Es war mein Herr, dieser andere, und vor Gericht hätte ich dies ohne Zögern beschworen, wenn – wenn ich eben nicht mit denselben Augen gesehen hätte, daß er doch in die Bibliothek zurückgeeilt war.“
Holm saß mit gesenktem Kopf da. Er suchte nach einer einleuchtenden Erklärung für diese geradezu sinnverwirrende Tatsache, daß dieser Doppelgänger Blinks ein Wesen von Fleisch und Blut sein mußte. Denn dies war ja nach der nicht anzuzweifelnden Schilderung des treuen Alten nunmehr erwiesen.
Roderich blickte Holm jetzt fragend an. Er hoffte hier auf Hilfe gegen diesen unheimlichen Eindringling. Er hielt von Holm sehr viel. Er wußte, daß dieser schon so manchem Rätsel auf die Spur gekommen war.
Holm schaute auf, begegnete dem Blick des alten Mannes.
„Ich soll Ihnen nun wohl sofort sagen, lieber Roderich, wie diese unerklärliche Sache zu erklären ist, nicht wahr?“ meinte er, ihm zunickend. „Vorläufig gibt es meines Erachtens nur eine Lösung. Jemand putzt sich mit großem Raffinement als Heinz Blink heraus, verschafft sich heimlich Zutritt zu dieser Wohnung und spielt hier den anderen Heinz Blink. – So muß es sein, denke ich. – Und der Zweck dieser Maskerade? – denn sie wird natürlich in ganz bestimmter Absicht ausgeführt! – dieser Zweck kann nur ein höchst verwerflicher sein. Der Mann im Sessel sucht meines Freundes Gesundheit zu schädigen, will auf dessen Nervensystem nachteilig einwirken –“
Roderich machte ein sehr zweifelndes Gesicht.
„Das – das erscheint mir doch wenig wahrscheinlich, Herr Holm,“ erklärte er zögernd. „Wer hätte wohl ein Interesse daran, den –“
Holm winkte kurz ab.
„All das sind vorläufig recht fruchtlose Erörterungen, lieber Alter. Lassen Sie mich nur machen. Wir werden dem Herrn schon das Handwerk legen! Die Hauptsache, Mund halten – verstanden?! – Und nun gehen Sie, Roderich, und walten Sie hier im Hause jetzt mit geschärften Sinnen Ihres Amtes. Eigentlich wollte ich ja morgen mit Heinz zunächst nach Triest reisen. Daraus wird nun nichts. Wir bleiben hier. Erst muß der Mann im Sessel Farbe bekennen! Den Mokka brauche ich nicht mehr.“
Roderich verließ das Zimmer, blieb aber, schon mit der Hand auf dem Türdrücker, noch stehen, drehte sich nach Holm um, deutete mit der Linken auf ein an der Wand hängendes Ölbild und meinte:
„Der da, mein alter, lieber gnädiger Herr, ist in Afrika spurlos verschwunden. Einer seiner Söhne fand bei dem Untergang des Seedampfers „Neptun“ den Tod, und dem zweiten Sohn wird nun ebenfalls von irgend jemandem nachgestellt, wie Sie annehmen, Herr Holm. Die Familie Blink wird wirklich vom Schicksal verfolgt, seitdem –“
Er hatte den Satz offenbar anders beenden wollen, als er dann nach großer Pause hastig hinzufügte „seit vielen Jahren.“
Holm war aufmerksam geworden.
„Mein Alter, bitte – heraus mit der Sprache! Sie hatten anderes zu sagen beabsichtigt. Also – seitdem –“
Roderich wiegte verlegen den grauen Kopf hin und her.
„Herr Holm, es ist ja doch nur ungereimtes Zeug, was ich mir so oft in Gedanken zurechtlege. Lachen Sie mich deshalb nicht aus. Als der alte gnädige Herr damals die Reise nach Kapstadt vorbereitete, kam etwa acht Tage vor seiner Abfahrt eine Zigeunerin zu uns, läutete am Hintereingang und sagte dann den beiden Mägden, der Köchin und dem Stubenmädchen, aus den Linien der Hand die Zukunft voraus. Der gnädige Herr war gerade daheim, ertappte die Zigeunerin in der Küche, wurde sehr heftig, schalt auf das vagabundierende Diebsgesindel, das nur eine Gelegenheit zum Stehlen auskundschafte, und wurde dafür von dem alten, schmutzigen Weibe von der Treppe aus mit den Worten bedacht: „Dein Haus soll leer werden, deine Hand verdorren!“– Ich habe diesen Auftritt noch ganz lebendig vor Augen. Der gnädige Herr rief der Zigeunerin noch nach: „Ich lasse die Polizei holen, alte Vettel!“, schlug dann die Tür zu und kanzelte nun uns drei, die Mädchen und mich, gehörig ab. – Und doch, er ist nicht heimgekehrt, während Herr Fritz elend auf See umkam. Das Haus ist leer geworden. Nur der Herr Doktor lebt noch. Aber – zufrieden und glücklich ist er auch nicht. Und jetzt noch dieser – dieser Doppelgänger –“
Roderich schlich mit traurigem Gesicht hinaus.
Holm setzte seine Pfeife in Brand, dachte dabei: „Du und nicht abergläubisch, mein Alter! Trotzdem – du kannst dich nicht getäuscht haben! Es müssen damals in diesen Räumen zwei Männer gewesen sein, die sich völlig glichen!“
Er bließ mit Behagen die ersten Rauchwölkchen in die Luft. „Heinz darf zunächst nichts von dem erfahren, was Roderich mir soeben mitgeteilt hat,“ grübelte er weiter. „Er soll sich nicht noch mehr Gedanken machen. Die Überzeugung, daß man ihn auf diese heimtückische und gewiß nicht alltäglicher Art zu schaden sucht, würde seine Stimmung nicht gerade aufbessern –“ –
Unten bei Brunners wurde das Mittagessen heute kalt. In dem Zimmer des Kommerzienrats, der wieder einen etwas zu jugendlich modern geschnittenen Anzug mit heller Weste, farbige Schuhe und eine leuchtend rote Krawatte mit Brillantnadel trug und den bereits recht gelichteten Scheitel bis in den Nacken durchgezogen hatte, gab es eine große Szene.
Kaum war Brunner heimgekehrt, als auch schon seine Gattin, gefolgt von Hilde, mit unheilverkündendem Gesicht sein Zimmer betreten und sofort ohne Umschweife begonnen hatte:
„Ich werde nachmittags zu der Hartung gehen und der Person gehörig meine Meinung sagen. – Wußtest du, daß sie Hilde und Gromp zusammengebracht hat? Hast du womöglich gar bei dieser Verlobung mitgeholfen?“
Brunner war in geschäftlichen Dingen ohne Zweifel überaus gewandt und auch stets schnell von Entschluß. Er ließ sich so leicht nicht verblüffen. Jetzt aber wechselte er doch die Farbe, blickte zu Boden und brachte nur sehr unsicher hervor:
„Woher der Unsinn?! Ich – ich soll – hm, da scheint ja jemand euch beide recht nett aufgehetzt zu haben. Über diese Sache ist kein Wort mehr zu verlieren. Laßt uns zu Tisch gehen.“
Doch so leichten Kaufes kam er hier nicht weg.
„Ich verlange eine klare Antwort, August,“ erklärte Frau Brunner scharf. „Ich mische mich sonst nie in deine Angelegenheiten, schweige dazu, daß du dich wie ein Fünfundzwanzigjähriger kleidest und – vor Hilde will ich diese Dinge nicht weiter erörtern. Aber hier – hier handelt es sich um unseres Kindes Lebensglück. Ich war von Anfang an gegen diese Partie. Daß Gromp unser Geld lockte, war mir sofort klar. Ohne Liebe soll Hilde nicht heiraten. Das würde eine Ehe abgeben ohne Glück und innere Zufriedenheit. Dazu habe ich nicht Jahrzehnte im Geschäft mitgearbeitet, damit das ehrlich und mühsam verdiente Vermögen meiner Tochter zum Unheil wird. Hilde wird Gromp noch heute den Ring zurückschicken. Von dir aber verlange ich zu wissen, ob du Kenntnis davon gehabt hast, daß die Weinhold diese Partie für Gromp „besorgt“ hat.“
Brunner, vor seinem Schreibtisch sitzend, machte eine stark theatralische Handbewegung. „Ich bin sprachlos. Einfach sprachlos! Da habe ich doch auch noch ein Wort mitzureden, ob Hilde die Verlobung löst! Das würde ja ein allerliebstes Aufsehen geben! Wie würde das auch gesellschaftlich uns schaden!“
Frau Minna zuckte die Achseln.
„Das dürfte hier wohl kaum in Betracht kommen, denke ich! Im übrigen brauchst du mir gar nicht mehr zu sagen, ob du mit jenen beiden Weibern und Gromp unter einer Decke gesteckt hast! Es ist so! Dein ganzes Verhalten jetzt zeigt dies deutlich genug. Versuche mich nicht zu belügen, August! Ich kenne dich! Du hast deine guten Seiten, aber auch deine großen Schwächen. Es kam dir auf einen adligen Schwiegersohn an. Das war’s! Genau so mußte ja auch Karl durchaus Jura studieren. Kaufmann war nicht mehr fein genug.“
Brunner raffte sich auf. „Hilde – geh’ hinaus,“ befahl er mit abermals recht großartiger Handbewegung. „Diese Aussprache eignet sich für deine Ohren nicht.“
Die Kommerzienrätin, die bisher an den Mitteltisch gelehnt dagestanden hatte, ließ ein zustimmendes „meinetwegen!“ hören und setzte sich auf das Ledersofa.
Hilde verließ das Zimmer.
„Nun?!“ meinte Frau Minna ermunternd. „Jetzt kannst du mir ja endlich reinen Wein darüber einschenken, wie diese Verlobung – gedeichselt wurde. Hast du Gromp bereits gekannt, bevor er uns damals bei Hillers vorgestellt wurde?“
August Brunner nahm den goldenen Kneifer ab, putzte ihn umständlich und begann sehr kleinlaut:
„Nun ja, – wir kannten uns schon. Im übrigen, Minna, dürfte es darauf kaum ankommen, ob wirklich die Hartung hier so ein wenig mitgeholfen hat. Gromp liebt Hilde, und sie ihn. Sie wird diese – diese kleine Täuschung vergessen. Ihre jetzige Stimmung ist sicher nicht von Dauer.“
„Wo hast du Gromp kennengelernt?“ –
Der arme Kommerzienrat entging seiner energischen Frau trotz aller Ablenkungsversuche nicht.
„Bei – bei der Weinhold!“
Er wagte nicht aufzusehen.
„Unglaublich! Also bist du es gewesen, der sich den Herrn Schwiegersohn selbst besorgt hat! August – Mann! Wie konntest du nur! Und alles nur aus Eitelkeit!“
Es half ihm jetzt nichts mehr, er mußte mit der vollen Wahrheit herausrücken.
„Weißt du auch, daß Gromp einen Schein unterschrieben hat, der Weinhold fünftausend Mark nach der Hochzeit zu zahlen?“ fragte die Kommerzienrätin dann.
Da wurde er lebendig.
„Wie – fünftausend Mark?! Die habe ich doch längst bezahlt – ich! – Wer hat dir denn eigentlich all diese Geschichten zugetragen?“
„Herr Holm. – Das wirst du aber Gromp auf keinen Fall sagen, oder –“
„Holm?! Holm?! Dieser – dieser Schnüffler! Den werde ich –“
„Nichts wirst du, nichts!“
Brunner kochte vor Wut. Aber gegen seine Gattin kam er nicht auf. Die Unterredung nahm dann mit der Zeit einen versöhnlicheren Ton an. Frau Minna wußte, wie sie ihren August weich stimmte, durch die gemeinsamen Erinnerungen an die Zeiten des langsamen Aufblühens des Geschäfts, an die glücklichen Stunden angesichts der fortschreitenden Erfolge.
Der Kommerzienrat gab schließlich zu, daß Gromp seine zukünftigen Schwiegereltern stets etwas von oben herab behandelt und sich zuweilen recht taktlos benommen habe. Und als Frau Minna ihm dann gar einen Kuß gab, ihn „mein guter Alter“ nannte und erklärte, Hilde liebe Gromp nicht, sie habe sich dies in ihrer Unerfahrenheit nur eingebildet, da meinte auch Brunner, jetzt so recht den besorgten Vater herauskehrend: „Ja – das ändert die Sache! Gut denn – macht was Ihr wollt! Mag Hilde ihm den Laufpaß geben. Ich werde sie nie zu einer Ehe zwingen. Ich habe dich doch selbst mal nur aus Liebe gefreit, Minnachen, – und ohne Liebe keine Ehe!“ –
Das Mittagessen mußte gewärmt werden. Aber es schmeckte trotzdem. Und Brunner ließ sogar einen Burgunder aus dem Keller heraufholen, Frau Minnas Lieblingswein. Freilich – für vier Personen etwas wenig, zumal der Referendar diese Neigung seiner Mutter teilte. Den ersten Schluck hatte er in Gedanken an seine Gisela getrunken. Den zweiten weihte er Holm. Wenn dieser doch auch ihm helfen würde!
Gisela räumte das Zimmer der alten Eule auf. Ihre Mutter konnte sich keine Bedienung halten, und so mußte Gisela überall selbst mit zugreifen. Sie tat’s so gern. Sie scheute keine Arbeit, sang und trällerte den ganzen Tag, ein sonniges Wesen mit reichem Gemütsleben, wie geschaffen dazu, dereinst einem geliebten Manne das eigene Heim zum Paradiese zu machen.
Heute hatte sie die Fülle blonden Haares mit einem Schleier ganz umhüllt und über das einfache Hauskleid eine große Wirtschaftsschürze gebunden. Es war Freitag, an dem stets bei Frau Döbberke alles tüchtig geklopft wurde, was vielleicht Staub aufnehmen konnte.
Gisela nahm jetzt den Bettvorleger Traugott Runkels und bearbeitete ihn draußen auf dem kleinen Balkon, der zu der alten Eule Zimmer gehörte, mit dem Ausklopfer. Eigentlich war’s ja verboten, nach vorn heraus Sachen auszustäuben. Aber die Winterfeldstraße war noch so wenig bebaut, daß man hier wie auf dem Dorfe lebte und sich allerlei kleine Verstöße gegen Polizeiverordnungen schon gestatten konnte.
Hin und wieder ruhte Gisela ein wenig aus und spähte dann links nach ihres Muckis Fenstern hinab. Der ließ sich jedoch nicht sehen, saß jetzt wahrscheinlich beim Mittagessen.
Gisela trat nun ins Zimmer zurück, wo sie ihre Mutter beim Reinigen der Waschschüssel vorfand. Frau Therese Döbberke war kleiner als ihre Tochter, recht rundlich, dabei aber flink wie ein Wiesel. Ihr rotes Gesicht zeigte stets trotz all der kleinen und großen Sorgen einen heiter freundlichen Ausdruck. Selbst als sie jetzt mit leisem Vorwurf zu ihrem einzigen Kinde sagte: „Wir sind heute mit dem Aufräumen noch sehr im Rückstand – der Kalkgrube wegen!“ leuchtete in ihren Augen ein schalkhaftes Licht. Sie wußte von dem heimlichen Verlöbnis Giselas mit dem Sohne des reichen Kommerzienrats von nebenan. Obwohl sie es nicht billigte und diese Brautschaft für aussichtslos hielt, gönnte sie ihrem Sonnenscheinchen doch dieses bescheidene Glück. „Wer weiß, was ihr das Leben später noch mal Schweres bringt,“ dachte sie so und so oft, wenn sie in einer Anwandlung von Strenge ihrem Kinde die Zusammenkünfte mit Karl Brunner verbieten wollte. „Doch alles trägt sich leichter, wenn man von glücklichen Erinnerungen zehren kann –“
Gisela legte den kleinen Teppich vor das Bett, sagte dabei:
„Die Kalkgrube?! – Nein, Muttchen, – ich war ja nur eine Viertelstunde mit Karl dort. Wir haben heute zu spät mit der Arbeit angefangen, weil ich den Wecker überhört hatte. Ich war wohl noch zu müde. Die Eule geisterte wieder einmal bis nach Mitternacht hier herum, rückte mit den Stühlen, öffnete so und so oft die knarrende Schranktür und hielt halblaute Selbstgespräche. Bei diesen Geräuschen kann ich nun einmal nicht einschlafen, liege dann auch noch sehr lange wach.“
Frau Döbberke rieb mit einem Lappen in der Waschschüssel herum.
„Ich möchte nur wissen, was der Runkel stets mit Farben zu tun hat,“ meinte sie kopfschüttelnd. „Sieh nur, Gisela, hier in der Schüssel ist wieder ein förmlicher Schmutzrand und ein dicker Bodensatz.“
„Ja – wirklich merkwürdig. Und auch die Handtücher sind in letzter Zeit immer ganz streifig,“ erklärte Gisela. „So ein Schmutzfink! Ach, wenn wir ihn nur erst los wären! Der Mensch ist mir so zuwider.“
Es klopfte. Gisela öffnete die Tür nach dem Wohnungsflur. Vor ihr stand Herr Erich Ring, seines Zeichens Kaufmann, jetzt Vertreter einer Schmierölfabrik für Westpreußen, und fragte ob er eine Tasse Kaffee erhalten könne.
„Sofort!“ nickte Frau Therese und eilte in die Küche.
Ring begann mit Gisela eine Unterhaltung. Er war noch jung, hatte ein recht angenehmes Äußeres, wohnte erst acht Tage bei Döbberkes und war doch mit Mutter und Tochter schon recht vertraut.
Jetzt half er Gisela, das Sofa vor die offene Balkontür tragen. Es mochte ein Zufall sein, daß er nun auch einen Blick in die Waschschüssel warf und darauf entrüstet ausrief:
„Sieht Runkels Schüssel immer so aus?! Unglaublich! Der Mann ist wohl Färber!“
Frau Döbberke rief Gisela in die Küche.
„Entschuldigen Sie, Herr Ring,“ meinte das junge Mädchen und eilte zur Tür.
„Ich wollte Sie noch etwas fragen, Fräulein Gisela.“
„Einen Augenblick. Bin sofort wieder da. Bleiben Sie nur ruhig hier. Runkel ißt jetzt in Langfuhr in seinem Stammlokal Mittag und kommt nie vor drei nach Hause.“
Kaum war Gisela verschwunden, als Ring sich über die Waschschüssel beugte und dann auch das Handtuch in Augenschein nahm. Mit einem Male pfiff er leise durch die Zähne.
„Donnerwetter! Da hat Holm doch wohl wieder recht gehabt,“ murmelte er vor sich hin.
Gisela trat ein
„Nun, Herr Ring?“
„Was meinen Sie wohl, Fräulein Gisela, – ob Ihre Mutter das Wohnzimmer nebenan mir überlassen oder besser für mich einräumen würde? Mein jetziges Zimmer nach dem Hofe hinaus behagt mir nicht recht. Ich liebe Sonne und etwas Aussicht. Ich würde auch gern mehr bezahlen.“
„Unser Wohnzimmer?! – Ich glaube kaum, daß Muttchen es tun wird. Aber ich kann ja mal fragen.“
„Dann bitte gleich. Und – die Hauptsache – reden Sie Ihrer Mutter doch zu, Fräulein Gisela.“
„Gern.“
Sie eilte wieder in die Küche.
Frau Döbberke schüttelte verwundert den Kopf.
„Die Herren drängen mir jetzt förmlich das Geld auf! Nun auch noch der Ring! Kind, ich denk, wir geben ihm unser Wohnzimmer und ziehen nach hinten.“
Eine Stunde später half Erich Ring, die Möbel auswechseln und andere Gardinen und Vorhänge in dem bisherigen Wohnzimmer anbringen. Er wollte so bald wie möglich mehr Licht und Luft haben. Gerade als er die Trittleiter in seine neue Junggesellenbude trug, betrat Traugott Runkel die Wohnung, sah sofort im Flur das Sofa und den altertümlichen Schrank, die bisher zur Einrichtung des Wohnzimmers gehört hatten, stehen und rief Frau Döbberke, die in der Küchentür lehnte, mit seiner unangenehm heiseren Stimme zu:
„Wie, lassen Sie neu tapezieren, liebe Frau Döbberke?“
Frau Therese klärte ihn kurz über den Grund des Austausches der Möbel auf. Runkel brummte etwas vor sich hin und ging in sein Zimmer hinein.
„Ihm schien’s nicht zu passen, daß Sie sein Nachbar werden, Herr Ring,“ meinte Gisela leise. „Ein Gesicht machte er!“ –
Traugott Runkel legte Hut und Stock beiseite und setzte sich an den Schreibtisch. Sein von einem grauen, halblangen Vollbart eingerahmtes Gesicht, in dem eine stark gerötete, unschöne Nase am meisten auffiel, hatte eine ungesunde, gelbliche Färbung, und die großen, runden Gläser der grauen Hornbrille verliehen ihm wirklich etwas Eulenähnliches. –
Gisela hatte ganz richtig vermutet. Auch jetzt vor seinem Schreibtisch sagte er in leisem Selbstgespräch:
„Der Kerl kann mir lästig werden. Ich muß mich jetzt mehr in acht nehmen als bisher, wo nur das Mädel nebenan schlief!“ –
Blink und Holm kehrten gegen sieben Uhr abends aus Olivia heim. Sie hatten einen weiten Gang durch den Wald bis Langfuhr gemacht und waren beide etwas müde. Unterwegs hatte Holm dem Freunde auch ganz unauffällig vorgeschlagen, die Abreise nach Triest noch zu verschieben, bis kühleres Wetter eingetreten sei. „Eine Eisenbahnfahrt bei der jetzigen Hochsommerhitze würde dir schaden, Heinz,“ hatte er diesen Aufschub begründet.
Blink war sehr einverstanden, daß man nicht so Hals über Kopf Danzig verließ. „Es könnte auffallen, zumal wahrscheinlich sehr bald Erwin von Gromp die Folgen deiner heutigen Aussprache mit Hilde zu fühlen bekommen dürfte. Dann könnte er leicht vermuten, daß wir ihn bei Brunners angeschwärzt haben und uns –“
Holm saß in dem Klubsessel am Kamin mit weit vorgestreckten Beinen und unterbrach jetzt den Freund durch ein ironisches: „Hast du etwa Angst vor ihm? – Mag er doch wissen, wer Hilde vor dieser Ehe bewahrt hat.“
Dann ließ er den Deckel seiner goldenen Taschenuhr springen. „Viertel acht. Es wird Zeit. Ich muß fort, obwohl es sich in diesem Klubsessel nach unserem Spaziergang wunderschön faulenzt.“
Er erhob sich, reckte die Glieder.
„Gegen neun läßt du mich also heimlich ein, alter Junge,“ meinte er leise. „Am besten ist, du beurlaubst die Dienstboten für den Abend. – Auf Wiedersehen also.“
Er fuhr mit der Straßenbahn die Große Allee, diese 1814 von den kriegsgefangenen Franzosen angelegte Prachtstraße, entlang nach Danzig hinein und begab sich in seine Wohnung, die in dem ältesten Stadtteil, in der Nähe der Katharinen Kirche in einem jener für Danzig charakteristischen schmalen, sehr hohen, spitzgiebligen Häuser lag und zwar im Erdgeschoß, das noch einen zweiten Ausgang nach einer ganz engen Nebengasse hatte. Das Erdgeschoß enthielt nur drei Zimmer, eine Küche und das nötige Nebengelaß. Hier hauste Holm bereits länger als ein Jahrzehnt. Er war einfach, aber geschmackvoll und gediegen eingerichtet. Besonders sein Arbeitszimmer, ganz im alten Danziger Stil gehalten, verriet deutlich, daß der Besitzer der vielen Andenken aus fremden Ländern seinem Heim auch etwas Persönliches hatte verleihen wollen.
Holm war kaum zehn Minuten zu Hause, als seine Wirtschafterin Frau Krech, einen wahre Riesin mit dem Gesicht einer bösen Xanthippe und der Treue und Anhänglichkeit eines Pudels, ihm Herrn Ring meldete.
Die beiden Männer begrüßen sich in einer Weise, die erkennen ließ, daß sie alte Bekannte waren. Sie hatten sich seit drei Tagen nicht gesehen, und es gab daher zwischen ihnen allerlei Neuigkeiten auszutauschen. Ring berichtete von seinen Beobachtungen bei Döbberkes, während Holm wieder dem Besucher die seltsamen nächtlichen Erlebnisse Heinz Blinks mitteilte, wozu er bemerkte, er wolle hierüber gern Rings Meinung hören. Im Laufe der Unterhaltung geschah es ein paar Mal, daß er Ring mit einem amtlichen Titel anredete, sich dann aber stets schnell verbesserte.
Herr Erich Ring, Schmierölvertreter – doch gewiß ein harmloser Beruf! – hörte mit größter Spannung zu, als Holm von Blinks unheimlichem Doppelgänger und zum Schluß auch von Roderichs Schlüssellochbeobachtungen erzählte.
„Das alles klingt so unwahrscheinlich, daß ich die ganze Geschichte für gut erfunden halten würde, wenn Sie’s mir nicht gerade anvertraut hätten,“ meinte Ring. „Und nun – meine Ansicht darüber? – Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Blink soll durch diese nächtlichen Visiten seines zweiten Ichs seelisch geschädigt werden. Nur dies kann der Zweck der Übung sein! – Natürlich werden Sie nun, so wie ich Sie kenne, alles aufbieten, den anderen Heinz Blink auf frischer Tat abzufassen. Das kann nicht schwer fallen. Wenn Sie zum Beispiel zum Schein wieder den Besuch bei Blink abbrechen und –“
Holm lächelte etwas und fiel Ring ins Wort: „Genau das, was Sie mir vorschlagen, wird noch heute abend geschehen. Ich fürchte nur, wir werden kein Glück haben. Der, der den Doppelgänger spielt, muß ein sehr gerissener Bursche sein. Da wird auch vielleicht eine Verkleidung wenig helfen.“
„Oh – schätzen Sie doch Ihre Künste nicht zu gering ein, bester Herr Holm. Wir arbeiten jetzt nicht das erste Mal zusammen. Selbst ich kann mein Äußeres nicht so vortrefflich verändern wie Sie dies mit dem Ihrigen fertigbringen.“
Nachdem dann dieser Gegenstand erledigt war, sprachen die beiden Herren wieder über den Bewohner des Balkonzimmers bei Frau Döbberke.
„Sie hatten wieder mal richtig vermutet,“ meinte Ring. „Der Kerl gebraucht Schminke und muß hier noch in einer anderen Weise sich betätigen. Wenn ich nur erst wüßte, wozu er jetzt den gewerbsmäßigen Geldverleiher spielt. Fraglos verfolgt er dabei einen bestimmten Zweck. Nun sind wir hinter diesem Menschen bereits ein Jahr her, und doch ist er nicht kaltzustellen. Dabei darf ich nicht voreilig zugreifen, sonst sieht der Juwelier König sein Eigentum nie wieder.“
„Geduld, Verehrtester, – nur Geduld! Wir werden ihm den Raub schon noch abjagen. Fürchten Sie nicht, daß ich mich nun ausschließlich der Sache meines Freundes annehmen werde. Ich helfe Ihnen auch gegen Traugott Runkel weiter.“
Nachdem Ring gegangen war, machte sich Holm in seinem Schlafzimmer eine Maske zurecht, die Frau Krech dann wie immer begutachten mußte.
„Vorzüglich geraten. Wie ’n alter Geheimrat sehen Sie aus,“ lautete das Urteil.
Frau Annamarie von Gromp, geborene Freiin von Trutzberg-Seßheim, saß am Fenster ihres Salons, der gleichzeitig Wohn-, Eß- und Musikzimmer der Ausstattung nach war, und arbeitete an einer seidenen Stickerei, für die ihr dann Silbermann & Co. dreißig Mark zahlen würde, während sie unter sechzig Mark nachher in demselben Geschäft nicht zu haben war.
Die hagere Dame mit dem spitzen, stark gepuderten Gesicht seufzte wiederholt tief auf, horchte auch dann und wann, ob der Sohn denn noch immer nicht heimkehrte.
Dort auf dem Tisch lag der Brief, den ein Dienstmann vor zwei Stunden gebracht hatte, ein Brief mit einem dicken, gelben Umschlag und der Handschrift Hilde Brunners darauf. Frau von Gromp hätte zu gern gewußt, ob der Tastsinn ihrer Fingerspitzen sie getäuscht haben könnte. In dem Umschlag steckte auch etwas rundes, hartes. Sie fürchtete: ein Ring – der Verlobungsring Hildes!
Sie fürchtete. –
Was mochte nur geschehen sein? Mittags war Erwin doch noch bei Brunners gewesen, hatte sich freilich nicht mehr von Hilde verabschieden können, die nicht aufzufinden gewesen war. Sonst aber hatte es zwischen den Verlobten doch keinerlei Zank oder Streit gegeben! –
Was sollte also der Brief?
Frau von Gromp legte jetzt die mühselige Arbeit weg und ging in die Küche, um das Abendbrot vorzubereiten. Aus Sparsamkeit hielt sie nur eine Aufwartefrau und auch nur vormittags für eine Stunde. Allein die Vierzimmerwohnung in Ordnung halten, wurde der fast sechzigjährigen Dame recht schwer. Die Aufwärterin besorgte hier nur die gröbsten Arbeiten.
Während sie nun – mit alten Lederhandschuhen zur Schonung der Finger – den Rest gekochte Kartoffeln vom Mittag her schälte und als Salat herrichtete, hörte sie die Flurtür gehen. Es konnte nur Erwin sein. Sie beeilte sich, goß noch etwas Essig über den Salat und klopfte dann bei ihrem Sohn an, der die beiden Vorderzimmer bewohnte.
„Erwin, im Salon liegt ein Brief für dich – von Hilde. Ein Dienstmann brachte ihn,“ sagte sie zögernd nach recht flüchtiger Begrüßung.
Gromp war offenbar sehr schlechter Laune.
„So? Ein Brief?“
Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr.
„Vielleicht gibt er mir Aufschluß darüber, weshalb ich nachmittags dreimal bei Brunners vergeblich angeläutet habe. Das Stubenmädchen erklärte stets, die Herrschaften seien ausgefahren. Und dabei hörte ich deutlich, daß meine teure Schwiegermama erst am Apparat war und dann die freche Anna holte, um sich verleugnen zu lassen.“
Frau von Gromp starrte den Sohn ganz entgeistert an.
„Erwin – verleugnen lassen!“ sagte sie dann stockend. „Und in dem Briefe befindet sich etwas, das – das ein Ring sein kann.“
Sie hatte richtig gefühlt. Es war ein Ring! Und nun reichte Erwin der Mutter das Schreiben Hildes, das er hastig überflogen hatte.
„Schluß – endgültig!“ meinte er, ironisch auflachend.
Frau von Gromp zitterte die Hand, die den Briefbogen hielt, so stark, daß sie kaum lesen konnte. Tränen tropften auf das Papier.
„Was – was nun?“ kam es über der hageren Dame dünne Lippen.
Gromp ging auf und ab.
„Ja – was nun? – Es gibt nur einen Ausweg, die Tochter des – Rittergutsbesitzers Hoffmann, der noch vor einem halben Jahr Viehhändler war. Die Weinhold empfahl sie mir gleichzeitig, aber Fräulein Laura war mir denn doch zu wenig salonfähig – schon äußerlich, wenn sie auch zweihundert Mille mehr bekäme.“
Er blieb jetzt vor seiner Mutter stehen, die wie ein armseliges Häufchen Unglück in einem Armsessel saß. Er schaute auf sie herab, eine ganze Weile. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schnell.
„Arme Mama,“ sagte er leise. „Mach’ dir keine Sorgen, – es sollen bessere Tage für dich kommen. Auch ohne Hilde Brunner.“ Er strich ihr sanft über die gepuderte Wange. „Sieh mal, – eigentlich sind wir, wir Adligen ohne Geld, selbst schuld an all der Misere, die wir durchmachen. Wir werden von vornherein falsch erzogen; lernen die Umwelt nur so kennen, wie sie sich in den Augen unserer Gesellschaftsklasse spiegelt. Vorurteile, Dünkel, mangelndes Verständnis für die Menschen, die wir als tief unter uns stehend ansehen, und dazu Ansprüche, deren Umfang ein Mißverhältnis zu den pekuniären Mitteln bildet, – das ist so der Ballast, den wir uns selbst ganz unbewußt aufbürden. Und um diesen Ballast weiterschleppen zu können, sind wir gezwungen, manches zu tun, was sich mit unseren moralischen Anschauungen kaum verträgt. Meinst du zum Beispiel, daß mir es leicht geworden ist, mich an dieses Weib, die Weinhold, zu wenden, um endlich aus dem jammervollen Dalles herauszukommen?! Das Messer saß und sitzt mir leider noch an der Kehle. Ich muß – „mich rangieren“, ob ich will oder nicht, durch eine reiche Heirat! Muß! Und der Gedanke an dieses erbarmungslose Muß, hinter dem die Schar der Gläubiger droht, weckt dann so und so oft in mir eine zwecklose Wut gegen alle die, die – nicht müssen, die frei in ihren Entschlüssen sind, die das Leben besser zu nehmen wissen als wir. Und die Wut, die man nicht offen zeigen darf, wird zur Bitterkeit, zur Ironie, zum Hochmut. Anders können wir ja die Klügeren, die Erfolgreicheren, die Lebensbezwinger – Leute wie Brunner etwa! – den heimlichen Neid und das ist’s ja letzten Endes, nicht fühlen lassen. –
Ein klägliches Dasein, fürwahr! Unwürdig, leer, ohne wirklich frohe Stunden, ohne Zufriedenheit! Und die Zukunft?! Die meine heißt Laura Hoffmann! Gut, daß es nicht mehr Hilde ist, vor deren ehrlichen Mädchenaugen ich die Komödie des liebenden Bräutigams weiterspielen muß. Sie – sie verdient Besseres, als eine Ehe mit mir, der so zerfallen mit sich ist, dem in ihrer Gegenwart so und so oft das Widerwärtige des eigenen Tuns so deutlich zum Bewußtsein kam. Ich werde Hilde einen langen Brief zum Abschied senden. Sie wird sich sehr über den Inhalt wundern – sehr! Bisher kannte sie nur den Erwin von Gromp, der gern ihr Gatte und – der Besitzer ihrer Mitgift werden wollte. Nun soll die Maske fallen. – Warum weinst du, Mama? – Wir – wir müssen weiter mit steifem Nacken denselben Pfad wandeln! Aber – soll ich etwa jetzt noch umsatteln und – ja, was sollte ich wohl anderes werden, was?! – Am besten, man macht sich gar keine Gedanken wie die, die ich hier soeben vor dir ausgesponnen habe. Es ist zwecklos – gänzlich zwecklos!“
Frau von Gromp nahm des Sohnes Rechte zwischen ihrer welken Hände, sagte leise: „Mein armer Junge. Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Mache dir das Leben nicht noch schwerer, als es schon ist. Ich glaube, dir kommen solche Gedanken nur, weil die Sorge in so vielerlei Gestalt jetzt unser ständiger Gast ist. Vergiß nicht, daß du der letzte eines alten Namens bist. Wir Adligen sind es der Familie, diesem Namen, schuldig, ihn auf der Höhe zu erhalten, der ihm gebührt –“
So sprach sie weiter, sprach lange, kämpfte für das Standesbewußtsein, für all die tönernen Götzen, die sie als geborene Freiin von Trutzberg-Seßheim in dem baufälligen, sogenannten Schlosse ihres Vaters verehren gelernt hatte.
Erwin von Gromp hörte geduldig zu. Zuweilen lächelte er bitter, dachte: „Familie, adliger Name! Ein Gespenst, das durch die alten Geschlechter schleicht, ein böser Geist, unheilstiftend, unzeitgemäß, belächelnswert –“
Dann nahmen Mutter und Sohn an dem mageren Abendbrottisch Platz. Und nachher schrieb der Regierungsassessor an Hilde und auch an seine Behörde, bei der er baldige Versetzung beantragte. Er hatte „oben“ gute Beziehungen. Man würde ihn sehr bald seinem Wunsche gemäß dem Landrat des Kreises Putzig zuteilen. Dort konnte man sich das Leben billiger einrichten. Und dort in der Nähe lag auch Goldenberg, das Mustergut des früheren Viehhändlers.
*
Gegen neun Uhr abends läutete ein sehr würdig und vornehm aussehender alter Herr an der Blinkschen Flurtür. Dr. Blink öffnete selbst. Zum ersten Male sah er heute trotz der langjährigen Freundschaft Hug Holm in einer Verkleidung. Er war überrascht, daß diesem eine so vollkommene Verwandlung des Äußeren geglückt war.
Die Freunde setzten sich in Blinks Studierzimmer und begannen von diesem und jenem zu sprechen. Holm war sehr zerstreut. Dann sprang er ganz unvermittelt auf einen anderen Gegenstand über.
„Ich habe mir deine Erlebnisse mit dem Doppelgänger nochmals durch den Kopf gehen lassen,“ sagte er. „Ich bin jetzt ganz fest davon überzeugt, daß der, der hier nächtlicherweise dein zweites Ich spielt, das Haus dauernd entweder selbst überwacht oder überwachen läßt. Es war also durchaus notwendig, daß ich in dieser Verkleidung zurückkehrte, damit der Mensch annimmt, du seist allein. Wir haben ja bereits den Beweis. Bin ich hier anwesend, bleibt der unheimliche Besucher weg! – Nun eine andere Frage. Wie gelangt er in deine Wohnung? – Ich habe diesen Punkt mit dir noch nicht erörtert. Jetzt haben wir die beste Zeit dazu. Habt ihr an der vorderen und hinteren Flurtür Sicherheitsketten? Vorn ja – ich besinne mich eben. – So – auch hinten. Und Roderich legt sie selbst vor. Er ist sehr gewissenhaft. Da dürften die Türen also ausscheiden. Geheime Zugänge wieder sind in diesem modernen Hause wohl nicht vorhanden. Nicht wahr? – Ich habe an eine solche Möglichkeit auch gar nicht gedacht. Bleiben mithin nur die Fenster. Du bist für frische Luft. Schläfst du bei offenen Fenstern? Sind noch sonst wo Fenster die Nacht über offen?“
„In meinem Schlafzimmer bleibt das linke stets auf. Ob noch andere nicht geschlossen zu werden pflegen, weiß ich nicht, wenigstens was den Seitenflügel anbetrifft. Hier vorn wird außer in meinem Schlafzimmer alles verriegelt. Die beiden Räumen meines Vaters werden ja seit Jahren überhaupt nicht mehr benutzt, nur zuweilen gelüftet und gereinigt.“
„Kann ich diese Zimmer einmal sehen?“
Die Freunde gingen durch die Bibliothek und der Doktor schloß dann die Flügeltür zum Arbeitszimmer des alten Herrn Blink auf, an das sich weiterhin dessen Schlafstube anschloß. Diese lag der Flurtür am nächsten und hatte wie alle Vorderräume eine auf den Korridor mündende Tür.
Es war noch hell genug, so daß Holm sich genügend umsehen konnte, ohne das elektrische Licht einschalten zu müssen. Die beiden Zimmer waren wie die ganze Wohnung mit stark überladener Vornehmheit eingerichtet. Der alte Herr Blink, der erst durch großzügige Spekulationen in afrikanischen Minenpapieren in kurzem reich geworden war, hatte alles Prunkvolle sehr geliebt.
Holm brauchte längere Zeit dazu, alles genau zu mustern, obwohl er in diesen Räumen schon häufiger geweilt hatte. Besonders die afrikanischen Reiseandenken interessierten ihn: Speere, Schilde, Lanzen, Keulen, Tanzmasken und anderes, das der alte Blink von seiner ersten Reise nach Kapland mitgebracht hatte.
Dann blieb er vor einer großen, goldgerahmten Photografie stehen, die die beiden Brüder Blink im Jünglingsalter darstellte. Eigentlich waren es nur Halbbrüder, da der jetzt Verschollene zweimal verheiratet gewesen war, mit zwei Schwestern, von denen die ältere, seine erste Gattin, sehr bald nach der Geburt eines Kindes, des später auf See umgekommenen Fritz, starb, während die jüngere erst vor sechs Jahren nach längerer Krankheit verschieden war.
Holm hatte Fritz Blink ebenfalls recht gut gekannt, obwohl dieser sich zumeist außerhalb seiner Vaterstadt aufgehalten hatte.
„Wie war das Verhältnis zwischen euch?“ fragte er jetzt den Doktor, der sich in eine Ecke des Ledersofas gesetzt hatte. „Fritz war wohl leichteren Schlages als du? Man munkelt hier in Danzig so allerlei. Er soll damals als Angestellter der Deutschen Bank in Berlin ganz plötzlich entlassen worden sein? – Entschuldige, daß ich diese Dinge berühre,“ fügte er schnell hinzu. „Du hast dich darüber zu mir noch nie ausgesprochen. Du wirst deine Gründe dazu haben. Das vergaß ich. Betrachte also bitte meine letzten Fragen als nicht getan.“
„Oh – nicht doch! – Gewiß – angenehm sind diese Erinnerungen für mich nicht. Fritz hatte eine große Summe unterschlagen. Mein Vater ersetzte sie der Bank und gab Fritz auf ein Gut, damit er die Landwirtschaft erlerne, in der Hoffnung, daß der mehr Leichtsinnige als Verderbte fern den Lockungen der Großstadt moralisch genesen würde. Das war vor seiner zweiten und letzten Reise nach den afrikanischen Minendistrikten, wo er sich persönlich von den Aussichten neu entdeckter Fundstellen überzeugen wollte und dann meiner Ansicht nach heimlich beseitigt worden ist, da er größere Summen bei sich trug, die eben ein Verbrechen sehr wahrscheinlich machen.
Nach seiner Abreise erhielt ich von dem Gutsbesitzer aus Holstein, bei dem mein Bruder ein Unterkommen gefunden hatte, die Nachricht, Fritz sei seit einer Woche verschwunden, nachdem er den Geldschrank um einige tausend Mark bestohlen habe, was erst jetzt bemerkt worden sei.
Seitdem hörte ich nichts mehr von dem infolge seiner Genußsucht so traurig Gestrauchelten, bis dann von der Hamburg-Amerika-Linie die Benachrichtigung von seinem Tode beim Untergang des „Neptun“ mich vor zwei Jahren erreichte.
Wir haben uns nie recht verstanden, Fritz und ich. Er war schon auf der Schule arbeitsscheu und auch von Kindheit an von einer Verstocktheit und Unaufrichtigkeit, die schon damals den Eltern schwere Sorgen bereitete.“
Holm erklärte jetzt, man könne in Blinks Studierzimmer zurückkehren; hier habe er leider auch nichts entdeckt, was die Frage klären könnte, wie der Doppelgänger nachts in die Wohnung eindringe.
Auf seinen besonderen Wunsch mußte der Doktor sich nachher an den Schreibtisch setzen und in seiner Arbeit fortfahren, während Holm selbst in dem Klubsessel am Kamin Platz nahm und im Halbdunkel bis gegen Mitternacht geduldig seinen Gedanken nachhing. Es brannte also nur die Stehlampe auf dem vor dem einen Fenster stehenden Schreibtisch, so daß ein Beobachter von außen den Eindruck gewinnen mußte, Blink sei allein.
Als die kostbare Kupferstanduhr auf dem Kaminsims dreiviertel zwölf schlug, erhob sich Holm leise und kroch unter den dreieckigen Tisch, der, vor einem Ledersofa rechts neben der Tür nach dem Schlafzimmer zu stehend, ihn mit der weit herabreichenden, türkischen Decke sehr gut verbarg.
Blink hatte sich umgedreht. Holm nickte ihm zu, legte noch den Finger auf die Lippen und ließ dann den Zipfel der Tischdecke wieder herabfallen.
Der Doktor versuchte sich weiter in seine Arbeit zu vertiefen. Bis jetzt war es ihm leidlich geglückt. Nun aber, wo er den Freund in dem Versteck bereits auf der Lauer wußte, dessen harrend, der hier als Schemen auftrat, bemächtigte sich seiner sehr bald eine tiefe innere Erregung, die es ihm fast unmöglich machte, an seinem Platz auszuharren.
Wie verabredet sollte Blink, kurz nachdem die Standuhr zwölf geschlagen hatte, in die Bibliothek hinübergehen, die Türen nach dorthin offenlassen und sich ein Buch aus einem der Regale heraussuchen.
Der Doktor war froh, als die Uhr endlich zu schlagen begann. Selbst der Gedanke, daß doch Holm dort unter dem Tische steckte, konnte das Angstgefühl vor einer neuen Begegnung mit dem Doppelgänger nicht beschwichtigen. Blink hielt den Federhalter in der Hand, schrieb auch hin und wieder ein Wort, aber all seine Sinne lauerten doch nur auf das, was sich vielleicht ereignen könnte. Endlich glaubte er, diese Marter des Stillsitzes beenden zu dürfen, stand auf, schaltete den Kronleuchter ein und betrat die Bibliothek, hielt sich hier gut fünf Minuten auf und raschelte absichtlich recht laut mit den Blättern der Bücher, die er wahllos herausnahm und aufschlug.
Wild klopfenden Herzens schritt er nun wieder der Verbindungstür zu. Ein Blick nach dem Sessel am Kamin. Leer – leer! Das Trugbild blieb aus!
Abermals begann die Marter. Blink setzte sich wieder an den Schreibtisch. Erst nach halb eins ging er dann zum zweiten Mal in die Bibliothek hinüber. – Wieder nichts. Der Sessel blieb leer!
Und zum dritten Male dasselbe Spiel gegen ein Uhr; ebenfalls vergeblich. Da tauchte Holms Kopf unter der Tischdecke auf, auch seine Hand. Und durch Zeichen machte er dem Freunde klar, das Schlafzimmer zu betreten.
Doch auch der Versuch blieb erfolglos. Holm verließ nun sein Versteck, drückte Blink stumm als Gutenachtgruß die Hand und tastete sich durch den dunklen Flur nach seinem Zimmer hin, wo er sich sofort, ohne das Licht einzuschalten, zu entkleiden begannen, indem er zunächst Perücke und falschen Bart entfernte und dann die Bänder der Schnürschuhen löste.
Nebenan hörte er Blink hin und her gehen. Die Tür, die Holms Zimmer und des Doktors Schlafstube verband, war nur angelehnt und ließ einen schmalen Lichtstreifen durch den Spalt fallen. Holm konnte den Geräuschen nach genau verfolgen, wie weit der Freund mit der Nachttoilette war. Jetzt raschelte Leinwand. Blink streifte wohl das Schlafhemd über.
Da – Holm schnellte empor, als habe er einen Hieb erhalten – da durchgellte plötzlich ein Schrei die nächtliche Stille, den der Doktor ausgestoßen haben mußte in wildestem Entsetzen.
Holm war mit einem Sprung an der Tür, riß sie auf.
Blink lag bewußtlos auf seinem Bett. Das Nachthemd hatte er halb übergezogen und den Kopf durch den Brustschlitz gesteckt.
Sonst – sonst bemerkte Holm nichts – nichts, obwohl er sich sofort zu dem offenen Fenster hinausbeugte und dann auch die Nebenzimmer absuchte.
Blink kam bald wieder zu sich. Als er die Augen aufschlug, saß Holm auf dem Bettrand und nickte ihm beruhigend zu.
„Mein armer Heinz, dieses Mal sind wir noch die Blamierten. Nur Geduld, wir werden den Kerl schon fassen.“
Der Doktor bat um ein Glas Sherry. „Das wird am schnellsten mein inneres Gleichgewicht wiederherstellen.“
Holm mußte den Wein aus dem Speisezimmer holen. Er beeilte sich sehr. Man konnte ja nicht wissen – vielleicht erschien der ungebetene Gast nochmals.
Blink machte gar kein Hehl daraus, daß er froh war, als er den Freund wieder bei sich im Schlafzimmer wußte.
„Ich mag ein Angsthase sein, ein Feigling. Gegen den Doppelgänger kommt alle meine Willenskraft nicht auf,“ sagte er kläglich. „Gerade als ich das Nachthemd übergestreift hatte und das Leinen mir über den Kopf geglitten war, stand dort vor dem Spiegel des Ankleideschrankes – Er – Er! Und er grinste mich wieder so höhnisch an, hob dann die rechte Hand, in der ein Revolver matt blinkte, hielt sich die Waffe gegen die Schläfe. Ich sah ganz deutlich, wie er die Augenlider schloß, wie sein Finger am Abzug sich krümmte. Und jeden Moment fürchtete ich den Knall des Schusses zu hören – jeden Moment! Das war zu viel für meine Nerven. Sie streikten. Ich kippte um –“
Er saß aufrecht im Bett. Seine Augen waren unnatürlich groß; seine Stimme matt und farblos.
Holm füllte ihm das Weinglas zum zweiten Male. „Trink und vergiß, Heinz! – Ich werde mich hier bei dir auf den Diwan legen. Dann bist du nicht allein.“
„Ich darf auch nicht mehr allein sein. Meine Angst wächst bei jedem Male, nach jedem Besuch meines zweiten Ichs – mag dieses nun lediglich ein Erzeugnis meiner überreizten Nerven oder ein lebendes Wesen sein. Was hiervon zutrifft, ob Vision oder Fleisch und Blut, darüber bin ich mir trotz der Mehlprobe noch nicht klar. Ich wünschte fast, letzteres wäre das richtige. Dann hätte ich doch die Aussicht, von diesem Menschen, der mich dem Wahnsinn in die Arme treiben will, demnächst mit deiner Hilfe befreit zu werden, während ein Trugbild durch menschliche Macht – etwa durch berühmte Nervenärzte – sich nicht immer verscheuchen läßt.“
Er begann das Weinglas schluckweise zu leeren und blickte dabei in einer Weise vor sich hin, als sähe er noch sein Ebenbild mit der Schußwaffe in der Hand vor sich.
Holm bemerkte diesen Ausdruck tiefen Grauens in den Augen des Freundes und erschrak. Er erkannte, daß diese Besuche des unheimlichen Unbekannten bereits zu wirken begannen. Deshalb hielt er es auch für angebracht, Blink jetzt von den soeben geäußerten Zweifeln zu befreien und ihm zu berichten, was Roderich durch das Schlüsselloch erspäht hatte.
Heinz Blink schaute erwartungsvoll auf, als Holm seine Eröffnungen mit dem Satz einleitete: „Du kannst ganz beruhigt sein, mein alter Junge. Von einem krankhaften Zustand bei dir kann keine Rede mehr sein. Außer deinen Augen haben noch andere den Doppelgänger gesehen.“ Zum Schluß aber bemerkte Holm: „Deine Mehlprobe war durchaus zuverlässig. Wenn wir irgendwo hier in Danzig ein Paar Beinkleider aufspüren – blaue Beinkleider, zu einem Jackenanzug gehörig –, die auf der Kehrseite Mehlspuren zeigen, dann haben wir auch den Mann gefunden, der dieses verbrecherische Spiel mit dir treibt.“
Blink nickte nachdenklich. „Wenn, wenn! Ja – wenn dem Menschen die weißen Flecken nicht nachher aufgefallen sind und er sie entfernt hat, – wenn – oh, da gibt es ja so viele Wenns, auf diese Art den Betreffenden zu entdecken. So wirst selbst du an den Menschen nicht herankommen, Hug. Du kannst doch nicht alle Kleiderschränke durchsuchen, und –“
Holm lachte auf. „Lieber Junge, da hast du ganz recht, so werde ich den Burschen nicht fassen. Der Aufwand wäre denn doch zu zeitraubend. Aber die Anzahl der Schränke ist vielleicht beträchtlich zu verringern, wobei ich von der Überzeugung ausgehe, daß unser Herr Geist die Mehlspuren nicht bemerkt hat, da du doch so vorsichtig gewesen bist, den Sitz des Sessels nur ganz wenig zu bestäuben. Ich sagte, zu verringern. – Ich glaube jetzt nämlich bestimmt zu wissen – gemutmaßt hatte ich dies gleich! –, welchen Weg der Bursche einschlägt, um hier in deine Wohnung zu gelangen. Als ich vorhin dort durch das offenstehende Fenster blickte, wobei ich mich sehr weit hinauslehnte, versperrte mir der Balkon vor dem zweiten Fenster deines Schlafzimmers die Aussicht nach rechts. immerhin konnte ich feststellen, daß das rechte Nebengebäude ebenfalls Balkons hat, die wie Vogelnester an der Hauswand kleben, und daß außerdem in gleicher Höhe wie an diesem Hause nebenan ebenfalls ein breites Gesims unter den Fenstern entlangläuft. Kurz, unser ungebetener Gast konnte ganz bequem, wenn er nur leidlich schwindelfrei ist, von dem Balkon des zweiten Stockwerks des Nachbarhauses auf dem Sims bis zu der Zinkrinne gelangen, die die beiden Gebäude trennt, und von da aus weiter bis auf deinen Balkon und bis zu dem offenen Fenster dort. Es gehört eben nur etwas Gewandtheit dazu. Sobald du dich genügend erholt hast und in deinen Schlafrock geschlüpft bist, um auf den Balkon hinauszutreten, will ich Herrn Traugott Runkel eine nächtliche Visite abstatten. Möglicherweise finde ich in seinem Schranke die mehligen blauen Beinkleider.“
Blink wiederholte fragend den Namen: „Traugott Runkel?“
„So heißt eine etwas mysteriöse Persönlichkeit, die zurzeit in Aftermiete[3] bei Frau Döbberke nebenan wohnt. Ich darf mir einen Besuch zu so später Stunde schon erlauben, da ich bereits das zweifelhafte Vergnügen gehabt habe, mit Traugott bekannt zu werden. Wenn gewünscht, erzähle ich dir so einiges über diesen Herrn.
Er ist vor etwa vier Wochen angeblich aus Berlin hier zugezogen und begann alsbald durch Anzeigen in den hiesigen Zeitungen geldbedürftigen, kreditfähigen Leuten seine – selbstlose Hilfe anzubieten. Anfragen unter Chiffre X. Y. 333 an die Expedition der Zeitung. –
Ich studiere ja nun die Annoncenseiten der Blätter genau so sorgfältig wie den Nachrichtenteil. Manchmal steht darin weit Interessanteres als „vorn“. Jene Anzeige fiel mir auf. Ich habe bisher vier gewerbsmäßigen Geldverleihern oder Halsabschneidern das Handwerk gelegt. Traugott sollte vielleicht Nummer Fünf werden. Es ist nicht allzu lange her, daß ich bei ihm war. Natürlich mußte ich mir ihm gegenüber ein geheimes Laster – Spielwut – andichten, um meine Geldnot für den Fall möglichst einfach zu begründen, daß er sich nach meinen Verhältnissen sehr genau erkundigen sollte, wobei er dann wohl erfahren haben würde, wie und wo mein Vermögen angelegt ist. –
Um dir nun gleich völlig reinen Wein einzuschenken, alter Heinz, so ganz aus mir allein heraus hatte ich mich zu dem Besuch bei Runkel nicht entschlossen. Ein guter Bekannter von mir, der Kriminalkommissar Wendler, ist nämlich ebenfalls hinter diesem Menschen her, der zu den gefährlichsten und leider auch erfolgreichsten Juwelendieben Europas gehören soll und der sich zumeist Britz nennt, in Wirklichkeit auch bedeutend jünger ist als er sich hier herausgeputzt hat. Sein letzter großer Streich – sehr lange soll er das Handwerk noch nicht betreiben – schädigte den Juwelier König in Köln um Steine im Werte von rund einhundertachtzigtausend Mark. Mit Kleinigkeiten scheint Britz sich nicht abzugeben. Wendler hat seine ganze Findigkeit aufbieten müssen, um diesem ebenso vielseitigen als gerissenen Verbrecher auf die Spur zu kommen. Mit einer bloßen Verhaftung ist hier zudem nicht viel geholfen. Britz–Runkel hat seine letzte Beute offenbar noch nicht veräußert, dürfte sie vielmehr in einem sicheren Versteck untergebracht haben.
Um Wendler so etwas gegen diesen Burschen zu helfen, unternahm ich eben jenen Rekognoszierungsgang in die Höhle des Löwen. Viel erreichte ich nicht; sah nur, daß Herr Britz sich auch aufs Maskemachen tadellos versteht. Es gehören schon sehr gute Augen dazu, herauszufinden, daß er sein Alter nur vortäuscht. – So, das wären die Hauptsachen, mein Junge. Mittlerweile ist nun auch in deine Wangen die Farbe zurückgekehrt. Ich kann mich also zu dem späten Besuch rüsten.“
Holm begann seine Schuhe wieder zuzuschnüren. Auch Blink schlüpfte in seine Kleider, indem er meinte:
„Was doch so ein wenig Alkohol macht! Ich fühle mich frischer denn je. Vielleicht ist’s auch die Hoffnung, meinen Doppelgänger endgültig loszuwerden, die mich so belebt.“
Während Blink in der offenen Balkontür stand, schwang sich Holm über das Gitter, suchte mit dem rechten Fuß auf dem Gesims festen Halt, stieß sich dann mit dem linken von dem Balkongitter leicht ab, tat zwei schnelle Schritte über den unter ihm gähnenden Abgrund weg und erreichte glücklich die Rinne, hielt sich dort fest, bis er sich überlegt hatte, wie er von hier aus nach dem Nachbarbalkon gelangen könnte. Ohne Zweifel war diese zweite Hälfte des Weges die gefahrvollere. Trotzdem zauderte Holm nicht lange. In ähnlicher Weise passierte er auch hier den drohenden Abgrund, umklammerte nun das Gitter des Nachbarbalkons und hob vorsichtig erst ein Bein, dann das andere über die Brüstung. Ein Blick zeigte ihm, daß in Runkels Zimmer kein Licht mehr brannte und daß die Balkontür eine Handbreit offenstand.
Holm ließ absichtlich wohl fünf Minuten verstreichen, bevor er auf allen Vieren sich der Tür näherte und dann zunächst wieder eine ganze Weile in den Raum hinein lauschte. Er hörte denn auch deutlich das tiefe Atmen eines Menschen, ebenso einige rasselnde Schnarchtöne. Trotzdem traute er dem Frieden nicht ganz. Er hielt Runkel für einen außerordentlich gefährlichen Burschen und richtete sein Verhalten danach ein.
Mit einem kurzen Ruck schob er jetzt die beiden Türflügel weiter auseinander. Lautlos kroch er dann in das dunkle Zimmer, stets mit der rechten Hand erst vor sich hin tastend, um nicht gegen Möbelstücke zu stoßen.
Das Bett knarrte. Der Schläfer drehte sich wohl auf die andere Seite. Die tiefen Atemzüge, die Holm noch soeben von links her vernommen hatte, wo, wie er wußte, das Bett stand, waren jetzt verstummt.
Der nächtliche Eindringling verhielt sich regungslos und wartete auf den Wiederbeginn der sägenden Tönen, die es ihm erleichtern sollten, die Tür des Kleiderschrankes zu öffnen, ohne daß der Schlafende erwachte. Es wurde eine harte Geduldsprobe. Im Zimmer war’s jetzt totenstill. Das fiel Holm doch mit der Zeit auf. Sein Argwohn regte sich. Das unbehagliche Gefühl beschlich ihn, Runkel könnte den festen Schlaf nur vorgetäuscht haben, sei in Wirklichkeit wach und längst auf den nächtlichen Besucher aufmerksam geworden.
Dann schien es Holm plötzlich, als vernähme er hinter seinem Rücken ein ganz leises Geräusch, einen scharrenden Laut, so etwa, als würde ein nur in Strümpfen steckender Fuß vorsichtig über die Dielen geschoben. Er fürchtete sofort einen hinterlistigen Angriff, richtete sich halb auf und wandte den Kopf, bohrte seine Augen in die Dunkelheit, die hier in der Nähe der Balkontür durch das schwache Licht der Mainacht etwas gemildert wurde. Mit einem Male schoß dicht vor seinen Augen ein schmaler, weißer Lichtkegel auf. Gleichzeitig hörte er das feine Knacken der Einschaltvorrichtung einer elektrischen Taschenlampe. Bevor er noch auf die Füße springen konnte, geschah schon das, was er befürchtet hatte. Er erhielt einen schweren Schlag gegen die rechte Stirnseite und brach ohnmächtig zusammen.
Traugott Runkel schaltete die Lampe wieder aus, drückte leise die Balkontür ins Schloß, zog den Vorhang vor und beleuchtete dann erst den bewußtlos mitten im Zimmer Liegenden.
Ein höhnisches Kichern begleitete seine Gedanken.
„Also wirklich der Holm! Wo hätte auch der andere den Mut zu diesem Gange hergenommen! – Ja – der Holm, das Allerweltsgenie Danzigs, der Meisterdetektiv! Freue mich, dich wiederzusehen, Hug Holm. Du besaßest schon auf der Schule einen unerträglichen Dünkel, warst mir stets zuwider. Nun haben wir Gelegenheit gehabt, unsere Fähigkeiten in heimlichem Zweikampf zu prüfen. Du bist besiegt. Ich wußte, daß –“
Hier begann er halblaut zu flüstern, denn der von dem Schlage nur halb Betäubte hatte sich ein wenig aufgerichtet und schaute verwirrt um sich. Der weiße Lichtkegel der Taschenlampe des Verbrechers blendete Holm jedoch derart, daß er unwillkürlich die Augen wieder schloß, während Runkel ihm nun leise, aber in drohendem Ton zuraunte:
„Bleiben Sie regungslos liegen, Verehrtester! Ich habe hier in der Rechten einen Totschläger, der sofort wieder Sehnsucht nach Ihrem geistvollen Haupte bekommt, sobald Sie nicht prompt befolgen, was ich befehle. Hinlegen, zum Donnerwetter, oder –! – Ach, Sie nehmen Vernunft an, Herr Hugo Holm! Sehr verständig! Das mit mir nicht gut Kirschen essen ist, haben Sie schon gemerkt. Ich wußte, daß Sie kommen würden. Ihre Maske als vornehmer alter Herr war ja recht gelungen. Nur Ihren Gang hätten Sie noch mehr verändern müssen. Denken Sie in Zukunft daran. Man lernt nie ganz aus. So, und jetzt werden Sie mir wahrheitsgemäß erklären, was Sie hier bei mir vorhatten. Ich warne Sie aber! Keine Schwindeleien, mein Lieber. Mein Totschläger ist Wahrheitsfreund. Also –“
Hug Holm hatte in seinem an allerlei Abenteuern recht reichen Leben gewiß schon peinliche Lagen durchgemacht, die an seine Geistesgegenwart die höchsten Anforderungen gestellt hatten. Doch etwas so Gefahrdrohendes wie heute war ihm bisher nicht begegnet. Runkel würde ihn nicht schonen, wenn er nicht gehorchte. Davon war er überzeugt. Er befand sich einem Gegner gegenüber, dessen Verschlagenheit und Brutalität fraglos einander die Waage hielten. Immerhin wollte er trotzdem versuchen, diesen Menschen zu überlisten, der jetzt neben ihm kniete und in jedem Augenblick zuschlagen konnte. Holm erkannte nun auch die kurze Waffe in der halb erhobenen Hand des Feindes. Er war wieder im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte. Nur der Kopf schmerzte ihm noch und schien schwer wie Blei zu sein.
„Gut,“ sagte er ebenso leise wie Runkel, „ich werde nicht lügen. Nur muß ich vorher wissen, wie dieses Abenteuer für mich ausgehen soll. Ich vermute, daß Sie die Absicht haben mich zu fesseln und zu knebeln und dann das Weite zu suchen, nachdem Sie erkannt haben, daß der Boden hier für Sie zu heiß geworden.“
Runkel ließ ein höhnisches Kichern hören. „Bedingungen zu stellen ist nicht gestattet, Verehrtester! Mein hübsches Schlaginstrument zuckt schon verlangend. Also –“
„Nun – wenn es sein muß! – Ich wollte nur Ihren Kleiderschrank hier genauer ansehen, besser dessen Inhalt. Besonders auf Beinkleider mache ich Jagd, die auf der Kehrseite Mehlspuren haben.“
Holm gelang es sehr gut, einen leichten, ungezwungenen Ton anzuschlagen.
„Lassen Sie die Witze!“ brauste Runkel sofort auf. „Sie hoffen vielleicht, mein Stubennachbar, der Herr Schmierölfritze, wird Ihnen zu Hilfe kommen.“ Abermals lachte er voller Hohn auf. „Erich Ring nennt der Mensch sich hier. Und dabei hat er Taschentücher mit den Buchstaben E. W. … Dürfte das nicht auf meinen Freund Erich Wendler hindeuten, der sich nun schon monatelang die größte Mühe gibt, unsere Beziehungen noch inniger zu gestalten?! – Sie haben Ihr Mienenspiel gut in der Gewalt, Holm. Ich glaubte, Sie würden einige Überraschung verraten darüber, daß ich auch in diesem Punkte klar sehe. Ihr Bündnis mit dem Kommissar ist mir nichts Neues. Zur Zeit patrouilliert der famose gewerbsmäßige Greifer vielleicht auf der anderen Straßenseite auf und ab. Jedenfalls haben Sie auf keine Unterstützung von der Seite zu rechnen. Ich rate Ihnen daher, diese Abenteuer hier nicht zu leicht zu nehmen und meine Geduld nicht durch ganz unangebrachte Scherze allzu stark auf die Probe zu stellen.“
„Das liegt keineswegs in meiner Absicht,“ erklärte Holm, als sein Feind jetzt schwieg. „Ich hatte tatsächlich nur den Wunsch, mir die Beinkleider eines gewissen blauen Jackenanzugs eingehender zu betrachten.“
Runkel stieß ein halblautes „Aha!“ aus und fügte dann hinzu: „Wozu nur die Beinkleider?! – Ich verstehe Sie jetzt. Meine Rolle als Blinks zweites Ich ist ausgespielt. Sie wollten feststellen, ob ich einen Anzug besitze, der dem Blinks gleicht. Dann hätten Sie den Mann gefunden, der Ihrem Freunde einige echt böse Stunden bereitet hat.“
„Ganz recht. Sie beginnen zu begreifen. Sie haben ja nun zugegeben, dieses merkwürdige Spiel mit Blink getrieben zu haben. Was aber die Beinkleider anbetrifft – mein Freund hatte den Sitz des Sessels mit Mehl bestäubt.“
„Allerhand Achtung! Hätte ihm das gar nicht zugetraut! Nun werden die Beinkleider freilich glaubwürdig. – Wir können jetzt zur zweiten Frage übergehen. Hat Wendler Ihnen mitgeteilt, weshalb er mir so viel Aufmerksamkeit schenkt, und – was gedenkt er zu tun? Will er mich verhaften?“
„Zwei Fragen auf einmal. Ich antwortet: Ja und nein! Ich weiß, weshalb Wendler hier in Danzig ist. Verhaften wird er Sie nicht eher, als bis er das Versteck Ihrer letzten großen Beute kennt.“
Runkel lachte kurz auf. „Dann wird der Herr sich wohl noch recht lange gedulden müssen, fürchte ich. Vielleicht wandert er so in die Gefilde der Seligen hinüber, ohne dieses Ziel zu erreichen. Im übrigen, mein Lieber, es freut mich, daß Sie tatsächlich aufrichtig sind. Sie sollen daher auch besser bei dieser Geschichte wegkommen, als ich’s mir anfänglich vorgenommen hatte. Legen Sie sich jetzt auf den Bauch und kreuzen Sie die Arme auf dem Rücken. Vergessen Sie aber auch bei dieser Körperbewegung nicht das über Ihrem edlen Haupte schwebende Schwert des Damokles, hier Totschläger genannt.“
Holm wollte Zeit gewinnen. Vielleicht betrat Wendler sehr bald den Wohnungsflur der Frau Döbberke; vielleicht wurde auch Blink durch das lange Ausbleiben des Freundes unruhig und unternahm irgend etwas, um sich hierüber Aufklärung zu verschaffen.
„Einen Augenblick noch,“ sagte er daher, indem er einen prüfenden Blick nach der Waffe in der Hand des Feindes warf, wobei er abermals sich fragte, ob Runkel schnell genug zuschlagen würde, falls er sich blitzschnell zur Seite rollte. „Da wir jetzt doch bereits halb und halb Frieden geschlossen haben,“ fuhr er scherzenden Tones fort, „könnten Sie mir darüber Aufschluß geben, was Sie eigentlich mit der wohlgelungenen Maskerade als Blinks Doppelgänger erreichen wollten. Ich vermute, Sie beabsichtigten, Blinks seelisches Gleichgewicht recht schwer zu erschüttern. Trifft dies zu? Weshalb aber dieser Versuch, die Geistesverfassung meines Freundes nachteilig zu beeinflussen?“
„Wenn Sie noch weiter so unverfroren fragen, Herr Hug Holm, werde ich Ihre Geistesverfassung sehr plötzlich ungünstig beeinflussen!“ tönte der Verbrecher. „Solch eine Unverschämtheit! Er stellt Fragen – und gar noch derartige! – Nun – also soweit reicht ihr famoses Hirn doch nicht, sich zusammenreimen zu können, warum, zu welchem Zweck usw. Ich hätte mir an Ihrer Stelle lieber diese Blöße nicht gegeben, mein berühmter Herr, – ne, ich hätte es nicht getan! Ich gebe mir nie eine Blöße. Sonst säße ich auch längst im Kittchen, und der Schmieröl-Wendler könnte triumphieren. Sogar so schlau bin ich, mir zu sagen, daß Sie wahrscheinlich diese geistvolle Unterhaltung nur gehörig recken wollen in der Hoffnung, das Blatt könnte sich noch zu Ihren Gunsten wenden. Kennen Sie den Kirchhofsspruch: Lasziate oglia speransa – laßt alle Hoffnung fahren! – So ist’s auch hier. – Genug nun der Worte. Kehrt, wenn ich bitten darf, und – keinen Laut! Ich möchte nicht gerade gern zum Mörder werden!“
Holm merkte abermals, daß er es hier mit einem Gegner zu tun hatte, der ihm tatsächlich ebenbürtig war. Und weiter sah er auch ein, daß es ein zu großes Wagnis wäre, wollte er den Trick mit dem schnellen Sichbeiseiterollen wirklich versuchen. Er gab diesen Gedanken auf, wozu ihn halb und halb auch die Neugier bewog, was Runkel wohl mit ihm weiter beginnen würde. Er legte sich also gemächlich auf den Bauch, brachte die Arme auf dem Rücken übereinander und fühlte seine Hände dann auch sofort mit einer dünnen Schnur an den Gelenken sehr gewandt so fest umwickelt, daß er nunmehr völlig wehrlos war. Gleich darauf fiel ihm eine schwere Decke über den Kopf und ein widerlich süßer Geruch, Chloroform, drang ihm in die Nase. Da bedauerte er, sich dem Feinde auf diese Weise gänzlich ausgeliefert zu haben. Ein Gefühl von Furcht beschlich ihn für einen Augenblick. Und aus diesem Gefühl heraus wuchs ebenso schnell ein anderes in ihm empor, eine bis zum Äußersten gesteigerte Tatkraft. Er hielt den Atem an, wollte sich mit plötzlichem Ruck aufrichten. Wollte. Es kam nicht zur Ausübung dieses verspäteten Widerstandes. Holms Rücken empfand den brutalen Druck eines Knies des gewitzten Verbrechers, und sein Kopf wurde gleichzeitig durch die weiche Schwere eines neuen Gegenstandes, offenbar eines Oberbettes, noch fester auf die Dielen gepreßt. Länger das Atmen auszusetzen war ihm unmöglich. Und der Hilferuf, den er nun mit voller Lungenkraft ausstieß, erstickte unter dem harten Griff der Hände des auf ihm Knieenden. Röchelnd nur vermochte er die chloroformgeschwängerte Luft einzuziehen. Und sehr bald erfaßte ihn jener beängstigende Schwindel, der jeder Betäubung durch Chloroform vorangeht.
Gisela Döbberke saß im Hinterzimmer und stickte an einem großen Monogramm für ihres Mucki Sommermantel. Übermorgen hatte Mucki Geburtstag. Da hieß es eben recht fleißig sein und die Nacht zu Hilfe nehmen, denn am Tage gab’s ja so viel anderes zu tun.
Der altehrwürdige Regulator an der Wand verkündete mit etwas blechernem Ton die zweite Stunde. Gisela ließ die Hände in den Schoß sinken und gähnte herzhaft, schalt sich dann aber selbst halblaut „Schlafratze!“. Sie mußte munter bleiben. Da half nur eine Tasse starken Kaffees. Der war bald aufgebrüht. Sie erhob sich leise, um die nebenan schlafende Mutter nicht zu stören, und schlich auf ihren weichen Pantöffelchen in den Flur hinaus. –
Ah – Runkel, die alte Eule, war auch noch wach. Oben durch eine Türritze schimmerte Licht hindurch. Gisela hatte dann die Küchentür schon halb geöffnet, als aus Runkels Zimmer ein Geräusch herausdrang. Es war ein besonderes Knarren, begleitet von quietschenden Tönen. Das junge Mädchen besann sich, daß Runkel einmal in ihrer Gegenwart seinen großen Rohrplattenkoffer, ein wahres Ungetüm, geöffnet hatte und daß dabei eine ähnliche häßliche Musik entstanden war. Unwillkürlich blieb Gisela stehen und lauschte. Was trieb die Eule nur jetzt noch zu dieser späten Stunde?!
Da – schon wieder das Knarren! Und jetzt fiel ein harter Gegenstand polternd zu Boden. Weitere Geräusche folgten, aus denen man ohne Zweifel schließen konnte, daß Runkel mit irgend etwas beschäftigt war, wozu man sonst nicht gerade die Nacht wählt.
Dann das feine Klirren eines Schlüsselbundes, ein scharfes Knacken, das sich nochmals wiederholte. Die Eule hatte soeben den Koffer abgeschlossen.
Gisela fand noch in der großen Emaillekanne genügend Kaffee vor, hatte ihn in wenigen Minuten über der Gasflamme erwärmt und saß bald wieder bei ihrer Arbeit. Ihre Gedanken weilten bei der Eule. Sie hätte zu gern gewußt, weshalb der Alte zu dieser Stunde noch herumgeisterte.
Es klopfte. Gisela fuhr zusammen, stach sich in den Finger. Bevor sie öffnete, fragte sie, dicht an der Tür stehend:
„Wer ist denn dort?“
„Runkel. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Ich hörte in der Küche das Gas puffen. Da wußte ich, daß bei Ihnen noch jemand wach war.“
Gisela schob den Riegel zurück. Runkel trat ein, zum Ausgehen fertig angezogen. Mit deutlichem Mißtrauen schaute er erst das junge Mädchen an, blickte dann auf den Tisch. Die Stickerei und der Kaffee beruhigten ihn.
Wortreich und heute überhöflich brachte er sein Anliegen vor. Er müsse mit dem Frühzuge nach Stettin verreisen, wo sein bester Freund im Sterben liege. Ob Fräulein Gisela wohl noch eine halbe Stunde aufbleiben würde? Er wolle nämlich ein Auto herschicken und seinen Koffer abholen lassen, den er schon abends gepackt habe.
Gisela entging es nicht, daß die Eule nur schwer eine gewisse Erregung verheimlichen konnte. Und – den Koffer wollte er bereits früher gepackt haben? Das war eine Lüge! Die Geräusche in seinem Zimmer hatten ja gerade darauf hingedeutet, daß er aus Schränken und Schubladen allerhand zusammensuchte. Gisela wurde argwöhnisch. Und deshalb eilte sie auch nachher, als die Eule die Wohnung kaum verlassen hatte, durch dessen Zimmer auf den Balkon hinaus. Aus Vorsicht legte sie jedoch die Sicherheitskette an der Flurtür vor, obwohl sie nicht wußte, ob Ring schon daheim war. Sie wollte sehen, wo Runkel blieb, ob er wirklich nach der Großen Allee zu davonging und ob vor dem Hause vielleicht jemand auf ihn wartete. In der Stille der Nacht mußte sie auch hören, wenn er nur die Haustür aufschloß. Sie brauchte sich also gar nicht zu weit über das Balkongeländer zu beugen. Bemerken konnte er sie kaum.
Doch – nichts ereignete sich. Gisela sagte sich, daß Runkel längst die Treppen hinabgestiegen sein müsse. Vielleicht hatte er etwas vergessen, war umgekehrt. Und die Kette lag vor!
Sie huschte in den Flur. Nichts regte sich. Und wieder stand sie auf dem Balkon. Ihre Augen glitten nach links hinüber zu den Fenstern Muckis. Der war heute Gast einer studentischen Verbindung der technischen Hochschule und hatte seinem Kirchenmäuschen schon vorher gesagt, daß er wohl erst sehr spät heimkehren würde.
Da – plötzlich eine Stimme von links:
„Fräulein Gisela, Sie sind’s doch?“
Auf dem Nachbarbalkon, der zu Dr. Blinks Wohnung gehörte, bemerkte sie zwei Gestalten. Der, der sie angerufen hatte, war dem Organ nach Herr Ring. Sie hatte richtig vermutet. Von Balkon zu Balkon entwickelte sich jetzt ein hastiges, halblautes Hin und Her von Fragen und Antworten. Zuletzt ließ sich Ring vernehmen:
„Natürlich ist er durch den Hofausgang in den Garten und von da in die unbebaute Lützowstraße entwischt. Warten wir also zunächst ab, ob das Auto kommt.“
Gisela saß noch keine fünf Minuten wieder bei ihrer Arbeit, als die Flurglocke schrillte. Ein wahrer Riese vom Chauffeur kam den Koffer holen. Als er ihn an einer Seite prüfend anhob, meinte er: „Donnerwetter, Fräulein, der hat’s in sich! Jut anderthalb Zentner, schätz’ ich.“
Heinz Blink hatte erleichtert aufgeatmet, als er Holm glücklich drüben auf dem Balkon landen sah. Er stand in der Balkontür, an die Füllung gelehnt, und wartete. Minute um Minute verspricht. Holm kam nicht. Und Blinks nervöse Unruhe steigerte sich immer mehr. Er trat schließlich bis an das Geländer vor und spähte nach dem anderen Balkon hin.
Unten auf der Straße räusperte sich jemand. Blink sah einen Herrn, der ihm jetzt zuwinkte. Erst hoffte er, es sei vielleicht Holm. Doch von unten rief es nun halblaut:
„Hier Wendler, ein Bekannter Ihres Freundes Holm. Lassen Sie mich ein – schnell!“
So lernte Blink Herrn Erich Ring kennen. Der Kommissar hatte sofort gebeten, ihn auf den Balkon zu führen. Hier nun richtete er an den Doktor verschiedene Fragen, aus denen hervorging, daß er nicht nur beobachtet hatte, wie Runkel in das Schlafzimmer Blinks eingestiegen, sondern auch Zeuge der waghalsigen Kletterpartie Holms gewesen war.
„Ich habe seit elf Uhr abends drüben in der leeren Wohnung von Nummer 16 am Fenster gestanden,“ erklärte er. „Holm hatte mir anvertraut, daß Sie beide heute Nacht den Doppelgänger fangen wollten. Deshalb postierte ich mich mit Erlaubnis des Hauswarts dort drüben, um ihr Haus im Auge behalten zu können. Ich wollte Holm ein wenig unterstützen.“
Nach kurzer Pause fuhr er fort:
„Ich muß Ihnen leider gestehen, daß ich Ihre Besorgnis um Holm durchaus teilen. Ich fürchte, er ist Runkel ins Netz gegangen. Ich habe nämlich gesehen, wie in Runkels Zimmer eine geraume Weile nach Holms Untertauchen auf jenem Balkon plötzlich Licht aufblitzte – eine Taschenlaterne, vermute ich. Und wieder nach einer Weile wurde die Balkontür geschlossen und die Fenster ganz hell.“
Blink starrte Wendler entsetzt an.
„Dann – dann müssen Sie ja Recht haben!“ entfuhr es ihm. „Was tun wir nun?“
„Abwarten. Holm ist nicht der Mann, der so leicht zu überwältigen ist.“
„Wäre es nicht besser, Sie als Beamter würden bei Runkel jetzt sofort Einlaß verlangen?“ meinte Blink darauf voller Sorge um den Freund.
„Nein. Ich muß ganz aus dem Spiele bleiben. Sie wissen – die Kölner Geschichte. Holm hat Ihnen ja erzählt, weswegen ich hier in Danzig bin. Nach einer Viertelstunde werden wir das nächste Polizeirevier anläuten. Vielleicht geschieht bis dahin etwas, das uns Aufklärung gibt, ob Holm –“
Er hob plötzlich warnend die Hand, flüsterte Blink ins Ohr: „Drüben auf Runkels Balkon. Es muß Fräulein Döbberke sein.“
Es war Gisela. Von ihr erfuhren die Herren, daß Runkel verreisen wolle, daß der Koffer abgeholt werden würde und daß Runkel offenbar sehr erregt gewesen sei, als er bei seiner Wirtin angeklopft und Gisela dann Bescheid gesagt hatte.
„Was halten Sie von alledem?“ fragte Blink, als das jungen Mädchen vom Nebenbalkon verschwunden war. In seiner Stimme bebte die Angst um das Leben des Freundes.
Wendler erwiderte ingrimmig: „Abermals ist der Kerl mir entwischt! In dem Koffer, wette ich, werden wir Holm finden, – lebend, dann geknebelt und gefesselt, oder – tot. Ich nehme mehr das erste an. Können Sie mir eine gute Schußwaffe leihen, Herr Doktor? Ich habe meine Pistole abends beim Umziehen in meinem anderen Beinkleid stecken lassen.“
„Dort im dritten Zimmer, das mein Vater früher benutzt hat, hängt an der Wand eine ganze Sammlung. – Aber – was – was soll nun werden?“
„Ich hole mir einen Revolver. Inzwischen passen Sie hier weiter auf. Wir müssen den Koffer, ohne Aufsehen zu erregen und dadurch Runkel womöglich zu warnen, uns näher ansehen.“
Erwin von Gromp hatte stundenlang an dem Briefe für Hilde geschrieben. Er wollte ihn auch gleich in den Kasten werfen, da er fühlte, daß er jetzt doch nicht schlafen könne.
Zuerst irrte er dann planlos durch die Straßen. Die Nachtluft tat ihm wohl. Durch den Brief war sein Inneres bis in die tiefsten Tiefen aufgewühlt worden. Er hatte Hilde einen Blick in seine Seele tun lassen, wie noch keinem Menschen bisher.
Halb unbewußt schlug er die Richtung nach der Großen Allee ein, wanderte dann unter den mächtigen Linden auf dem linken Fußgängerwege entlang, wo er oft Arm in Arm mit Hilde gegangen war. Allmählich wurde er sich klar darüber, daß ein seltsames Gefühl, halb Sehnsucht, halb Scham, ihn hier in die Einsamkeit hinausgetrieben hatte. Früher hätte Erwin von Gromp dies wohl ironisch belächelt: „– wie ein schwärmender Studio!“ Heute, heute war alles so anders. Ja, er wollte hin bis unter die Fenster ihres Mädchenstübchens, wollte unbemerkt einen letzten Gruß ihr zuwinken. Dieser Gang zu ihr, die er so schmählich getäuscht, von deren junger Seele er den Blütenstaub des Glaubens an Liebe und Aufrichtigkeit abgestreift hatte, sollte wie eine Buße sein, ein Sühnegang.
Gromp trat hinter einen Baum, um sich eine Zigarette anzuzünden. Drei Hölzchen hatte der Nachtwind bereits ausgeblasen. Da hörte der Assessor eilige Schritte. Etwa zehn Meter vorwärts stand ein Gaskandelaber. Gromp erkannte, hinter dem Baume hervorspähend, Dr. Blink.
Ah, – und wie scheu Blink sich jetzt nach allen Seiten umsah! Was trieb denn der noch so spät hier in der Allee? Nun blieb er stehen, schien zu lauschen. Merkwürdig, dachte Gromp, der harmlose Doktor benimmt sich wie einer, der auf faulen Pfaden wandelt!
Jetzt kam Blink dicht an dem Assessor vorüber, bog dann aber rechts ab, sprang über den Straßengraben und verschwand in den Anlagen, die sich hier in breitem Streifen vor den Kirchhöfen hinzogen.
Gromp hatte Hilde und Sühnegang vergessen. Die Neugier war in ihm rege geworden. Im Bogen wandte er sich nun gleichfalls den Anlagen zu. Der Lichtschein der Laternen der Allee reichte nur noch ganz schwach bis hierher. Aber der Assessor hatte gute Augen. Keine fünf Meter vor ihm schimmerte matt die polierte Seite eines Gedenksteins für einen früheren Danziger Bürgermeister. Der mächtige Stein ruhte auf einem Sockel unbehauener Granitblöcke. Und – an diesem Sockel bewegte sich etwas, eine menschliche Gestalt, richtete sich jetzt auf, blickte wieder scheu um sich und eilte dann erneut der Allee zu.
Gromps Phantasie begann zu arbeiten. Blink hatte die kleine Handtasche, die er jetzt in der Linken trug, vorhin nicht bei sich gehabt, sie mithin aus jenem Versteck geholt, aus einem Loche zwischen den Sockelblöcken! Merkwürdig – sehr merkwürdig für einen Privatdozenten! Freilich – in letzter Zeit sollte dieser bescheidene Heinz Blink, den alle für einen Musterknaben hielten, sich ganze Nächte in den übelsten Danziger Lokalen herumgetrieben haben!
Blink schritt jetzt wie einer, der es sehr eilig hat, dem Olivaer Tor zu. Gromp gab ihm einen Vorsprung, lief dann auf die andere Seite der Allee hinüber und ging ihm nachher gemächlich pfeifend entgegen, obwohl er ganz außer Atem von der ungewohnten Bewegung war. Und so fehlten dem Walzer, den er pfiff, hin und wieder ein paar Takte.
Die Entfernung zwischen den beiden einsamen Spaziergängern verringerte sich schnell. Nun war es soweit, nun trat Gromp auf den Doktor zu, lüftete den Hut.
„Könnte ich Feuer für meine Zigarette bekommen? – Ah – Sie sind’s, Herr Doktor. Auch noch unterwegs? Sie wollen wohl verreisen. Die Handtasche –“
Der andere musterte Gromp wie einen Fremden, sagte dann unhöflich: „Sie irren sich, ich bin nicht Doktor, kenne Sie auch nicht. Streichhölzer habe ich nicht bei mir.“
Er wollte weiter.
Der Assessor vertrat ihm den Weg.
„Einen Moment noch. Sie wollen also durchaus nicht Doktor Blink sein. Meinetwegen. Blink wäre auch wohl höflicher gewesen. Jedenfalls, das Versteck für Ihre Handtasche war recht gut gewählt.“
Gromp war wirklich im Zweifel, ob er Blink oder nur einen Herrn vor sich hatte, der ersterem auffällig glich.
Der Fremde hatte bei der Erwähnung der Handtasche den Kopf, den er bisher wohl absichtlich tief gesenkt hatte, schnell gehoben. Ein paar drohende Augen funkelten den Assessor an, und eine unangenehme heisere Stimme, die vorhin ganz anders geklungen, stieß nun in höchster Erregung die Worte aus:
„Wer – wer sind Sie, zum Teufel?“
„Das werden Sie sehr bald –“
Weiter kam Gromp nicht. Blitzschnell hatte der andere den rechten Arm gehoben.
Ein kurzer, harter Knall.
Erwin von Gromp reckte sich hoch, als setze er zum Sprung an, sank dann aber wie eine haltlose Masse schwer zur Seite. –
Referendar Brunner kam von der „Vandalen-Kneipe“, wo heute das Ehrenmitglied, Hochschulprofessor Schütte weggefeiert worden war.
Mucki schämte sich. Er hatte zu viel getrunken. Er vertrug nichts mehr. Da sollte die kühle Nachtluft die Alkoholgeister vertreiben helfen. Am Olivaer Tor stellte er fest, daß es ihm im Kopf bereits viel klarer war. Donnerwetter – er war tatsächlich regelrecht betrunken gewesen! Das sollte Gisela wissen! Zur Strafe würde sie ihn recht kurz mit Zärtlichkeiten halten. Seine liebe, kleine Gisela. Sein Kirchenmäuschen! Was war’s doch für ein süßes, wonniges Geschöpfchen!
Mucki blieb unter der nächsten Laterne stehen und nahm Giselas Bild aus der Brieftasche hervor, betrachtete es lange und wollte es dann an die Lippen führen. –
Wollte! –
Vor ihm ertönte ein Schuß.
Gisela war vergessen. Hier in der Großen Allee zu dieser Stunde ein Knall, der nur von einer modernen Selbstladepistole dem Klange nach herrühren konnte! Das war etwas so Ungewöhnliches, daß man mit Recht auf allerlei ernste Vermutungen kommen konnte!
Da – da lief ja auch ein Mensch mit langen Sprüngen über den Fahrdamm. Und – von dort, wo der Schuß soeben gefallen, drangen Rufe herüber: „Halt auf, halt auf!“
Karl Brunner begann gleichfalls zu laufen – nein, zu galoppieren, stürmte jedoch nicht blindlings vorwärts, sondern hielt sich auf einer Linie, die ihn dem Flüchtling drüben gerade in den Weg führen mußte. Doch der Mann war auf seiner Hut, hatte die Augen überall. Kaum gewahrte er diesen neuen Verfolger, als er auch schon einen Haken schlug und auf den Steffenspark zuhielt, der gerade an dieser Stelle mit dichten Gebüschgruppen bis nahe an die Allee heranreichte.
Der Referendar wußte, war der Fliehende erst einmal dort im Park, so fing ihn niemand mehr. –
Deshalb begann er nun ebenfalls „Halt auf, halt auf!“ zu brüllen. In den dunklen Wegen des Steffensparkes patrouillierten nachts regelmäßig Schutzleute, auch Kriminalbeamte in Zivil. Vielleicht war einer der Beamten in der Nähe.
Da – ganz plötzlich machte der Flüchtling halt, so plötzlich, daß Brunner, der sich jetzt halb rechts von ihm befand, durch eine geringe Schwenkung die Entfernung zwischen beiden sehr schnell verringern konnte. Der Mensch war, wie ein kurzer Blick vorwärts zeigte, so gut wie eingekreist. Denn vom Steffenspark her schimmerten jetzt vier helle Studentenmützen, deren Besitzer wohl auf dem Heimweg von Danzig nach Langfuhr durch den Park gewandert waren.
Ja – richtig eingekreist, und daher wollte er jetzt auch nach der Seite Brunners hin durchzubrechen versuchen, setzte sich wieder in Trab und zwar gerade auf den Referendar zu, der sofort ahnte, daß der Mann sich gewaltsam freie Bahn schaffen würde.
Brunner stand still und beobachtete den Näherkommenden scharf. Noch zehn – acht, fünf Schritt. Nun streckte der Mensch mit einer blitzschnellen Bewegung den rechten Arm vor. Und aus der geschlossenen Faust dieses drohenden Armes sprang ein kleiner voller Feuerblitz. Der Referendar hatte sich, vorbereitet auf einen derartigen Angriff, noch rechtzeitig zur Seite geschnellt, hatte auch seinen schweren Ebenholzstock mit der dicken, silbernen Krücke in Gestalt eines Pferdekopfes längst so gefaßt, wie er ihn am besten als Waffe benutzen konnte.
Ein zweiter dünner Feuerstrahl sprang aus der vorgereckten Hand heraus. Doch auch diese Kugel ging fehl, da in demselben Moment, als der Flüchtling den Abzug der Pistole mit dem gekrümmten Zeigefinger berührte, der mit aller Kraft geschleuderte Stock ihn mitten ins Gesicht traf. Die Krücke schlug gegen die Oberlippe, nachdem sie die Nase stark gestreift hatte, und der plötzliche Schmerz genügte, der Pistolenmündung eine andere Richtung zu geben.
Dann war Brunner auch schon ganz nahe, holte aus, versetzte dem Revolverhelden einen regelrechten Boxhieb dicht unter die Herzgegend, gleichzeitig einen Fußtritt vor den Leib. So hatte er es seinerzeit als Student in Berlin bei einem japanischen Lehrer des Dschiu Dschitsu[4] eingeübt.
Der Flüchtling klappte um wie ein gefällter Baum und, während er zu Boden sank, nahm sein Kopf eine solche Stellung für einen Augenblick ein, daß Brunner das Gesicht im Schein der nächsten Laterne, deutlicher sehen konnte.
„Herr Gott – Doktor Blink!“ entfuhr es dem Referendar unwillkürlich. Ganz versteinert stand er da, starrte auf die regungslose Gestalt. Doktor Blink? Das – das konnte ja nicht sein!
Gleichzeitig näherten sich jetzt von der einen Seite die Studenten, von der anderen ein einfach gekleideter, älterer Mann und ein Polizeibeamter.
Brunner wurde mit Fragen überschüttet, gab recht verkehrte Antworten. Er dachte nur immer dasselbe: „Was mag Blink nur zu dieser Flucht und dieser Gewalttätigkeit veranlaßt haben?!“
Der Schutzmann wurde jetzt beinahe grob zu Brunner.
„So reden Sie schon, Herr! Sie sind doch auch hinter dem da hergelaufen, haben „Halt auf!“ gerufen! Es handelt sich hier um keine Lappalie. Dort drüben liegt einer mit einem Loch in der Stirn. Und der hier scheint der Täter zu sein.“
„Ausgeschlossen!“ mischte sich ein langer Student ein. „Der hier liegt, ist der Privatdozent Doktor Blink, und –“
In diesem Augenblick richtete Blink sich auf, schaute wild um sich, stöhnte, krümmte sich vor Schmerzen im Unterleib eng zusammen und rief dann ganz jämmerlichen Tones: „Ich – wurde – überfallen – schoß aus Notwehr –“
Und zu Brunner mit verzerrtem Lächeln:
„Entschuldigen Sie. In Ihnen glaubte ich – einen zweiten Wegelagerer. Ach – die Schmerzen! Die Schmerzen! Dort kommt – Auto – anhalten – nach Danzig in ein Lazarett – schnell – schnell –“
Der Schutzmann, dem Brunner sich jetzt als Gerichtsreferendar vorstellte, trat dem eleganten Kraftwagen in den Weg, verhandelte mit dem Besitzer, einem Danziger Kaufmann, der mit seiner Gattin auf der Heimfahrt nach Langfuhr begriffen war, und wollte dann Blink in das Auto helfen, da er dessen Persönlichkeit für einwandfrei festgestellt hielt. Doch Blink wehrte ab, erhob sich mühsam, nahm die kleine Handtasche vom Boden auf, lehnte Brunners Anerbieten, ihn zu begleiten, dankend ab und stieg stöhnend in den Kraftwagen.
Brunner, die Studenten und der älterer Mann, ein Monteur, gingen mit dem Schutzmann nun nach dem linken Fußgängerwege hinüber. Der Monteur hatte den Erschossenen vorhin zuerst bemerkt, sofort die Verfolgung des fliehenden Täters aufgenommen und gleich darauf auf den Anruf des Polizeibeamten diesem erst Rede und Antwort stehen müssen.
„Bei der Geschichte stimmt irgendwas nicht,“ meinte er jetzt abermals brummig.
Der lange Student lachte ärgerlich auf.
„Der Doktor Blink ist die Harmlosigkeit selbst, mein Bester! Der mordet keinen, darauf können Sie Gift nehmen!“
Man war angelangt. Brunner stutzte sofort beim Anblick des Toten, beugte sich tiefer, taumelte zurück, stotterte: „Mein – mein Schwager – Assessor von Gromp –“
„Also ein ganz feiner Wegelagerer,“ sagte der Monteur ironisch.
Gisela hatte das Auto vom Balkon aus mit den Blicken verfolgt, bis es in die Große Allee einbog. Sie war etwas enttäuscht, hatte gehofft, die beiden Herren, mit denen sie vorhin diese hastige, halblaute Aussprache gehabt hatte, würden den Kraftwagen anhalten, sich hineinsetzen und dann Runkel am Bahnhof festnehmen. Für sie stand es ja außer Zweifel, daß der Chauffeur den großen Koffer nach dem Bahnhof schaffen sollte. Deshalb hatte sie den Riesen auch weiter gar nicht danach gefragt.
Sie kehrte nun wieder ins Wohnzimmer zurück. Jede Spur von Müdigkeit war verflogen. Und doch wollte die Arbeit ihr nicht recht von der Hand gehen. In Gedanken prüfte sie nochmals all die Fragen, die Erich Ring vorhin von Balkon zu Balkon an sie gerichtet hatte. Ob sie nicht vielleicht in Runkels Zimmer ein Stöhnen gehört habe oder ähnliche Laute, als er den Koffer zu packen schien? –
Und derlei unverständliche Fragen hatte es mehrere gegeben. Was bedeutete das alles nur? Wie kam Ring in Doktor Blinks Wohnung? Woher kannten die beiden sich? –
Gisela grübelte und grübelte. Die Herren hatten ihr versprochen, ihr später alles zu erklären. Alles? –
Nun, daß die Eule ein Verbrecher oder doch eine recht fragwürdige Persönlichkeit war, brauchte ihr niemand mehr zu sagen. Nur – was mochte es mit dem Stöhnen auf sich haben?! Da gab es ohne Zweifel bei dieser Flucht doch noch Begleitumstände, die sie nicht kannte.
Gisela ließ plötzlich die Stickerei sinken. Hatte sie etwa vorhin vergessen, im Flur das elektrische Licht auszudrehen? Sie wollte doch gleich einmal nachsehen. –
Wirklich – der Flur war hell. Gisela schaltete die Lampe aus. Ob sie nicht nochmals auf den Balkon ging? Vielleicht gab es auf der Straße doch etwas zu sehen. Oder die beiden Herren standen wieder drüben und lauerten auf Runkel. Oder – oder Mucki war vielleicht gerade heimgekehrt und lag im Fenster.
Die Morgendämmerung hatte bereits begonnen. Das fahle Halbdunkel des neuen Tages gestattete Gisela, alles ringsum ziemlich deutlich zu erkennen. Vorsichtig den Kopf zwischen dem blühenden Inhalt der Blumenkästen der Balkonbrüstung verborgen haltend, spähte sie erst nach links. Doch das Nebenhaus lag wie ausgestorben da. Dann hörte sie unten auf der Straße einen festen Schritt. Das – das mußte Mucki sein!
Ja – er war’s!
Schnell zog sie den Kopf noch weiter zurück. Ah – Mucki kam auf ihr Haus zu und schaute, mitten auf der Straße stehen bleibend, zu ihren Fenstern empor.
„Er denkt an mich!“ sagte sich Gisela gerührt, beugte sich jetzt über die Brüstung und rief ihm leise zu:
„Guten Morgen, Nachtschwärmer!“
Auch hier zwischen dem Liebespaare kam das leise geführte Gespräch sehr bald auf Traugott Runkel. Und wenige Minuten später huschte Gisela die Treppen hinab, da ihr Mucki behauptete, er müsse sie unbedingt ausfragen.
So erfuhr Gisela, daß Blink in der Großen Allee Gromp erschossen habe – vor etwa einer Viertelstunde. Und Brunner fügte hinzu: „Mithin ist es unmöglich, daß du vor ebenfalls einer Viertelstunde etwa den Doktor drüben auf dem Balkon gesprochen hast. Du mußt dich in der Zeit irren, Liebling, ganz sicher. Eure Unterhaltung von Balkon zu Balkon muß länger zurückliegen.“
„Nein – ganz bestimmt nicht, Mucki. Allerhöchstens zwanzig Minuten.“
Brunner schüttelte den Kopf. „Unbegreiflich! – Allerdings – an jenem Blink in der Großen Allee kann man doch, wenn man wie ich jetzt in Ruhe sich alles ins Gedächtnis zurückruft, verschiedene recht wichtige Unterscheidungsmerkmale zu unserem Blink hier feststellen: Sprache, Mienenspiel, Augenausdruck. – Herr Gott – wenn jener Mensch nun gar nicht der echte Blink gewesen ist?! Und ich habe mich dem Schutzmann gegenüber dafür verbürgt!“
Sehr bald stürmte Brunner dann nach hastigem Abschied von seinem Bräutchen der Großen Allee wieder zu. –
Wendler und Blink hatten im Hausflur gestanden, als das Auto nebenan vorfuhr, das den Koffer fortschaffen sollte. Nachdem der riesige Chauffeur zu Döbberkes hinaufgegangen war – Runkel hatte ihm offenbar den Hausschlüssel mitgegeben! –, verließen die beiden Männer ihren Beobachtungsstand und gingen über den Hof und durch den großen Garten auf Umwegen der Allee zu, wo sie sich an der Einmündung der Winterfeldstraße im Schatten der Bäume verbargen. Wendler wollte das Auto absichtlich erst hier anhalten, da er fürchtete, Runkel könne in die Nähe seiner Wohnung zurückgekehrt sein, um heimlich zu beobachten, ob der Chauffeur mit dem Koffer vielleicht irgendwie belästigt oder sich sonst etwas Verdacht erregendes ereignen würde.
Wendler rechnete damit, daß Runkel bisher nicht ahnte, wie gut sein hartnäckiger Verfolger auch über die Ereignisse der letzten Stunden unterrichtet war, und daß man ihn gerade mit Hilfe des Koffers fangen würde.
Die beiden Verfolger hatten erst wenige Minuten an der Straßenkreuzung gewartet, als Blink auch schon das Auto meldete. Der Doktor, der vor Ungeduld immer wieder auf den Fahrdamm getreten war, um die Winterfeldstraße entlang zu spähen, wurde jetzt von dem Kommissar ziemlich energisch in den Schatten der Bäume zurückgerufen.
„Sie werden noch alles verderben!“ meinte Wendler ärgerlich. „Zu einem Geschäft wie diesem hier gehört in erster Linie ruhig Blut.“
„Leicht gesagt! Ich werde die Angst nicht los, daß der Mensch Holm ermordet hat und die Leiche nun verschleppen will.“
Der Kraftwagen sauste heran. Wendler stellte sich ihm in den Weg, rief dem Chauffeur entgegen: „Halt – Polizei!“ und befahl dann, das Auto solle in eine enge Nebenstraße einbiegen, wo es nur langgestreckte Privatgärten gab. Die beiden Herren fuhren die kurze Strecke, auf dem Trittbrett stehend, mit.
Der Chauffeur gab bereitwilligst über alles Auskunft, was den Koffer anging. Ein jüngerer Herr habe ihn in der Nähe des Olivaer Tores angehalten und gleich im Voraus bezahlt. Den Koffer solle er nach dem Hotel „Continental“ am Hauptbahnhof bringen und dort dem Nachtportier übergeben.
Blink trat jetzt näher, da Wendler von dem Chauffeur den Koffer auf die Straße stellen ließ. Der Riese ging mit dem mächtigen Dinge wie mit einem Spielzeug um. Gerade als er den Koffer etwas von den Rädern abrückte, fiel sein Blick auf den Doktor.
Er stutzte, schaute genauer hin, richtete sich auf und meinte brummig zu Wendler:
„Herr Kommissar, Sie haben mir zwar Ihre Legitimation gezeigt, – aber – nun ja, – der – der Herr dort, das ist ja derselbe, der mir den Kofferabholauftrag erteilt hat.“
„Wohl nur scheinbar derselbe,“ lenkte Wendler schnell ab. „Im übrigen geht Sie das nichts an. Nehmen Sie jetzt einen großen Schraubenzieher und brechen Sie die beiden Schlösser auf, ohne sie zu arg zu beschädigen.“
Der Chauffeur zeigte sich recht geschickt. Der Deckel sprang auf. In den Koffer lag unter schmutziger Leibwäsche geknebelt und gefesselt der Vermißte.
Wendler fühlte als erstes nach dem Puls.
„Alles in Ordnung,“ meinte er. „Holm ist nur bewußtlos. Heben wir ihn heraus und legen ihn ins Auto.“
Der Chauffeur fluchte. „Na so ein Kerl! Also eine solche Fracht hat er mir besorgt! Da kriegt man bloß Scherereien mit der Polizei!“
Heinz Blink war glücklich, daß er seinen Hug lebend wiedergefunden hatte. Holm wurde sofort nach seiner Wohnung geschafft, wo die Haushälterin ihn mit Hilfe Wendlers sehr bald ins Bewußtsein zurückgerufen hatte. Er wollte natürlich allerlei Fragen stellen, mußte sich aber auf Geheiß Wendlers vorläufig ruhig verhalten und sich damit begnügen, seinen Befreiern dankbar zuzunicken, die alsbald das vor dem Hause harrende Auto wieder bestiegen und nach dem „Continental“ fuhren. Hier erklärte der Nachtportier dem Kommissar, er sei vor vielleicht zwanzig Minuten von einem Herrn, der sich Baron von Leibnitz nannte, angeläutet und gebeten worden, einen Koffer, den ein Chauffeur ihm abgeben würde, um acht Uhr morgens, wenn bis dahin keine andere Nachricht käme, gewaltsam öffnen und den zu oberst liegenden Frackanzug zu Oberbürgermeister Schlichting, Holzgasse 14, senden. Die Schlüssel – so habe der Baron hinzugefügt – habe er leider verlegt. Jedenfalls soll aber der Koffer nicht vor acht Uhr erbrochen werden, da der Frackanzug doch vielleicht nicht gebraucht werden würde und dann noch Gegenordre käme.
Wendler verbarg seine Enttäuschung, ließ den Koffer im „Continental“, schickte das Auto weg und schlug mit Blink die Richtung nach dem Polizeipräsidium ein. Der Doktor fragte erst nach einer Weile etwas kleinlaut den Kommissar, ob noch Aussicht bestehe, Runkel abzufassen, der doch sicherlich das „Continental“ nicht aufsuchen würde.
Wendler nickte. „Ein schlauer Halunke! Um acht Uhr sollte Holm gefunden werden! Dann hoffte Herr Traugott eben längst über alle Berge zu sein. Ich werde mir jetzt ein paar Kriminalbeamte zuweisen lassen, damit wir den Bahnhof scharf überwachen können. Einem Verkleidungskünstler wie Runkel kann man zutrauen, daß er vielleicht gar als Dame zu fliehen sucht.“
Auf der Wache des Präsidiums meinte der eine Schutzmann dann, es täte ihm sehr leid, aber zur Zeit seien alle Kriminalbeamten dringend beschäftigt. Auch der Kriminalkommissar vom Nachtdienst wäre noch unterwegs. Man habe in der Großen Allee vor etwa einer halben Stunde den Regierungsassessor von Gromp erschossen aufgefunden. Der Verdacht habe sich notwendig sofort auf den Privatdozenten Doktor Blink gelenkt, der –
Hier unterbrach Wendler den Beamten mit einem:
„Auf wen gelenkt? Doktor Blink?“
„Allerdings, Herr Kommissar. Der Fall liegt ganz klar.“
Wendler und Blink schauten sich an. Wendler zuckte die Achseln, meinte dann:
„Dieser Herr hier ist Doktor Blink – der echte Doktor Blink, mit dem ich seit Stunden zusammen bin, der also auch nicht den Assessor erschossen haben kann. Der Täter dürfte sich nur für Blink ausgegeben haben. – Erzählen Sie mir, wie die Sache in der Großen Allee sich abgespielt hat.“
Der Schutzmann hatte Blink scharf gemustert.
„Ganz recht, Herr Kommissar, dieser Herr hier kann mit dem Täter nicht identisch sein, da dieser im Gesicht eine frische Verletzung – eine blutig geschlagene Oberlippe – haben muß.“
In diesem Moment trat Brunner sehr hastig ein. Beim Anblick des Doktors prallte er förmlich zurück.
„Sind Sie nun Doktor Blink oder sind Sie’s nicht?“ fragte er dann unsicher, fügte aber sofort hinzu: „Sie sind der echte Blink! Ich sehe es schon! Ihr Oberlippe –“
Da mischte sich der Schutzmann ein.
„Herr, wer sind Sie denn nun? Sie befinden sich hier –“
Brunner lachte ärgerlich auf, fiel dem Beamten ins Wort: „Weiß ich alles – und noch verschiedenes mehr. Ich bin der Gerichtsreferendar Brunner und einer der Hauptzeugen in der neuen Sache Gromp. Ich suche den Kriminalinspektor Pelcher, der vorhin in der Großen Allee am Tatort die ersten Feststellungen machte. Ich habe ihm wichtiges mitzuteilen – besser, ich hätte ihm verschiedenes mitzuteilen gehabt, falls nicht eben diese beiden Herren bereits durch ihre Anwesenheit hier mich dem überhoben hätten.“
Wendler stellte sich jetzt Brunner vor und fragt ihn dann: „Dürfte ich wissen, was Wichtiges Sie –“
„Gewiß – gewiß! Es handelt sich um das, was Fräulein Döbberke Ihnen mitgeteilt hat, außerdem aber auch um Zweifel, die in ihr aufgestiegen sind, ob der, der Gromp erschossen hat, wirklich Doktor Blink gewesen sein kann!“
„Ausgeschlossen,“ sagte Wendler überstürzt. „Schnell, erzählen Sie ganz kurz, was in der Großen Allee vorgegangen ist.“
Brunner berichtete alles im Depeschenstil. Wendler rief einmal dazwischen: „Ah – der geriebene Bursche! Welche Geistesgegenwart, sich mit dem Auto angeblich in ein Lazarett bringen zu lassen!“
„Angeblich?!“ meinte Brunner. „Der Mensch war durch meinen Fußtritt so böse zugerichtet, daß –“
Wendler hob mit ironischem Lächeln die Schultern. „Böse zugerichtet?! Und er steigt selbst ins Auto, ohne fremde Hilfe, hebt vorher noch die Handtasche auf! Ne, verehrtester Herr Referendar, da kennen Sie Traugott Runkel schlecht; der hat die Schmerzen nur simuliert!“
„Traugott Runkel?! Was – was heißt denn das nun wieder?!“ rief Brunner völlig verwirrt. „Was hat den Runkel mit –“
„Nachher – nachher!“ vertröstete Wendler ihn kurz, da der Schutzmann ihm soeben mitgeteilt hatte, daß Inspektor Pelcher draußen vorgefahren sei.
Dieser, von dem Beamten in die Wachtstube geholt, schüttelte Wendler erfreut die Hand. „Ah – auch die Berühmtheiten unseres Berufs verirren sich mal wieder nach Danzig! – Kann ich Ihnen irgendwie gefällig sein, Kollege?“
„Ja. – Zunächst aber, hier steht der echte Doktor Blink!“
„Wahrhaftig?! Aber –“ Der Inspektor schaute Blink ins Gesicht. „Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich suche nach der Wunde, die Referendar Brunners Stock geschlagen hat, – geschwollene, blutunterlaufene Oberlippe. Nein, Sie können’s nicht sein, der Gromp niedergeschossen. Aber –“
Wendler dauerte das alles zu lange. „Kollege,“ unterbrach er den Inspektor, „das sind Nebensächlichkeiten! Ist bereits festgestellt, wohin das Auto den angeblichen Blink gebracht hat? – Ich fürchte, er befindet sich dort, wo er am schwersten aufzustöbern ist, nur nicht in einer Klinik, einem Krankenhause oder auf einer Unfallstation!“
„Ganz recht! Denken Sie, als wir bei dem Kaufmann Meinhard in Langfuhr anfragten, erklärte der vom Bett aus – so bequem macht’s den Reichen die Quasselstrippe – der Verletzte habe dicht vor dem Hauptbahnhof gebeten, ihn doch lieber zu dem ihm befreundeten Arzt Doktor Gerster zu bringen, was dann auch geschehen sei. Ob der Herr wirklich das betreffende Haus betreten habe, nachdem er scheinbar die Nachtglocke des Arztes gezogen hatte, wissen wir nicht.“
„Und Doktor Gerstel?“ fragte Wendler augenzwinkernd.
„Kennt Doktor Blink nur ganz oberflächlich und hat keinen Patienten bei sich.“
„Aha! Wie ich sagte! Alles Spiegelfechterei!“ triumphierte Wendler, drehte sich dann wieder Brunner zu, fragte: „Sie meinen also, die Oberlippe des von uns Gesuchten muß unbedingt dick geschwollen sein?“
„Ja. Ich schleuderte den Stock mit aller Kraft.“
„So – dann ist es für Runkel nicht leicht, zu entwischen. – Kollege, was haben Sie angeordnet?“
Der Inspektor klärte Wendler über alle getroffenen Maßnahmen auf. Dieser war damit einverstanden.
„Nur schicken Sie bitte jemand nach dem Hauptbahnhof, damit Ihre Leute besonders auf dicht verschleierte Damen – die Oberlippe muß ja verdeckt werden! – achtgeben.“
Blink war es dann, der vorschlug, im nahen Cafee „Deutsches Haus“, das die ganze Nacht über geöffnet war, sich ein wenig zu stärken. Wendler hatte nichts dagegen. „Der erste Zug geht ja erst um vier Uhr fünfzehn Minuten ab,“ meinte er drohend. „Den werde ich selbst durchsuchen. Das müßte doch schon ganz toll hergehen, wenn ich den Kerl nicht herausfinden sollte, falls er die Eisenbahn benutzt.“
Holm hatte eine Stunde fest wie ein Toter geschlafen, nachdem Heinz Blink und Wendler ihn verlassen hatten. Jetzt erwachte er. Es dauerte doch eine Weile, bis er sich auf all das folgerichtig besann, was ihm heute passiert war. Grübelnd starrte er in das rosige Licht des kleinen Nachtlämpchens, murmelte dann: „Eine nette Niederlage war’s! Der Kerl hat mich gehörig reingelegt, sogar in seine schmutzige Wäsche – pfui Deubel! – als chloroformierten Leichnam!“
Da kam Frau Anastasia Krech leise ins Schlafzimmer geschlichen, was sie so etwa alle fünf Minuten getan hatte, um sich zu überzeugen, wie es ihrem Herrn ging.
„Jotte doch man, Sie sind ja munter, Herr Holm!“ rief sie jetzt, am Fußende des Bettes stehen bleibend. „Ne, das jeht aber nich, Herr Holm. Doktor Blink hat mir extra warm ans Herz jelegt, dafür zu sorgen, daß Sie bis zum Morgen fest durchschlafen. Also – nu drehn Sie sich gefälligst mit ’n Kopf nach der Wand und drusseln wieder ein! – Ich hab’s ja immer schon gesagt, Sie werd’n mal düchtig bei diese Jeschichten, mit die Sie sich abjeben, ohne ’s nötig zu haben, eins ausjewischt krieg’n! Ich weeß ja nich, was für’n fauler Zauber ’s wieder war, wo sie jetzt zusammen mit dem Berliner Herrn die Nase rinnjesteckt hab’n und was eigentlich in dieser Nacht vorjefallen. Aber so viel is ja wohl sicher, diesmal sind Sie an eenen jeraten, der Ihnen über war! Ehrlich, ’s freut mir beinahe! Denn nu wird’n Sie ja hoffentlich ’ne Weile Ruhe halten! Gebranntes Kind scheut’s Feier!“
„Herzlichen Dank für diese Art von warmer Teilnahme!“ meinte Holm brummig. „Wie spät haben wir’s, Frau Krech?“ fügte er, sich aufrecht setzend, hinzu.
„Bleiben Sie jefälligst lang liegen!“ fuhr ihn Frau Anastasia sofort an. „Sie scheinen nich zu wissen, daß auf so ’ne Nachosche –“
„Narkose!“ verbesserte Holm.
„Meinetwegen auch Narkose – also das darauf sehr oft der Magen sich total umkrempeln tut, wodurch mir viel Arbeit durch’s Waschen der Bettbezüge entstehen könnte. – Legen Sie sich hin, Herr Holm, sonst –“
„Na, sonst?“
„– sonst telephoniere’ ich nach Doktor Blink! Der wird Ihnen schon den Kopf zurechtsetzen. Auf mich arme Frau hör’n Sie ja nie, und dabei meint man’s doch nur jut mit Ihnen!“
„Das weiß ich, liebe Krechen! Wüßte ich’s nicht, würde ich mir dies Tönchen, daß Sie mir gegenüber so und so oft anzuschlagen belieben, wahrlich nicht gefallen lassen. Bei ihnen hab ich’s ja schlimmer, als ob ich verheiratet wäre!“
„Na – dann heiraten Sie doch und kündigen mir.“
„Werd’ mich hüten! Selbst wenn ich heirate, behalte ich Sie! Sie sind nur äußerlich eine Zweizentnerxanthippe, innerlich ein elfenhafter Engel, vorausgesetzt, daß Engel so gut Aal in Dill zu kochen verstehen wie sie! – Also, wie spät ist’s.“
„Sie sollen schlafen! Morgen um neun wecke ich Sie schon.“
Die arme Krech hatte Pech.
Denn jetzt gerade schlug im Nebenzimmer die alte Standuhr drei.
„Aha!“ lachte Hug Holm, „Drei! – Tun Sie mir einen Gefallen, Anastasiachen, dreh’n Sie die Uhr bis auf neun vor und bilden Sie sich dann ein, es sei neun, Sie haben mich eben geweckt, wollen wir jetzt den Kaffee bringen und die Brötchen!“
„Was – was heißt das?“
„Das heißt, ich stehe jetzt auf! Ich wäre vielleicht artig liegen geblieben, wenn Sie nicht in Ihrer herzerfreuenden Anteilnahme vorhin geäußert hätten, diesmal wär’ ich an einen geraten, der mir über war! – Sehen Sie, Krechen, das kann ich nicht auf mir sitzen lassen, wirklich nicht! Bisher sind ja all die – Jeschichten, wie Sie meine kleine Liebhaberei bezeichnen, stets mit einem Defizit für die Gegenspieler ausgegangen. Mein Ehrgefühl läßt es nicht zu, daß – na kurz und gut, in fünfzehn Minuten wünsche ich Kaffee und zwei Brötchen sowie weiche Eier im Eßzimmer vorzufinden! Damit basta! – Keine Widerrede, Frau Krech! Heute verstehe ich keinen Spaß! Sie haben zu gehorchen! Ich fühle mich wieder leidlich frisch und kann deshalb unmöglich hier im Bett abwarten, um einen der geriebensten Halunken Europas und der umliegenden Dörfer zu fangen. – Bitte – raus jetzt! Ich erhebe mich von meinem Lager!“
Brummend zog Frau Anastasia ab.
Fünfzehn Minuten später stand Holm am Tisch im Eßzimmer und schnitt dem ersten Ei den Kopf ab.
Frau Krech warnte: „Essen Sie langsam, Herr Holm! Denken Sie an die Nachosche!“
„Das klingt wie Nachthose, aber nicht wie Nar – kose! – Bringen Sie mir jetzt den weichen Filzhut, den Lodenumhang und den Lederstock mit der Stahlstange drin.“
„Herr Jott – jrade diesen Knüppel! Dann woll’n Sie sich also nochmals auf so’n faulen Zauber –“
„Bitte, – tun Sie, was ich ihn befahl!“
Und wieder fünf Minuten später rief Hug Holm eine leere Taxameterdroschke an und ließ sich nach dem Polizeipräsidium fahren.
Anastasia Krech räumte die Teller des verfrühten Morgenimbisses weg und hielt dabei halblaute Selbstgespräche, wie es so ihre Art war.
Dann goß sie sich den Rest des Kaffees in ihre große Blumentasse, setzte sich an den Küchentisch, trank mit Behagen und war – doch sehr unzufrieden mit sich.
„Ich hätt’ ihn nich ans Heiraten erinnern solln. Man kann nie wissen! Freilich – er hat sich ja schon mal die Finger verbrannt. ’s war so eine, die nur nach Geld jing, die ihn Schätzchen und Teuerstes nannte und doch nur an sein Bankjuthaben dachte! Trotzdem muß er sie lieb jehabt hab’n. Armer Mensch! Mein Sel’ger wär’ doch auch mordsunjlücklich jewesen, wenn ich ’n nur von wejen seine Ersparnisse jenommen und er ’s dann – na nu – die Jlocke? Wer will denn so mitten in der Nacht noch zu uns?! Natürlich – ’s wird auch wieder mit die Jeschichte von heute zusammenhäng’n. – Wenn er sich bloß diesen Fimmel abjewöhn’ würd’, die Kriminaler ins Handwerk zu pfuschen.“
Sie ging in den Hausflur hinaus, drehte das elektrische Licht an und fragte dann durch die Tür hindurch:
„Wer is da? Einer von die Polizei?“
„Doktor Blink! – Öffnen Sie bitte!“
Sie tat’s.
„’n Abend, Herr Doktor. – Jut daß Sie kommen. Er is aufjestandn und – heidi – wej! – So ’n Leichtsinn!“
„Wirklich – sehr leichtsinnig! – Doch – wir wollen in die Wohnung gehen. Ich habe hier etwas zu erledigen.“
Dann standen die beiden unter der eingeschalteten Krone im Herrenzimmer.
„Jotte doch, Herr Doktor,“ rief die Krech nun, „Sie sind ja janz voll Blut am Krajen, und die Lippe – beinah wie ’n Hühnerei so dick!“
„Ja, ich bin gefallen. – Geben Sie mir doch einen von Hugs reinen Kragen, und bringen Sie auch gleich seine Reisetasche mit. – Oder nein, lassen Sie nur. Ich suche mir schon selbst zusammen, was Hug braucht.“
„Ah, – Sie hab’n ihn jesprochn, Herr Doktor?“
„Vor kaum drei Minuten. Er hat was anderes vor. Deshalb bat er mich herzugehen. Ich war erst sehr ungehalten, weil er nicht im Bett geblieben war. – Entschuldigen Sie aber, – ich habe es sehr eilig. Packen Sie doch bitte mehrere belegte Brote ein, auch kalten Braten, – kurz, was Sie gerade vorrätig haben.“
„Gern, Herr Doktor, gern –“
Die Krech verschwand.
Der nächtliche Besucher sah sich prüfend in dem gediegenen und eigenartig eingerichteten Raum um, ging dann zum Schreibtisch, drehte die elektrische Stehlampe an, setzte sich und schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt, das er dann in einen Umschlag tat, den er wieder an „Herrn Hugo Holm“ adressierte, versiegelte und halb unter das Schreibzeug schob.
Sein Blick fiel zufällig auf ein blaugebundenes Büchlein, auf dessen Deckel zwei Wimpel und darunter in eingegepreßtem Druck die Worte standen „Jahresbericht 1909 bis 1910 des Segelklubs Gode Winde“.
Er nahm es zur Hand, blätterte darin, lehnte sich nachdenklich in den Schreibsessel zurück, pfiff plötzlich durch die Zähne, sprang auf und rief halblaut:
„Famos – ein Gedanke – großartig!“
Nochmals blätterte er in dem Büchlein.
Darin waren auf einer Seite die Fahrzeuge des Klubs aufgezählt; unter diesen gab es auch ein „Motorboot, acht Meter, 1907 von Heideck aus Hamburg, 22 Knoten“.
Dann ging er in das Schlafzimmer hinüber, nahm vom Schrank einen schmalen Lederkoffer, packte Wäsche, einen Anzug, Kammzeug usw. hinein, wechselte vor dem Spiegel den Kragen und begab sich wieder in das Arbeitszimmer.
Sehr bald erschien Anastasia Krech mit einem großen Päckchen.
„Hier, Herr Doktor! Das langt für zwei Tage,“ meinte sie. „Und hier ist auch das Reisefläschchen voll Kognak.“
„Sehr gut. – Halt – Zigarren sollte ich Hug ja auch mitbringen. – Dies scheint die beste Sorte zu sein. Die Kiste geht gerade noch in den Koffer hinein – so, jetzt noch das letzte, der Mammon! Hug hat wenig Geld bei sich. Sie sollen mir mitgeben, was Sie da haben. – Nur schnell! Sein Zug geht in einer halben Stunde.“
„Geld? – Na – das ist auch das erste Mal, daß er mich anborgt. Freu’ mich aber darüber! So’n lieber Herr – nur die Faxen mit’s Detektivspielen!“
Sie eilte davon, kam mit einem flachen Pappkästchen zurück.
„Bitte, Herr Doktor, – dies sind meine heimlichen Ersparnisse – dreitausend Mark –“
Er zauderte zuzugreifen. Dann sagte er hastig: „Hug wird’s Ihnen bald erstatten. Vorläufig reicht’s. – Gute Nacht – vielen Dank. Ich bin zufrieden mit Ihnen.“
Gleich darauf drückte die Krech die Haustür ins Schloß und kehrte in die Küche zurück.
„Ne – was man hier in dieser Wirtschaft nich allens erlebt!“ sprach sie kopfschüttelnd vor sich hin. „Und der Doktor – ich weiß nich, der – der kam mir heut’ so anders vor, soviel jemütlicher als sonst. Im jroßen Ganzen is er doch ziemlich still und trübsinnig stets. Und heute – heute – wie umjekrempelt, und auch die Bewejungen, – soviel frischer. Hm – eijentlich hat er mir heut’ viel besser jefallen. Na – nu aber rin in die Federn, sonst schlag’ ich mir die janze Nacht um die Ohren – von wejen den faulen Zauber mit ’s Detektivspielen von ihm –“
Die Krech schlief nachher den Schlaf der Gerechten – und der Ahnungslosen, denen die Schlechtigkeit der Welt und ihrer zweibeinigen Bewohner fremd ist.
Der nächtliche Besucher aber hatte sich in der stillen Straße erst nach allen Seiten sehr vorsichtig umgeschaut, bevor er aus dem dunklen Torwinkel eines Nebenhauses eine kleine Handtasche hervorholte, die er hier unter den mächtigen, schrägstehenden Prellstein geklemmt hatte.
Dann setzte er in aller Ruhe seinen Weg nach dem nächsten Droschkenhalteplatz fort. –
Das Cafee „Deutsches Haus“, wo Wendler, Inspektor Pelcher, Blink und Brunner einen Imbiß hatten einnehmen wollen, war noch recht besucht, zumeist von Studenten, die hier, jede Verbindung für sich, nach Münchner Muster ihre Stammtische hatten.
Die vier Herren nahmen absichtlich in einer stillen Ecke Platz. Brunner mußte dem Kommissar nochmals die Vorgänge in der Großen Allee ganz eingehend erzählen, wobei Wendler die Bemerkung machte, in der kleinen Handtasche hätten ohne Zweifel die Juwelen gelegen, denen er nun bereits Monate lang nachjage. Brunner wieder erfuhr erst jetzt, daß Traugott Runkel ein Juwelendieb und Hochstapler sei und weshalb der Kriminalbeamte von einer Verhaftung dieses Verbrechers bisher Abstand genommen habe, der ihm bereits vor zwei Monaten als Dame verkleidet in Berlin entschlüpft sei.
„Es gibt eben nichts, was dieser Mensch nicht fertig bringt,“ fügte Wendler hinzu. „In seiner Art ist er ein Genie. Er findet stets ein Mauseloch, in das er sich verkriecht und das er dann als Weg ins Freie benutzt.“
Gerade als die Herren dann aufbrechen wollten, erschien in der Drehtür des Eingangs – Hugo Holm. Blink sah ihn erst, glaubte natürlich an eine Sinnestäuschung, hörte dann aber auch Wendler rufen: „Wahrhaftig, Holm!“
Der kam in seiner gewohnten, nachlässigen Haltung näher, nickte den vieren lächelnd zu, setzte sich und sagte:
„Ich will doch schließlich auch mit dabei sein, wenn Runkel gefaßt wird. Mir geht’s bereits wieder vorzüglich. So eine kleine Narkose macht mir nichts.“
Er bestellte schwarzen Kaffee, zuckte zu Wendler Vorwürfen, mit seiner Gesundheit nicht allzu leichtfertig umzugehen, nur die Achseln und bat dann, man solle ihm jetzt genau berichten, was sich in dieser Nacht noch weiter abgespielt habe.
Als der Kommissar seinem Wunsche nachgekommen war, äußerte er sich gedehnt: „So – so, – Flucht mit der Eisenbahn, vielleicht als Dame? – Hm, möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wie nun, wenn Traugott ein Auto gechartert und sich nach einer entfernten Bahnstation der Hauptstrecke hat bringen lassen?“
„Oh – die Taxameter-Kraftdroschken sind sämtlich angewiesen worden, genau –“
„Schon gut, lieber Wendler. Alles ja sehr schön. – Entschuldigen Sie einen Augenblick.“
Es dauerte eine reichliche Viertelstunden, ehe Holm sich wieder am Tisch einfand. Auf seinem Gesicht lag ein besonderer Ausdruck, und Blink fragte denn auch sofort:
„Hug, du hast irgend etwas –“
„Stimmt, ich habe das getan, was die Polizei versäumt hat. Ich hoffe, wir werden unseren Mann um sechs Uhr im Netz haben. Er nur kann es sein, der sich vor kurzem bei Mix & Co. ein Auto bestellt hat. Ich habe nämlich soeben unsere drei Danziger Kraftwagenverleiher antelephoniert.“
Wendler machte ein ganz zerknirschtes Gesicht. „Daran habe ich nicht gedacht! – Also in einem geliehenen Auto will er entwischen. Wenn’s nur keine Finte ist! Jedenfalls werde ich den Frühzug nach Stettin trotzdem durchsuchen.“
„Ich helfe gern,“ meinte Holm. „Obwohl ich meiner Sache so ziemlich sicher bin! Unser Mann wird mit Hilfe von Mix & Co. verduften wollen.“
Die Herren blieben zusammen, bis es Zeit wurde, den Frühzug zu revidieren. Dann mußte Brunner im Cafee warten, damit der Tisch nicht besetzt würde, denn das Lokal hatte sich immer mehr gefüllt, weil gerade der Bund der Landwirte an diesem Abend eine große Versammlung gehabt hatte, die nun hier zwangloser bei leichter Musik und schwerem Wein fortgesetzt wurde.
Nach einer halben Stunde kehrten die vier vom Bahnhof zurück – natürlich ohne eine Spur von Runkel entdeckt zu haben! Man mußte also ausharren, bis man Mix & Co. besuchen konnte. –
In einer der verkehrsreichsten Straßen in der Nähe des Hauptbahnhofs lag das Autoverleihgeschäft Mix & Co. Um halb sechs betraten vier Herren den großen Hof der Firma und wurden von Herrn Mix persönlich in eine der Garagen geleitet, wo ein geschlossener Kraftwagen stand, den der Chauffeur soeben frisch mit Benzin versehen hatte. Die Vier stiegen ein, und die Türen der Garage wurden wieder geschlossen.
Wendler, der nun seine letzte Hoffnung auf diesen neuen Plan setzte, den man Holms Umsicht zu verdanken hatte, sagte nach einer Weile halblaut zu Blink:
„Weshalb mag Ihr Freund es nur abgelehnt haben, sich uns anzuschließen, wo er doch der Vater dieses Gedankens ist? Glauben Sie daran, daß er sich zu müde und abgespannt fühlt?“
Blink entgegnete, man könne bei Holm nie wissen, was er eigentlich vorhabe. Worauf Inspektor Pelcher wieder hinzufügte, Holm sei überhaupt eine sehr widerspruchsvolle Natur. „Ich habe mit ihm ja schon verschiedentlich zusammengearbeitet. Stets richtete er den Knalleffekt so ein, daß seine geistige Überlegenheit, die jeder auch ohnedies anerkennt, recht klar zu Tage trat.“
Worauf Referendar Brunner, der vierte im Bunde, Holm warm zu verteidigen begann. „Er ist doch überall beliebt – vielleicht bei den Damen nicht sonderlich – bei den unverheirateten! In eine Schablone paßt er allerdings nicht hinein.“
Die Zeit schlich. Die Herren in dem Auto, umgeben von dem Halbdunkel, das in der Garage herrschte, suchten eine Unterhaltung aufrechtzuerhalten, waren aber doch zu gespannt auf die kommenden Dinge, um einem anderen Gedankenstand Interesse entgegenzubringen.
Dann – endlich!
Das Tor der Garage wurde geöffnet. Der Chauffeur warf den Motor an, und das elegante Auto fuhr langsam in den Hof hinaus. Die vier Herren im Innern hatten sich, so gut es ging, ganz tief auf dem Boden zusammengekauert.
Jetzt hielt der Kraftwagen. Man hörte Herrn Mix sagen: „Gewiß, die Mitteilung genügt mir. Steigen Sie nur ein.“
Darauf eine helle Stimme: „Chauffeur, Sie fahren also zunächst bis zum Werder-Tor. Dort warten Sie.“
Die vier Versteckten hatten denselben Gedanken: „Er wird nicht einsteigen! Was nun?!“ –
Sie täuschten sich. Die linke Tür ging auf. Brunner hockte ihr am nächsten, schnellte hoch, sprang hinaus und packte den, der erschrocken zurückgeprallt war, fest am Arm. Sofort war auch Wendler draußen, rief nun dem blassen, jungen Menschen zu: „Im Namen des Gesetzes verhafte ich –“
Plötzlich stockte er, schaute den wie versteinert Dastehenden unsicher an und wandte sich darauf Herrn Mix zu. „Sie sagten doch soeben etwas von einer Mitteilung –“
„Allerdings,“ meinte der Geschäftsinhaber eifrig. „Dies ist nicht der Herr von Klitzing, der das Auto heute nacht telefonisch bestellt hat. Er ist nur sein Beauftragter, der mir die hundert Mark für die Fahrt bis Dirschau ausgehändigt und mir gleichzeitig als Ausweis einen Brief des Herrn von Klitzing übergeben hat.“
„Wer sind Sie?“ fragte Wendler hastig den jungen Menschen.
„Der Kellner Robert Marschall aus dem „Cafee Stern“.“
Marschall war gut einen Kopf größer als Runkel, dazu noch dürr wie eine Hopfenstange.
„Erzählen Sie, schnell!“ fuhr Wendler ihn an. „Wie machten Sie die Bekanntschaft des angeblichen Klitzing.“
„Er war heute der letzte Gast bei uns im „Cafee Stern“. Ich bediente ihn, und da bot er mir zwanzig Mark, wenn ich für ihn hier zu Mix & Co. gehen und das Auto bis an das Werder-Tor bringen würde.“
„Gab er Ihnen noch besondere Verhaltungsmaßregeln?“
„Nein, nicht. Es war ein sehr feiner Herr, der –“
„Schon gut. Hatte er eine Handtasche bei sich und eine geschwollene Oberlippe?“
„Handtasche? – Nein! Es war ein eleganter, schmaler Lederkoffer. Die Oberlippe freilich war sehr dick, und –“
Wendler winkte ungläubig ab, wandte sich an seinen Kollegen Pelcher und zuckte die Achseln. Der Inspektor nahm ihn beiseite.
„Wir beide fahren mit Marschall mit, natürlich wieder am Boden des Autos zusammengeduckt. Dann müssen wir ihn bekommen –“
„So – meinen Sie?! Na, Verehrtester, ich sage Ihnen, der feine Herr von Klitzing hat nicht umsonst den Kellner hergeschickt. Da kenne ich –“
Er schwieg plötzlich, hob den Arm, deutete auf das breite Hoftor, neben dem sich eine kleinere Pforte befand. Durch diese war soeben Hug Holm eingetreten.
Er kam sehr eilig auf die Gruppe der Herren zu, sagte dann hastig:
„Meine Berechnung stimmte diesmal nicht. Ich hatte mich von Ihnen getrennt, weil ich vermutete, unser Mann dürfte – in diesem Punkte war meine Vermutung richtig! – nur einen Vertreter herschicken, während er selbst von der Straße aus hier in den Hof hineinspähen würde, um festzustellen, ob die Luft auch rein sei, das heißt, ob nicht etwa gegen diesen Vertreter irgendwie vorgegangen werden würde. Deshalb hatte ich mich draußen vor dem Hoftor in einem Hausflur versteckt. Ich hätte mir’s sparen können! Unser „Freund“ blieb unsichtbar.“
Als ihm dann Wendler das Nötige über den Kellner Marschall und dessen Beziehungen zu „Herrn von Klitzing“ mitgeteilt hatte, schüttelte Hug Holm zweifelnd den Kopf.
„Sollte der Kerl wirklich so dämlich sein und am Werder-Tor einsteigen wollen?!“ meinte er. „Ich kann’s nicht recht glauben. – Na – wir werden ja sehen. – Los denn! Nach dem Werder-Tor! Wenn wir uns hinknien, haben wir alle in dem Auto Platz. Nur Sie, Herr Marschall, sitzen aufrecht und – machen ein recht harmloses Gesicht, stecken sich noch eine dicke Zigarren an und tun so, als ob alles in schönster Ordnung sei. – Übrigens – hatte der Klitzing Ähnlichkeit mit jenem Herrn da?“ Er zeigte auf Doktor Blink.
„Kolossale Ähnlichkeit – abgesehen von der dicken Lippe!“ bestätigte der Kellner etwas kleinlaut, da es ihm bei dieser ganzen Sache keineswegs wohl zumute war.
Das Auto ratterte davon.
Die fünf Herren hockten wie die Pökelheringe am Boden, während Robert Marschall sehr bequem dasitzend noch nie so billig Kraftwagen gefahren war.
Das Werder-Tor, noch als Festungstor gebaut, lag hinter einem großen, freien Platz, auf dem die Wochenmärkte für diesen Stadtteil abgehalten wurden.
Jetzt war der Platz leer. Nur zwei Straßenkehrer fegten die Rinn–steine, und in der Mitte neben dem kleinen Denkmal irgendeines berühmten Danziger Ratsherren stand ein sehr dicker Dienstmann und rauchte sein Pfeifchen.
Das Auto hielt. Der Kellner beugte sich aus dem Fenster. Von Klitzing war nirgends eine Spur zu entdecken.
Da kam der Dienstmann gemütlich angeschlendert.
„Warten Sie auf Herrn von Klitzing?“ fragte er Marschall, die Pfeife in den Mundwinkel schiebend.
„Ja. Er wollte hier –“
„Ne, das hat er sich nu anners überjelejt, verstehn Sie! Und deshalb hat er mir herjeschickt. Also er kommt nich, und Sie soll’n das Auto man wieder retour senden – verstehn Sie! – Vaflucht noch mal – da sitz’n ja noch – vier – fünf Leute drin! Was bedeutet denn dat – he?“
Hug Holm richtete sich auf, öffnete die Tür, sprang heraus.
„Wo und wann hat der Klitzing Ihnen diesen Auftrag erteilt?“ fragte er den Dienstmann.
„Na – so etwa zehn Minuten nach Abfahrt des Frühzuges nach Stettin im Hauptbahnhofwartesaal dritter Jüte ant Büffette, wo ich jrade einen hinter die Binde joß.“
„Sehen Sie sich mal den Herrn da an. Hatte Ihr Auftraggeber Ähnlichkeit mit diesem Herrn?“
Der Dienstmann stierte Doktor Blink ganz entgeistert an.
„Na da schlag’ doch einer lang hin! Das is er doch selbst! – Ne – Pardong –, dat kann nich stimmen. Der – der andere, der hatte ja offenbar in die Lippenjejend Bekanntschaft mit ’n harten Jejenstand jemacht.“
„Danke – das genügt mir!“ meinte Holm.
Da schaute der Rotbemützte ihn so forschend an.
„Nun – ich sollte noch wat bestellen, falls sich hier am Auto ein jewisser Herr Hugo Holm einfinden sollte. Sind Sie vielleicht Herr Holm?“
„Ja, freilich.“
Hug Holm ahnte Schlimmes!
„Na, dann hab’ ich Ihnen auszurichten, daß Herr von Klitzing Ihnen einen Brief unter Ihr Schreibzeug jelegt hat. Falls Sie ihn noch nicht da bemerkt haben, möchte’n Sie ’n doch recht bald lesen!“
„Rein ins Auto – zu mir nach Hause!“ rief Holm. „Dieser Halunke scheint mir wirklich über zu sein!“
Frau Anastasia Krech fegte gerade den Hausflur und gähnte sehr viel dabei, als der Kraftwagen vorfuhr.
Holm sprang heraus.
„Warten Sie einen Augenblick, meine Herren. Ich bin gleich wieder da.“
„Morgen, Krechen!“ begrüßte er seine Wirtschafterin. „Hat in der Nacht oder jetzt morgens jemand mich sprechen wollen?“
„Ne, Herr Holm. Nur Doktor Blink hat doch die Sachen und das Geld geholt.“
Holms Augen weiteten sich.
„Sachen – Geld? – Was soll das?“ schrie er, da auch seine Nerven jetzt zu rebellieren begannen.
„Jotte doch – brüll’n Sie doch nich so!“ meinte die Krech ängstlich. „Und Augen machen Sie – Augen!“
„Kommen Sie mit, Anastasiachen,“ bat Holm ganz sanft, denn inzwischen hatte er den ersten Schreck verwunden. „Gehn wir in mein Arbeitszimmer!“
Während hier Frau Anastasia haarklein alles erzählte, was mit dem Besuche des falschen Doktor Blink zusammenhing, riß Holm den Umschlag des Briefes auf, zog den Bogen heraus und las:
„Herr Hugo Holm! Geben Sie es auf, sich mit mir messen zu wollen! Ich habe ziemlich alles beobachtet, was Ihre Hilfstruppen, Wendler und Konsorten, unternommen haben. Jetzt sitzen Sie im Cafee „Deutsches Haus“. –
Ich ahnte, daß Ihr unanständig robuster Körper mit dem Chloroform bald fertig werden und sich dann in Ihnen sofort wieder Ihr Sonntagsjäger-Jagdeifer regen würde. Ich sah Sie soeben Ihr Haus verlassen und mit der Droschke davonfahren. Deshalb erlaube ich mir, jetzt hier diese kleine, hoffentlich recht einträgliche Gastrolle als Doktor Heinz Blink zu spielen. –
Leben Sie wohl! Sollten Sie mir nochmals in die Hände fallen, werde ich so liebenswürdig sein, Ihnen einige Vorträge zu halten, wie man selbst mit Ihrer Minderwertigkeit Verbrecher fangen kann!
Mit der entsprechenden Niedrigachtung Ihr
Runkel – Klitzing – usw …“
Holm lachte laut auf.
„Weiß Gott – der Kerl hat auf seiner Art noch Humor!“ dachte er.
Die Krech blickte ihn verwundert an.
„Weshalb lachen Sie? Etwa über mich?“
„Nein, Anastasiachen, – nein! – Da – lesen Sie!“
Erst begriff sie nicht recht, dann – dann fragte sie mit überschnappender Stimme:
„Jott noch mal, – war’s denn jar nich unser Doktor, der hier –“
„Ne – es war nur sein Doppelgänger,“ fiel ihr Holm ins Wort.
Dann ging er auf die Straße hinaus, sagte zu den Herren im Auto:
„Alles Schwindel! Ich habe keinen Brief finden können. – Vorläufig ist uns unser Mann also entwischt. – Gute Nacht allerseits! Ich gehe jetzt ins Bett. – Heinz, nachmittags komme ich zu dir. – Auf Wiedersehen, meine Herren.“
Er verschwand wieder im Hause.
Wendler knurrte ärgerlich: „Was ist denn nun wieder in ihn gefahren?“
Inspektor Pelcher meinte ironisch:
„Er gibt die Geschichte eben auf! Der Runkel ist ihm über – das merkt er!“
Blink und der Referendar kehrten mit der Straßenbahn nach dieser mißglückten Verbrecherjagd nach der Winterfeldstraße zurück. Beide waren recht niedergeschlagen und sprachen kaum ein paar Worte miteinander. Doch im Hausflur verabschiedeten sie sich dann mit herzlichem Händedruck.
„Diese Nacht hat uns schneller einander näher gebracht als ein Jahr oberflächlichen Verkehrs,“ meinte der Referendar.
Dann schloß er die Flurtür der elterlichen Wohnung auf, lief nun gerade seinem Vater in die Arme, der soeben in der Badestube seine Frühdusche genommen hatte.
„Ah – guten Morgen, mein Sohn,“ begrüßte der Kommerzienrat ihn streng und würdevoll. „Ich habe mit dir zu reden. Komm’ in den Salon.“ Der Bademantel, der seine Glieder umhüllte, und das nasse, spärliche Haupthaar, das ihm in dünnen Strähnen in die Stirn hing, machten seine äußere Erscheinung keineswegs imponierender.
Im Salon wies er auf einen Sessel.
„Setz’ dich.“
Dann ein Räuspern.
„Du hast – nun ja – hast hier in der Nähe eine Liebschaft. Leugne nicht! Es ist so! Und es scheint sich dazu noch um ein anständiges Bürgermädchen zu handeln. Ich wünsche nicht, daß du das Gebiet deiner Jagdgelüste so unmittelbar neben uns verlegst.“
Herr Brunner fand diesen letzten Satz so geraten, daß er nach kurzer Pause fortfuhr:
„Also – so dicht neben uns verlegst – verstanden?! Das schadet unserem Ruf und Ansehen. – Wie heißt das Mädel?“
Karl Brunner hätte alles andere eher angenommen, als gerade eine Aussprache über Gisela. Gestern nun wäre ihm diese Unterredung noch sehr unangenehm gewesen. Aber heute?! Zwischen dem Gestern und Heute lag ja der Mutter energisches Eintreten für Hilde und die klägliche Niederlage des ehrgeizigen Vaters!
„Die junge Dame heißt Gisela Döbberke, Papa,“ erwiderte er gelassen. „Dürfte ich vielleicht erfahren, woher du –“
Der Kommerzienrat zog den Bademantel enger um sich und unterbrach den Sohn:
„Ich konnte nicht schlafen, wollte mir aus meinem Zimmer ein Schlafpulver holen, blickte zufällig zum Fenster hinaus und bemerkte, wie du dich mit dem Mädel –“
„– mit der jungen Dame,“ verbesserte der Referendar.
„Gut, meinetwegen junge Dame! Also – dich mit ihr zum Balkon hinauf unterhieltest und nachher im Hausflur verschwandest. Das läßt doch auf einen sehr hohen Grad von Vertrautheit schließen, meine ich.“
Karl Brunner wollte die Gelegenheit benutzen, auch seine Herzensangelegenheit endlich zu klären.
„Diese Vertrautheit besteht allerdings, Papa,“ sagte er festen Tones. „Nur darfst du hier nicht von einer Liebschaft sprechen. Ich betrachte Gisela Döbberke als – meine Braut.“
Der Kommerzienrat erstarrte.
„Braut – Braut? Wirklich kostbar!“
In demselben Augenblick, wo er dem letzten Worte dieses Ausrufs seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen eine ironische, vielleicht verletzende Bemerkung folgen lassen wollte, tat sich die Tür nach dem Speisezimmer ganz auf und in der Öffnung wurde Frau Brunners hohe Gestalt sichtbar.
„Ich habe alles gehört, was ihr soeben gesprochen habt,“ begann sie, dem Sohne freundlich zunickend und langsam in ihrem hellen, seidenen Morgenrock über die Schwelle rauschend. „So sehr auch mich diese wichtige Mitteilung, mein Sohn, überrascht,“ fuhr sie mit erhobener Stimme und deutlich hervorgekehrter Herzlichkeit fort, „werde ich als Mutter diese deine Wahl billigen, da ich für die Charaktereigenschaften anderer stets einen sehr richtigen Blick gehabt und von dem jungen Mädchen bisher nur Gutes gesehen habe, – gesehen, so zum Beispiel ihre wirtschaftliche Tüchtigkeit, ihre stete Munterkeit trotz reichlicher Arbeit, ihre geschmackvolle Art, sich zu kleiden und schließlich ihr gefälliges, damenmäßiges Äußeres. Nachdem wir in unserer Familie mit einer Verlobung so – so schlecht abgeschnitten haben, möchte ich wieder echten Sonnenschein um mich haben, nicht – künstlichen, durch Vermittler besorgten.“ –
Hier bekam Herr August Brunner einen roten Kopf.
„Kurz, mein lieber Junge, deine Braut soll uns herzlich willkommen sein. Auch der Papa wünscht ja nur das eine, seine Kinder glücklich zu sehen, und gibt deshalb eurem Bunde genauso freudig wie ich seinen Segen.“ –
Hier nickte der Kommerzienrat eifrig und schloß dann seinen Sohn, dem Beispiel seiner Frau folgend, scheinbar gerührt in die Arme, wobei sich der Bademantel etwas öffnete, was ihm ein mahnendes: „Zieh’ dich bitte erst an!“ seiner Gattin eintrug.
Karl Brunner war in seinem ganzen Leben noch nie so zärtlich zu seiner Mutter gewesen wie jetzt. In dem Herzensjubel über deren schnelle Bereitwilligkeit, Gisela als Schwiegertochter anzuerkennen, wagte er es denn auch, mit seinem zweiten Wunsch hervorzutreten, dem Aufgeben seiner juristischen Laufbahn. Die Kommerzienrätin war jetzt zunächst ein wenig enttäuscht, meinte dann aber, auch hierüber ließe sich reden.
Da erschien auch der Kommerzienrat schon wieder im Salon, jetzt in einem sehr koketten hellen Morgenanzug mit verschnürtem Rock mit langen Seidenaufschlägen. Das Haupthaar war wieder zu künstlicher Fülle aufgebürstet, und alles in allem machte dieser Herr August Brunner einen leidlich „gut erhaltenen“ Eindruck.
Der Referendar, der bisher von dem gewaltsamen Ende Gromps absichtlich geschwiegen hatte, kam nun sehr vorsichtig darauf zu sprechen, indem er dieses traurige Thema mit der Bemerkung einleitete, eigentlich hätte er sich soeben als schamloser Egoist gezeigt, der nur an sich und seine persönlichen Angelegenheiten gedacht hätte, während doch gerade Hilde in dieser verflossenen Nacht Gromp durch Verbrecherhand für immer genommen worden wäre.
Nach dieser Bemerkung starrte das Elternpaar den Sohn ganz verständnislos an.
„Was – was heißt das?“ stotterte der Kommerzienrat.
Nun berichtete Karl Brunner im einzelnen, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte.
„Und der Mörder – dieser Doppelgänger Doktor Blinks, – wer ist’s in Wahrheit?“ platzte der Kommerzienrat jetzt heraus.
Der Referendar hob die Schultern. „Der Mensch führt viele Namen – sehr viele. Ich weiß auch nichts Genaueres über ihn. Nur Holm und Wendler, glaube ich, könnten über seine Person bestimmte Auskunft geben. Doch sie hüllen sich in Schweigen, selbst Doktor Blink gegenüber, der doch am meisten unter diesem – Mann im Sessel zu leiden gehabt hat. Jedenfalls ein ganz gefährlicher Hochstapler, ein verbrecherisches Genie! – Wie werden wir nun Hilde diese Nachricht von dem Tode ihres früheren Verlobten am besten beibringen? – Vielleicht hat sie ihn doch inniger geliebt, als sie es jetzt wahrhaben will.“
Frau Brunner schüttelte sehr energisch den Kopf.
„Nein, Karl, in dieser Hinsicht täuscht du dich,“ sagte sie mit Überzeugung. „Ich kenne Hilde besser. Bei ihr war’s nichts als etwas Eitelkeit und Unerfahrenheit, die sie zu dieser Selbsttäuschung gebracht haben. Gromp hat in ihrem Herzen nie einen festen Platz eingenommen. Dazu war Hilde denn doch zu sehr meine Tochter, zu sehr für’s Gediegene, für’s –“
In diesem Augenblick stürmte das Stubenmädchen in den Salon.
„Der Herr Kommerzienrat möchte’n an’s Telephon kommen – die Polizei will wegen Herrn von Gromp was bestellen – Er ist nicht tot – nur schwer verwundet –“
Alles hastete nun hinüber in August Brunners Arbeitszimmer.
„Hier Kommerzienrat Brunner,“ meldete sich dieser am Apparat. „Ah – guten Morgen, Herr Kriminalinspektor! – Wirklich, er lebt? – So – also baldige Wiederherstellung wahrscheinlich? – Nun – sehr erfreulich – sehr.“
Da nahm Frau Brunner ihrem Manne den Hörer aus der Hand.
„Herr Inspektor – einen Moment noch. – Bitte sorgen Sie doch dafür, daß in die Zeitungen nichts darüber bei den Angaben über diesen Mordanschlag hineinkommt, daß Herr von Gromp unser Schwiegersohn sei, – denn er ist’s nicht mehr. Das Verlöbnis ist gelöst worden. – Nicht wahr, Ihnen ist’s doch ein leichtes, in den Berichten vielleicht andeuten zu lassen, daß die Verlobung bereits auseinander gegangen war, als Herrn von Gromp dieses Unglück zustieß. – Herzlichen Dank, Herr Inspektor. – Schluß.“
Die Kommerzienrätin war wieder ganz die zielbewußte, energische Frau, die mitgeholfen hatte, aus dem kleinen Seifenladen eine große Fabrik zu machen.
„So,“ meinte sie, „das wäre erledigt. So sehr es mich auch freut, daß Gromp mit dem Leben davongekommen ist, – diese angebliche Herzensgeschichte, die nur durch Vermittler zusammengeleimt war, muß endgültig aus sein und Hilde wieder zur Ruhe kommen. Deshalb werde ich noch heute mit ihr nach Hela auf vier bis sechs Wochen gehen. Dort in dem kleinen Badeorte wird sie am schnellsten diese demütigende Enttäuschung vergessen, nur des Geldes wegen für kurze Zeit Braut gewesen zu sein. Ich bitte euch beide aber sehr dringend,“ wandte sie sich an den Gatten und den Sohn, „niemandem zu sagen, wohin wir reisen – niemandem! Sonst könnte Gromps Mutter uns dort belästigen, die mir ja in vieler Beziehung leid tut, im übrigen aber sehr zuwider ist. Sie wird ohne Zweifel alles versuchen, die Verlobung wieder einzurenken. Also, ihr haltet gefälligst den Mund darüber, daß wir in Hela sind – verstanden?!“ –
Hilde fand nachher nur recht kühle Worte des Mitleids für Gromps schwere Verwundung. Jeder tiefere Seelenschmerz fehlte dabei. Sie war eben zu sehr vor sich selbst herabgewürdigt worden durch diese jämmerliche Komödie, in der sie als angeblich heiß Umworbene eine fast lächerliche Rolle gespielt hatte. Gromp war für sie für alle Zeiten erledigt.
Selbst als sie dann seinen Abschiedsbrief erhielt, in dem er so bitter über seine verfehlte Erziehung klagte und reuig zugab, Hilde gegenüber gewissenlos gehandelt zu haben, lächelte sie nur bitter, dachte: „Papier ist geduldig!“, verbrannte den Brief und begann ihren Koffer zu packen. Sie freute sich auf Hela, auf die einsamen Dünen, auf das weite Meer, das sich zu beiden Seiten der schmalen Halbinsel weit und geheimnisvoll hinstreckte. Sie liebte das Meer. Und diese Liebe würde die herbe Enttäuschung und Demütigung ihres jungen Herzens überwinden helfen. –
Doktor Blink hatte nach dieser aufregenden Nacht bis nachmittags um zwei Uhr geschlafen. Dann erhob er sich, nahm ein Bad, telephonierte Holm an, der ebenfalls soeben aus der Badewanne gestiegen war, und verabredete mit ihm, er würde sich in einer Stunde bei ihm einfinden.
„Ja, komm’ nur, alter Junge,“ hatte Holm gesagt. „Du wirst hier dein blaues Wunder erleben! – Übrigens – Gromp lebt! Wendler hat mir einen Brief geschickt. Es handelt sich um einen jener gar nicht so seltenen Fälle, daß selbst Kopfschüsse ziemlich harmlos sein können. – Schluß – Wiedersehen, alter Junge!“
Heinz Blink aß mit gutem Appetit zu Mittag, unterhielt sich dabei mit dem alten Roderich, dem er die Abenteuer der vergangenen Nacht erzählt hatte. Der Diener war froh, daß der „Sesselmann“, wie er sich ausdrückte, nun „definitiv und für immer“ verjagt war. –
Zu der gleichen Zeit saßen auch Brunners bei Tisch. Es gab heute Sekt – vier Flaschen! Denn man hatte ja Gäste: Frau Döbberke und Tochter Gisela, und man feierte so im engsten Familienkreise eine Verlobung, an deren Zustandekommen die kleine Frau Döbberke nie im entferntesten geglaubt hatte. Kein Wunder, daß sie heute sehr viel Tränen vergoß, Tränen der Freude, und die tun nicht weh! Kein Wunder auch, daß sie sich sehr schnell mit der Kommerzienrätin anfreundete. Sie waren ja verwandte Naturen, fleißig, geradezu, aufrichtig und bescheiden.
Mit dem Vieruhrdampfer fuhren Frau Brunner und Hilde dann in aller Stille nach Hela.
Zu derselben Zeit etwa traf Heinz Blink bei Holm ein, der gerade die soeben abgegebene Abendzeitung studierte und den Freund herzlich und ungezwungen wie immer empfing:
„Tag, mein Alter, – setz’ dich. – Die Anastasia wird uns gleich Kaffee bringen. Sie hat auch zur Feier des Tages Kartoffelpuffer gebacken – für dich ganz dünne, knusperige, für mich dicke, halb rohe, – jeder nach seinem Geschmack.“
Blink argwöhnte sofort hinter diesem „zur Feier des Tages“ etwas Besonderes. Er nahm sich eine Zigarette, strich ein Streichholz an und fragte dabei:
„Was feierst du denn heute?“
„Meine erste Niederlage!“
„Hm – du meinst, weil dir der Runkel-Klitzing ausgerückt ist?“
„Ne, mein lieber Junge, das kommt erst in zweiter Linie. – Weil er der erste Gauner ist, der es fertig gebracht hat, mich zu bestehlen.“
„Ah – das ist ja ganz was Neues!“
„Stimmt – ganz was Neues! – Da – lies diesen lieben Brief, den er mir hier unter mein Schreibzeug gelegt hatte! Du siehst, ich habe euch heute morgen belogen. Der Brief war vorhanden. Nur wollte ich doch Wendler und besonders nicht dem alten Neidhammel, dem Pelcher, gegenüber eingestehen, daß der gute Runkel mich um fünf Holmsche Nasenlängen geschlagen hätte – und meine Nase ist doch nicht gerade klein!“
Blink las, rief dann:
„Was hat er dir denn alles gestohlen, der – der – Halunke?“
„Sei wählerischer in deinen Ausdrücken, mein Sohn! Du bist Privatdozent, und du hast noch nicht bewiesen, daß du ein Genie bist! Das hat aber unser Sesselmann fraglos getan! Er ist ein Genie, und – Halunke?! – Nein, – sag’ lieber, genialer Verbrecher! Der Mensch würde mir direkt gefallen, wenn er nicht diese brutale Revolverknallerei gegen Gromp auf dem Gewissen hätte!“
Draußen schlug die Flurglocke an, und Holm erhob sich, um öffnen zu gehen. –
„Die Anastasia ist jetzt infolge der Puffer unabkömmlich,“ meinte er zu Blink.
Der Besucher war ein älterer Mann in sauberer Seemannstracht.
„Tag, Bubrinski,“ begrüßte Holm den altbewährten Bootsmann des Segelklubs. „Was bringen Sie denn? – Treten Sie näher – hier in mein Arbeitszimmer.“
Bubrinski, dessen bartloses Gesicht wie ein Kupferkessel glänzte und dessen linke Backe stets angeschwollen war, weil dahinter der Priem steckte, hatte kaum den in der Ecke des Ledersofas sitzenden Blink bemerkt, als er zurückprallte und rief:
„Dunnerkiel – hier sind Sie, Herr Doktor?! Ihretwegen bin ich ja jrad zu Herrn Holm jekommen! Wo haben Sie den die „Annie“ jelassen?“
Blink schaute den Bootsmann verständnislos an.
„Annie?“ fragte er. „Meinen Sie –“
„Ja – unser Klubmotorboot meine ich, janz recht, Herr Doktor, mit dem Sie doch heute in aller Herrjottsfrüh allein losjegondelt sind. – Wo sind Sie denn nun mit der „Annie“ eijentlich jewesen?“
Holm pfiff laut durch die Zähne, warf dem Freunde einen sehr, sehr langen Blick zu und sagte dann gemütlich zu Bubrinski:
„Setzen Sie sich. Sie kriegen Kaffee, Kartoffelpuffer, sechs Schnäpse und Zigarren nach Wahl. – Erzählen Sie uns mal die Geschichte von der entführten „Annie“.“
Bubrinski grinste. „Sie machen schon wieder Witze, Herr Holm! Entführte „Annie“! Unsere „Annie“ ist doch kein Mädchen!“
„Ne – aber doch für manche Leute eine sehr begehrenswerte Dame! – Los – spinnen Sie Ihr Garn – aber nichts dazu schwindeln, Bubrinski, und nicht mit Adam und Eva anfangen!“
Da kam Anastasia Krech mit einem Riesentablett, deckte den Tisch, warf Bubrinski wütende Blicke zu und knurrte: „Nu reichen die Puffer nich!“
„Dann backen Sie eben noch mehr, Krechen!“
„Wozu hab’n wir eijentlich ’n Speisezimmer,“ fauchte sie weiter. „Hier in diese volljequalmte Bude schmeckt doch alles nach Rauch!“
„Ich werde gleich lüften, Anastasiachen,“ besänftigte Holm sie und riß die Fenster auf.
Bubrinski sog an seiner dicken Importe, deren goldglänzenden Papierring er sich auf den linken kleinen Finger gestreift hatte, begann nun seinen Bericht, der sich etwa eine Stunde lang infolge der durch die Kartoffelpuffer hervorgerufenen Pausen hinzog und aus dem sich als Kern ergab, daß Runkel morgens gegen sieben Uhr am Jachthafen des Klubs in Weichselmünde erschienen und dann mit der „Annie“, nachdem Bubrinski in diese Benzin für drei Tage hatte verstauen müssen, allein davongefahren war.
Jetzt fragte Holm, der endlich für Bubrinskis sehnsüchtige Blicke nach dem Likörschränkchen Verständnis zeigte und ein paar vielverheißene Flaschen herbeibrachte:
„Der falsche Doktor hatte also nur einen – meinen braunen Lederkoffer bei sich?“
„Auch noch einen dicken, langen Ulster, – jrünbraune Kalühr,“ ergänzte der Bootsmann.
„Ulster? – Himmel, den hat er inzwischen noch irgendwo geklaut!“ meinte Hug Holm. Dann wandte er sich wieder an Bubrinski:
„Weshalb sind Sie denn jetzt eigentlich zu mir gekommen?“
„Na, weil mir vorhin einfiel, daß der Herr Doktor doch kaum von’s Sejeln –“ Er räusperte sich verlegen.
Blink lachte. „Fahren Sie nur ruhig fort, kaum von’s Segeln ’n Ahnung hat –“
„Na – nischt für unjut!“ brummte der Bootsmann. „Viel versteh’n ja all die Herrens nich davon. – Also – mir fiel ein, daß der Herr Doktor doch bisher mit die Bedienung des Motors der „Annie“ nie allein fertig jeworden wär’. Und nu noch steuern und nach ’m Motor sehn! Da sagt’ ich mir, Bubrinski, hier stimmt was nich! – Na und wenn einem erst was einjefallen is, dann wird’s einem im Kopp bald noch heller! Und da sagt’ ich mir weiter, Bubrinski, der Herr Doktor hatte dich doch immer Bubrinski’ und nich bloß so mit „Sie“ anjered’t, und dann hat er dich noch nach ’ne Seekarte von der Ostsee jefragt und ob’s eijentlich weit bis Bornholm wär’, wo all die Pflastersteine herkommen. – Ob der Doktor etwa – ja, hm – ob er etwa so mit ein’ Male vielleicht amende nich mehr so janz – hm, ja – klar ist, sagte ich mir nu. Und da kriegt ich’s so mit ’ne jewisse Angst und wollt’ Ihnen um Rat ansteuern, Herr Holm, wo sie doch mit in ’n Vorstand vom Klub sind, ob’s nich –“
„Schon gut, Bubrinski!“ nickte Holm. „Ich verstehe. Sie haben den Doktor für geistig plötzlich angeknaxt gehalten und gefürchtet, er hätte nun in diesem Zustande plötzlich Reisegelüste bekommen.“
Damit goß er dem Bootsmann den sechsten Schnaps ein.
„So, mein Lieber, – nun ist Ihr halbes Dutzend voll. Wir danken Ihnen vielmals für Ihren Besuch. Die „Annie“ werden wir schon wiederkriegen. Und die Hauptsache, alter Freund, zu keinem Menschen ein Wort davon! Wenn jemand der Klubherren fragt, wo die „Annie“ sei, sagen Sie „zum Arzt gegangen“. Das heißt also, zur Reparatur in die Werft gebracht! – Hier – diese zehn Mark als Prämie, wenn Sie wie ’n Grab schweigen!“
„For zehn Märker schweig’ ich wie ’n janzer Kirchhof, Herr Holm!“
Dann schob der Bootsmann quietschvergnügt und jeder weiteren Verantwortung los und ledig ab.
Hug Holm aber sagte zu Doktor Blink:
„Alter Junge, der Bubrinski hat mich durch seinen Verdacht, du könntest nicht mehr so ganz klar dort oben unterm Strohhut sein, daran erinnern, daß ich dir im Interesse deiner in der Tat stark angegriffenen Nerven vorschlagen wollte, auf einige Zeit sofort zu verreisen, zumal du bei Brunners – hm ja! – jetzt nicht sofort allzu scharf vorgehen kannst, nachdem eben erst die Verlobung mit Gromp gelöst wurde, was heute schon in der Abendzeitung zwischen den Zeilen zu lesen ist. – Also – fahr’ irgendwohin, nur recht einsam muß ’s dort sein, langweile dich tüchtig und vergiß den Sesselmann! Ich empfehle dir zum Beispiel Heisternest auf Hela – gerade in der Mitte der Halbinsel mit fünf Häuschen, einem Leuchtturm, zwei Hunden, neunzehn Menschen! Einen ruhigeren und kleineren Badeort gibt’s nicht. Wenn du willst, bringe ich dich morgen mit unserem Motorkutter hin. – Wirklich, du solltest den Rat befolgen, mein Alter! Du siehst hundsmiserabel aus – wie’n Bummler von Profession! Mit dem Gesicht wirst du dir die nie erobern, die nun glücklich wieder frei ist.“
Blink war einverstanden, konnte aber doch erst am nächsten Tage zusammen mit Holm und Bubrinski auf dem Kutter gen Heisternest rattern, da er noch als Zeuge auf der Polizei vernommen wurde.
Nachdem der Doktor bei dem Leuchtturmwärter als erster Kurgast des Ortes ein Unterkommen gefunden hatte, fuhr der Kutter wieder nach Weichselmünde zum Jachthafen zurück. Unterwegs erlaubte der Bootsmann sich die Frage, was Holm denn eigentlich getan hätte, um die „Annie“ zurückzubekommen.
„An alle Ostseehäfen depeschiert, auch schwedische, daß die „Annie“ gestohlen ist und angehalten werden soll,“ erwiderte Holm, seiner Holzpfeife dicke Wolken entlockend.
„Nun – ob’s was nützen wird?“ brummte Bubrinski.
„Kaum!“ sagte Holm ehrlich. „Der Kerl ist zu schlau, ist mir über!“
Hela, der kleine Badeort auf der äußersten Spitze der gleichnamigen Halbinsel, die im Norden die Danziger Bucht abgrenzt, ist so recht für Leute geeignet, die sich als Kurgäste wirklich erholen wollen und nicht in die Bäder fahren, um Toiletten zu zeigen, Männer zu fangen, älteren und jüngeren Jungfrauen zu den bisher fehlenden geeigneten Partien zu verhelfen und was der Zwecke sonst noch sind, die mit „Kur“ nichts zu tun haben.
Hilde Brunner fühlte sich in Hela unbehaglich, bis dann die Kommerzienrätin Anschluß an ein paar Damen gefunden hatte, die nicht über moderne Ethik, Literatur und Kunst angelernte Redensarten zum Besten gaben, sondern über neue Kochrezepte, Dienstbotensorgen und ähnliches harmlos plauderten und nicht mit Gewalt für geistreich gehalten werden wollten.
Nun hatte Hilde freie Hand, nun konnte sie nach Herzenslust weite Spaziergänge unternehmen, konnte in den Dünen unter den verkrüppelten Kiefern liegen und träumen – mit offenen Augen, während das Meer an der Nordküste der Halbinsel rauschte und brandete und scheinbar tausend verschiedene Stimmen weckte, die dem jungen Mädchen allerhand zuflüsterten und seltsame Sehnsucht ins Herz gossen.
Hilde hatte stets einen treuen Begleiter, den Wolfshund Hasso des Fischers, in dessen Häuschen sie zwei Vorderzimmer mit Veranda bewohnten.
Hasso liebte Hilde, und Hilde vergalt’s dem schönen klugen Tiere, das bisher nie Zärtlichkeit von Menschenseite erfahren, durch soviel Herzlichkeit, als sie nur irgend „ihrem“ Hasso spenden konnte. Dieses innige Verhältnis hatte sich bereits nach den ersten Tagen herausgebildet, gerade als Frau Brunner jenen ihr so angenehmen Anschluß gefunden hatte.
Heute waren Mutter und Tochter nun eine Woche in Hela. Die Kommerzienrätin stellte beim Morgenkaffee fest, daß ihr die Zeit wie im Fluge vergangen sei. Hilde schwärmte von Hasso, der auch jetzt wieder neben ihr saß und auf die stets für ihn abfallenden Bissen wartete. Dann kam der Briefträger.
„Ah – eine Karte von unserem Brautpaar,“ meinte Frau Brunner. „Die beiden helfen dem Papa über die Langeweile hinweg. – Sieh an – Karl hat sich um den Posten des Sekretärs der Verkehrszentrale beworben! Mithin ist er mit Papa ganz einig über den Abbruch des „Referendarelends“, wie er es immer nannte. – Von wem ist denn die Ansichtskarte für dich, Kind? – Ah – auch ein Brief?“
Hildes Gesicht hatte sich umdüstert.
„Der Brief ist von Gromps Mutter, – der zweite also, der mich hier erreicht hat. Ich werde auch ihn ungeöffnet zurückschicken.“
Dann fügte sie wieder zwangloser und heiterer hinzu:
„Denk’ dir, Mama, Doktor Blink schickt mir aus Heisternest herzliche Grüße, wo er sich – „von dem Sesselmann erholen will“. Natürlich hatte er die Karte nach Danzig geschickt, und sie ist hierher nachgesandt worden. Wenn er ahnen würde, daß wir hier in Hela kaum anderthalb Meilen entfernt von ihm dieselbe köstliche Luft atmen!“
Etwas wie ein schalkhaftes Lächeln umspielte ihren Mund. „Ich glaube, er würde sehr bald nach hier übersiedeln!“ fügte sie hinzu.
Die Kommerzienrätin, die ja genau wußte, daß Blink aus Liebe zu Hilde sich damals zu jener Äußerung hatte hinreißen lassen, die den Stein ins Rollen brachte, der nachher eine Verlobung noch rechtzeitig zerstörte, schaute ihr Kind prüfend an, fragte dann:
„Liebst du Blink, Hilde?“
Die hob etwas die Schultern, erwiderte:
„Er ist mir interessant geworden, Mama, und ich denke gern an ihn, obwohl –“
„Nun – obwohl?“
„Ja – obwohl ich mir meinen Gatten eigentlich energischer, zielbewußter vorgestellt habe, etwa so wie Blinks Freund, den berüchtigten Hug Holm.“
Frau Brunner wiegte wie mißbilligend den Kopf hin und her.
„Holm, hm, – Kind, es wäre das ein Geschmack, den ich nicht teilen würde.“
Da lachte Hilde frei heraus.
„Mama, du tust gerade so, als dächte ich daran, mich recht schnell wieder zu verloben. Diese erste Enttäuschung hat mir die Augen geöffnet. Weder Blink noch Holm haben bei mir vorläufig irgendwelche Aussicht. Eine halbe Vernunftsheirat werde ich nie schließen.“
In ihr Gesicht war ein verträumter Ausdruck getreten. Sie schaute auf die sonnenbeschienene, sandige Dorfstraße hinaus, zwischen deren Häusern hindurch man in der Ferne den blauen Spiegel der Danziger Bucht schimmern sah.
Nach einer Weile fuhr sie dann fort: „Ich möchte jene Liebe kennenlernen, die alles – alles vergißt, die keine Rücksichten kennt, die das ist, was man – himmelstürmend nennt –“
Die Kommerzienrätin seufzte leise, sagte dann wie zu sich selbst sprechend:
„Ja – ja – das wünscht wohl jedes junge Mädchen! Auch ich hab’s mir gewünscht! Ach – und dann kommt der Alltag, kommt die Vernunft, und – es wird eine Ehe wie so viele tausende, in der wie bei uns Mann und Frau nebeneinander hertrotten wie zwei vor einen Lastwagen gespannte Pferde. Hat man den Wagen dann glücklich die Anhöhe hinaufgeschleppt und liegt freie Bahn vor einem, ist man – Kommerzienrat geworden, dann ist auch die Jugend dahin und man blickt nicht auf ein himmelstürmendes Glück, sondern auf rechtschaffen erworbene Erfolge zurück –“
Hilde erhob sich schnell, umschlang die Mutter innig und küßte sie. Sie ahnte, daß hier soeben vieles unausgesprochen geblieben war – sehr vieles, was doch nicht ganz zu dem Vergleich von dem Pferde-Doppelgespann paßte, – vermutete mancherlei mit ihrem geweckten Verstande über die Seitensprünge des eitlen Papas, über geheime Tränen, über schließliches Verzichten auf das große, schöne Wort Treue, das so und so oft ganz, ganz klein geschrieben werden muß.
Dann meinte die Kommerzienrätin, indem sie sozusagen ihrem Kinde eine Richtlinie für die Zukunft gab:
„Such’ dir so ein ganzes Glück, meine Hilde, such’ es dir! Und – hast du es gefunden, dann greif’ zu! Deine Mutter wird helfen, daß wenigstens ihre Tochter das Glück von anderer Seite kennen lernt als – ich selbst es gefunden.“
Man hörte es ihrer leicht zitternden Stimme an, daß sie gerührt war, daß in ihrer starken Seele Saiten zum Tönen gebracht worden waren, die für sie nur noch ein ferner, weicher Mollakkord unerfüllten Sehnens sein konnten.
Gleich darauf wanderte Hilde allein in Begleitung Hassos die grell von der Sonne beschienene Dorfstraße entlang, in der es abwechselnd nach Räucherfischen, frisch geteerten Netzen und dem beißenden Pfeifenknaster alter, verbitterter Fischer roch, die vor den blitzsauberen Häuschen saßen und ihre Fanggeräte ausbesserten oder die Aalschnüre mit Köder besteckten.
Frau Brunner hatte sich wie jetzt stets zu einem gemütlichen Plausch auf der schattigen Kurhausterrasse mit ihren Gleichgesinnten verabredet.
Hilde, von dem freudig bellenden Hasso umtobt, in der Linken ein Buch und in der Rechten einen festen Spazierstock aus Weinrebe, schritt schnell dahin, vorbei an der kleinen Kirche, dem stillen Pfarrhause und der schmucken Försterei, und dann auf einem mit Torfabfällen bestreuten Pfade durch ein weites Moor dem Nordstrande zu.
Es war heute glühend heiß. Die Ostbrise milderte die sengende Kraftfülle der sommerlichen Sonne nur wenig, und das junge Mädchen blieb daher oben auf dem kaum erkennbaren Dünenpfade im Schatten des Kiefernwaldes, der knorrig und wuchtig wie ein Kennzeichen herber, norddeutscher Art mit geringen Unterbrechungen sich fast bis zum Leuchtturm von Heisternest hinzog.
Hasso japste mit heraushängender Zunge und trottete jetzt neben der Freundin her. Bald hatten beide Hildes Lieblingsplätzchen erreicht, eine natürliche Laube von allerhand Gestrüpp, deren offene Seite nach der See hinausging und deren Moosboden einen weichen Sitz abgab. Nach vorn zu fiel hier ein Abgang steil zum Strande hin in mehreren Terrassen ab. Kiefernwurzeln ragten daraus in phantastischen Formen hervor, manche wie ausgestreckte Arme mit überlangen Fingern.
Hilde setzte sich, blätterte in dem Buch. Es war ein moderner Roman, so modernen, daß alles darin Seelenstudien und Stimmungsmalereien waren und man nach einer Handlung umsonst suchte, eines jener Werke, die mit großer Reklame in die Welt geschickt werden, die jeder liest und angeblich versteht, weil’s eben Mode ist.
Das junge Mädchen war nicht in Stimmung für so schwere geistige Kost. Das Gespräch mit der Mutter kam ihr nicht aus dem Sinn. Unwillkürlich dachte sie wieder an Heinz Blink.
Welches junge Weib hätte nicht für den Mann regere Teilnahme gezeigt, von dem sie wußte, daß er eine stille, tiefe Neigung für sie im Herzen trug? – Und das wußte Hilde ja bestimmt! Nie würde sie jenes Gespräch mit dem Doktor damals in seinem Salon vergessen, als er ihren Fragen so scheu ausgewichen war, um diese seine Liebe nicht zu verraten, und dabei seine Augen doch so beredt gesprochen hatten. –
Aber – merkwürdig! – so und so oft war es ihr, als ob Blinks und Holms Gestalten in seltsamer Weise ineinanderflossen, und hin und wieder war’s nur Holms Charakterkopf, dessen Züge mit größter Deutlichkeit vor ihr erschienen.
Dann wurde sie plötzlich auf Hasso aufmerksam. Der hatte sich aufrecht gesetzt und schaute zum Strande hinab, wo nun auch Hilde einen Mann wahrnahm, der sich damit vergnügte, flache Kiesel über die auslaufenden Wogen tanzen zu lassen. Wahrscheinlich hatten die Bewegungen des Fremden beim Werfen den Hund leicht gereizt, denn er begann jetzt sogar leise zu knurren.
Des Fremden? – Hilde zuckte mit einem Male merklich zusammen.
Kein Zweifel! Das war kein anderer als Doktor Blink, – natürlich war er’s, wenn er sich jetzt auch den Spitzbart hatte abnehmen lassen und nur noch den leicht aufgedrehten blonden Schnurrbart trug.
Ja – er war’s! Und Hilde fing das Herz schneller zu schlagen an. Sie fühlte auch, daß sie errötete.
Seltsamer Zufall! Soeben hatte sie sich noch in Gedanken mit diesem Manne beschäftigt!
Sie stand hastig auf, trat ganz dicht an den Abhang heran, formte die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr und rief zum Strande hinab:
„Ahoi – Herr Doktor – ahoi!“
Der Herr drehte sich jäh um, verharrte eine Weile regungslos und beobachtete Hilde.
Dann hob er den Arm, winkte, hielt Umschau nach dem bequemsten Wege und kam nun im Bogen auf den Dünenwald zu.
Hasso lief ihm entgegen. Doktor Blink streichelte ihn, sprach leise zu ihm.
Und nun stand er vor Hilde, sagte lächelnd:
„Welch ein Zufall, gnädiges Fräulein –“
Hilde schien’s, als wäre dieses Lächeln etwas gezwungen und auch der Ton seiner Worte ein wenig unsicher.
Sie streckte ihm die Hand hin.
„Kein so großer Zufall, Herr Doktor,“ meinte sie förmlicher, als es anfänglich in ihrer Absicht gelegen hatte. Das erzwungene Lächeln hatte sie gestört. „Mama und ich wohnen seit einer Woche in Hela. Und mein Bruder schrieb mir gerade heute, daß Sie in Heisternest Kurgast und Einsiedler spielen.“
Seine Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde.
Dann sagte er, jetzt ganz zwanglos und fröhlich:
„Also in Hela! Ah, das freut mich! Dann dürfte ich öfters den Vorzug genießen, Ihnen bei Ihren einsamen Spaziergängen zu begegnen. Schade, schon vorgestern und gestern bemerkte ich Sie aus der Ferne, konnte aber nicht ahnen, daß Sie es waren. – Wollen wir uns nicht setzen? – So, – das plaudert sich jetzt gemütlicher.“
Hilde hatte sich recht zögernd in das weiche Moos niedergelassen. Irgendetwas – was es war, wußte sie nicht – störte sie an Blink heute, – nein, besser, fiel ihr als fremd und ungewohnt an ihm auf. Vielleicht lag’s an seiner Art zu sprechen, die so viel selbstbewußter, energischer war, als sie’s in Erinnerung hatte.
Da sagte er schon, und er schaute sie dabei voll an:
„Daß Sie mich trotz des fehlenden Bartes sogleich wiedererkannt haben, spricht für ihr vorzügliches Personengedächtnis, gnädiges Fräulein. Ich habe mich absichtlich dieser Manneszier durch den Haarkünstler in Heisternest, der dort gleichzeitig ein gutes Dutzend anderer Berufe ausübt, berauben lassen. Ich nehme an, Sie kennen mein unangenehmes Erlebnis mit – dem Manne im Sessel –“
Er schien auf eine Antwort zu warten.
„Gewiß, Herr Doktor, Karl hat uns alles erzählt – gleich nach jener Nacht, in der auch –“
Sie stockte.
„Wollten Sie sagen,“ ergänzte er da, „– in der auch Herr von Gromp beinahe erschossen worden wäre –“
Sie nickte nur, blickte zur Seite und klopfte dem neben ihr liegenden Hasso den Kopf.
Ein paar Minuten Schweigen. Dann fuhr Blink leise fort:
„Dieser fatalen Doppelgänger-Geschichte wegen fiel mein Bart dem Messer zum Opfer. Ich wollte nicht länger einem Menschen so ähnlich sehen, der als Verbrecher von der Polizei gehetzt wird und der – doch vielleicht bemitleidenswert ist, als die meisten ahnen.“
Hildes Augen suchten voller Staunen die des jungen Gelehrten.
„Wie – Sie haben für diesen Menschen sogar noch ein Wort des Mitgefühls?“ meinte sie langsam. „Sie müssen ein sehr gütiges Herz besitzen, Herr Doktor! Ein Verbrecher, der einen Mann einfach niederschießt, der sich ihm, wie Gromp es tat, in den Weg stellt, ist nichts als ein brutaler Mörder, – denn es bleibt ja nur ein glücklicher Zufall, daß der Schuß nicht tödlich war.“
Der, der neben Hilde saß, schlug den Blick vor den reinen, klaren, jetzt so entrüstet dreinschauernden Mädchenaugen zu Boden.
„Es war mehr als ein glücklicher Zufall,“ sagte er darauf, und seine Stimme vibrierte leicht, „es war eine höhere Fügung! Der – der Verbrecher hat Gromp nicht töten, nur verscheuchen wollen. Die Waffe entlud sich von selbst –“
„Ah – unmöglich! – Woher kennen Sie denn diese neue Erklärung für den Mordanschlag, Herr Doktor, an die ich niemals glauben werde! Niemals! – Ist denn jener Mann verhaftet worden? Hat Holm jetzt besseren Erfolg gehabt als damals in jener Nacht? Und – wer ist dieser Mensch eigentlich, der Ihnen so ähnlich ist, daß Sie glaubten, sich selbst vor sich zu sehen?“
„Also Sie würden an diese Möglichkeit, die Waffe könnte von selbst losgegangen sein, nicht glauben, gnädiges Fräulein?“ fragte Blink mit deutlicher Bitterkeit. „Weshalb nicht? Muß denn ein Spitzbube, ein Hochstapler auch gleichzeitig ein Mordbube sein, der mit Menschenleben wie mit lästigen Mücken umspringt?! – Ihnen liegt ja dies Gebiet moralischer Verirrungen gänzlich fern. Ich könnte Ihnen aber eine ganze Menge sogenannter berühmter Gauner aufzählen, die auf sehr merkwürdige Weise vom Pfade bürgerlicher Tugend abgedrängt wurden und denen ein Mord gänzlich unmöglich gewesen wäre.“
Hilde konnte nur den Kopf schütteln.
„Ich begreife Sie nicht, Herr Doktor!“ sagte sie eifrig. „Wenn Holm so gesprochen hätte, wäre ich nicht weiter überrascht gewesen. Wer so viel wie er mit dem Verbrechen in Berührung kommt, mag denen, die sich außerhalb der Gesetze stellen, mehr Verständnis entgegenbringen als unsereiner, ich meine als alle die, denen derartige Naturen ebenso fremd sind wie etwa ihr Freund Holm selbst.“
Blink entgegnete nichts. In sein Gesicht war ein ganz eigener Ausdruck getreten. Hilde nahm mit erneutem Staunen war, daß um seinen Mund ein schmerzliches Lächeln zuckte, während seine Augen nicht minder schmerzlich ins Weite starrten. –
Der Doktor wurde ihr immer unverständlicher. Weshalb in aller Welt warf er sich hier so halb und halb zum Verteidiger jenes Mannes auf, der zu irgendwelchen dunklen Zwecken ihn in so raffinierter Weise lange Zeit in Angst gesetzt hatte?!
Fast scheu musterte sie ihn nach einer Weile abermals von der Seite. Und – da bemerkte sie noch gerade das letzte Schwinden eines jetzt höhnischen Lächelns. Sie glaubte erst, sie müsse sich getäuscht haben. Doch nein, schon wieder schürzten sich die Lippen zu einem hohnvollen, häßlichen Lächeln.
Blitzschnell verschwand es wieder. Und – jetzt war wieder nur der Ausdruck stiller Seelenqual, der diesem ohnedies so geistvollen Männerantlitz noch einen weiteren besonderen Reiz verlieh.
Und jetzt sagte Blink auch, indem er eine Ranke von dem im Gestrüpp wuchernden Dornbusch abriß und zu einem Ring zusammenbog:
„Die Dornenkrone, die einst Christus getragen haben soll, ist das Symbol höchster Selbstverleugnung. Vielleicht verdiene ich sie, der doch hier für einen Mann eine Lanze bricht, der mein Feind war oder vielleicht noch ist.“
„Allerdings, Herr Doktor, – Ihre reine Menschenliebe geht fast zu weit. Ich bin ganz ehrlich, ich könnte nicht so wie Sie sprechen, wenn mir das widerfahren wäre, – all diese bösen nächtlichen Stunden, all dies Entsetzen beim Anblick Ihres neben dem Kamin sitzenden Doppelgängers! Nein, – dazu – dazu fühle ich zu natürlich, zu ungekünstelt! Jener Mann wäre mein Feind, den ich mit allen Mitteln bekämpfen würde – auch mit Worten!“
Schon wieder eine lange Pause. Dann fragte Blink, immer noch hinaus auf die leichte bewegte See starrend:
„Sie würden also für einen Hochstapler, einen genialen Spitzbuben nie irgendwelche Entschuldigungsgründe anerkennen, gnädiges Fräulein?“
„Nein – nie und nichts! Kein Weib würde das tun, – kein Mädchen, keine Frau, die Anspruch auf Wohlanständigkeit, auf normales Empfinden erheben. Jene Verbrecher sind Verfehmte. Sie bleiben es, solange sie nicht freiwillig, aus sich selbst heraus reuevoll ein anderes Leben beginnen.“
„Sie – sind sehr hart,“ meinte Blink ganz leise. „Sehr hart! Aber – vielleicht haben Sie recht. Wie sollte zum Beispiel eine junge Dame wie Sie –“
Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern erklärte nach kurzer Pause völlig veränderten Tones:
„Lassen wir dieses Thema, gnädiges Fräulein. – Ich hätte eine große Bitte – nein, mehrere. Darf ich sie aussprechen?“
„Aber gewiß, Herr Doktor. Wenn es in meiner Macht steht, sie Ihnen zu erfüllen, werde ich dies umso lieber tun, als ich ja noch tief in Ihrer Schuld bin. Es ist gut, daß ich jetzt daran erinnert werde. Ich habe Ihnen noch zu danken für jene Stunde, in der Sie mir halfen, meine Freiheit wiederzugewinnen.“
Hilde erwartete, daß Blink jetzt irgend etwas hierzu äußern würde.
Doch er blieb stumm.
„Sie wissen wohl, welche Stunde ich meine, Herr Doktor,“ fuhr sie lebhaft fort. „Damals in Ihrem Salon ist aus einem vertrauensseligen Kinde ein reifes Weib geworden. Ihnen danke ich dieses Erwachen.“
Sie streckte ihm die Hand hin.
Aber – er wehrte ab.
„Nein – danken Sie mir nicht!“ stieß er hervor. „Mir nicht! – Und – ziehen Sie auch Ihre Hand zurück. Sie – gebührt mir nicht –“
Hilde blickte ihn verständnislos an. Eigentlich war sie etwas verletzt. Was war überhaupt heute in ihn gefahren?! Hatten etwa jene Abenteuer mit seinem Doppelgänger doch so nachteilig auf ihn gewirkt, daß eine gewisse Nervenzerrüttung auch sein ganzes Sichgeben in Mitleidenschaft gezogen hatte?!
Da sprach er schon weiter.
„Nun also meine Bitte. – Zunächst, sagen Sie niemandem, daß wir uns hier getroffen haben – niemanden, Auch Ihrer Frau Mutter nicht. – Ich habe meine ganz bestimmten Gründe für dieses Sie vielleicht etwas merkwürdig berührende Ansinnen. Später werde ich sie Ihnen nennen. Heute erlassen Sie es mir, bitte. Es hängt eben alles mit dem Mann im Sessel zusammen.“
„Aber gern, Herr Doktor. Sie können sich auf mich verlassen.“
„Vielen Dank. – Dann, ich bekomme dort – dort in Heisternest in dem kleinen Kramladen keine mir zusagende Seife, ebensowenig gute braune und schwarze Schuhcreme.“
Hilde lachte herzlich auf.
„Es wird mir ein Vergnügen sein, für Sie Einkäuferin zu spielen,“ meinte sie. „Wieviel von jedem denn?“
„Vier Stücke Seife und je eine Büchse Schuhcreme. – Doch – mein Wunschzettel ist noch nicht zu Ende. Auch – hm – ja – auch eine große Blechbüchse Karbid für meine Lampe und eine Flasche Maschinenöl fehlen mir.“
„Oh – ich fürchte, die werde ich von Danzig mitbringen lassen müssen, Herr Doktor. Immerhin können Sie sie morgen schon haben.“
„Zu liebenswürdig. Könnten wir uns denn vielleicht morgen Nachmittag hier wieder treffen?“
Hilde errötete etwas. Das – das war ja ein richtiges heimliches Stelldichein.
Blink bemerkte ihre leichte Verlegenheit.
„Es genügt mir auch, wenn Sie die Sachen hier niederlegen,“ sagte er schnell. „Vielleicht dort unter die Dornen, damit nicht ein zufällig hier Vorbeikommender zum – Diebe wird. – Bitte – dies zu den Einkäufen.“ Und er reichte ihr einen Hundertmarkschein.
Hilde fühlte sehr wohl heraus, weshalb er ihr diesen Vorschlag machte. Es geschah aus Zartgefühl. Es sollte eben kein Stelldichein werden.
„Ich werde morgen gegen halb sechs nachmittags hier sein, Herr Doktor,“ sagte sie ruhig und stand auf. „Ich muß jetzt gehen. Leben Sie wohl! Schade, daß Sie nicht mal in unserem Sommerheim in Hela vorsprechen können. Nun – vielleicht läßt es sich doch noch machen.“
„Ich – fürchte nein, gnädiges Fräulein. – Alles Gute! Mag Ihnen die Zukunft –“
Da wandte er sich schnell ab und schritt davon.
Abermals hatte er Hildes Hand, die sie ihm zum Abschied entgegenstreckte, übersehen.
Hilde war wie erstarrt. Was bedeutete nun wieder dieser abrupte Abschied? Wollte – wollte er ihr etwa zeigen, daß seine Gefühle für sie sich geändert hätten?
Sie ging mit langsamen Schritten dem Dorfe wieder zu, sogar sehr langsamen, denn die Gedanken, die sie beschäftigten, waren wie Bleigewichte, die an ihr hingen und immer schwerer wurden, je lebhafter diese Gedanken ihr das Zusammentreffen mit Doktor Blink immer seltsamer erscheinen ließen, seltsam, was die Gespräche und sein Benehmen anbetraf.
Je länger Hilde über all dies nachgrübelte, desto mehr fühlte sie, daß von diesem Doktor Blink, mit dem sie soeben zusammen gewesen, etwas ihr Fremdes aufstrahlte. Es war wohl seine Gestalt, sein Gesicht, sein ganzes Äußeres, aber – trotzdem war er es nicht! Schon die Stimme war nicht die jenes Privatdozenten, den man in den Kreisen der Danziger jungen Damen Ritter Toggenburg nannte. Hilde hätte gewünscht, Heinz Blink würde immer so kurz, so voller Energie sprechen wie vorhin in manchen Momenten! –
Und dann – was sollte dieses merkwürdige, so schnell wechselnde Lächeln?! Einmal bitter, schmerzlich, dann wieder so voller Hohn?!
Was nur – was nur konnte Blink so auffallend verwandelt haben, auch innerlich so sehr, daß er es vermied, ihr die Hand zu geben?!
Plötzlich blied sie stehen.
Es war, als ob ganz unvermittelt ein schwarzer Vorhang vor ihren Augen zerriß und dahinter nun grell beleuchtet zwei Männer auftauchten, die sich bis ins kleinste ähnlich sahen.
Zwei Männer! –
Blink und – der Mann im Sessel!
Hilde überkam es wie ein Schwindel. Blitzschnell hatten sich in ihrem Hirn all die Einzelheiten zu einer geschlossenen Kette vereinigt, die ihr jetzt die Überzeugung brachten, daß es gar nicht Heinz Blink gewesen, mit dem sie dort oben an ihrem Lieblingsplätzchen gesessen hatte.
Die erste Anregung zu dieser Vermutung war die Frage gewesen, die sie sich selbst soeben vorgelegt hatte. Weshalb nur will er so streng geheimgehalten haben, daß wir uns trafen? –
Gewiß, er hatte ja geäußert, diese Bitte hinge mit dem Mann im Sessel zusammen. Aber – weshalb in aller Welt sollte denn zum Beispiel nicht einmal ihre Mutter hiervon erfahren, und weshalb hatte er einen Besuch bei Ihnen in Hela so ohne bessere Begründung als nicht angängig hingestellt?!
Und bei dieser Frage zerriß der schwarze Vorhang dann. Zwei Männer wurden sichtbar – Doppelgänger!
Und weiter jetzt die Kettenglieder: die andere Art zu sprechen, das Lächeln, die Verteidigung der Verbrecher, sein Schweigen, als sie ihre Dankesschuld an ihn erwähnten, von der ja der anderen nichts ahnte, schließlich aber ganz besonders seine Behauptung, Gromps tödliche Verwundung wäre nur einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben!
Hilde stand noch immer wie angewurzelt.
Und jetzt flüsterte sie, ohne zu wissen, daß die ferneren Gedanken ihr halblaut über die Lippen kamen:
„Wie ist es nur möglich, daß zwei Menschen sich so – so ähnlich sehen?! – Und – was tut dieser andere gerade hier auf der Halbinsel, hier wo Heinz Blink gleichfalls weilt?“
Sie zuckte jetzt förmlich zusammen wie unter einem starken Schreck.
„Mein Gott – ob er ihm etwa nachstellt, ob er ihn beseitigen will, ob er nur Böses plant – Ähnliches wie damals als – Mann im Sessel?“
Ganz schlaff hingen ihr vor jäher Angst die Arme herab. Sie schaute geradeaus und sah doch nichts. Vor ihren Augen schwamm es wie ein Nebelmeer.
„Mein Gott,“ stöhnte sie auf, und jetzt sprach sie ganz laut. „Mein Gott – was tue ich nur? Wem vertraue ich mich nur an, – wem nur?!“
Kommissar Wendler saß wieder einmal in Holms gemütlichem Herrenzimmer, rauchte gute Zigarren, trank guten Wein und schimpfte über sein dreimal verdammtes Pech, weil ihm der dreimal vermaledeite Britz-Runkel-Kitzing abermals entschlüpft war.
Holm schimpfte nie hierüber, obwohl er doch eigentlich weit mehr Grund dazu gehabt hätte, wenn man bedenkt, daß der Sesselmann ihm außer Koffer, Anzug, Wäsche und so weiter noch runde dreitausend Mark „gemopst“ hatte, – denn das Geld hatte er ja Frau Anastasia Krech sofort ersetzt.
Nein – er schimpfte nie! Je mehr Wendler wütete, desto zuversichtlicher lächelte Hug Holm.
„Wir kriegen ihn schon noch!“ war sein ständiges Beruhigungspulver für den armen Kommissar, der nun schon Monate hinter den Diamanten und den anderen Schmuckstücken herjagte.
Soeben hatte er wiederum dieses Pulver Wendler verabfolgt und hinzugefügt: „Nur Geduld! Wenn der Kerl nicht gerade mit der „Annie“ in der Ostsee untergegangen ist, wird ja zunächst wenigstens das Motorboot irgendwo auftauchen. Dann haben wir wieder eine Spur. Und das weitere findet sich.“
„Ja – findet sich!“ meinte Wendler gereizt. „Nur dieser Malefizlump findet sich nicht! Und dabei muß ich morgen nach Berlin zurück, wo meine Herren Vorgesetzten mich mit sauersüßem Lächeln trösten werden: „Ja – lieber Wendler, das ist eben einer, der selbst Ihnen über ist“!“
Holm schlug sich knallend auf den Schenkel.
„Stimmt: Über ist! Das hat die Kanaille ja auch mir geschrieben!“
Wendler horchte auf.
„Geschrieben?“ fragte er gedehnt.
Holm merkte, daß diese Äußerung besser unterblieben wäre.
„Na ja,“ log er, „ich hab doch heute früh einen Zettel von ihm gefunden – in meiner Wäscheschublade. Darauf stand nur: „Bin Ihnen über – der Sesselmann“. – Ich hab’s zu erwähnen vergessen, lieber Wendler.“
Der glaubte blindlings. –
Dann sagte er:
„Es bleibt also bei unserer Verabredung, Holm! Vorläufig erfährt niemand, sei es, wer es sei, wer Britz-Runkel eigentlich ist.“ –
Am nächsten Morgen dampfte der Kommissar mit dem Frühzuge gen Berlin. Hug Holm aber machte zu derselben frühen Stunde mit Hilfe Bubrinskis seine winzige Privatjacht „Nixe“, ein ganz neues Aluminiumboot, seeklar und befand sich gegen zehn Uhr vormittags bereits im Fischerhafen von Hela, wo er dem alten Bootsmann die Sorge für die zierliche Jacht überließ und nach dem Kurhause frühstücken ging.
Während er die dicke, fette, köstlich duftende Räucherflunder skalpierte, fiel sein Blick auf einen entfernteren Tisch. Plötzlich erhob er sich, zog den Hut, verbeugte sich.
Dabei dachte er: „Ah – also hier stecken Brunners – Mutter und Tochter! Ich vermutete sie in Homburg, Wiesbaden oder sonst wo, wo’s mehr Geld kostet und wo sich kein Mensch richtig erholt!“
Gleich darauf hatte er von dem Kellner erfahren, wo die Kommerzienrätin wohnte. Er bezahlte und schlenderte die Dorfstraße entlang, blieb vor einem Häuschen stehen, ging dann hinein und biederte sich mit der Brunnerschen Logiswirtin in schönstem Danziger Platt an. In fünf Minuten wußte er, daß Hilde stets den Nordstrand bevorzuge und den Hasso bei sich hätte.
Holm schlug die Richtung dorthin ein und dachte weiter „Komischer Zufall! Ich mache ’ne ganz harmlose Vergnügungstour nach hier und schon hat mich wieder der verfluchte Sesselmann insofern in den Klauen, als Brunners mich an Heinz und dieser wieder an den – anderen erinnern! Weiß der Deubel – diese verfahrene Geschichte drängt sich mir immer wieder auf!“
So dachte er, und – und brummte dann halblaut:
„Alter Schwindler – du belügst dich ja selbst! Was hattest du es nötig, hier hinter Hilde dich dreinzumachen! Sei doch ehrlich dir selbst gegenüber! Was hilft’s auch, daß du’s nicht wahrhaben willst! Es ist doch nun einmal so, seit jenem Vormittag, als du diesem frischen, hübschen Mädel dort in Heinz’ Salon gegenübergesessen und ihr die Binde von den Augen gerissen hast, seit du dir in jener Stunde gesagt hattest: „Donnerwetter – die könnte dir gefährlich werden!“ da hast du an sie weit öfter gedacht, als es für dich und deine Seelenruhe gut war – und für deine Freundschaft mit Heinz, der das Mädel doch heimlich anbetet, wie ’ne Göttin! – So ist’s, alter Schwindler! Nicht der Sesselmann spukt hier herum, sondern ein etwas sympathischeres Knäblein mit Pfeil und Bogen, Armor genannt!“
Holm war sehr unzufrieden mit sich – sehr! Am liebsten hätte er kehrt gemacht und wäre schleunigst nach Danzig zurückgesegelt. Aber – da hatte er Hilde in der Ferne auf dem Dünenpfade schon erspäht, ging ihr schnelleren Schrittes entgegen.
Ah – nun hatte sie haltgemacht! Komisch – dieser Gesichtsausdruck von ihr?! Sie schaute ja drein, als hätte sie ein Gespenst erblickt!
Um festzustellen, wohin denn eigentlich ihre starren Augen so unverwandt gerichtet waren, bog er mehr in den Dünenwald ein und näherte sich ihr von der Seite.
Hasso hetzte gerade einem Hasen nach, der in wahnsinniger Angst davonraste und immer wieder Haken schlug.
Holm sah, daß Hildes Lippen sich bewegten. Jetzt – hörte er einzelne Worte, jetzt verstand er ganz deutlich:
„Mein Gott – was tue ich nur? Wem vertraue ich mich nur an, – wem nur?!“
Da sagte er sehr laut und sehr freundlich:
„Mir, gnädiges Fräulein, – mir!“
Hilde fuhr mit einem Schrei herum.
„Ah – Sie, Herr Holm!“ meinte sie dann verlegen. „Wo kommen Sie denn so plötzlich her?“
Er streckte ihr die Hand hin.
„Zunächst einmal, guten Tag, Gnädigste! Ich freue mich riesig, daß Seeluft und Sonne in Ihren Wangen ihre stark bräunende Wirkung bereits bewiesen haben. Sie sehen vorzüglich aus – wirklich! Ich liebe sonnverbrannte Gesichter auch bei Damen. Nur müssen diese die gesunde Bräune nicht in Galopptempo zu erreichen suchen. Das gibt den berüchtigten Sonnenbrand und die unschönen knallroten Nasen und Backenflecken.“
Hilde fühlte wieder seine überlegene Art, seine Gewandtheit und zwanglose Sicherheit, mit der er jeder etwas peinlichen Situation schnell das Mäntelchen des Alltäglichen umzuhängen wußte, um den anderen Teil zu schonen.
Und in diesem Augenblick erinnerte sie sich an das, was sie heute beim Morgenkaffee der Mutter gesagt hatte: „– obwohl ich mir meinen Gatten eigentlich zielbewußter vorgestellt habe – etwa so wie Blinks Freund, den berüchtigten Hug Holm –“
Zielbewußt, energisch, ein Draufgänger, alles andere als ein Schablonenmensch – das war Holm wirklich!
Wie er so vor ihr stand, ein wenig nachlässig in der Haltung, in der Linken die Holzpfeife, die leise qualmte, unterm Arm festgeklemmt die blaue Mütze, die von ihm ebenso unzertrennlich war wie das Grau seiner Anzüge. Wie er so mit harmloser Liebenswürdigkeit mit seinen merkwürdigen Augen sie anschaute, da sagte sie sich: „Auch äußerlich stellt er etwas besonderes vor! An ihm ist alles Eigenart, Kraft, Selbstvertrauen, Selbstbewußtsein. Welch ein Charakterkopf alles in allem!“
Da riß er sie aus diesen abirrenden Gedanken heraus, sagte:
„Gehen wir weiter, Gnädigste. – Es ist nun also jemand da, dem Sie sich anvertrauen können, und dies um so leichter, als ich Ihnen ja kein Fremder mehr bin. Schon einmal haben wir in einer sehr ernsten Sache verhandelt. Damals waren Sie zufrieden mit mir, Fräulein Hilde. – Sie gestatten doch, daß ich das lächerliche „gnädige“ fortlasse, nicht wahr? – Danke – also fortan, Fräulein Hilde! – Und nun, – was bedrückt Sie? Herunter damit, wälzen Sie’s auf meine Schultern ab. Die vertragen was!“
Hilde fühlte sich mit einem Male so frei, so leicht! Welch ein Glück, daß gerade Holm jetzt aufgetaucht war!
Dann – dann fiel ihr aber plötzlich ihr Versprechen ein, das sie jenem Menschen gegeben! Gewiß – eigentlich hatte sie’s Doktor Blink gegeben, nämlich die Zusage, niemandem von dieser Begegnung zu erzählen! Trotzdem, er hatte ja nie behauptet, Doktor Blink zu sein, hatte im Gegenteil ziemlich offenherzig Ansichten geäußert, die nie Heinz Blinks Denkungsart entstammen konnten!
Versprechen blieb Versprechen!
Und dann noch – Hatte dieser andere nicht Andeutungen gemacht – die sie jetzt erst richtig begriff! – Andeutungen darüber, daß er mit zu jenen Verbrechern gehöre, die durch besondere Verhältnisse vom rechten Wege fortgelockt worden sind? Hatte sich in seinen Mienen nicht eine so schmerzliche Melancholie gezeigt, die ihr recht nahe gegangen war, und ließ nicht gerade diese wehe Trauer darauf schließen, daß dieser moralisch Verirrte noch zu retten sei?
Vielleicht – vielleicht erreichte sie dies sogar, vielleicht gelang es ihr, ihn zurückzuführen auf den engen Weg ehrlicher Arbeit und strenger Pflichterfüllung! Wie schön, wie erhebend müßte es sein, sich sagen zu können: „Du hast eine Seele emporgezogen aus dem Sumpf des Verbrechens!“
Hildes Denken spann sich immer fester in diese lockende Vorstellung ein, diesen Gestrauchelten emporzurichten. Und diese Absicht wieder mußte jetzt natürlich ihre ursprüngliche Freude über diese Begegnung mit Holm stark herabsetzen, mehr noch, zwangen sie, auf Ausflüchte zu sinnen, wie sie, ohne ihn zu verletzen, seine Hilfe und seinen Rat ablehnen könnte.
Sie hatten jetzt mehrere Minuten stumm ihren Weg fortgesetzt. Hasso war längst wieder bei ihnen. Er hatte Holm beschnuppert und sich auch von ihm streicheln lassen.
Hilde, von ihren Gedanken ganz in Anspruch genommen, achtete nicht auf den Pfad, stolperte plötzlich über eine Baumwurzel, griff mit der linken Hand Halt suchend nach einem Kiefernast. Dabei mußte sie ihren Roman fallen lassen, den sie in der Linken getragen und in den sie den Hundertmarkschein hineingelegt hatte, den ihr der andere gegeben – für die Einkäufe.
Holm bückte sich nach Buch und Banknote, die sich getrennt hatten, hob beide auf, warf einen erstaunten Blick auf den Schein, tat ihn in den Roman zurück und meinte harmlos lächelnd:
„Ein kostbares Buch! Es ist ja einen Blauen mindestens wert!“
Hilde errötete über und über. Er sah’s, dachte: „Merkwürdig – sehr merkwürdig!“
Dann fragte er laut: „Na, Fräulein Hilde, meine Schultern warten auf die Last, – oder – darf ich Ihnen nicht tragen helfen?“
„Gewiß – gewiß, Herr Holm, – aber erst übermorgen. Bitte, – – sind Sie einverstanden?“
Sie freute sich, denselben harmlosen Ton wie er gefunden zu haben.
„Selbstredend!“ meinte er. „Also übermorgen!“
Dann sprachen sie über Gromp, dem es bereits besser ging, über Heinz Blink, der in Heisternest sich langweilte und über den Referendar Mucki Brunner und sein vergnügtes Bräutchen.
An der Kirche verabschiedete Holm sich.
„Ich fahre sofort nach Danzig zurück,“ log er. „Bitte empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter. Übermorgen bin ich wieder hier.“
Holm eilte zum Fischerhafen hinab, erteilte Bubrinski verschiedene Befehle und wartete dann auf dessen Rückkehr. Um die Zeit zu vertreiben, machte er sich eine Angel zurecht und saß nun mit Engelsgeduld und über Bord hängenden Beinen auf dem Achterdeck und lauerte darauf, daß irgend etwas beißen sollte.
Es bissen ihn jedoch nur ein paar Mücken.
Und es wurde später und später. Bubrinski kam nicht.
Es wurde zwei – drei –! Da hatte Holm derartigen Hunger, daß er sich über die eisernen Rationen der Jacht hermachte und kaltes Büchsenfleisch und Keks futterte.
Dann endlich tauchte Bubrinski auf – verdächtig schwankend!
Holm schaute ihm ohne Ärger entgegen.
„Na, alter Süffel, haben Sie wenigstens was ausgerichtet?“
„Nadierloch – nadierloch – und ob!“ krähte der sehr stark illuminierte Bootsmann. „Hier is der Hundertmarkschein. Das Fräulein hat ’n bei ’n Kaufmann jewechselt und dafür vier Stück Seife, Stück zu 1,50 Emmchen – feinste französ’sche, ferner zwei Büchsen Schuhwichs, eine Flasche Maschinenöl und dann noch die letzte Blechdosen Karbid, die der Koofmich auf Vorrat hatte, mitjenommen. Das hat sie sich allens zusammenpacken lassen und gesagt, es solle bei ’n Kaufmann bis morjen Nachmittag steh’n bleiben, dann würd’ sie’s abholen. – Na – hab’ ich die Jeschicht nich fein befingert?“
„Tadellos – noch tadelloser aber haben Sie diesen Erfolg gleich begossen! – Schad’t aber nischt, Bubrinskichen! Wir bleiben nun bis morgen mindestens hier. Doch darf weder das Fräulein noch deren Mutter etwas davon wissen.“
Holm aß seelenvergnügt weiter indem er den Hundertmarkschein von allen Seiten beschaute und ihn dann Bubrinski zeigte.
„Hier, mein Alter, – sehen Sie, – da hat eine ungelenke Hand mit Tinte ein kleines A und ein K und das Datum 12. 9. 1909 draufgemalt. – Wissen Sie, was das bedeutet, Bubrinskichen? – Sehr einfach, Anastasia Krech erhielt diesen Schein von mir an ihrem Geburtstag geschenkt und tat ihn zu ihren anderen Ersparnissen, die sie nachher einem intimen Freunde von mir anvertraute, nämlich dem Gauner, der unsere „Annie“ später entführte.“
„Ich versteh’ schon, das Aas hat das Jeld der Krechen jeklaut!“ nickte Bubrinski.
„Stimmt nicht ganz – sie hat’s ihm freiwillig gegeben, genau so wie Sie ihm die „Annie“ gaben!“
„Ich sag’ ja – ’s is ’n janz verdammtiger Schweinehund, der falsche Doktor!“ schimpfte der Bootsmann empört.
Dann schickte Holm ihn nach dem Kurhause, um zwei Portionen Mittag zu holen.
Bubrinski zerbrach sich grundsätzlich nicht über Dinge, die seinen Horizont überschritten – und dieser Horizont schloß nur den Segelsport ein–, irgendwie seinen Struppelkopf.
Heute in Hela aber wurde er diesem Grundsatz verschiedentlich untreu. Die Aufträge, die ihm Holm erteilt hatte, waren aber auch zu merkwürdig. So mußte er nachmittags noch dreimal zu dem Krämer rennen und fragen, ob das junge Mädchen das Paket auch noch nicht abgeholt hätte. Dreimal nachfragen – das bedeutete dreimal der Versuchung in Gestalt eines Regals wunderschöner Likörflaschen gegenüberzustehen!
Und dreimal unterlag Bubrinski, so daß er jedesmal stärker illuminiert auf die Jacht zurückkehrte, wo Holm jetzt bäuchlings auf dem Verdeck lag und ein dickes Buch las, das er in Bubrinskis Koje entdeckt hatte und das den vielversprechenden Titel führte: „Der Mann ohne Kopf, oder die Geheimnisse einer Totengruft“.
Holm hatte bisher noch nie in einen Kolportageroman hineingeschaut. Er war überrascht, daß der Inhalt trotz des Titels ganz vernünftig war, nur natürlich außerordentlich spannend erzählt. Er bewunderte die blühende Phantasie des ungenannten Verfassers, der es so trefflich verstand, die Neugier des Lesers auf die Lösung neu ausgesponnener Verwicklungen immer wieder zu erregen.
Hug Holm schien Bubrinskis leicht schwankenden Gang und nicht minder unsichere Stimme nicht zu bemerken, sagte nur:
„Vergessen Sie nicht, daß Sie um jeden Preis den Hund entweder noch heute oder spätestens morgen Vormittag herschaffen müssen. Kaufen Sie beim Fleischer Leberwurst, die fressen Hunde am liebsten. Biedern Sie sich bei Hasso mit Hilfe dieser Wurst an.“
Der Bootsmann schlackerte immer verwunderter den Kopf hin und her. Denn es blieb ja nicht bei diesem Hundediebstahl – oh nein! Gegen Mittag mußte er Werg[5] besorgen. Daraus stellte Holm sich einen wunderschönen Fischerbart her, zog dann Bubrinskis mit Teerflecken und Löchern verzierten Leinenanzug an und stülpte sich auch dessen schlechteste Mütze auf.
So war er von einem waschechten, schmierigen Jan Maat nicht zu unterscheiden. Und in diesem Aufzug trieb er sich nun im Dorfe herum und kehrte erst gegen Mitternacht an Bord der „Nixe“ zurück.
Bubrinski hatte keine Ahnung, was das alles eigentlich auf sich haben könnte. Holm fragen mochte er nicht. Der konnte auch sehr kurz angebunden sein – sehr kurz!
Der Alte hörte ihn heimkehren, merkte es an den Schritten auf Deck und an dem stärkeren Schaukeln der Jacht. Gleich darauf schlug die Uhr der Dorfkirche zwölf. Und Bubrinski dachte: „Verdammt noch mal – ob er hier etwa wieder mal ’n Spitzbuben greifen will? Das soll doch seine Liebhaberei sein – sein Sport! Na – jedes Tierchen hat sein Pläsierchen!“ –
*
Mittags sagte Hilde, da Hasso noch immer sich nicht eingefunden hatte, sehr besorgt zu ihrem Logiswirt:
„Herr Strung, hoffentlich ist Hasso nicht gestohlen worden!“
„Aber Freilein – nee doch – gestohlen!“ grinste der alte Fischer. „Das Biest wird wieder ’ne Liebschaft haben mit der Hündin von ’n Leuchtturmwärter! Da war jestern schon jroßer Hundehochzeit – zwölf Freier und eine Dame man bloß – ’n bißken wenig, Freilein, nich wohr?“
Hilde hat Strung nie wieder nach dem Verbleib Hassos gefragt. Strung war denn doch etwas zu offenherzig. –
Das geschah mittags. Und nachmittags vier Uhr holte sie vom Kaufmann das Paket ab. Im Laden stand ein alter, schmieriger Jan Maat. Sie achtete nicht auf ihn.
Doch der Maat folgt ihr dann ganz unauffällig. Sein Gang war der eines Schwergeladenen, – breitbeinig, stolpernd. Die Helenser hielten ihn für den Bootsmann irgend einer fremden Jacht.
Außerhalb des Dorfes brauchte Hug Holm in seiner Verkleidung dann nicht mehr den leicht Angetrunkenen zu spielen. Er hielt sich stets links von Hilde auf einer Höhe mit ihr im Walde, während sie den gewohnten Dünenpfad nach ihrem Lieblingsplätzchen benutzte.
Beinahe wäre jedoch Holms ganzer Feldzugsplan an der Tücke des Schicksals gescheitert, das ihm hier im Dünenwalde ausgerechnet den Förster in den Weg führte, der, argwöhnisch gemacht durch die schleichenden Bewegungen des schmutzigen Matrosen, nichts anderes dachte, als daß dieser einen Raubüberfall auf die junge Dame vorhätte, die dort weiter nach der See zu dahinschritt.
Ganz plötzlich tauchte der Grünrock vor Holm auf, rief halblaut:
„Bliew mol steh’n, min Jong! Wat hewst du denn hier för, he?“
Holm hatte mit Förster Grunert schon manchen steifen Grog in der Löwengrube[6] getrunken. Alle Segler schätzten den Förster Grunert, der sich hier in der Einsamkeit der Halbinsel langsam zum Original herausgebildet hatte.
„Pst! – verderben Sie mir doch nicht den Spaß!“ fauchte Holm ärgerlich den Beamten an. „Ich bin Holm – Hug Holm, den Sie noch vor vierzehn Tagen im Skat zwölf Mark abgenommen haben. – Genügt Ihnen das als Legitimation?“
„Nee – so wat! Herr Gott – der Herr Holm! – Entschuldigen Sie nur! Ich begreife schon alles! – ’n Spitzbube, wat?“
„Nee – Mörder und Seeräuber!“ grinste Holm und eilte weiter.
„Ein Glück, daß Hilde von dieser Szene nichts bemerkt hat! Die ganze Sache hätte böse vermasselt werden können,“ knurrte der Schmierfink von Matrose.
Er war sehr bald wieder in einer Höhe mit ihr. Hätte sie auch heute den Hund bei sich gehabt, wäre diese nahe Verfolgung unmöglich gewesen. Hasso würde den steten Begleiter bald bemerkt und verbellt haben.
Dann – nach einer guten halben Stunde – stellte er fest, daß Hilde Halt gemacht hatte. Wo, konnte er nicht genau sagen, da gerade hier Büsche und Gestrüpp den Durchblick durch die licht stehenden Kiefern nach der See hin versperrten.
Hug Holm spielte heute nicht zum ersten Mal eine die Jugend begeisternde Lederstumpfrolle als den Feind auf allen Vieren beschleichender „Trapper“. Deshalb fiel es ihm auch nicht weiter schwer, sich der natürlichen Laube soweit zu nähern, daß er nun Stimmen vernahm, die ihn schleunigst dazu bewogen, mit noch größerer Vorsicht in das Gestrüpp sich hineinzuschieben, wobei er tatsächlich nur Zentimeter für Zentimeter vorwärts kam, indem er alle hinderlichen Zweige mit dem Taschenmesser abschnitt. Diese Art des Eindringens in das Gebüsch war leider so zeitraubend, daß ihm ein großer Teil des Gesprächs der beiden vor ihm auf dem Moosboden Sitzenden verloren ging.
Als er jetzt endlich so nahe genug gekommen, um jedes Wort deutlich verstehen und auch die beiden Personen selbst beobachten zu können, war sein erster Gedanke beim Anblick des Mannes dort, der mit Hilde hier offenbar ein Stelldichein vereinbart und für den sie ebenso zweifellos auch die Sachen eingekauft hatte:
„Wahrhaftig, der Lump trägt meinen Anzug – meinen besten, den ich selbst erst zweimal angehabt habe! Und – er paßt ihm recht gut!“
Dann aber horchte er auf. Soeben hatte Hilde nach kurzer Ge–sprächspause gesagt:
„Diese Komödie muß ein Ende haben! – Ich weiß, Sie sind nicht Doktor Blink, sind nur sein Doppelgänger – eben der Mann im Sessel! Gleich nachdem wir uns gestern getrennt hatten, ist mir diese Überzeugung gekommen.“
Ihr Gegenüber schwieg, hatte den Kopf gesenkt, hob ihn nun, schaute Hilde offen an und sagte:
„Sie haben recht, gnädiges Fräulein. Ich bin nicht Doktor Heinz Blink. – Ich bewundere Ihren Mut. Denn ein solcher gehört dazu, hierher zu kommen, wo Sie einen Verbrecher vorfinden würden.“
In seinem Ton war schon wieder dieselbe schmerzliche Bitterkeit wie gestern, stellte Hilde fest.
Dann erwiderte sie:
„Ich gebe zu, daß ich ganz besonders deswegen lange geschwankt habe, ob ich dieses Zusammentreffen mit Ihnen herbeiführen sollte, weil mein vierbeiniger Beschützer mir heute nicht zur Verfügung stand. Trotzdem entschloß ich mich zu diesem Gang. Ich halte Sie nicht für verderbt genug, sich an einem schwachen Mädchen zu vergreifen. Verschiedene Ihrer Bemerkungen gestern ließen mich vermuten, daß es bei Ihnen vielleicht nur der eindringlichen Worte eines teilnehmenden Menschen bedarf, um Sie von diesem dunklen Pfade der Gesetzesverächter abzubringen. Ich gewann gestern eben von Ihnen den Eindruck eines Menschen, der unter dem, was er begangen, selbst leidet und der froh wäre, könnte er unter sein bisheriges verfehltes Dasein einen dicken Strich ziehen.“
Er hatte wieder den Kopf gesenkt. Jetzt rückte er noch mehr von ihr ab.
Ohne aufzusehen fragte er dann:
„Und Sie sind lediglich in der Absicht hergekommen, gnädiges Fräulein, zu versuchen, mich zur Umkehr zu bewegen, zum Verlassen dieses Weges, der noch jeden ins Gefängnis oder Zuchthaus geführt hat?“
Jetzt sah er auf und Hilde scharf prüfend an.
„Weiß niemand, daß Sie mit mir hier zusammen sind?“ fuhr er lebhafter fort. „Verargen Sie mir diese Frage nicht! Ich bin ein gehetztes Wild. Hinter mir ist eine Meute drein, die über tausend Mittel verfügt, mich zu fangen. Hinter mir ist ganz besonders einer her, der schon vielen meinesgleichen gefährlich wurde: Holm, – der Ihnen kein Fremder sein dürfte!“
Hilde hielt seinen Blick ruhig aus, entgegnete:
„Niemand weiß, daß ich Sie hier gefunden habe, Sie, den Vielgesuchten! –
Als ich gestern nach unserem Beisammensein dem Dorfe zuschritt, stieß ich zufällig auf den Mann, den Sie eben genannt haben – auf Holm! Er war nicht etwa Ihretwegen hier nach Hela gekommen, nein, er hatte nur eine Vergnügungsfahrt mit seiner „Nixe“ gemacht. Viel fehlte nicht, und ich hätte Holm meinen Verdacht mitgeteilt, daß ich dem falschen Doktor Blink hier begegnet sein dürfte. Doch ich schwieg, weil ich versuchen wollte, ob ich nicht Ihre Zukunft anders gestalten könnte. Ich sagte Holm nur, ich würde ihm übermorgen – also morgen – erklären, weshalb er mich in so verstörtem Zustand angetroffen hätte.
Holm wollte dann nach Danzig zurück, um morgen abermals herzukommen. Er wird auch mit der „Nixe“ in See gegangen sein, denn ich bin ihm nicht mehr begegnet. – So, das ist alles, und – es ist die Wahrheit!“
Er saß vornübergebeugt da. Seine Rechte hatte das Moos beiseite gescharrt, und nun ließ er den Sand darunter wie spielend durch seine Finger gleiten.
„Sie sind ein seltener Frauencharakter,“ begann er dann. „Von hunderttausend ihrer Mitschwestern würde vielleicht – vielleicht eine so gehandelt haben wie Sie! Sie verdienen es mehr als jeder andere Mensch, daß ich vor Ihnen eine rückhaltlose Beichte ablege. Ich will dabei nichts beschönigen, will mich nicht etwa weiß zu waschen suchen. Ich werde auch nicht allzu ausführlich sein. – Eine Frage vorher, Sie wissen nicht, wer ich bin?“
„Nein. Wenigstens weiß ich nur das, was mein Bruder, der Referendar Brunner, von Wendler über Sie gehört hat. Sie sollen ja wohl Britz heißen –“
„Oh, so hat also Holm bisher die Hauptsache verschwiegen, denn ich bin überzeugt, daß er mich erkannt, daß er – das wahre Gesicht durchschaut hat.“
Eine kurze Pause. Dann:
„Ich heiße mit richtigem Namen – Fritz Blink, bin der Halbbruder von Heinz!“
Hilde stieß ein ungläubiges: „Aber – der ist doch tot!“ hervor.
„Angeblich!“ sagte Fritz Blink. „Der, der mit jenem Dampfer unterging, besaß meine Papiere, die ich ihm freiwillig überlassen hatte. Es konnte mir nur recht sein, daß ich auf diese Weise – gestorben war.“
„Mein Gott – der Bruder des Doktors!“ meinte Hilde leise. „Daher auch diese Ähnlichkeit! – Wer – wer hätte das gedacht!“
Ihre Blicke glitten über sein Gesicht scheu hinweg.
„Ja – sein Bruder! Nicht wahr, gnädiges Fräulein, jetzt fragen Sie sich im stillen, wie konnte dieser Fritz Blink nur so – so verroht sein, daß er in dieser Weise gegen seinen Bruder vorging?! – Ich will Ihnen das alles zu erklären versuchen. – Meine Mutter starb sehr bald nach meiner Geburt. Da heiratete Vater die Schwester meiner Mutter, und deren Sohn ist mein Halbbruder Heinz. Ich bin also der ältere von uns, wenn der Unterschied auch nur zwei Jahre beträgt. Meine Stiefmutter, gleichzeitig ja auch meine Tante, hatte mich nun ständig fühlen lassen, daß ihre Liebe einzig und allein ihrem Kinde gehörte, und mein Vater, der seine zweite Frau geradezu vergötterte, ließ sich in dieser Hinsicht nur zu leicht beeinflussen, scheute sich, mir Zärtlichkeiten zu spenden, um seine Gattin nicht zu kränken. Schon frühzeitig empfand ich die kalte Gleichgültigkeit, die mir von meinen Eltern entgegengebracht wurde und die eigentlich nur einer auszugleichen suchte: Heinz! – Trotzdem mochte ich ihn nie leiden, zumal sich sehr bald, als wir die Schule besuchten, seine größere Begabung auffällig bemerkbar machte und er mich, den älteren, schnell überflügelte. –
So wurde in mir durch nie gestillte kindliche Sehnsucht nach Liebe, durch Verbitterung, Neid und das Gefühl steten Zurückgesetztwerdens in kurzem ein Seelenzustand hervorgerufen, der in der Hauptsache aus Trotz, Wortkargheit und zeitweisen unbestimmten Wünschen nach Rache bestand; so wurde ich in reiferem Alter, da mir das Elternhaus verhaßt war, in schlechte Gesellschaft gedrängt, wo ich mehr Verständnis für meinen dumpfen Groll gegen alle und alles fand als in unseren Kreisen, wo jeder verpflichtet ist, seine wahre Seelenbeschaffenheit tunlichst zu verheimlichen, wo Zwanglosigkeit als unvornehm und Aufrichtigkeit als minderbegabt gilt.
So sank ich von Stufe zu Stufe, unterschlug Bankgelder, plünderte die Kasse eines Gutsbesitzers, wurde Hochstapler, trat unter allen möglichen Namen auf, bemühte mich, das Verbrechen als Kunst auszuüben, und – hatte bei alledem stets das Glück, nie gefaßt zu werden. – Das wäre so in großen Zügen mein Lebensgang. Nun zu denjenigen Einzelheiten, die ich hier nicht gut übergehen kann. –
Bevor ich das Elternhaus, das für mich nie ein solches gewesen war, für immer verließ, verschaffte ich mir insgeheim Kenntnis von dem Testament meines Vaters. Ich ahnte, daß er mich darin schlechter bedacht hätte als Heinz, fand diese Vermutung auch bestätigt. Ich war auf den Pflichtteil gesetzt worden, dazu noch mit allerlei Nebenbestimmungen, die mir die freie Verfügung über das Erbteile so gut wie ganz entzogen und in denen diese Beschränkung sehr genau begründet war. Wenn je in meinem Herzen ein wilder Haß gegen meinen Vater, gegen Heinz und gegen die ganze Welt aufgelodert ist, dann war’s in jener Minute, als ich dieses Testament überflog! –
Ein Zufall war’s dann, daß ich, um in Südafrika als Hochstapler mich im großen zu betätigen, denselben Dampfer benutzte, auf dem mein Vater nach Kapstadt in geschäftlichen Angelegenheiten fuhr. In einer erregten Aussprache warf ich ihm vor, daß hauptsächlich der Mangel an Liebe, unter dem ich als Kind gelitten, mich zum Verbrecher gemacht hätte. Und er schien wirklich zu erkennen, wie unendlich viel an mir gesündigt worden war. Er versprach mir das Testament sofort nach seiner Heimkehr zu ändern, verlangte aber natürlich von mir, einen ehrbaren Lebenswandel fortan zu führen. Und ich hatte nun auch die besten Absichten dazu. In Kapstadt trennten wir uns. Er ging in die Minendistrikte und ist dort verschollen. Dies erfuhr ich erst durch die Zeitungen, als ich bereits wieder in Deutschland war.
Aus Enttäuschung darüber, daß Heinz nun doch Haupterbe geblieben war, beschloß ich, das Testament, das von meinem Vater, wie er mir gegenüber flüchtig angedeutet hatte, vor seiner Abreise in einem Geheimfach verwahrt worden war, heimlich zu vernichten. Dann mußten Heinz und ich zu gleichen Teilen erben. Ich traute mir sehr wohl zu, die Urkunde zu finden, da ich die Vorliebe unseres Vaters für Möbel mit verborgenen Fächern kannte und verschiedene dieser Geheimkästen und -schubladen von früher her zu öffnen wußte.
Um nun meinem Bruder den Aufenthalt in der Wohnung zu verleiden und um ungestört dort suchen zu können, gedachte ich die Rolle des Doppelgängers zu spielen. Zu meinem Plane gehörte nichts weiter als die nötige Kühnheit, denn wir sehen uns ja so ähnlich, wie dies sonst nur bei Zwillingen vorzukommen pflegt.
Die Geldmittel für einen längeren Aufenthalt in Danzig verschaffte ich mir durch einige Raubzüge, die die Polizei ja auch bereits auf mein Konto gesetzt hat. Der Kölner Streich war nur eine Gelegenheitssache und eigentlich überflüssig.
Ich mietete mich hier dann bei Frau Döbberke ein. Deshalb kenne ich auch Sie, gnädiges Fräulein, so wie all die Leute, die in Ihrem Hause aus und ein gingen, von Ansehen sehr gut. Ich wollte nun gleichzeitig auch meine Kapitalien ein wenig nutzbringend arbeiten lassen und wurde daher Geldverleiher. Ich gebe zu, daß mein ursprünglicher Leichtsinn und meine zügellose Genußsucht in letzter Zeit sich in eine krankhafte Geldgier verwandelt hatten. Ich bin fast geizig geworden. Mir schwebte ein Millionenvermögen vor, mit dessen Hilfe ich später ein großzügiges überseeisches Unternehmen zu gründen gedachte.
Mein Vorhaben gelang mir, wenigstens insoweit, als ich meinen Bruder nächtelang aus der Wohnung verscheuchte. Aber – das Testament fand ich nicht. Dann merkte ich, daß Holm meinem Bruder seine Hilfe gegen den Doppelgänger angeboten hatte. Der Danziger Boden wurde mir heiß. Ich wollte das Spiel aufgeben, vorher Holm aber noch beweisen, daß ich – ihm über war.
Ich habe ihn absichtlich in mein Zimmer gelockt. Töten wollte ich ihn nicht, nur unschädlich machen, bis ich mich in Sicherheit befand. Nun – ich habe Pech gehabt. Nachdem ich das Auto zum Abholen des Koffers nach der Winterfeldstraße geschickt hatte, entnahm ich die Handtasche ihrem Versteck. Hierbei hat Gromp mich beobachtet.
Ich wiederhole, was ich Ihnen schon gestern sagte, gnädiges Fräulein. Als er sich mir dann in den Weg stellte, wollte ich ihn nur mit vorgehaltener Pistole zwingen, mich nicht aufzuhalten. Die Waffe, von mir schon vorher gespannt, entlud sich, ohne daß ich den Abzug berührte. Ich habe nachher Schießproben mit der Pistole gemacht und festgestellt, daß die Feder des Abzugs mitunter von selbst vom Zapfen abgleitet und dabei ein Schuß ohne irgendwelche äußere Beeinflussung losgehen kann.“
Fritz Blinks innerer Erregung hatte sich immer mehr gesteigert, je länger er sprach. Sein Ton war bald bitter, bald ironisch, bald wieder durchweht von tiefer Melancholie. Die ganze Unausgeglichenheit und Zerrissenheit seiner Seele kamen in dieser Beichte deutlich zum Ausdruck.
Nach kurzer Pause fuhr er dann fort, indem er gleichzeitig aufsprang und die Arme, wie gepackt von neuem Entsetzen, halb emporreckte:
„Was ich empfand, als ich Gromp fallen sah, als ich erkannte, daß ich ihn gemordet hatte und daß niemand mir glauben würde, es läge nur ein unglücklicher Zufall vor, vermag ich auch nicht im entferntesten anzudeuten! In diesem Augenblick kam mir zum Bewußtsein, in welchen Abgrund mich dieser Kampf gegen Gesetz und Recht gestürzt hatte, in diesem Augenblick nahm ich mir vor, ein anderer zu werden, abzulassen von alledem, was mir bis dahin eine schändliche Genugtuung gewährt hatte! –
Glauben Sie nicht, daß es etwa die Angst vor der Strafe war, die diese Verwandlung in mir hervorrief, – nicht die Furcht vor dem mir drohenden Henkerbeil! Nein – es war etwas anderes – es war eben, als ob durch jenen unglückseligen Schuß die Nacht in meiner Seele urplötzlich gelichtet wurde und vor mir nun mein bisheriges Leben in greller Beleuchtung wie ein häßliches Gemälde sich zeigte. Ja – dieses Leben sollte aufhören! Aber – zunächst wollte ich frei sein, wollte ich mir noch die Freiheit erkämpfen. Ich mußte es! Fing man mich, würde ich zweifellos dem Tode verfallen. Also nochmals alles an Schlauheit und keckem Wagen zusammengerafft, nochmals Holm den Beweis geliefert, daß er mir nicht ebenbürtig sei! Ich brauchte Kleider, Wäsche, – noch manches andere! Bei Holm holte ich’s mir! Auch Bargeld mußte ich genügend auf meiner Flucht mitnehmen. Ich selbst besaß gerade damals kaum zweihundert Mark in bar. Ich hatte alles ausgeliehen. Holms Wirtschafterin streckte es mir vor – besser, übergab’s gutgläubig dem Doktor Blink. Sie soll’s auf Heller und Pfennig zurückerhalten. Und Holm ließ ich dann noch ein paar Abschiedszeilen zurück! Ihn hielt ich für schuldig an dem Unheil, das mir widerfahren – an Gromps Tod! Er hatte mich ja durch seinen Besuch in meinem Zimmer gezwungen, so überhastet die Flucht zu ergreifen, er hatte die Geschehnisse ins Rollen gebracht! – Dann wollte ich mit dem Motorboot „Annie“ nach Schweden hinüber –“
Hier machte Hilde eine Gebärde der Überraschung.
„Mit der „Annie“? Dem Klubboot? – Ja, davon weiß bisher ja niemand etwas?!“
„Oh – Holm wird er schon wissen, – nein, er weiß es sogar ganz bestimmt – ganz – bestimmt!“
Diese Worte sprach er überlaut, und seine Blicke glitten rasch zu dem Gestrüpp hin. „Der Motor versagte jedoch etwa dreihundert Meter von hier nach Norden zu. Daher war ich gezwungen, meinen ursprünglichen Plan aufzugeben. Tagelang habe ich nun hier in der Verborgenheit gehaust.
Dann fand ich am Strande ein paar von Kurgästen zurückgelassene Zeitungen. Und in einem dieser Blätter entdeckte ich eine Notiz, in der gesagt war, daß die Genesung des Regierungsassessors von Gromp bereits recht gute Fortschritte gemacht hätte. – Eine Zentnerlast fiel mir da von der Seele! Ich nahm diesen glücklichen Zufall, daß Gromp mit dem Leben davongekommen war, als ein gutes Vorzeichen für meine Zukunft, für das neue Leben hin.
Mit Eifer arbeitete ich weiter an der Reparatur des Motors. Doch erst heute Mittag bin ich damit fertig geworden, sonst hätte ich wahrscheinlich schon in der verflossenen Nacht die Halbinsel verlassen, da mir meine Sicherheit plötzlich aufs ernstesten bedroht schien. Doch hiervon später. –
In der Hauptsache bewog mich der Mangel an den Dingen, die Sie mir freundlichst besorgen wollten, zum Bleiben. Ich selbst konnte diese Sachen ja nicht einkaufen. Es wäre zu gefährlich gewesen, mich dort drüben im Dorfe zu zeigen. Ein Zufall – irgend eine Begegnung! – hätte mir verhängnisvoll werden können.
Dann – riefen Sie mir gestern von hier oben zu, gnädiges Fräulein. Und gerade die Unterredung mit Ihnen hat mich nochmals in meinem Vorhaben bestärkt, von Grund auf ein anderer zu werden. Sie sprachen mit solcher Verachtung von dem Verbrecher, der meinen Bruder geängstigt, der Gromp niedergeschossen hat, daß mein Gewissen sich in Folterqualen wand.
Und nun heute – heute kamen Sie ohne Schutz, ohne Begleitung zu mir, obwohl Sie wußten, wer ich war – der Mann im Sessel! Sie kamen, weil Sie meine Seele retten wollten! Und – Sie sind nicht umsonst gekommen. Bei der Liebe zu meiner Mutter, die ich nie gekannt und von der er ich doch stets angenommen habe, daß sie mich mit Zärtlichkeit großgezogen hätte, – bei diesem heiligen Gefühl schwöre ich Ihnen heute: Nie wieder wird die Zeit etwas von dem genialen Hochstapler und Dieb hören, der unzählige Namen führte, der unzählige Verfolger hinter sich hatte und doch stets entrann! In harter Arbeit will ich gutmachen, was ich gefehlt habe!“
Er schwieg. Da erhob sich auch Hilde rasch, streckte ihm die Hand hin:
„Ich glaube Ihnen – alles, alles! Und – ich freue mich ja so herzlich, daß ich ein wenig dazu beitragen durfte, einen Verirrten zurechtzuweisen! – Nein, treten Sie nicht zurück! Ich meine es gut mit Ihnen! Nichts ist so schlimm, als daß es sich nicht gutmachen ließe, – ausgenommen ein Mord! – Schade, daß gerade Holm nicht diese Ihre Beichte mit angehört hat. Ich halte ihn für einen vorzüglichen Menschenkenner, ja, ich bewundere ihn in vielem. Er ist keiner von den landläufigen Charakteren. Er wird eher als jeder andere auch für Sie Entschuldigungsgründe finden!“
Sie drückte Blinks Hand kräftig.
Da – sah sie in seinem Gesicht ein ganz schwaches Lächeln, stutzte. – Mein Gott, – ob etwa diese Beichte doch nur Komödie gewesen?!
Doch nun sagte er schon:
„Holm hat diese Beichte mitangehört, gnädiges Fräulein.“ Er sprach wieder sehr laut. „Er hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, bei mir größere Fähigkeiten vorauszusetzen, als bei einem Durchschnittsverbrecher.“
Er wandte sich um, schritt auf die Stelle zu, wo Holm verborgen lag.
„Herr Hugo Holm,“ meinte er mit feiner Ironie, „bitte beweisen Sie, daß ich soeben die Wahrheit sprach!“
Nun – dem blieb nichts anderes übrig, als sich zu erheben.
Hilde stieß einen leisen Schrei aus.
„Das – das soll Holm sein,“ meinte sie dann ungläubig.
„Ich bin’s, Fräulein Hilde, – wenn auch im Kostüm!“
Er kam um das Gestrüpp herum, und dann standen die beiden Gegner sich gegenüber. Ihre Augen ruhten eine Weile ernst ineinander.
„Auch ich glaube Ihnen, Fritz Blink,“ sagte Holm langsam und reichte ihm die Hand. „Ich denke aber, es ist besser, wir besprechen alles weitere in Ihrem Versteck. Ein Zufall könnte es mit sich bringen, daß Sie hier bemerkt werden und daß Ungelegenheiten für Sie daraus entstehen. – Ich kenne Ihr Versteck. Ich hab es gestern vor Mitternacht ausgekundschaftet.“
Blink kämpfte gewaltsam gegen eine Rührung an, die ihm Tränen in die Augen trieb.
„Auch Sie – auch Sie glauben, daß noch ein anständiger Mensch aus mir werden kann?“ sagte er ganz leise. „Ich – ich danke Ihnen – von Herzen! – Daß Sie meinen Schlupfwinkel entdeckt haben, weiß ich. Ich habe Sie beobachtet, wie Sie den Windbruch dort an der kleinen Bucht im Westen umschlichen. Ich ahnte, daß Sie es waren.“
Dann gingen die drei weiter am Rande des Dünenwaldes entlang, kamen nach einer halben Stunde an eine Stelle, wo von einem Steilhang einige Dutzend Kiefern zusammen mit Büschen und Gestrüpp in eine schmale Bucht hinabgestürzt waren und sich so gelagert hatten, daß sie eine Art grünes Gewölbe schufen, unter dem nun die „Annie“ einen sicheren Liegeplatz gefunden hatte.
Blink geleitete Hilde und Holm an Bord und in die winzige Kajüte.
Was hier weiter verhandelt wurde, kam allen denen zu Gute, die durch den genialen Gauner bestohlen oder betrogen worden waren, der jetzt nicht nur die Preziosen des Kölner Juweliers herausgab, sondern auch Holm beauftragte, seine unter falschem Namen niedergelegten Wertpapiere zur Entschädigung der Betroffenen zu verwenden, außerdem ihm auch nahelegte, seinen Bruder Heinz zu bitten, aus dem väterlichen Vermögen den Rest der zu diesem Zweck notwendigen Summen vorzustrecken.
Hilde saß bei diesen Besprechungen zumeist stumm dabei und doch hatte diese Stunde in der kleinen Kajüte für ihre Zukunft eine ausschlaggebende Bedeutung.
Holms merkwürdige, von den meisten so arg verkannte Persönlichkeit erschien ihr wie die Ergänzung ihrer eigenen weit- und weichherzigen, einem natürlichen Empfinden entspringenden Anschauungen über Menschen und Dinge. Wenn sie Holm jetzt im stillen mit Heinz Blink verglich, begriff sie kaum mehr, daß sie je an diesen als an den Mann gedacht hatte, der ihr ein volles Glück geben und ihr als Weib auch genügend achtunggebietend erscheinen könnte. –
Hilde kehrte dann allein nach dem Dorfe zurück. Holm wollte Blink auf der „Annie“ bis Bornholm begleiten und ihn in Sicherheit bringen.
Ihr Abschied von Blink war warm und herzlich. Seine Augen schimmerten feucht, als er sie nochmals seinen guten Engel nannte.
Bubrinski saß auf dem Vorderdeck der „Nixe“, angelte und freute sich diebisch, daß er bereits zehn schöne Barse[7] gefangen hatte, während Holm gestern – „pure nuscht“ herausgeholt hatte.
Dann tauchte Hilde auf dem langen Bootssteg auf.
Bubrinski sah sie schon von weitem, schlüpfte schleunigst unter Deck, wo Hasso faul all die viele Leberwurst verdaute, die sein klägliches Heulen schnell besänftigt hatte.
Hilde hatte das Verschwinden des Alten sehr wohl bemerkt, ging an Bord, und – gleich darauf umtanzte Hasso sie mit wildem Freudenkläffen.
Bubrinski aber kratzte sich den Kopf über den Inhalt des Zettels, den Holm ihm durch Hilde geschickt hatte.
„Eine ganz verdammtigte Geschicht’, diese Tour nach Hela!“ knurrte er. „Nu soll ich unauffällig für fünf Tage Proviant einkaufen und dann heute nacht mit der „Nixe“ nördlich des Leuchtturms kreuzen! – Da schreibt der Holm zum Schluß: „Hauptbedingung: Maul halten und schlau sein, – dann gibt’s fünfzig Mark extra!“ Na schön, – für fünfzig Mark bin ich schlauer wie ’n Fuchs und schweigsamer als alle Kirchhöfe Danzigs zusammengenommen!“ –
Fünf Tage später war Holm bereits wieder nach einer vom Wetter ebenso begünstigten Rückfahrt in Heisternest, um seinem Freund Heinz nun alles Nötige mitzuteilen
Er traf diesen am Schreibtisch an – mitten unter dicken gelehrten Werken.
Der Doktor war recht zerstreut, redete allerlei durcheinander, schlug sich dann plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn und rief:
„Himmel – das Wichtigste! Da – lies diese Kabeldepesche aus Kapstadt. Gestern Abend traf sie ein. – Die Freude, nein, die Freude! Mein Vater lebt!“
So war’s auch. Der alte Herr Blink hatte telegraphiert:
„War zusammen mit zwei englischen Mineningenieuren bis jetzt in Gefangenschaft bei den Zulus. Durch Lösegeld endlich frei, kehre alsbald heim. Teile Ankunft dort noch mit. – Dein glücklicher Vater.“
Holm merkte, daß der brave Heinz schon wieder ganz von den Gedanken an eine neue wissenschaftliche Arbeit in Anspruch genommen war, die ihm endlich die ersehnte Anerkennung seiner Fachgenossen eintragen sollte.
Deshalb nahm der Doktor auch all die Neuigkeiten über den Mann im Sessel mit recht mäßigem Interesse entgegen. Ja sogar bei der Erwähnung von Hilde Brunners warmherzigem Eintreten für Fritz Blink meinte er nur:
„Ah – sie ist in Hela. Bestelle doch Grüße von mir. Ich würde ja den Damen gern mal einen Besuch abstatten, aber ich möchte mich von meiner Arbeit nicht ablenken. Weiber und Wissenschaft vertragen sich schlecht miteinander.“
„So? – Und – die Liebe?“ fragte Holm gespannt.
„Liebe? – Ach, weißt du, Hug, ob ich überhaupt zur Ehe tauge, ist mir mittlerweile doch recht zweifelhaft geworden. Ich möchte mich erst prüfen, bevor ich –“
„Gott sei Dank!“ sagte da Holm erleichtert. „Nein – du taugst nicht zur Ehe, wenigstens nicht mit Hilde! Das merke ich jetzt auch.“
Holm hatte es sehr eilig, nach Hela zu kommen. Nachmittags lief die „Annie“ dort in den Hafen ein. Und gleich darauf ging Holm im Geschwindschritt den Dünenpfad entlang.
Hilde und Hasso waren auf ihrem Lieblingsplätzchen. Als Holm auftauchte, sprang Hilde auf die Füße, eilt ihm entgegen.
„Wie – schon zurück?“ rief sie. „Wie ist denn alles abgelaufen?“
„Glänzend – glänzend! Ich komme soeben von Heinz. Der hat mir erklärt, er tauge nicht recht für die Ehe. Das war für mich wichtiger als den anderen Blink in Sicherheit gebracht zu haben. Ich konnte doch meinem besten Freunde nicht gut die – Braut wegschnappen – ohne vorher seine jetzigen Gefühle zu sondieren.“
Er schaute Hilde mit übermütig leuchtenden Augen dabei an.
Sie war sehr rot geworden.
Da legte er die Linke einfach um ihre Schulter, hob ihr sanft mit der Rechten das Köpfchen, fragte:
„Darf ich, Hilde?“
Und – er durfte!
Er küßte sie – und sie schlang ihm die Arme fest um den Hals.
„Ich habe mich gesehnt nach dir,“ sagte sie schlicht. „Wir – werden sehr glücklich sein, denn du bist – ein Mann!“
„Stimmt, – und der andere Mann, der Mann im Sessel, hat bei uns mit einem letzten, famosen Gaunerstreich Erfolg gehabt – als Ehestifter!“
Anmerkungen: