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Die blaue Königin

 

Die blaue Königin

 

Kriminalroman

von

Walther Kabel

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89

 

Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Sie kam von weit her, von einer Insel.

Lange hatte sie dann in einem ernsten, muffigen Dienstzimmer im Verborgenen gelebt. Strenge Beamtenaugen glitten rastlos über sie hinweg. Niemand kümmerte sich um ihre seltene Schönheit, ihre besonderen Reize.

Bis dann eines Tages einer sie entdeckte, der volles Verständnis für ihren hohen Wert hatte, der sofort von heftigster Leidenschaft für sie gepackt wurde und nachher – an ihrem Besitz zu Grunde ging. Und noch manches Menschen Schicksal nahm durch sie eine andere Bahn.

Sie wurde der Mittelpunkt eines spannenden Dramas. Und doch erfuhr die große Welt nichts davon. Nur wenige wußten, daß mit um ihretwillen Lebensfäden jäh zerrissen worden waren.

Ein Franzose gewann sie für sich. Nun wohnt sie in einem der glänzendsten Paläste von Paris als Eigentum eines Mannes, dessen Reichtum sprichwörtlich ist. Keine Prinzessin wird so sorgsam behütet wie sie.

Sie hat es weit gebracht. Ob sie zuweilen an das ernste, muffige Dienstzimmer denkt?!

*

Herr August Müller erschien punkt halb neun wie immer am Kaffeetisch. Frau Klara Müller, schlank, mittelgroß und stets mit einem verschlossenen Ausdruck in dem welken Gesicht, noch in einer seidenen Morgenjacke und mit hellblauen, türkischen Pantöffelchen an den Füßen, wischte nebenan im Herrenzimmer Staub.

„Ein Prachtwetter wieder,“ meinte er laut. „Fast zu warm für Mai.“

Er setzte sich, bestrich sehr umständlich ein Brötchen mit Butter und Marmelade und blickte dann auf das Zifferblatt der großen Standuhr.

„Wo bleibt Ilse nur wieder?! An Pünktlichkeit kann sie sich nicht gewöhnen,“ knurrte er.

Frau Klara füllte ihm die Kaffeetasse.

„Sie näht für Ellychen einen neuen weißen Kragen auf die Kostümjacke,“ erklärte sie dabei.

Erst eine Stunde später erschien dann Ellychen Müller, auch Mohrchen genannt, im Herrenzimmer, wo der Vater jetzt am Schreibtisch saß.

„Morgen, Papa!“

Er hatte sich im Schreibtischsessel umgedreht und musterte sie kritisch.

„Schon fix und fertig angezogen zum Ausgehen?“ sprach er sie an. „Und das neue Frühjahrskostüm – heute am Alltag!“

„Ich muß ins Kaufhaus. – Wie gefalle ich dir, Papa? Das zarte Blau steht mir doch famos, – nicht?“

Er nickte ihr, schon wieder ganz freundlich, zu.

„Also ins Kaufhaus, Ellychen. – Du könntest mir Malzbonbons mitbringen. Du kennst ja meine Sorte. – Bin ich nicht wieder recht heiser? Wir werden doch wohl dieses Jahr ein anderes Trinkbad aufsuchen müssen, damit ich auch meinen Hals auskuriere.“ –

Im Erfrischungsraum des Kaufhauses des Westens traf sie „ganz zufälligen“ mit Herrn Albert von Nimski zusammen, den sie vor einer Woche durch ihre Intimste Lilli Strauß kennengelernt hatte.

„Ah – heute in Blau!“ meinte Nimski und drückte ihr fest die Hand. „Blau ist meine Lieblingsfarbe – Tatsache! Steht Ihnen famos, gnädiges Fräulein! – Oder – darf ich Fräulein Elly sagen? – Bitte, bitte!“

Ellychen wurde verlegen. Schlagfertigkeit und sicheres Auftreten war nicht ihre starke Seite. Und daher erwiderte sie gar nichts, sondern wandte sich den in den Glasschränken ausgestellten Torten zu.

So keck und unverfroren sie auch den Eltern gegenüber war, mit Herren eine ungezwungene Unterhaltung zu führen, fiel ihr schwer.

Und so sagte sie nachher eigentlich nur aus Verlegenheit um einen besseren Gesprächsstoff:

„Wenn Sie nicht den blonden Spitzbart hätten und einen Kneifer trügen, Herr von Nimski, würde jeder Sie leicht mit einem Schriftsteller verwechseln, der bei uns im Gartenhaus wohnt.“

*

Die Geschichte der blauen Königin, wie ich sie hier den Leser vorsetze, stammt zum Teil von dem Magistratsassessor Doktor Karl Bender.

Wir, Bender und ich, sind erst durch die seltsamen und gleichzeitig erschütternden Ereignisse, die sich damals in Berlin abspielten, Freunde geworden. Leider nur für kurze Zeit. –

Als ich mich dann entschloß, diesen packenden Stoff für meine Zwecke auszuschlachten, kamen mir Benders Aufzeichnungen sehr gelegen.

Ich stelle mich vor: Erwin Burg, 29 Jahre, bisher nicht vorbestraft.

Für einen Teil meiner Mitmenschen war ich damals – na sagen wir – eine gescheiterte Existenz.

Ich hätte nach kaum noch zwei Jahren mein Staatsexamen als Oberlehrer für alte Sprachen ablegen können. Zum Segen für so und so viele Generationen von Schülern wurde ich aber der ernsten Philologie abtrünnig. Ich wäre ein sehr schlechter Erzieher geworden. Ich hatte ein zu großes Verständnis für den übermütigen Freiheits- und Betätigungsdrang der heranwachsenden Jugend. Ich wurde aus Neigung Schriftsteller, nebenbei auch Illustrator und Witzblattzeichner.

Nun weiter die Geschichte der blauen Königin.

Ich nahm im „warmen Aschinger“ am Friedrichstraßenbahnhof mein sehr bescheidenes Mittagessen ein. Die Gedanken, mit denen ich meine Erbsensuppe auslöffelte und das kleine Helle schluckweise austrank, entsprachen meinem Kassenstand. Mit zwei Mark in der abgegriffenen Börse würde ich wieder auf die belebte Friedrichstraße hinaustreten und für eine ungewisse Zeit vom „Aschinger“ Abschied nehmen. Die Zeit häufiger Leihhausbesuche würde wieder beginnen!

So schlecht war es mir seit langem nicht mehr ergangen.

Ich wollte gerade zahlen, als ein Herr sich zu mir an den Tisch setzte. Mit einem „Sie gestatten“ nahm er Platz, bestellte ein Schnitzel und ein großes Helles, begann dann eifrig mit einem Füllfederhalter einen Brief zu schreiben. Seine mit Papieren vollgepfropfte Brieftasche hatte er neben sich gelegt. Ich schätzte ihn auf einen Geschäftsreisenden ein. Er war sehr gut angezogen, und eigentlich paßte er mehr in ein Weinrestaurant hinein.

Ich zahlte, der Kellner verschwand wieder, und ich trank mein Glas aus. Ich wollte mich gerade erheben. Da geschah das Merkwürdige.

Mein Tischnachbar schob mir ganz unauffällig ein Blatt Papier hin. Darauf stand wie eine Warnung als Überschrift:

Vorsicht!

Auf der Tischplatte liegen lassen! Mich nicht ansprechen! Hohe Bezahlung zugesichert!

Jeder wird zugeben müssen, daß ich allen Grund hatte, im ersten Augenblick „starr vor Erstaunen“ zu sein. Ich gehöre jedoch zu den Leuten, die so leicht nicht zu verblüffen sind.

Also, ich las weiter:

Wenn Sie dreihundert Mark ohne Mühe verdienen wollen, finden Sie sich heute nachmittag fünf Uhr Dresdenerstraße 46, 1 Treppe, Pension Schielke, ein, fragen Sie dort nach Herrn Albert von Nimski und erwarten Sie diesen in seinem Zimmer, wo Ihnen näheres mitgeteilt werden wird. Frau Schielke gegenüber erklären Sie, Sie wären ein Geschäftsfreund des Herrn von Nimski. –

Bedingungen ist, daß Sie zu niemandem von dieser Angelegenheit sprechen und hier absolut so tun, als gäbe es keinerlei Verbindung zwischen uns. Beachten Sie mich nicht weiter! Ich bin Ihnen ein Wildfremder!

Ich überflog diese Zeilen nochmals, lehnte mich dann zurück, zog meine Zigarettendose hervor, strich ein Hölzchen an, rauchte ein paar Züge – alles wie ein Automat! Denn meine Gedanken waren ja vollständig in Anspruch genommen durch dieses geradezu rätselhafte Ansinnen, – rätselhaft und auffällig, wenn man die Begleitumstände sich näher besah.

Dann sagte ich mir: Ob dies Geschäft, das mühelos dreihundert Mark einbringen soll, wohl ganz reinlicher Natur ist?! – Kaum! Wir waren ja in Berlin, wo die Blütenlese des Verbrechertums – von der schäbigen Taschendiebin bis hinauf zum Hochstapler mit selbsterfundenem Adelsnamens – sich betätigt.

Immerhin, es konnte sich auch um eine ganz harmlose Sache handeln. Jedenfalls – ich lief keinerlei Gefahr, wenn ich auf diesen eigenartigen Vorschlag einging. Kam mir die Geschichte nachher faul vor, hinderte mich nichts, dem Herrn von Nimski, Pension Schielke, einen Korb zu geben. –

Ich tat ganz, wie das Blatt Papier es vorschrieb. Der Fremde an der Schmalseite des Tisches saß über seine Briefschaften gebeugt da und schaute gar nicht auf, als ich den Raum verließ.

Mit der Straßenbahn fuhr ich nach Hause. Ich hatte ja noch drei Stunden Zeit, da ich mich erst um fünf Uhr Dresdenerstraße einfinden sollte.

Ich wohnte damals am Rüdesheimer Platz Nr. 16, – in einem sehr vornehmen Mietspalast im Gartenhaus fünf Treppen hoch in einem kleinen, billigen Maleratelier. Der Verwalter hatte mir die beiden schon längere Zeit leerstehenden Räume unter dem festgesetzten Preis überlassen, da ich ihm versprach, seinen etwas minderbegabten Jungen für ein bescheidenes Honorar bei den Schularbeiten zu helfen. Der Tertianer Felix Neumann war jedoch jetzt Ostern trotz allgemeiner Bemühungen sitzengeblieben, und daher hatte Herrn Paul Neumanns Wohlwollen mir gegenüber stark abgenommen, was darin zum Ausdruck kam, daß er mich recht deutlich immer wieder an die rückständige Miete erinnerte.

Ich war daher froh, als ich an seiner Flurtür – er wohnte im Gartenhaus eine Treppe rechts – unbehelligt vorüberhuschen konnte. –

Ganz oben auf der letzten Stufe saß der „Lakai“, – das heißt mein Freund Rolf Parla.

„Endlich!“ rief er mir entgegen. „Ich warte bereits eine Stunde hier. Zum Glück hat Vater Neumann mir eine Weile Gesellschaft geleistet. Ein gräßlicher Mensch. So etwas von Dummheit und Anmaßung findet man nicht oft.“

„Er wollte wohl zu mir?“ fragte ich zögernd und schloß meine Tür auf, die zwischen den beiden eisernen Bodentüren lag und in einen winzigen Vorflur führte.

„Stimmt – zu dir! Der Miete wegen. Ich habe ihn aber versöhnlich gestimmt.“

Wir traten in mein Arbeitszimmer, das Atelier mit dem schrägen, großen Fenster, ein. Die Einrichtung stammte aus den Nachlaß meiner Eltern.

Der „Lakai“ warf seinen hellgrauen Filzhut auf den nächsten Stuhl und nahm in dem Prunkstück meiner Behausung, einem Korbsessel, Platz, streckte die Beine weit von sich und beschaute kritisch seine rissigen Lackschuhe, die bereits auf so manchem Film mit verewig waren. Dienerrollen spielte Rolf Parla wirklich vorzüglich. Daher auch: „Lakai“!

Dann wandte er den Kopf nach mir hin und sagte:

„Wir brauchen für eine neue Flimmerkiste einen Herrn von ansprechendem Äußeren zu einer kleinen Diplomatenrolle. Willst du zugreifen? Du kannst dabei fünf Mark verdienen.“

„Ich – ich als Filmschauspieler?!“ Ich glaubte, er mache einen seiner beliebten Scherze.

„Warum nicht?! Du bist tadellos gewachsen; deinem Gesicht nach könntest du Regierungsassessor sein; einen Gehrock besitzt du auch. Und fünf Mark – das sind fünf Mittage bei „Aschinger“, guter Sohn!“

Das Erlebnis bei „Aschinger“ fiel mir ein.

„Ich werde dir abends Bescheid geben,“ erwiderte ich etwas unsicher.

Parla, der verkrachte Referendar, von dem sich seine Familie längst losgesagt hatte, musterte mich mit seinen stets etwas ironischen Augen prüfend ein paar Sekunden lang und sagte dann:

„Du scheust dich, deine edle Visage für ein Flimmerdrama herzugeben – ich verstehe! Auch ein Standpunkt! Lieber hungern und den Gehrock aufs Pfandhaus tragen!“

„Das ist’s nicht. Ich habe dreihundert Mark in Aussicht, lieber „Lakai“!“ Und nun berichtete ich alles, was ich vorhin mit meinen Tischgenossen erlebt hatte.

„Schau, schau!“ meinte Parla und stieß einen leisen Pfiff aus. „Das Ding wird einen Haken haben, glaub’ mir. Trotzdem, geh’ hin!“

Er dachte nach. „Ein Vorschlag. Um drei Uhr haben wir im Grunewald eine Aufnahme. Da kann ich um fünf wahrscheinlich wieder in der Dresdnerstraße sein. Es dürfte sich nämlich meines Erachtens empfehlen, das Haus so etwas zu bewachen, wenn du deinen „Geschäftsfreund“ besuchst.“

„Und falls er fragt, ob ich –“

„Eine Notlüge, – sei nicht kleinlich!“ unterbrach er mich, stand auf und nahm seinen Hut in die Hand.

„Auf Wiedersehen also. Und – daß du mich nicht etwa anredest, wenn du mich in der Dresdnerstraße siehst. Sei klug und weise, guter Sohn! Diese Offerte ist oberfaul – todsicher!“

 

2. Kapitel.

In aller Heimlichkeit huldige ich der Schriftstellerei. Sie war meine stille Liebe von Jugend an. Als Knabe schrieb ich Indianergeschichten. Als Primaner und Student verbrach ich Gedichte. Jetzt als Magistratsassessor hat sich diese Leidenschaft etwas abgekühlt, und ich führe ein Tagebuch, wenn man meine Aufzeichnungen so nennen will, die nur Geschehnisse umfassen, denen ein wenig seltsame Eigenart anhaftet – wenigstens meiner Meinung nach. –

Die vorstehenden Sätze gehören eigentlich nicht mit zur Sache. Aber ich habe sie aus Karl Benders sauber geführtem Tagebuch übernommen, weil sie für ihn kennzeichnend sind.

Wenn ich jetzt noch von Karl Bender sage, daß er ein rosiges, volles Knabengesicht, einen künstlich nachgedunkelten, blonden Schnurrbart, eine beginnende Glatze am Ende des stets fest angeklebten Scheitels und wasserblaue Augen besaß, glaube ich ihn genügend beschrieben zu haben.

In seinem Tagebuch fand ich folgendes über das Drama, das zu der „Stromschnelle seines Lebensbächleins“ werden sollte, freilich einer Stromschnelle, die jäh in das Meer der Ewigkeit abstürzte. –

Zunächst dies:

Ich weiß nicht recht, ob das, was mir heute begegnet ist, in dieses Buch hineingehört. Immerhin war manches an diesem Besuch des Herrn Müller recht merkwürdig.

Wenn man wie ich Verwalter der der Stadt zugefallenen wohltätigen Vermächtnisse und Stiftungen ist, lernt man die Menschen besser kennen, als ein gewissenhafter, um jeden einzelnen seiner Zöglinge besorgter Zuchthausdirektor.

Herr Müller ließ sich heute vormittag bei mir melden. Ich war gerade sehr beschäftigt. Vor mir auf meinem Schreibtisch lag das Aktenstück „Jahnke’sche Stiftung“, ein uralter, dicker, verstaubter Band. Als  Müller eintrat, entstand eine so starke Zugluft, daß einige Seiten des Aktenbandes von selbst umblätterten.

Müller, ein mittelgroßer, hagerer Herr mit leicht ergrautem, kurz gehaltenem Vollbart, nahm dann mir gegenüber auf dem für die Besucher bestimmten Stuhle Platz. Sein Anliegen war ziemlich unwichtig. Aber er trug es mit jener Umständlichkeit vor, die der Schrecken aller Beamten ist.

Mit einem Male merkte ich, daß er zerstreut wurde. Seine geradezu gefährlich langen Sätze wurden noch unverständlicher, in sein Gesicht trat ein Ausdruck nervöser Unruhe und seine Augen glitten immer häufiger über mich hinweg und blieben scheinbar auf der Spitze meines Tintenfaßdeckels haften, wohin sie nach kurzem Abschweifen stets wieder zurückkehrten.

Dann wurde ich durch den Bureaudiener abgerufen, entschuldigte mich bei Herrn Müller, versprach sehr bald wieder zurück zu sein und ging hinaus.

Als ich mein Zimmer wieder betrat, stand Herr Müller am Fenster und schaute auf den Schmuckplatz hinaus.

Müller, dessen sehr gesunde, leicht gebräunte Gesichtsfarbe vorhin noch meinen Neid erweckt hatte, sah jetzt auffallend blaß aus. Auf seiner Stirn standen große Schweißperlen, und seine Stimme zitterte merklich, als er auf meine teilnehmende Frage, ob ihm nicht gut wäre, erklärte, das käme wohl nur von der Frühlingsluft her.

Er hatte es denn auch sehr eilig, sich zu verabschieden, dankte mir in seiner überhöflich Art für die erhaltene Auskunft und verschwand unter vielen Bücklingen.

Wie zerstreut er gewesen sein muß, ging schon daraus hervor, daß er seinen Regenschirm stehen ließ, einen recht wertvollen Schirm mit silberner Krücke, in die ein Monogramm „A. M.“ eingeschnitten war.

Jetzt, wo ich diese harmlose Geschichte niederschreibe, will sie mir plötzlich gar nicht mehr so harmlos erscheinen. Im Gegenteil, wenn mich schon vorhin das unbestimmte Gefühl dazu trieb, diesem Rentier Müller einige Seiten meines Tagebuchs zu widmen, weil der Herr offenbar gelogen hatte, als er die Frühlingsluft für seine Verstörtheit – ja, dies ist der treffendste Ausdruck! – verantwortlich machen wollte, so hat sich dieser leise Argwohn nun mehr in einen bestimmten Verdacht verwandelt! Die Ursache der Blässe und der vibrierenden Stimme ist fraglos in meinem Zimmer zu suchen! –

Ob er etwa während meiner Abwesenheit in den auf meinem Schreibtisch liegenden Papieren und Akten herumgeschnüffelt und dort etwas gefunden hat, das ihn ganz aus dem seelischen Gleichgewicht brachte?!

Nein – ich muß mich irren! Der Grund seiner Verstörtheit ist doch nicht so leicht herauszufinden. Meine Vermutung hinsichtlich des Schriftstückes kann nicht stimmen! Ich entsinne mich genau, daß außer den Akten „Jahnke’sche Stiftung“ nur zwei Bettelbriefe auf der Tischplatte so lagen, daß er Worte daraus hätte entziffern können.

Hm – ich bin auf dem besten Wege, mich in einen vielleicht ganz haltlosen Verdacht zu verrennen.“ –

Mein Studienfreund Parla hat mir heute abend nochmals die Feder in die Hand gezwungen. Es ist jetzt halb ein Uhr nachts.

Ich habe Parla die Müller-Geschichte erzählt.

Ich möchte wissen, wofür mein alter, leider ein wenig verbummelter Freund nicht Interesse hat! – Er war sofort Feuer und Flamme für den verstörten Rentier. Und er brachte mich durch seine Fragen dann erst darauf, daß ich ja nicht einmal Müllers Wohnung kenne.

„Na – wollen sehen,“ meinte er, „ob er seinen Schirm abholt. Tut er es nicht, so erhält die Sache schon ein ernsteres Gesicht.“

Dann fuhr er nach kurzer Pause fort: „Seltsam, auch Erwin Burg hat heute etwas erlebt, das alles andere als alltäglich ist. Auch er hat sich mir anvertraut. Ich witterte dort sogar einen Kriminalfall. Wenn du willst, erzähle ich dir, wie Burg heute dreihundert Mark verdient hat –“ –

Ich bin mit dem Schriftsteller Erwin Burg bisher nicht zusammengetroffen, obwohl auch er mit Parla befreundet ist. Er soll sehr zurückgezogen leben, und in seiner Börse herrscht wahrscheinlich noch häufiger Ebbe als in der meines leichtsinnigen Filmschauspielers. Jedenfalls ist Burgs Erlebnis aber weit eindrucksvoller als das meinige. Parla ist überzeugt, es wird noch ein Nachspiel haben.

Ob auch die Müller Geschichte nur der erste Akt einer Komödie oder eines Schauspiels ist?!

Abwarten! Der Schirm! – Parla sagte: „Läßt er das wertvolle Regendach im Stich, so hat er kein reines Gewissen!“ –

Schluß für heute. Ich wünschte, morgen käme der zweite Akt. Das wäre doch mal etwas anderes!

*

Nachdem Parla mich verlassen hatte, um im Grunewald bei einer Flimmerkiste – natürlich wieder als „Lakai“ – mitzuwirken, kletterte ich mit meinen Malgerätschaften eine Treppe höher, – also auf das Dach, das, soweit der linke Seitenflügel in Betracht kam, in dem Mietsvertrag als „Dachgarten zur gemeinsamen Benutzung für die Hausbewohnern“ bezeichnet war.

Bisher hatte ich jedoch als einziger – wenigstens so lange ich am Rüdesheimer Platz wohnte – diesen hohen, luftigen Ort mit seinen kümmerlichen, kleinen Rasenflächen den traurigen Blumenbeeten und den armseligen fünf Fliedersträuchern in Kübeln hin und wieder aufgesucht. Stets „aus Geschäftsgründen“ – als Zeichner.

Heute wollte ich die schwarze Wolkenbank, die dort von Osten langsam heraufzog, in Wasserfarben auf dem Papier festhalten.

Ich wurde jedoch sehr bald in meiner Arbeit durch das Erscheinen einer jungen Dame gestört. Sie kamen vom Dach des rechten Seitenflügels her und bemerkte mich erst, als sie dicht vor mir stand, da ich hinter der Efeuschutzwand saß, die zu der sogenannten Laube des strengen Herren Hausverwalters gehörte.

Ich erhob mich von meinem Feldstuhl, grüßte und – wußte nicht recht, ob ich Ilse Müller ansprechen sollte oder nicht. Von Ansehen kannte ich sie längst. Und meinen Gruß hatte sie stets freundlich erwidert.

Sie war bei meinem Anblick leicht zusammengefahren. Diese Begegnung hier oben, wo sie vielleicht einsam eine Stunde hatte verträumen wollen, kam ihr völlig überraschend. Sie zauderte unschlüssig, ob sie weitergehen solle. Ihre grauen, etwas schwermütigen Augen, deren insichgekehrter Blick mir sofort aufgefallen war, als ich sie zum ersten Mal im Treppenflur des Vorderhauses getroffen hatte, hafteten wie prüfend auf meinem Gesicht. Dann stieg ihr eine feine Röte in die Wangen. Dieser Anflug von mädchenhafter Verlegenheit ließ das in seinen einzelnen Teilen kaum schön zu nennende Antlitz, dem dafür jedoch ein eigener Reiz, etwas Ernstes, Trauriges und auch wieder Verheißungsvolles innewohnte, noch anziehender erscheinen.

Jetzt stahl sich sogar ein feines Lächeln um ihre Lippen, und dann fragte sie in einer zwanglosen Art, die sofort für sie einnahm: „Unser Hausgenosse Herr Burg, nicht wahr? – Ich möchte nicht gerade aufdringlich sein. Aber ich male selbst ein wenig. Darf ich mir Ihre Skizze ansehen?“

So kamen wir ins Gespräch. Ich schleppte ihr aus des Hausverwalters Laube einen der plumpen Gartenstühle herbei, und dann unterhielten wir uns ganz ernsthaft über die darstellenden Künste.

Ich bin ein sehr wenig umgänglicher Mensch. Mit Ilse Müller erging es mir recht seltsam. Bereits nach einer halben Stunde waren wir so vertraut miteinander, als ob wir uns schon jahrelang kennen würden.

Ilse verabschiedete sich dann, reichte mir die Hand.

„Auf Wiedersehen, Herr Burg.“

„Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein. Ich – ich bin gern bereit, Ihnen für Ihre Wasserfarbenskizzen so einige Winke zu geben.“

„Sehr freundlich. Vielleicht treffen wir uns hier gelegentlich bei der Arbeit!“

Sie nickte mir zu und schritt schnell davon. Ich folgte ihr mit den Blicken, bis sie in der Dachluke des rechten Seitenflügels verschwand.

Es begann zu tröpfeln. Eiligst packte ich mein Handwerkszeug zusammen. Schon war ich die schmale Treppenleiter meiner Dachluke halb hinabgeklettert, als ich einen Mann erblickte, der tief gebückt vom rechten Seitenflügel her nach dem Vorderhause lief und sich dann an einem der rauchgeschwärzten Schornsteine etwas zu schaffen machte.

In demselben Moment ging ein wahrer Platzregen nieder, und ich mußte mich schleunigst vor den herabprasselnden Wassermassen in Sicherheit bringen.

Während ich in meinem Arbeitszimmer die Regentropfen von der frischen Skizze vorsichtig abtupfte, dachte ich an den Mann am Schornstein. Der Hausverwalter war es nicht gewesen, der da anscheinend an dem Schornstein mit der rechten Hand herumgetastet hatte. Neumann war größer und dicker. –

Als ich um ein halb vier aufbrach, um Herrn von Nimski zu besuchen, hatte sich der Himmel bereits wieder aufgeklärt.

Frau Schielke, die Pensionsinhaberin, zeichnete sich durch aalglatte Höflichkeit und einen leichten, ihrem Odem beigemengten Alkoholduft aus, zu dem die wässrigen Augen und die belegte Stimme sehr gut paßten.

Sie machte mir weiter keine Schwierigkeiten, ließ mich in Nimskis Wohnzimmer eintreten, wies auf den nächsten der blaue Plüschsessel und wollte gerade mit mir eine Unterhaltung anfangen, als draußen die Flurglocke schrillte, worauf die Schielke hinauseilte und irgend einer Besucherin öffnete, von der ich sofort ein helles Organ vernahm – ein sehr kräftiges und deutliches Organ.

Das, was draußen gesprochen wurde, betraf Nimski, meinen „eventuellen“ Wohltäter.

„Ach was – ich will selbst nachsehen, ob er da ist!“ rief die helle Stimme jetzt. „Ich lasse mich so leicht nicht abweisen.“

Dann mischte sich mit einem Mal jedoch eine Männerstimme ein. Gleicht darauf hörte ich in Nimskis Schlafzimmer, dessen Tür zu mir hin nur angelehnt war, Schritte und bald auch jemand sagen:

„Bitte – überzeuge dich selbst! Es ist ein Herr, den ich herbestellt habe, damit er mir meine Wette gewinnen hilft.“

Hierauf die Dame: „Du willst dich also auf den Blödsinn wirklich einlassen?! – Na, so etwas könnt ihr auch nur am Stammtisch nach dem fünfzehnten Schoppen austüfteln!“

Ich hatte die Tür zum Schlafzimmer unwillkürlich im Auge behalten. Jetzt wurde sie weiter geöffnet, und für ein paar Sekunden durfte ich nun den von einem übermodernen Frühjahrshut gekrönten strohblonden Kopf bewundern, der fraglos zu der hellen, kräftigen Stimme gehörte.

Wir erblickten uns – besser, starrten uns an. Dann, als ich gerade meine schönste Verbeugung bei der stark gepuderten jungen Dame anbringen wollte, verschwanden Hut und Kopf wieder. Im Schlafzimmer wurde geflüstert, eine Tür fiel ins Schloß und – Nimskis trat ein. Ich war angenehm überrascht. Bei „Aschinger“ hatte ich ihn nicht eingehender zu mustern gewagt. Er war eine interessante Erscheinung. Die Gepuderte hatte Geschmack. Und ohne Bart hätte er für meinen Zwillingsbruder gelten können. Gesichtsform, Nase, Haarfarbe, Augenpartie – alles stimmte überein.

 

3. Kapitel.

Mit verbindlichstem Lächeln streckte er mir die Hand hin.

„Gestatten Sie, von Nimski. – Es freut mich sehr, daß Sie gekommen sind, Herr Burg.“

Ich sah ihn überrascht an.

„Sie kennen meinen Namen?“

Mir schien es, als ob er etwas verlegen wurde.

„Ja doch!“ erklärte er dann heiter. „Sie haben ihn ja meiner Wirtin gegenüber genannt.“

„Bitte nehmen Sie wieder Platz, Herr Burg,“ meinte er zwanglos.

Nachdem ich von ihm erfahren hatte, daß er Ingenieur bei einer Firma in Leipzig wäre und sich jetzt nur vorübergehend, wie recht häufig, hier in Berlin aufhielte, kamen wir auf unser „Geschäft“ zu sprechen.

„Sie haben sich heute bei „Aschinger“ großartig benommen, Herr Burg,“ meinte er, mir anerkennend zunickend. „Ich wurde nämlich beobachtet. Daher auch meine Vorsichtsmaßregeln, die jedoch ohne Ihre Geistesgegenwart zwecklos gewesen wären.“

„Es war wirklich ein Riesendusel von mir, daß ich mich ganz zufällig gerade an Ihren Tisch setzte,“ fuhr er fort. „Ich befand mich schon recht böse in der Klemme, wahrhaftig! Doch – Sie werden das alles nicht eher begreifen, bis ich Sie in diese verrückte Wette nicht näher eingeweiht habe.“

Ich lächelte gleichfalls. „Ich weiß bereits so etwas Bescheid. Sie sprachen mit der Dame vorhin im Nebenzimmer nicht gerade leise.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Immerhin hatte ich diesen schnellen Wechsel von fast übermütiger Sicherheit zu ärgerlichem Mißtrauen doch bemerkt.

Dann verbeugte er sich leicht und meinte mit komischem Seufzer:

„Ja – ja, – es war meine Braut! Bitte entschuldigen Sie, Herr Burg, daß ich Sie beide nicht miteinander bekannt machte. Aber Irmgard hatte es eilig. Ihre Mutter wartete unten vor dem Hause.“ Und nach kurzer Pause: „Wir sind erst heimlich verlobt. Eifersüchtige Bräute sind schrecklich!“

Er seufzte abermals tief auf, warf seinen Zigarettenrest in die Aschenschale und fuhr fort:

„Zu der Wette. Irmgard hatte ganz recht, ein solcher Blödsinn! – Sie liebt die burschikosen Ausdrücke. – Hören Sie also und – staunen Sie! – Ich bin hier seit Jahren Mitglied einer Stammtischrunde in der „Traube“, die ich regelmäßig aufsuche, sobald mein Beruf mich nach Berlin führt. Vor drei Tagen feierten wir einen Geburtstag am Stammtisch, mit Bowle, schwerste Mischung. Vor drei Tagen, – ja, gerade als in der Nacht vorher bei dem Juwelier Christoph in der Tauentzienstraße eingebrochen worden war. Haben Sie von diesem neuesten Gaunerstückchen gelesen?“

„Allerdings, – für zweihunderttausend Mark Juwelen und Goldschmuck fielen den Dieben in die Hände. Ein recht lohnender Fischzug!“

„Ja – und dieser Fischzug war die Ursache unserer verrückten Wette. An unserem Stammtisch sind so ziemlich alle Berufe vertreten. Es wurde denn auch ein langes und breites über diesen Meisterstreich fraglos „erstklassiger“ Spitzbuben gesprochen. Von dem Einbruch kamen wir dann auf das Thema „Kriminalpolizei und Verbrechen“. Doktor Wiesel, ein Zahnarzt, meinte, es müsse doch für so einen Gauner recht schwer sein, sich für die Behörden unsichtbar zu machen, wenn man ihm erst auf der Spur sei. –

Ich hatte scharf getrunken. Dann bin ich stets ein schnell erregter Widerspruchsgeist. Ich erklärte, zum Entschlüpfen trotz drohendster Gefahr gehöre nur Frechheit und Geistesgegenwart. Ein Wort gab das andere, und schließlich kam eine Wette dabei heraus, die mir Wiesel anbot. Es geht um das hübsche Sümmchen von fünftausend Mark.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. „Fünftausend Mark! Etwas viel!“

„Ja – bare fünftausend!“ nickte Nimski lebhaft. „Ich habe mich verpflichtet, um es ganz kurz zu sagen, heute spätestens bis Mitternacht mich meinen Verfolgern zu entziehen und Berlin auf mindestens drei Stunden zu verlassen, während meinen Wettgegnern – denn außer dem reichen Wiesel haben sich auf der Gegenseite noch vier andere Herren beteiligt – das Recht zusteht, mich heute ab acht Uhr morgens ganz nach Belieben zu überwachen. – Toll, was?! Ja – der Alkohol! – Man war denn auch heute den ganzen Tag über scharf hinter mir her. Bei „Aschinger“ saßen in unserer Nähe zwei Leute, die mir auf Schritt und Tritt gefolgt waren. Ich halte sie für Angestellte eines Detektivinstituts. Wiesel und Genossen werden sie gechartert haben. Der Doktor selbst reißt heute keine Zähne, sondern hat im Hause gegenüber im selben Stockwerk ein Zimmer gemietet, sitzt in einer Verkleidung am Fenster. Die beiden Gecharterten aber lungern sicher auf der Straße unten umher. Und vielleicht ist ein dritter Privatdetektiv hier im Treppenflur postiert. Ein Mann in blauer Bluse arbeitet an der Nachtbeleuchtung herum. Der Kerl kommt mir verdächtig vor.“

Nimski reichte mir ein Zündholz. Ich hatte aus übergroßer Aufmerksamkeit für diese nicht ganz alltägliche Wette meine Zigarette ausgehen lassen.

„Vorhin sagte ich, daß ich schon böse in der Klemme war,“ setzte er seine Mitteilungen fort. „Tatsächlich, als ich so von ungefähr zu „Aschinger“ ging, in deren stillen Hoffnung, dort meine hartnäckigen „Nachfolger“ auf irgendeine Weise loszuwerden, da war mir von wegen der fünftausend Mark schon sehr schwül zu Mut! Und dann – dann saßen Sie da an meinem Tisch. Ein Blick genügte! Meine Gedanken bauten blitzschnell einen Plan zurecht. So schrieb ich den Zettel für Sie –“

Er blies ein paar tadellose Rauchringe in die Luft.

„Sehen Sie, Herr Burg, – Jetzt hängt es allein von Ihnen ab, ob ich meine Wette gewinnen oder nicht, nur von Ihnen!“

Er sprach weiter, brauchte dann nicht lange zu bitten. Ich nahm es ihm nicht übel, daß in mir sofort angesehen hatte, wie gut ich dreihundert Mark brauchen könnte.

Das kleine Abenteuer machte mir wirklich Spaß. Und während wir die Vorbereitungen für das feine Plänchen trafen, meinte ich: „Wiesel und Genossen wollen wir schon einwickeln!“

Nimski hatte mit großem Geschick alles Nötige besorgt, nachdem er den „warmen Aschinger“ verlassen hatte. Größe und Schulterbreite stimmten bei uns ziemlich genau überein. Sein gestreifter Anzug und der kurze Sportmantel paßten mir vorzüglich. Den blonden Bart klebte er mir mit der Gewandtheit eines Theaterfriseurs an. Ein wenig Schminke und ein Kneifer mit Fensterglasgläsern vollendeten das Werk.

Als wir nun vor den Spiegel seines Kleiderschrankes traten, Arm in Arm, grinsten sich vier auf den ersten Blick völlig gleiche Köpfe vergnügt an.

Nimski sah nach der Uhr.

„Es wird Zeit, mein lieber Verbündeter. Also nochmals – meine Braut ist mit im Komplott. Ich habe sie vorhin glücklich dazu gebracht, den „Blödsinn“ mitzumachen. – Sie erwartet mich um halb sechs vor dem Hause. Wenn Sie sie sehen – den Hut werden sie ja wiedererkennen! – denn benehmen Sie sich genau so, als wären Sie der Bräutigam, küssen ihr die Hand, wandern mit ihr untergehakt die Dresdnerstraße entlang, bis Sie ein Auto treffen, steigen ein und gondeln nach dem Tiergarten. Dort bitte noch eine Stunde lang Besichtigung der Siegesallee, und dann – dann können Sie sich von Irmgard verabschieden und daheim Ihre Verkleidung ablegen. Ihren Anzug packe ich in einen Karton und beauftrage meine Wirtin, Ihnen denselben zuzustellen. Aber, bester Herr Burg, – schneiden Sie meiner Braut nicht zu arg die Cour!“

Er schlug mir leicht auf die Schulter, reichte mir nun drei Hundertmarkscheine und öffnete die Tür nach dem Wohnungsflur hin.

„Alles sicher – schnell hinaus!“ flüsterte er.

Die Treppe stieg ich doch etwas zögernd hinab. Wenn ich nur den Bräutigam so mimte, wie dies zum Gelingen des Planes unbedingt erforderlich war!

Die Geschichte wickelte sich dann weit einfacher ab, als ich’s gedacht hatte. Irmgard – ich kannte ja nicht einmal ihren Vatersnamen! – half mir sehr gut, alle Klippen zu umschiffen.

Sie schmiegte sich an mich, schaute mir verliebt in die Augen und schwatzte allerhand, so daß ich so gut wie stumm bleiben konnte, bis wir im Auto saßen. Da erst kam ich zu Wort. Inzwischen hatte ich schon gemerkt, daß Irmgard ein kleines Rackerchen war und offenbar nicht gerade in einem Palast das Licht der Welt erblickt hatte.

In der Siegesallee wandelten wir als verliebtes Brautpaar Arm in Arm auf und ab. Plötzlich drückte Irmgard kräftig meine Hand „Sie sind wirklich hinter uns her – alle drei, auch der Doktor Wiesel. Und einer der Privatschnüffler sitzt sogar in einem Auto neben dem Chauffeur.“

Die Stunde war im Nu um. Ich wäre auch mit Freunden noch länger stellvertretender Verlobter geblieben, wenn mich nicht dauernd der Gedanke beunruhigt hätte, die Leute müßten mir ansehen, daß mein blonder Bart falsch sei.

Am Brandenburger Tor trennten wir uns. Ich fühlte wieder einen kräftigen Händedruck, hörte ein lockendes Lachen.

Sie verschwand nach den Linden zu. Ich suchte sofort das nächste dem allgemeinen Wohl für Frauen und Männer dienende kleine Häuschen auf, entfernte im stillen Kämmerlein den falschen Gesichtsschmuck und betrat wieder als Erwin Burg das Freie, sehr begierig darauf, ob die Verfolger sich weiter an meine Fersen heften würden.

Nichts geschah. Ich merkte auch nicht, ob wirklich jemand stets hinter mir blieb. Bis zum Wittenbergplatz wanderte ich zu Fuß, benutzte dann die Untergrundbahn und war gegen sieben Uhr abends oben in meinem Atelier. Hier zog ich sofort Nimskis Anzug aus, schlüpfte in meinen Gehrock, und – ja, es war die Eingebung eines Augenblicks – kletterte zum Dachgarten empor. Vielleicht traf ich dort Ilse Müller.

Niemand da. Ich hatte mich auf einen der schweren Gartenstühle neben die Neumannsche Laube gesetzt. Bald gingen meine Gedanken auf die so leicht verdienten dreihundert Mark. Nun konnte ich die rückständige Miete bezahlen. Neumann, der Grobian, würde schöne Augen machen, wenn ich gleich morgen früh anrückte und das Geld berappte.

Da – da drüben stand doch jetzt eine Gestalt neben dem Schornstein, – demselben Schornstein, an dem ich nachmittags jenen Mann beobachtet hatte.

Ich irrte mich nicht. Trotz der Dunkelheit erkannte ich ziemlich deutlich einen Menschen, der dann wieder in der Dachluke des rechten Seitenflügels untertauchte.

Was hatte der Mensch dort nur zu suchen?! Mir kam sein Treiben etwas verdächtig vor. –

Ich konnte jedoch hierüber nicht länger nachdenken, da sich nun zwei neue Gestalten einfanden. In der hier oben herrschenden Stille hörte ich zuerst nur ihre Schritte, drehte mich um und sah sogleich auch eine elektrische Taschenlampe aufleuchten.

Sie kamen näher. Ich erhob mich, ging ihnen entgegen. Wieder packte mich ein leises Unbehagen, ähnlich dem, das ich vor dem Brandenburger Tor empfunden hatte.

Die Taschenlampe traf mein Gesicht. Geblendet von dem weißen Lichtkegel blieb ich stehen.

„Herr Burg?“ fragte die forderste der Gestalten.

„Ja. – Wünschen Sie mich zu sprechen?“

„Gewiß. Sie dürfen wohl wissen, aus welchem Grunde.“

Der Ton war scharf und drohend.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte ich.

„Kriminalwachtmeister Hertel. – Hier meine Legitimation. – Gehen Sie voraus in Ihre Wohnung. Aber – keine Dummheiten! Auch die Treppe wird bewacht.“

Ich stand wie versteinert. Mein Denken war gleichfalls wie erstarrt. Trotzdem fuhr es mir durch den Kopf: „Der „Lakai“ hat doch recht gehabt! Das „Geschäft“ war faul!“

In meinem Wohnzimmer ließ ich mich in den Korbsessel fallen. Die Beine versagten mir den Dienst.

Der Wachtmeister hatte die drei Birnen des billigen Kronleuchters aufgedreht, rückte nun einen Stuhl vor den Korbsessel und setzte sich.

„Seit wann kennen Sie Nimski,“ begann er, mich durchdringend fixierend.

„Seit heute,“ erwiderte ich und nahm mich mit aller Willenskraft zusammen, um möglichst gefaßt zu erscheinen.

„So, so – seit heute! – Verlangen Sie, daß ich das glaube?“ meinte er ironisch.

Hier wurden wir gestört. Es klopfte. Ein Dienstmann brachte einen Karton. Darin lagen mein Anzug, mein steifer schwarzer Hut und mein blau und rot gestreifter Bindeschlips.

Als der Dienstmann wieder gegangen war, wies ich auf den geöffneten Karton und sagte mit einer Gelassenheit, die jetzt durchaus echt war:

„Ich ahne, daß man mich heute zu irgend einem frechen Streich benutzt hat. Gestatten Sie, Herr Wachtmeister, daß ich Ihnen mein Erlebnis mit Nimski von Anfang bis Ende erzähle.“

Im passenden Augenblick legte ich dann die drei Hundertmarkscheine auf den Tisch.

„Das ist meine Bezahlung,“ erklärte ich, berichtete weiter und – mußte traurigen Herzens mitansehen, wie Hertel die Banknoten in die Tasche steckte.

Dann sagte der Wachtmeister: „Allerhand Achtung, die Sache haben Sie sich fein zurechtgelegt. Nur hat die Geschichte einen bösen Haken für Sie! Wollen Sie mir mal darüber Aufklärung geben, wie Nimski so schnell einen geeigneten Menschen für seinen höchst anerkennenswerten Plan finden konnte wie Sie es sind?! Daran, daß er mit Ihnen bei „Aschinger rein zufällig“ zusammentraf, werde ich nie glauben! Einen solchen Zufall gibt es nicht! Das müssen Sie schon einem Dümmeren vorschwindeln!“

„Bitte – ich kann Ihnen den Beweis erbringen,“ sagte ich mich zur Ruhe zwingend, „daß ich die Wahrheit spreche. Ich habe mich mit meinem Freunde, dem Filmschauspieler Rolf Parla, heute gegen zwei Uhr nachmittags hier in diesem Zimmer über das merkwürdige Angebot Nimskis unterhalten. Fragen Sie doch Parla! Er wohnt Kreuzbergerstraße 18 bei Schiedlowski.“

Hertel schüttelte wie mitleidig den Kopf.

„Alles ganz schön. Auch das wird nur eine Vorsichtsmaßregel gewesen sein.“ Und dem anderen Beamten, einem langen jungen Menschen befahl er nun, meine Wohnung zu durchsuchen.

„Bitte – das können Sie meinetwegen!“ erklärte ich gelassen und steckte mir eine Zigarette an.

Der Kriminalschutzmann Wieler durchstöberte so sorgfältig meine beiden Räume. Ich saß da und starrte vor mich hin.

Eine halbe Stunde drauf wurde ich wirklich von den Beamten abgeführt. Sie vermieden dabei jedes Aufsehen. Nur mein Zögling, der sitzengebliebene Tertianer, traf uns auf dem Hof, als wir das Haus verließen. Er konnte wohl kaum ahnen, wer meine Begleiter waren.

 

4. Kapitel.

Müllers hatten einen Spaziergang nach Hundekehle gemacht, dort dicht am See Kaffee getrunken und waren gegen sieben Uhr wieder daheim.

Während der Rückfahrt mit der Straßenbahn hatte Elly der Älteren leise anvertraut, daß sie vormittags mit Nimski zusammen gewesen sei.

„Ilse, er ist ein ganz reizender Mensch,“ schwärmte das blaue Engelchen, wie August Müller seinen Liebling jetzt nannte, da das neue blaue Frühjahrskostüm die jüngere Müller ohne Zweifel vorzüglich kleidete, „– wirklich, Ilse, ganz reizend! Ich glaube beinahe, er ist so etwas –“ sie zögerte – „verliebt in mich. Er hat sich heute so genau nach allem möglichen erkundigt, nach Papas früherem Beruf, wo wir wohnen, ob es ein neues Heim ist, – kurz, er wollte so hintenherum rauskriegen, ob wir vermögend sind, denke ich.“

Müllers hatten dann noch ein Stück zu Fuß bis zu ihrer Wohnung zu gehen. Frau Klara deutete auf einige bedrohlich aussehende Wolken und sagte zu ihrem Gatten:

„Schreib nur gleich an die Direktion der Straßenbahn. Vielleicht ist ein Schirm bei dem Schaffner des Wagens abgegeben worden.“

„Ich werde schon!“ brummte Herr Müller unwirsch. „So laß doch nur diese Schirmgeschichte ruhen!“

Nach dem Abendessen mußte Ilse für den Vater eine schwarze Krawatte wenden. Als sie gerade allein in dem großen Herrenzimmer waren, fragte August Müller etwas unsicher:

„Warst du eigentlich heute über Mittag auf dem Boden? Der Vorbodenschlüssel fehlte. Ich wollte mir oben aus der Kiste ein Buch holen. Die Schlüssel waren nicht zu finden.“

Ilse errötete. Zum Glück lag ihr Gesicht im Schatten. Der bunte Seidenschirm der Stehlampe auf dem Mitteltisch dämpfte das Licht recht stark.

„Ja, – ich war auf dem Dachgarten,“ erwiderte sie der Wahrheit gemäß. „Nachher war ich auch noch in unserer Bodenkammer,“ fügte sie hinzu, indem sie den Vater vorsichtig forschend dabei anblickte.

Täuschte sie sich? War ihm nicht plötzlich eine starke Blutwelle ins Gesicht gestiegen?!

„So, so,“ meinte der Rentier zerstreut. Das war alles. –

Frau Klara trat ein, gleich darauf auch Ellychen. Die drei Damen saßen um den Mitteltische herum, während Müller langsam auf und abwanderte.

Anna, die langjährige Köchin, erschien nach einer Weile und fragte, wo der gnädige Herr die Bodenschlüssel gelassen hätte.

Müller spielte zunächst den Erstaunten. Dann besann er sich: „Sie liegen auf dem Eisschrank!“

Ilse fand in dem Benehmen des Vaters heute so manches, was ihr auffiel. –

Punkt zehn Uhr begann August Müller sein mannigfaches Handwerkszeug zusammenzupacken. Er war ein leidenschaftlicher Briefmarkensammler.

Auch die Damen erhoben sich. Man wünschte sich gute Nacht, tauschte kühle, gewohnheitsmäßige Händedrücke aus und zog sich in die Schlafzimmer zurück.

Die Schwestern hausten nebeneinander in zwei einfenstrigen Räumen im Seitenflügel. Die Verbindungstür blieb auch heute offen. Weder Ilse noch Elly dachte schon ans Schlafengehen. Die Ältere wollte noch angeregt durch das Gespräch mit Burg, an einer Aquarellskizze etwas nachbessern. Die Jüngere dagegen schlüpfte nochmals in das blaue Frühjahrskostüm, nahm die Lockenwickler aus dem Haar, ordnete flüchig die Frisur und probierte die drei Hüte auf, die die Modistin heute in Ellys Abwesenheit zur Auswahl geschickt hatte.

Dann mußte Ilse ihr Urteil abgeben, welcher der Hüte der Schwester am besten zu Gesicht stand.

Darauf verschwand Ellychen in ihrem Zimmer und kehrte dann, jetzt in einen japanischen Kimono gehüllt, zu Ilse zurück, setzte sich auf den Bettrand und wickelte ihre Locken ein.

„Du, Ilse, weißt du nicht, wie man es einrichten könnte, daß die Eltern mit Nimski – so zufällig bekannt werden?“ fragte sie nach einer Weile zögernd.

Die Ältere wand den Kopf nach ihr hin.

„Dieses Mal scheint es bei dir ja recht tief zu sitzen, Mohrchen,“ meinte sie nachdenklich. „Ich möchte dir so sehr gern helfen. Aber – halt – ein Gedanke! Tante Minni!“

„Famos!“ rief Elly. „Also Tante Minni. Ob ich mich ihr ehrlich anvertraue?“

„Das dürfte am ratsamsten sein. Onkel Max hat ja auch so weitreichende Beziehungen, daß er sich gleich etwas über den Herrn erkundigen kann. Man muß doch wissen, mit wem man es zu tun hat –“

„Oh – bei Nimski ist das ganz überflüssig. Er hat mir seine Verhältnisse ehrlich klargelegt. Er stammt aus einfachen Kreisen. Nur durch eigene Tüchtigkeit hat er sich emporgearbeitet, und jetzt hat er bei einer Maschinenfabrik in Leipzig eine Anstellung mit achttausend Mark Gehalt, dazu zwei Prozent Gewinnbeteiligung. Seine Schwester ist Schauspielerin.“

„Ob sie hier in Berlin auftritt?“ forschte Ilse weiter.

„Keine Ahnung. Jetzt ist sie jedenfalls hier. Ich habe sie vorgestern mit Nimski zusammengesehen, gerade vor dem Cafee des Westens. Ein schickes Weib und –“

„Aber Mohrchen! – Weib!“

„Na ja – meinetwegen auch Dame! – Du verdirbst einem wirklich die Laune mit deinen ewigen Zwischenfragen. Du bist so schwerfällig in allem, so – so rückständig –“

Ellychen sprang mit einem Ruck auf. „Gute Nacht!“ rief sie. „Ich gehe ins Bett!“

Ilse stand auf, stellte die Staffelei bei Seite, drehte die Reflektorlampe aus und setzte sich an den zierlichen, alten Damenschreibtisch, den sie von der Großmutter geerbt hatte, deren Liebling sie stets gewesen war.

Es war ein recht kostbares Stück, in Indien angefertigt und reich mit Elfenbein und bunten Steinen eingelegt. Der alte Herr Menke, der Vater Frau Klara Müllers, hatte vor seiner Verheiratung mehrere Jahre in Simla als Angestellter einer englischen Firma gelebt und dort den Schreibtisch, den ein eingeborener Fürst, der Rajah von Gwalior, für seine weiße Gemahlin, die angeblich eine Deutsche gewesen sein sollte, hatte anfertigen lassen, bei einem persischen Händler billig erstanden und mit nach Deutschland gebracht.

Die Füße in Form von gewundenen Schlangenleibern wirkten ebenso eigenartig wie der Aufsatz, der die Abbildung irgend eines Radschaschlosses war. In der Platte wieder hatte der indische Künstler das Bild des Gottes Brahma in Mosaikarbeit dargestellt, während die Vorderseite jeder der zahlreichen Schubladen mit allerlei phantastischen Tiergestalten geschmückt war.

Das Holz selbst strömte einen zarten, angenehmen Duft aus, der Ilses Zimmer ganz erfüllte und auch all ihren Kleidungsstücken anhaftete. – Ein Antiquitätenhändler hatte ihr für den Schreibtisch einmal bereits viertausend Mark geboten. Sie hätte ihn nicht für das Zehnfache hergegeben. Sie liebte ihn wie ein Wesen von Fleisch und Blut. Wenn sie davorsaß und auf den indischen Gott herabschaute, dessen fein ausgearbeitete Gesichtszüge etwas wie ein rätselvolles Lächeln um den Mund erkennen ließen, überkam sie stets eine fast weihevolle, träumerische Stimmung.

Auch jetzt schaute sie sinnend in das Antlitz des Gottes, dessen Name von Millionen und Abermillionen brauner Menschen ehrfurchtsvoll geflüstert wird. Dann griff ihre Hand nach einem schmalen Bändchen unter den vielen Büchern oben auf dem Aufsatz. Sie schlug es auf, las:

„Ich habe mich emsig bemüht, das Tun der Menschen weder zu belachen noch zu beweinen, auch nicht es zu verabscheuen, sondern es zu begreifen –“

Zu begreifen! –

Ilse lehnte sich in den geschweiften Schreibtischsessel zurück und dachte über diese Worte Spinozas nach. Sie hatte sie nicht gesucht, hatte auf gut Glück diese Seite aufgeschlagen.

Und nun hatte sie gefunden, was so versöhnlich wirkte, so mahnend und warnend. – Begreifen! Der Menschen Tun zu verstehen suchen. Und – verstehen heißt entschuldigen.

Der Vater hatte dreißig Jahre schwer gearbeitet, sich kaum eine Erholung gegönnt. Diese rastlose Jagd nach Besitz, der ihm und den Seinen ein sorgenloses Alter, eine klare schaffen sollte, mochte ihn innerlich verhärtet, mochte ihm allmählich die Ansicht beigebracht haben, daß Frauen und Kinder ihm zu einem Dank verpflichtet wären, den er eben in seiner Weise auffaßte.

Ilse blätterte weiter. Und las:

„Wer die Menschen wahrhaft kennt, der wird auf niemanden unbedingt bauen, aber auch niemanden vollständig aufgeben.“

„Dann will ich lieber die Menschen nicht wahrhaftig kennenlernen, denn dem, den ich liebe und der mein Leben ausfüllen soll als ein Teil meines Ichs, dem muß ich unbedingt vertrauen können,“ sprach Ilse halblaute vor sich hin und stellte enttäuscht das Büchlein an seinen Platz zurück. Den ich liebe. Werde ich je lieben dürfen, werde ich je den finden, dem ich meine beiden Hände jubelnd entgegenstrecken darf und sagen: „Nimm mich – befreie mich!“

Gott Brahma schien stärker zu lächeln. Und Ilse beugte sich tief hinab und studierte seine Züge.

 

5. Kapitel.

Ich habe im Gefühl meiner Schuldlosigkeit in der Zelle des Polizeigefängnisses recht gut geschlafen.

Morgens erhielt ich bereits gegen acht Uhr Besuch: Kommissar von Lindammer und Wachtmeister Hertel. Ersterem sah man den früheren aktiven Offizier auf den ersten Blick an. Für meinen Geschmack war er zu geschniegelt und gebügelt. Es fehlte nur noch das Einglas und das Näseln. Ich traute ihn nicht viel zu. Die nächsten Tage belehrten mich eines Besseren.

Er war überaus höflich und zuvorkommend. Aber er glaubte ebenso wenig an meine Harmlosigkeit wie Hertel.

„Sie erfreuen sich des allerbesten Leumundes, Herr Burg,“ begann er. „Sie werden jedoch wohl selbst einsehen, daß Ihre Schilderung der gestrigen Vorgänge manche Unwahrscheinlichkeit enthält.“

„Möglich,“ meinte ich kühl.

„Ohne Ihre Hilfe wäre Nimski uns nicht entschlüpft,“ fuhr er gelassen fort. „Sie haben uns um die Frucht wochenlanger Bemühungen gebracht. Er stand unter sorgfältiger Beobachtung. Wir hätten ihn wahrscheinlich gestern abend gegriffen. Er muß Unrat gewittert haben. Und er hat bewiesen, wie schlau er ist. Die Geschichte von der Wette ist seine Erfindung, um Ihnen den Rücken zu decken.“

„Gewiß – seine Erfindungen, um mich hineinzulegen,“ warf ich gleichmütig hin. „Es ist ihm ja auch gelungen. Die Sache war so fein eingefädelt, daß jeder sich hätte täuschen lassen. – Ich kann nur wiederholen, ich habe Nimski gestern zum ersten Mal in meinem Leben gesehen! Ich verlange, daß mein Freund Parla, der Filmschauspieler Rolf Parla, gehört wird.“

„Gerade kein klassischer Zeuge, Herr Burg!“ meinte Lindammer kopfschüttelnd. „Wirklich nicht. Ein verbummeltes Genie. Ich kenne ihn vom Hörensagen.“

„Was nicht genügen dürfte, über ihn ein so absprechendes Urteil zu fällen,“ erklärte ich gereizt. „Werden Sie ihn nun also vernehmen, und werde ich endlich erfahren, was Nimski eigentlich zur Last gelegt wird, wer er in Wahrheit ist und wer jenes Weib war, die er gleichfalls für seinen Streich benutzt hat?“

Der Kommissar überhörte diese Fragen.

Man klopfte von draußen stark an die Zellentür. Und dann kam – der „Lakai“ – wahrhaftig, – endlich Rolf Parla! Und ich rief ihm dieses „Endlich!“ in einem Ton entgegen, der ihn vielleicht bewog, doppelt herzlich zu mir zu sein. Gefühlsäußerungen sind sonst nicht gerade seine Art.

Lindammer und Hertel beobachteten uns wie etwa Irrenärzte zwei Kranke, aus deren gegenseitigem Verhalten sie wertvolle Schlüsse ziehen wollen.

Parla setzte sich auf den zweiten Stuhl dem Kommissar gegenüber. Seine ersten zur Sache gehörigen Sätze bewirkten, daß mich eine wahre Wut gegen alles packte, was Polizei hieß. Mein guter Ruf war dahin! Parla hatte vor einer Stunde mich aufsuchen wollen und von dem hohngrinsenden Hausverwalter, dem dicken Neumann, sich erzählen lassen müssen, daß mich „Geheime“ gestern abend abgeholt hätten.

Dann ließ Lindammer sich von Parla genau berichten, was ich dem Freunde über mein Erlebnis mit Nimski bei „Aschinger“ gestern anvertraut hatte.

Der brave Rolf, selbst innerlich bis zum Bersten wütend auf die kurzsichtigen Herren, die in mir harmlosem Gemüt einen Genossen des vielgesuchten Herrn von Nimski vermuteten, entledigte sich seiner Aufgabe in einer Art und Weise, die offensichtlich auf Lindammer Eindruck machte.

Nun kam mein Freund auch auf das zu sprechen, was er selbst vor dem Hause Dresdenerstraße 46 erlebt hatte.

„Ich hatte die Verkleidung eines Straßenkehrers gewählt. Gegen viertel fünf bezog ich meinen Beobachtungsposten, das heißt, ich fegte den Fahrdamm sauber und gebrauchte dabei meine Augen, die noch stets Spreu vom Weizen zu sondern wußten. So merkte ich denn sehr bald, daß zwei Kriminalbeamte als Pennbrüder in der Kellertür einer Destille und ein dritter dem Hause gegenüber an einem Fenster sich aufgebaut hatten. Der eine der Pennbrüder waren Sie, Herr Wachtmeister. Stimmt’s?“

Hertel nickte widerwillig.

„Na also!“ fuhr Parla gutgelaunt fort. „Drei Beamte – also ein schwerer Junge, sagte ich mir mit Recht, setzte mich auf die Bordschwelle des Bürgersteiges und verzehrte die mitgebrachte Stulle. Dann kam Burg daher; recht langsam. Ihm schien die Sache doch wohl ein wenig mulmig zu riechen. Nach genau vier Minuten wieder schwebte eine stark gepuderte Dame in das so gut bewachte Haus. Ich kannte sie – sogar persönlich. Sie besitzt Ehrgeiz. Wollte Filmstar werden. Aber nicht mal als Kammerzofe war sie zu gebrauchen. – Ihr Name? – Warten Sie – richtig. Sie nennt sich gern Irmgard von Velden –“

„Und heißt in Wirklichkeit Irmgard von Nimski,“ warf Lindammer ein.

„Donnerwetter!“ entfuhr es Parla. „Also vielleicht gar seine Frau?“

„Nein – nur die Schwester,“ erklärte der Kommissar.

„So, so. –  Abermals nach zwei Minuten tauchte Nimski selbst auf. Wenigstens nahm ich an, daß er’s war. Burg hatte ihn mir ja nur ganz oberflächlich beschreiben können. – Was dann geschah, dürfte den Herren geläufig sein. Die schöne Irmgard wartete unten auf Burgs Erscheinen, beide gondelten dann im Auto davon, und hinter ihnen her in einem zweiten, das urplötzlich aus einer Hofeinfahrt hervorschoß, die Pennbrüder und der Mann am Fenster, der eilig auf die Straße hinabgeeilt war.“

„Dieser Mann war ich,“ lächelte Lindammer. „Und – was taten Sie, Herr Parla?“

„Oh – ehe ich ein Auto fand, waren die beiden anderen längst verschwunden. Ich war zwar hinter ihnen her gerannt, was meine Lungen nur aushielten, – aber ich hatte eben Pech. Da bin ich dann nach Hause gegangen, habe bis gegen acht Uhr geschlafen und nachher mit einem Freund im „Schützengarten“ frische Luft gekneipt.“

„Wer war dieser Freund?“ wollte Lindammer wissen.

„Der Magistratsassessor Doktor Karl Bender, Neukölln, Hobrechtstraße 2 bei Wernicke.“

Hertel notierte dies auf einen Wink des Kommissars.

Dann fragte Lindammer wieder:

„Sie sagten soeben, Herr Parla, Sie hätten geahnt, daß Nimski ein schwerer Junge sein müsste. – Lag es unter diesen Umständen nicht nahe, daß Sie sich anstatt zu schlafen und frische Luft zu kneipen, bei Burg nach dem Ausgange dieses Abenteuers erkundigt hätten?“

„Gewiß! Aber wenn ich mir nun zum Beispiel zusammengereimt hätte: Wenn Burgs Erlebnis ungünstig verläuft, wird er schon zu dir kommen. – Tatsächlich habe ich auch seinen Besuch bestimmt erwartet. Als er nicht erschien, wollte ich zu ihm gehen, doch hinderte mich daran die Verabredung mit Bender, den ich sprechen mußte, weil meine Wirtin die Petroleumlampe nicht mehr füllen wollte.“

„Ich verstehe nicht ganz. Was hat –“

„Sehr einfach. Es soll passieren, daß ich die Miete schuldig bleibe. Dann verurteilt meine liebe Frau Schiedlowski mich zu Dunkelarrest. Sie weiß, wie gern ich noch abends im Bett lese. Und Bender wieder ist stets bei Kasse.“

„Ah so! – Hat Ihre Wirtin Fernsprechanschluß?“

„Nein.“ Parlas Gesicht war plötzlich eigentümlich lang geworden.

„Wo wohnen Sie?“

Parla gab die verlangte Auskunft, worauf Hertel die Zelle verließ, nachdem der Kommissar ihm flüsternd einen Befehl erteilt hatte.

Kaum war der Wachtmeister verschwunden, als der „Lakai“ zu mir sagte:

„Ich fürchte, unsere Aktien stehen schlecht, mein Lieber.“

Lindammer spitzte die Ohren. –

„Was sollte diese Ihre Bemerkung eben, Herr Parla?“

„Burg darauf vorbereiten, daß man auch mir nichts glauben wird.“

Der Kommissar verstand ihn sofort; ich erst, als Parla nach kurzer Pause hinzufügte: „Sie wollen bei meiner Wirtin nachfragen lassen, ob ich gestern von sechs bis halb neun abends daheim war?“

„Allerdings.“

„Schade,“ meinte der „Lakai“ seufzend. „Die Antwort wird verneinend ausfallen.“

„So waren Sie also nicht zu Hause? Wo denn aber? – Ich bitte, weiter keine Winkelzüge zu machen!“

„Sie werden meine Angaben bezweifeln, Herr Kommissar. – Ich war im Palast-Kino, mir den neuen Film ansehen, in dem ich den Diener des Grafen spiele!“

„Weshalb haben Sie denn zuerst Ihr Alibi unrichtig angegeben?“

„Weil es wahrscheinlicher klang, daß ich in meiner Verkleidung sofort heimgekehrt wäre.“

Lindammer verbeugte sich gegen Parla. „Meine Hochachtung! Sie verstehen sich herauszureden. – Waren Sie denn auch mit dem Assessor Bender abends nicht zusammen?“

„Doch! Den können Sie anrufen. Er wird bezeugen, daß wir bis gegen zwölf Uhr im „Schützengarten“ waren.“ –

Meine Person, bisher so völlig ausgeschaltet bei diesem Wortgefecht, wurde jetzt wieder von dem Kommissar freundlichst beachtet.

„Sie sehen, Herr Burg, was es mit Ihrem Entlastungszeugen auf sich hat. – Wollen Sie noch weiter leugnen, Nimski nicht schon länger gekannt zu haben?! Sie verschlimmern Ihre Lage dadurch nur.“

„Ich bleibe bei meiner Behauptung,“ erwiderte ich aufbrausend. Der Gedanke, daß auch Rolf Parla mir die Freiheit nicht wiedergeben konnte, brachte mein Blut erneut in Wallung. Ich wollte noch mehr hinzufügen, aber der „Lakai“ machte eine warnende Handbewegung und sagte: „Wenn ich an Herrn von Lindammers Stelle wäre –, ich würde ebenfalls nicht an das glauben, was trotz alledem die Wahrheit ist. – Ereifere dich also nicht weiter, bester Erwin. Unsere Schuldlosigkeit wird sich schon herausstellen. Nur Geduld.“

Lindammer hob den etwas vornübergebeugten Kopf und sagte: „Sie entschuldigen mich für eine Viertelstunde. Ich will meinem Vorgesetzten über die Sachlage hier schnell Bericht erstatten. Er soll entscheiden, ob die Verdachtsmomente gegen Sie beide schwerwiegend genug sind, um Sie vorläufig festzuhalten.“ –

Eine sehr kavaliermäßige Verbeugung, und die Tür schloß sich hinter ihm.

Parla kniff das eine Auge zu und blinzelte mich mit vieldeutigem Lächeln an.

„Was heißt das?!“ fragte ich übelgelaunt, als er beharrlich schwieg und nur dieses störende Lächeln beibehielt.

„Du meinst, was soll das Fratzenschneiden? – Nun – ich freue mich! Wir sind in einer halben Stunde draußen auf der Straße, – wollen wir wetten?!“

„Wirklich, du hoffst, daß –“

„Natürlich! In diesem Fall täusche ich mich bestimmt nicht.“

„Ja, – aber Lindammer wird doch sicher seinem Chef die Sache so schildern, wie er selbst sie leider sehr zu unseren Ungunsten ansieht, und dann wird –“

„Abwarten!“ unterbrach Parla mich. „Wenn wir nur freikommen – alles andere ist gleichgültig!“ Er rieb sich vergnügt die Hände und fügte leise hinzu: „Junge, ich sage dir, – ich bin wieder mal restlose glücklich. Draußen außerhalb dieser muffigen Mauern hart meiner etwas, das meinem Leben wieder einen neuen Inhalt geben wird. Fast ein halbes Jahr ist es her, seit mein Sehnen wie ein hungriger Wurm in meinem Inneren nie zur Ruhe kam, – mein Sehnen nach –“ Er hüstelte, und – ich fiel glücklich darauf herein, benutzte diese Pause und fragte schnell:

„Du bist verliebt, Rolf?!“

„Ja – wenigstens so etwas Ähnliches. – Doch – laß dieses Thema hier! Die Zeit wird schon kommen, wo ich mich dir anvertraute.“

Dann mußte ich ihm erzählen, was ich bei Nimski erlebt hatte. Jede Einzelheit holte er aus mir heraus.

„Der Kerl ist ein genialer Kopf,“ erklärte er nachher ganz feierlich. „Er wußte, daß er sich auf andere Weise nicht mehr retten konnte. Und seine Schwester hat ihm eben so schlau geholfen. Ein würdiges Pärchen! – Übrigens, weiß der Kuckuck, wie er auf dich aufmerksam geworden ist, gerade auf dich, der du ihm in der Figur und dem Gesichtsschnitt so sehr gleichst. Ein Zufall ist das nie und nimmer, daß er bei „Aschinger“ sich zu dir setzte. In dem Ameisenhaufen Berlin findet man nicht zufällig gerade dann einen Doppelgänger, wenn man ihn nötig braucht. Hier muß es Zusammenhänge geben, die mir zur Zeit noch unklar sind, die ich aber gleichfalls bloßzustellen hoffe.“

„Gleichfalls?! – Gleichfalls – das klingt so, als ob –“

Ich brach mitten im Satz ab. Lindammer trat ein.

„Es freut mich sehr, meine Herren, Ihnen mitteilen zu können, daß Sie ungehindert Ihres Weges gehen dürfen,“ sagte er höflich.

„Na – wer hat recht behalten?!“ lachte Parla.

„Du – zum Glück!“ erwiderte ich froh bewegt.

„Ja, die Nimski-Geschichte wird jetzt eben anders gedeichselt!“ meinte er, abermals mit einem Lächeln, das ich nicht enträtseln konnte. „Leben Sie wohl, Herr von Lindammer,“ wandte er sich darauf an den Kommissar. „Und – auf baldiges Wiedersehen!“

Wir traten auf die Straße hinaus. Parla schob seinen Arm in den meinen.

„Prachtvolles Wetter – was, Erwin? Und die reine Julitemperatur. Komm’, begießen wir die wiedergewonnene Freiheit mit einem Glas Mosel. Dazu langt mein Kassenbestand gerade noch. Nachher muß ich zu Bender. Eigentlich könntest du mich begleiten. Er ist eine Seele von Mensch, der würdige Assessor! Stoß’ dich nicht daran, wenn er zunächst etwas steifleinen ist. Er taut schnell auf. Ich habe in seiner Amtsstube ein kleines Geschäft zu erledigen, das für dich als Schriftsteller manche interessante Seite haben dürfte.“

 

6. Kapitel.

Ilse Müller war mit ihrer Frisur gerade fertig, als das blaue Engelchen in recht mangelhaftem Anzug ins Zimmer schlüpfte, die Schwester in die Arme schloß und reuevoll flüsterte:

„Ich war gestern abend sehr häßlich zu dir. Bitte, bitte – verzeih’ mir!“

Ilse küßte die Jüngere und schob sie dann die das Nebenzimmer zurück. „Du wirst dich erkälten. Die Nacht war sehr kühl. Zieh’ dich flink an. Ich leiste dir gleicht Gesellschaft.“ –

Heute erschien auch Elly pünktlich am Kaffeetisch.

August Müller, der eben seine Pillen schluckte, nickte der Jüngsten freundlich zu. Leider verdarb ihm Frau Klara dann aber den Morgen dadurch gründlich, daß sie fragte:

„Hast du eigentlich des Schirmes wegen geschrieben?“

Müller setzte die halb erhobene Tasse hart auf die Untertasse zurück, wurde krebsrot und polterte sofort los: „Wieder der verd… Schirm! Als ob ich an nichts anderes zu denken hätte! Ich werde schon schreiben, und –“

Das blaue Engelchen mischte sich schnell ein. Sie wußte schon, wie sie den Papa zu nehmen hatte.

„Wie wär’s, wenn wir heute nach Treptow, nach der Abtei, zum Kaffee führen?“ meinte sie mit einem bittenden Blick auf den wütend sein Brötchen kauenden Vater. „Du bist doch so gern dort, Papa. Und Mama kann ja mit der Straßenbahn bis vor das Lokal fahren, damit sie nicht die Strecke durch den Park zu gehen braucht.“

August Müllers Mienen glätteten sich. – „Abtei – gut, sehr gut!“ Der Schirm war vergessen.

Dann kam die Köchin ins Zimmer gestürzt.

„Ne – so was! Na, die Herrschaften werden staunen. Eben hat’s mir die Portierfrau erzählt. Einjebrochen bei uns – einjebrochen!“

„Wie – was – bei uns?! Unsinn –“

„Ich meine – bei uns ins Haus, – nämlich in die Filiale von Bärenstein –“

„Unglaublich!“ meinte August Müller. „Diese verd… Spitzbuben!“

Ellychen war auffallend rasch mit dem Frühstück fertig.

„Ich will mal zu Frau Pick hinunter,“ sagte sie und stand auf. „Ich möchte so gern einen Blick in den Laden werfen. – So was liebe ich sehr –“

Amelie Pick, die Frau des Hauswarts, stand mit dem jüngsten Sprößling auf dem Arm im Flur des Vordergebäudes. Elly näherte sich der rundlichen, blühenden Frau ein wenig zaghaft. So keck sie auch oben bei den Eltern getan hatte, hier befiel sie schon wieder die alte lähmende Unsicherheit. Zum Glück freute sich Frau Pick nicht wenig, dem Fräulein die große Neuigkeit haarklein berichten zu können und erleichterte Elly die Anknüpfung einer Unterhaltung, indem sie ihr halblaut zurief:

„Na, gnäj’ Fräulein, – das ist doch mal ‘ne Jeschichte! Ne – diese Spitzbuben! Nu wagen se sich schon hier ins feinste Viertel. Und jestohlen is! Mindestens für fünfzigtausend Mark!“

„Wirklich, Frau Pick?“

„Tatsache – Tatsache! – Herr Bärenstein selbst is eben mit ‘n Auto gekommen. Aber er war janz ruhig. Und zu einem Kriminalkommissar hat er gesagt: „Fräulein Labisch hat mir schon telephonisch Bescheid jejeben. Fünfzigtausend Mark Verlust, – Arme Versicherungsjesellschaft! Ich habe mich doppelt jedeckt –’

„Ach, wenn man doch mal einen Blick in den Laden tun dürfte,“ meinte Ellychen zaghaft. „Ich möchte zu gern sehen, wie die Diebe die Glaskästchen erbrochen haben.“

„Nee, daraus wird wohl nischt wird’n,“ flüsterte die Portierfrau.

Des blaue Engels dunkle Mausäuglein hafteten auf der Tür, die vom Hausflur aus in die Geschäftsräume der Bärensteinschen Filiale führten. Letztens hatte Elly noch einen Kriminalroman gelesen, in dem es sich auch um einen großzügigen Einbruch gehandelt hatte. Und gestern wieder war es Nimski gewesen, der so allerhand Ansichten über Mein und Dein und „Eigentumsübergang ohne Erlaubnis des Besitzers“ – so nannte er Diebstahl – geäußert und dabei die ganze Kriminalpolizei spöttisch behandelt hatte.

Da tat sich die Tür auf. Zwei gutgekleidete Herren wurden sichtbar, die sehr sorgfältig das Türschloß zu untersuchen begannen, wobei der Jüngere dem anderen allerlei Anweisungen gab.

Und dieser Jüngere fand auch noch Zeit dazu, Elly Müller wiederholt prüfend zu mustern. Er war schlank und sah wie ein Offizier in Zivil aus.

„Der Kriminalkommissar is’s,“ flüsterte Frau Pick voller Ehrfurcht.

Bodo von Lindammer wollte die Gelegenheit wahrnehmen, die Portierfrau gleich so etwas auszufragen. Und – dies kleine pikant aussehende Mädel war ja auch nicht zu verachten.

Ellychen wurde sehr rot, als Lindammer sich vorstellte, und die Pick dann erklärte:

„‘s gnäj’ Fräulein is die Jüngste von den Herren Rentier Müller aus ‘m ersten Stock –“

Plötzlich fing das jüngste Picklein fürchterlich zu greinen an, worauf die entsetzte Mutter eiligst verschwand.

Zu einem Gespräch zwischen den beiden Zurückbleibenden sollte es jedoch nicht kommen. In der Tür nach den Geschäftsräumen hin erschien ein Kriminalbeamter, der Lindemann wegholte.

Elly verstand nur noch, wie der Beamte seinem Vorgesetzt halblaute zuraunte: „Nimskis Methode – ohne Zweifel! Wachtmeister Hertel meint auch –“

Dem blauen Engel sanken die Arme schlaff herab. Sie starrte den beiden nach, als wären es unheimliche Gespenster. Ganz blaß war sie geworden.

Und so erblickte sie Lindammer, wie sie, ein Bild verkörperter Bestürzung und entsetzensvollen ungläubigen Staunens, regungslos dastand, als er sich nochmals umschaute. Er stutzte, ging dann aber doch weiter.

Ellys Lippen formten unwillkürlich einen Namen. In diesem Zustand völliger Verstörtheit flüsterte sie ihn unbewußt vor sich hin, – gerade laut genug, daß dieses eine halbunterdrückte Wort noch Lindammers scharfes Ohr erreichte.

„Nimski –!“

Und – „Nimski, – weshalb dieser Name?“ dachte der Kommissar. „Ob sie den Mann etwa kennt?“

Elly hetzte wie gejagt die Treppe empor, lief in ihr Zimmer und warf sich dort in den am Fenster stehenden Korbsessel.

Was bedeutete das?! „Nimskis Methode ohne Zweifel“. Ganz deutlich hatte sie’s gehört! – Nimski! Es konnte viele Nimskis in Berlin geben. Aber – gestern im Kaufhaus des Westens – seine merkwürdigen Äußerungen, sein Verhöhnen der Polizei, seine Ansichten über Eigentum und Gesetz, seine Lobeshymnen auf geniale Verbrecher?

Elly Müller saß zusammengesunken da. Ihr Köpfchen war so gar nicht daran gewöhnen, schärfere Denkarbeit zu leisten, Schlüsse aus Kleinigkeiten zu ziehen und Geschehnisse ihrem inneren Zusammenhang nach zu würdigen. Jetzt aber, wo ihr kleines törichtes Herz mitsprach, das sie restlos an diesen geistvollen Spötter verloren hatte, – jetzt leistete ihr Hirn mehr denn sonst.

 

7. Kapitel.

„Und das allerbeste ist, Herr Kommissar, daß der Burg wirklich nicht gelogen hat. – Ich war, wie Sie befohlen hatten, vorhin in der „Traube“. Der Geschäftsführer kennt Nimski sehr gut. Und auch von einigen Herren des Stammtisches konnte er mir die Wohnung angeben.“

Lindammer, der etwas abgespannt in seinem Schreibtischstuhl lehnte, schaute überrascht auf.

„Wie? – Also auch der Stammtisch ist vorhanden, Hertel?“ fragte er schnell.

„Gewiß. Und die Wette wie gesagt ebenfalls kein bloßes Phantasieprodukt des Burg. Ich war bei dem alten Justizrat Würz, dem verschrobenen Strafverteidiger, der auch Mitglied jener Tischrunde ist. Er bestätigte alles, was der Schriftsteller uns über die seltsame Wette berichtet hat. Und – denken Sie, Herr Kommissar, – die an der Wette beteiligten Herren hatten gleichfalls zwei Wachposten vor Nimskis Haus aufgestellt. Wir haben sie nicht bemerkt. Aber sie waren da –“

„Unglaublich! Also lagen nicht weniger als sechs Mann, Parla mitgerechnet, auf der Lauer. Und doch ist Nimski entwischt!“

„Oh – die Geschichte geht noch weiter!“ meinte der Wachtmeister mit verbissenem Gesicht. „Nimski ist der frechste Kunde, der mir je begegnet ist. Stellen Sie sich vor, Herr Kommissar, – gestern nacht gegen ein Uhr erschien er in der „Traube“, wo der Stammtisch vollzählig versammelt war, kassierte den gewonnenen Wettbetrag ein, aß noch schnell ein Schnitzel mit Gemüse, trank eine halbe Flasche Kupferberg und fuhr dann – angeblich! – nach dem Anhalter Bahnhof, um abzureisen. – Wenn das nicht den Gipfel der Unverfrorenheit ist, dann – dann –“

„Allerdings, der Mensch ist kein zu verachtender Gegner mit seiner kecken Schlauheit! Er wird uns noch viel zu schaffen machen –“

Dann sagte Lindammer zu seinem Untergebenen:

„Ob Burg nicht tatsächlich harmlos ist?! Und ebenso der Filmschauspieler?!“

Hertel zuckte die Achseln. „Ich bin auch unsicher geworden,“ meinte er zögernd.

„Und der neue Einbruch bei der Firma Bärenstein?!“

Der Wachtmeister schaute seinen Vorgesetzten verständnislos an.

Lindammer lachte kurz auf. „Aber Hertel, heute so begriffsstutzig!“

„Vielleicht! – Die letzten Tage waren auch zu anstrengen. Ich habe ja kaum geschlafen, nur um Nimski nicht aus den Augen zu lassen. Schade, daß er an diesen Abenden, nachdem die Wette in der „Traube“ perfekt geworden war, den Stammtisch gemieden hat. Vielleicht wären wir nicht so glatt auf seinen Trick hereingefallen, wenn wir gewußt hätten, daß er sich gestern unbemerkt dünne machen wollte, um die Wette zu gewinnen. Wir ahnten eben nicht, daß er längst gemerkt hatte, wie dicht wir hinter ihm her waren. – Und nun der neue Einbruch, – was hatte der mit Burg zu tun?“

„Sie waren morgens ja auch mit am Tatort, Hertel,“ erklärte Lindammer, indem er nach einem Bogen Papier griff, auf den er einen Grundriß der Räume des Geschäfts gezeichnet und sich verschiedene Notizen gemacht hatte. „Sie haben zuerst darauf hingewiesen, daß die Art der Ausplünderung der Glaskästchen des Verkaufstisches hier genau dieselbe wie bei den Diebstählen bei Christoph in der Tauentzienstraße vor vier Tagen und bei Werner & Co. vor sechs Wochen war.“

„Allerdings – und Sie haben mir recht gegeben, Herr Kommissar. In allen drei Fällen hat der Einbrecher, hinter dem Verkaufstisch kniend, um von draußen durch die Schaufenster in dem erleuchteten Laden nicht gesehen zu werden, die hinteren Glasscheiben zertrümmert und nur das mitgenommen, was gefahrlos zu erreichen war. Es ist eben die Methode, die auf jenen Dieb hindeutet, der seit Jahren die großen Städte Deutschlands unsicher macht und in dem wir Albert von Nimski entdeckt zu haben glauben.“

„Stimmt! – Sie sind dann von mir nach der „Traube“ geschickt worden. In Ihrer Abwesenheit haben wir noch mit aller Gewißheit festgestellt, daß Nimski – angenommen er war der Einbrecher – nur mit Nachschlüsseln vom Hausflur eingedrungen sein kann. Gewalt ist, mit Ausnahme der Zertrümmerung der Glasscheiben, nirgends angewendet worden. Auch das deutet ja auf den geheimnisvollen Menschen hin, der im Laufe der letzten Jahre gegen eine Million an allen möglichen Orten Deutschlands zusammengestohlen hat, eben auf Albert Nimski, den ehrbaren, fleißigen, angesehenen Ingenieur, der bei seiner Firma in Leipzig die rechte Hand des Direktors und doch sehr wahrscheinlich daneben, nein, sicher ein verwegener Verbrecher ist. – Geht Ihnen jetzt ein Licht hinsichtlich Burgs auf?“

„Nein, leider nicht. Ich bin todmüde –“ Und Hertel gähnte recht zwanglos.

„Burg wohnt in demselben Haus!“ sagte Lindammer mit Betonung.

„Ah!“ machte der kleine dicke Wachtmeister. „Jetzt begreife ich. Burg könnte Nimski den Hausschlüssel überlassen und leicht auch irgendwie Wachsabdrücke von den übrigen notwendigen Schlüsseln beschafft haben.“

„Diese letzte Forderung – übrige Schlüssel – geht etwas weit, lieber Hertel. Wie sollte der Schriftsteller wohl hierzu Gelegenheit gehabt haben?! – Die Frage können wir vorläufig jedoch getrost offen lassen. Tatsache ist jedenfalls, Burg wohnt dort, wo Nimski – vielleicht kommt auch dieser Einbruch tatsächlich auf sein Konto – sich aufs neue betätigt hat, und Burg ist es gewesen, der es Nimski ermöglichte, sich vorher unserer scharfen Überwachung zu entziehen. – Sollten dies alles zufällige Zusammenhänge sein?!“

Der Wachtmeister war reger geworden, beugte sich auf seinem Stuhl vor und erwiderte:

„Ihre Schlüsse haben sehr viel für sich, sehr viel, Herr Kommissar! Ich habe hier immer behauptet: Nimski muß Helfershelfer haben! Allein ohne fremde Hilfe sind diese Einbrüche von ihm nicht vorbereitet worden! – Wenn wir doch nur Glück hätten und beweisen könnten, daß außer seiner Schwester noch Burg und Parla mit ihm verbündet sind! Ich werde jedenfalls dieser Sache alle meine Kräfte widmen, und wenn ich –“

Er stockte plötzlich, streichelte gedankenvoll das glattrasierte Kinn und fuhr dann fort: „Da ist mir eben etwas eingefallen, Herr Kommissar. Ich möchte gern Ihre Meinung darüber hören. – Nimski steckt noch mit jemand aus dem Hause am Rüdesheimer Platz in Verbindung, wie ich beobachtet habe, als ich ihm die letzten drei Tage kaum von den Versen ging. Es handelt sich um ein junges Mädchen, so Genre Berliner Range, mit dem er sich offenbar verabredet hatte, und zwar vorgestern und gestern im Kaufhaus des Westens, und die er bis an die Ecke der Turtweilerstraße heimbegleitete. Gerade gestern Vormittag, als ich dem Pärchen nachschlich, ging er, nachdem er sich von dem Mädel verabschiedet hatte, hinter ihr her – und ich hinter ihm. Sie verschwand dann in jenem Haus und so erfuhr ich, wo sie wohnte.“

Lindammer war mit einem Ruck aufgestanden. Indem er Hertel derb auf die Schulter schlug, rief er ganz begeistert aus:

„Mensch, Wachtmeister, – gut, daß Ihnen die „Berliner Range“ eingefallen ist! Schnell – beschreiben Sie sie mir. – Etwa zierlich, volle Figur, dunkles, braunes Haar, dunkle, lebhafte Augen und –“

„– blaues Kostüm,“ schaltete Hertel ein.

„Nee – davon habe ich noch nichts gesehen. – Aber – stimmt meine Beschreibung sonst?“

„Sehr gut sogar, sehr gut. Sie ist es offenbar!“

„Dann heißt sie Müller! Ich habe sie heute vormittag im Hausflur ganz flüchtig kennen gelernt. – Und, bester Hertel – wissen Sie, weshalb ich soeben so lebendig wurde?! Weil ich etwas bemerkt habe, daß mir jetzt überaus wichtig erscheint!“ Und Lindammer erzählte, wie die „Range“ im Flur, zur Bildsäule förmlich erstarrt, den Namen Nimski mit einem ganz verstörten Ausdruck auf dem pikanten Gesichtchen vor sich hingesprochen hatte.

„So, so – verstört, und Bildsäule! Recht vielsagend! – Herr Kommissar, die Sache Nimski wird immer vielseitiger!“

„Eher – verworrener – leider!“ brummte Lindammer.

„Höhnig ist doch zuverlässig?“

„Ja – und gerissen! Der wird Irmgard von Nimski alias van Velden schon getreulich – beschützen. Sollte der Herr Bruder mit der blonden Irmgard in Verbindung zu treten suchen, so werden wir ihn schon beklappen.“

„Nun – ich fürchte, dazu ist er doch wohl zu schlau. Immerhin – Höhnig muß gewissenhaft auf dem Posten sein. – Wer löst ihn ab?“

„Lippke, Herr Kommissar.“

„Schön. – Auch die Briefeingänge der – „Dame“ müssen kontrolliert werden. – Und Burg und Parla?“

„Sind vorzüglich aufgehoben!“ Hertel zwinkerte triumphierend lächelnd mit den Augen. „Die beiden ahnen nicht, warum wir sie laufen ließen.“

Da Hertel jetzt wieder kräftig gähnte, schickte ihn Lindammer fort. „Schlafen Sie sich erstmal ordentlich aus. Um sechs Uhr nachmittags wollen wir uns hier wieder treffen. Auch ich gedenke nach Tisch ein längeres Nickerchen zu erledigen. Wir müssen frisch bleiben. –

Noch eins, Hertel, die kleine Müller muß gleichfalls etwas unter die Lupe genommen werden. Man kann nie wissen!“

*

Rolf Parla erledigte die Vorstellung mit der ihm eigenen ungezwungenen, stets etwas humorvollen Formlosigkeit.

„Kinder, reicht euch ruhig die Flossen. – du, lieber würdevoller Assessor, wirst doch Burg nicht etwa durch so ‘ne steife Verbeugung imponieren wollen. Immer gleich gemütlich, Herrschaften! Wozu wie die Drahtpuppen?!“

Karlchen Benders rosiges Gesicht wurde verlegen. Er wußte nicht recht, wie er sich benehmen sollte. Ich merkte es ihm an. Er wollte den Assessor so ein wenig herausbeißen. Da half ich ihm mit ein paar Sätzen, die darauf hinwiesen, daß wir voneinander doch eigentlich bereits so viel wußten, als wären wir alte Bekannte. Er taute allgemach auf. Doch – „eine Würde, eine Höhe“, in bescheidenem Maße zur Schau getragen, sollte noch immer der Vertraulichkeit gewisse Grenzen ziehen.

Parla erzählte ihm dann zunächst unsere Erlebnisse im Polizeigefängnis.

„Nun sind wir wieder frei – hurra! – Und nun ran ans Werk – an Herrn Müller mit dem Regenschirm!“ leitete er zu Benders gestrigem Abenteuer über. „Hat Müller sein Regendach abgeholt?“ fragte er dann.

„Nein. Bisher hat er sich nicht gemeldet, weder persönlich noch schriftlich.“

„Schau, schau, Herrn Müller! Weshalb läßt du denn deinen Schirm in Stich?!“ meinte Parla mit einem zufriedenen Lächeln. „Eigentlich freue ich mich, daß dem so ist – tatsächlich! Wer auf einen teuren Schirm verzichtet und sich vorher in diesen heiligen Hallen so benommen hat, wie Müllerchen mit dem grauen Bart, der wandelte hier auch auf faulen Pfaden. – Doch – behandeln wir die Geschichte mit mehr Ernst. Willst du, lieber Assessor, jetzt mal deinen Arbeitstisch genau so herrichten, wie er gestern während des Besuches des stark fragwürdigen Herrn war? Genau so?!“

Bender tat’s. Auch den dicken Aktenband „Jahnke’sche Stiftung“ legte er auf die Tischplatte, rückte auch den Stuhl für die Besucher so, wie er gestern gestanden hatte und von Müller benutzt worden war.

Dann machte sich Parla ans Werk, jetzt mit einem Eifer, der mir recht übertrieben erschien. Er setzte sich auf den Stuhl und spielte möglichst getreu Herrn Müller, während Bender dazu die nötigen Anweisungen gab.

Das Experiment verlief natürlich völlig ergebnislos. Was sollte auch wohl dabei herauskommen?! Ich fand die ganze Sache reichlich albern, offen gestanden. Und auch Bender schien zu argwöhnen, daß Parla uns beide entweder „frotzeln“ oder aber sich nur wichtig tun wollte.

Bender verlor schließlich die Geduld, als Parla stets neue Einzelheiten über Müllers Benehmen wissen wollte.

„Es ist ja alles zwecklos,“ meinte er. „Lassen wir doch diesen – diesen –“

„– meinetwegen „Unsinn“,“ ergänzte der „Lakai“. „Ich gebe zu, ich werde aus Müllers Aufführung hier nicht klug – ganz und gar nicht!“ setzte er hinzu.

Bender bot uns jedem eine vorzügliche Zigarre an. Müller war abgetan. Während ich dann mit dem Assessor über seine dienstliche Tätigkeit sprach, blätterte Parla in der „Jahnke’schen Stiftung“ herum.

„Ist das eine alte Scharteke,“ meinte er plötzlich. „Die Akten gehen ja bis zum Jahre 1839 zurück.“

Er hatte sich in den Schreibtischstuhl gesetzt. Bender und ich standen am Fenster.

„Allerding,“ erklärte der Assessor. „Jener Wilhelm Jahnke, ein geborener Berliner, wanderte 1821 aus, erwarb in der Fremde ein Riesenvermögen und vermachte bei seinem Tode im Jahre 1848 der Stadt Berlin einhunderttausend Mark zu wohltätigen Zwecken.“

 „Schon gut,“ brummte Parla am Tisch, „das lese ich eben hier schwarz auf weiß.“

Bender teilte mir dann noch mehr über dieses Vermächtnis mit. Bald erschien jedoch ein Bureaudiener und meldete eine Dame an. Der Assessor riß die Fenster auf, um den Rauch der Zigarren hinauszulassen, und Parla und ich empfahlen uns.

Das war meine erste Begegnung mit Doktor Karl Bender gewesen. –

Für den Abend hatten wir drei uns nach dem „Siechen“ am Potsdamer Platz verabredet, was ich noch erwähnen muß.

 

8. Kapitel.

Gegen drei Uhr nachmittags betrat ich mein Haus. Nicht gerade in bester Laune. Ich dachte an Herrn Neumann, den aufgeblasenen Verwalter. Ohne Zweifel wußten jetzt schon sämtliche Einwohner, daß ich – „gesessen“ hatte.

Im Hausflur lief ich Frau Pick in die Arme.

„Na – wieder da?“ meinte sie mit erstauntem Gesicht. „Ich denke, Sie sind in Nummer Sicher. Ich hab’s jleich nich jlauben wollen –“

Ich klärte die brave Frau über mein Mißgeschick auf. „Es lag ein Versehen der Polizei vor,“ – und so weiter. – Von Nimski erwähnte ich nichts.

Dann kramte sie die große Neuigkeit aus: Einbruch bei Bärenstein, Filiale. –

Das war wirklich ganz spannend.

Ich ging dann hastigen Schrittes über den Hof. Und doch nicht schnell genug. In der Tür des Gartenhauses prallte ich mit dem unleidlichen Verwalter zusammen. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen, im Mundwinkel eine dicke Zigarre und ein Grinsen auf dem Gesicht, daß es mir in den Fingern zuckte, auszuholen und zuzuschlagen.

„Na – schon wieder da, Herr Burg? Hat man Sie glücklich laufen lassen?!“ meinte er mit offenbarem Hohn. „Was wollten die Geheimen denn eigentlich von Ihnen, he?!“

„Das dürfte Sie gar nichts angehen, Bitte geben Sie mir den Weg frei!“ zischte ich ihn förmlich an.

„Na – so ‘ne Frechheit! Sie – Sie – wenn Sie bis morgen mittag nicht Ihre Miete auf Heller und Pfennig bezahlt haben, schmeiß’ ich Sie persönlich raus!“

Ich beachtete ihn nicht weiter, eilte die Treppe empor und atmete vorläufig wie befreit auf, als ich mich in meinen vier Wänden befand. –

Vorläufig! Ja – was sollte nun werden?! Meine Barschaft betrug gerade noch zwei Mark und dreißig Pfennig. Und hundertundfünf Mark war ich rückständige Miete schuldig! – Daß Neumann mit mir kurzen Prozeß machen würde, war sicher. Dann hatte ich morgen kein Heim mehr; dann mußte ich Parla um Unterkunft bitten; dann – ja, dann hatte der Sumpf mich schon recht tief hinabgezogen.

Mir wurde es plötzlich zu eng in meinem Zimmer. Ich griff nach meinem Hut, wollte hinaus auf den Dachgarten. Daß bei diesem schnellen Entschluß die Hoffnung, Ilse Müller oben zu treffen, sehr stark mitsprach, wollte ich mir selbst nicht eingestehen.

Und doch war es so. Ich hatte seit gestern oft genug an das stille, freundliche Wesen dieses jungen Weibes gedacht. Immer fester hatte sich da in mir die Überzeugung festgesetzt, wir beide würden noch sehr gute Kameraden werden.

Dem zukünftigen Kameraden zu Ehren wechselte ich jetzt noch den Kragen. Das nahm Zeit in Anspruch. Und das war zu meinem Glück. Denn wäre ich drei Minuten früher oben auf den Dachgarten gewesen, dann hätte mich der Geldbriefträger nicht mehr angetroffen!

Tatsache – der Geldbriefträger! Fünfhundert Mark zählte er mir hin. Ich las den Postabschnitt, las – las. Es flimmerte mir vor den Augen. Endlich entzifferte ich: „Absender – Verlagshaus Menke, Berlin S.“ – Und auf der Rückseite: „Vorschußhonorar für den Ihnen erteilten Auftrag.“

Menke – Verlagsbuchhandlung Menke?! In meinem ganzen Leben hatte ich von der Firma noch nicht gehört. Und Auftrag – Auftrag?! Keine Ahnung – nicht die leiseste Spur davon!

Dann ein Gedanke. Ich rannte zu dem außen an meiner Wohnungstür angebrachten Briefkasten.

Leer – leer! Kein Brief der Firma – nichts.

Aber – vielleicht hatte sich die Absendung des Schreibens verzögert! Und diese Vermutung gab mir meine Ruhe wieder. Die Hauptsache, ich hatte Geld, ich konnte die Miete bezahlen und brauchte nicht Parla zur Last zu fallen.

Dann schloß ich meine Wohnung hinter mir ab und kletterte leise vor mich hin pfeifend die Stiegen empor, öffnete die gutgesicherte Luke, klappte sie hoch und – sah vor der Neumannschen Laube Ilse vor ihrer Staffelei sitzen.

Ilse freute sich offenbar, als sie mich erblickte. Ohne Ziererei reichte sie mir die Hand. Dann holte ich mir einen der plumpen Gartenstühle und setzte mich neben sie.

Erst wurde das halbfertige Bild kritisiert, dann begann ich von mir selbst zu sprechen.

„Nicht wahr, gnädiges Fräulein, Sie haben doch sicherlich auch bereits die Schauermär vernommen. „Der Burg aus dem Gartenhaus oben ist verhaftet worden!““ sagte ich und lächelte vergnügt. „Seien Sie nur ganz ehrlich, – Neumann wird ja wohl dafür gesorgt haben, daß jeder einzige der Hausbewohner es erfuhr. Wir stehen auf etwas gespanntem Fuß miteinander.“

Ilses Lippen umzuckte ein Lächeln. „Sie sind heute ja in so fröhlicher Laune. – Ja, ich erfuhr diese – diesen Irrtum der Polizei durch unser Stubenmädchen.“

„Ganz recht, ein Irrtum war’s,“ sagte ich eifrig. „Und dieser Irrtum ist auf eine geradezu unglaubliche Geschichte zurückzuführen. – Nicht wahr, gnädiges Fräulein, Sie behalten ganz für sich, was Sie nun hören werden. Es ist wirklich spannend, dieses mein Abenteuer –“

„– und ich sehr gespannt darauf,“ schaltete sie ein und lächelte abermals.

Sie schüttelte wie ungläubig den Kopf, als ich nun das ganze Nimski-Abenteuer von A bis Z erzählte. Mir konnte es nicht entgegen, daß sie bei dem Namen „Nimski“ leicht zusammenfuhr. Aber sie unterbrach mich mit keiner Zwischenfrage. Erst als ich nichts mehr hinzuzufügen wußte, meinte sie nachdenklich:

„Weshalb mag die Polizei diesen Nimski wohl haben verhaften wollen? Wissen Sie darüber etwas?“

„Nichts – leider gar nichts! Lindammer schwieg sich aus wie ein Buch mit sieben Siegeln. Nur eins steht fest: Nimski muß recht böse Dinge auf dem Kerbholz haben.“

Sie hatte den Kopf gesenkt, legte ihre Palette jetzt auf den Malkasten, seufzte verstohlen und begann dann zögernd:

„Würden Sie mir einen großen Gefallen tun, Herr Burg? – Ich möchte gern über diesen Nimski mich näher erkundigen – vielleicht mit Hilfe eines Detektivinstituts. Für mich als Dame ist es nun schwer oder besser etwas peinlich, jemanden mit diesen Nachforschungen zu beauftragen. Wollen Sie mir da helfen?“

Ich war einfach platt, wie man so zu sagen pflegt. – Was hatte es in aller Welt zu bedeuten, daß die stille Ilse Müller für diesen Nimski Interesse zeigte?! Woher kannte sie ihn? Stand er ihr etwa näher? Sollte dieser Mensch sich vielleicht gar an dieses reine Wesen herangemacht haben, sollte hier „Liebe“ mitspielen?

Kein Wunder, daß ich über all diesen Gedanken eine Antwort fast vergaß. Dann aber beeilte ich mich zu erklären: „Sehr gern helfe ich Ihnen, gnädiges Fräulein. Sehr gern! Und – ich weiß auch bereits einen Herrn, der zwar nicht berufsmäßig derartige Aufträge erledigt, aber den ich in diesem Fall für die geeignetste Persönlichkeit halte: meinen Freund Parla! – Er hat viel freie Zeit, und er ist so das, was man gerissen nennt, dabei goldtreu, verschwiegen und – der reine Verkleidungskünstler.“

Ilses ernstes Gesicht wurde wieder um einen Schein heller.

Nachdem ich es ihr dann mit vieler Mühe ausgeredet hatte, Parla für diesen Dienst eine Bezahlung anzubieten, trat eine lange Gesprächspause ein. Ilse war offenbar mit Gedanken beschäftigt, die sich nicht so leicht klären wollten.

Da wandte sie sich mir wieder zu.

„Herr Burg, – Offenheit gegen Offenheit! Sie haben mir heute wie einem Freund Vertrauen entgegengebracht. Ich will es auch. Ich muß es sogar. Ich möchte nicht allein die Verantwortung tragen. Es handelt sich um meine Schwester –“ –

Also Elly Müller und Nimski! Mir fiel ein Stein vom Herzen!

Ilse berichtete rückhaltlos, was sie über diese Neigung der Jüngeren wußte. – „Leider ist der Onkel gerade gestern mit Tantchen für eine Woche nach dem Riesengebirge verreist. Wir, Elly und ich, waren heute mittag bei ihnen. Von dort kann ich mir also auch keinen Rat holen. – Wie denken Sie nun darüber, soll ich meiner Schwester jetzt reinen Wein über diesen Mann einschenken, und – darf ich ihr als Beweis dafür, daß dieser Mensch für alle Zeiten völlig für sie abgetan sein muß, alles wiedererzählen, was Sie mit Nimski erlebt haben?“

„Wenn ich hier überhaupt mich äußern darf, sagen Sie Ihrer Schwester, Ihnen wäre Nachteiliges über Nimski zu Ohren gekommen, und sie solle Ihnen daher versprechen, jede Verbindung mit ihm abzubrechen, bis Sie sich Gewißheit über seinen Charakter verschafft hätten.“

„Oh – ich hoffe, darauf wird Elly wohl eingehen,“ meinte sie zuversichtlich.

Unsere fernere Unterhaltung drehte sich lediglich um Nimski. Dann trennten wir uns – mit festem Händedruck – als Freunde.

Ich blieb in gehobener Stimmung oben auf dem Dachgarten zurück. Die Poesie war gekommen. Und – die Prosa trug ich in der Tasche – fünfhundert Mark!

Angeregt und beschäftigt mit freundlichen Gedanken, wanderte ich zwischen der Bodenluke des rechten Seitenflügels und der meinigen auf und ab. Als ich diesen Weg vielleicht zum vierten Male zurückgelegte, fiel mir der Mann ein, der sich dort an jenem Schornstein gestern zu tun gemacht hatte.

Ich mußte doch einmal nachsehen, ob ich nicht herausfand, was der Mensch dort in gebückter Haltung getrieben hatte. Also kehrt und – Ja, ich wollte mich jenem Schornstein nähren. Rechts davon lag die Bodenluke des Vorderhauses. Und diese Luke hob sich jetzt, ein Gesicht sah ich, ein Gesicht mit leicht ergrautem Bart: Herrn August Müller!

Ich sah ihn, er sah mich. Während sich aber in meinen Zügen nur leichte Überraschung widerspiegelte, las ich in den seinen ein Gemisch verschiedenster Empfindungen: Schreck, Angst, Ärger und Mißtrauen.

Ein paar Sekunden starrten wir uns so an. Dann klappte er den Lukendeckel zurück und stand gleich darauf vor mir.

„Gehorsamster Diener! – Herr Burg, nicht wahr?“

„Zu dienen – Schriftsteller Erwin Burg.“

„Müller, – Rentier Müller aus dem Vorderhaus. – Von Ansehen kennen wir uns ja bereits –“

Er sprach dann über alles Mögliche, während wir zwischen den kümmerlichen Beeten auf und ab schritten. Endlich fiel dann auch Ilses Name.

„Meine Älteste scheint dies weltabgeschiedene Plätzchen ebenfalls zu lieben,“ sagte er und schaute an mir vorbei.

„Allerdings, Herr Müller. Ich hatte die Ehre, Ihre Fräulein Tochter hier oben kennenzulernen. Wir haben ein wenig verwandte Interessen: die Malerei. Ich war Zeichner, bevor ich Schriftsteller wurde.“

„Ja, ja, die Ilse vertrödelt viel schöne Zeit mit dem – Pinseln.“ Dann ein Müllerscher Witz: „Mit Palette und Pinsel stopft man keine Strümpfe – leider! – All dieser Dilettantenkram ist Unfug!“

Die Sätze klangen recht bissig. In diesem Augenblick begann ich zu ahnen, daß August Müller seine Älteste nicht gerade übermäßig liebte. „Vielleicht ist dieser Anflug von schwermütigem Ernst auf ihren Zügen hierauf zurückzuführen,“ dachte ich. Und sagte mir weiter: „Du mußt sie in Schutz nehmen, deine neue Kameradin.“

„Jeder Mensch, der geistig nicht allzu stumpf ist, sucht etwas, das ihn über das Alltägliche für Stunden hinaushebt, Herr Müller. Dieses Streben nimmt die verschiedensten Formen an. Die meisten Liebhabereien sind hierauf zurückzuführen. Der eine wird Sammler, der andere versucht sich in einer der schönen Künste. All diese Steckenpferde haben ihre Existenzberechtigung.“

Da – als ich das Wort „Sammler“ aussprach, veränderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich. Ein schneller, scheuer Blick streifte mich, wollte etwas feststellen, – etwas aus meinen Zügen herauslesen.

Mir war dieses jäh wiedererwachte Mißtrauen nicht entgangen. – Warum aber diese Gefühlsregungen, die der Vater Ilses so schlecht verbergen konnte?! Warum nur?!

Mit halb gesenktem Kopf sagte er dann:

„So ganz unrecht haben Sie nicht, Herr Burg. Nur –: Liebhabereien soll nur der treiben, der Zeit dazu hat. Pflichten darüber versäumen ist ebenso gut – oder so verurteilenswert – wie Nichtstun. Ich habe mir volle dreißig Jahre kein Vergnügen gegönnt, habe nur Arbeit gekannt! Daher habe ich’s auch zu etwas gebracht.“

Arme Ilse! Auf Rosen bis du daheim nicht gebettet. Dein lieber Papa macht dir sicher das Leben nicht leicht. – Strümpfe stopfen, Knöpfe annähen, – das paßte ja so wenig zu dem zarten, tief veranlagtem Geschöpf.

„Ja, Herr Burg, – ich hab’s zu was gebracht. Nicht durch einen Lotteriegewinn! Auch solche Rentiers gibt’s! Nein! Jeder Pfennig ist verdient! Mit nichts habe ich mal angefangen, übernahm eine kleine Ziegelei dort in Daberow, in Pommern. Mit diesen meinen Händen habe ich mitgeschuftet, habe an der Ziegelformmaschine gestanden, habe dies und jenes Heizverfahren probiert, bis die Müllerschen Ziegel die besten auf zwanzig Meilen im Umkreis waren. Aus der Ziegelei wurde eine große Zementfabrik, Herr Burg. Ja, ja, da begann’s zu flutschen, wie man zu sagen pflegt. Als ich die ersten hunderttausend voll hatte, – ich meine Reichsmark, nicht Ziegel –, heiratete ich. Leider – leider ist meine liebe Frau jetzt seit drei Jahren krank. Zucker – Sie verstehen! Ein heimtückisches Leiden. Und dieses Jahr werde ich daher wieder nichts für meine eigene Darmkrankheit tun können. Es wird wieder Karlsbad werden. Mein Arzt wollte mich anderswohin schicken. Die Karlsbader Quellen sind nichts für mich. – Es ist stets dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, auch bei einem Rentier.“

Aha! August Müller – Jetzt kenne ich dich ganz. Du bist einer von jenen Egoisten, die das eigene Ich, wenn es schon gar nicht anders geht, hinten ansetzen, dies dann aber auch gebührend anerkannt wissen wollen. –

Nein, sympathisch war er mir nicht, der Vater Ilses! Und ich war froh, als er sich endlich verabschiedete.

„Habe mich sehr gefreut, Herr Burg. Gehorsamster Diener – auf Wiedersehen!“ Er drückte mir kräftig die Hand und zog sich in die unteren Regionen zurück.

Ich tat dasselbe, suchte den Hausverwalter auf und beglich die rückständige Miete. Neumann merkte man es an, wie sehr er enttäuscht war, mich nun doch nicht auf die Straße setzen zu können. Als er mir die Quittung reichte, war ihm inzwischen die Erleuchtung gekommen, wie er mich trotzdem demütigen könnte.

„Morgen schicke ich Ihnen die schriftliche Kündigung zum ersten Oktober,“ sagte er mit einem versteckten Grinsen. „Wo ich Verwalter bin, dulde ich keine – keine Unregelmäßigkeiten –“

Er drückte sich vorsichtig aus. Das sollte heißen: – „dulde ich keine fragwürdigen Existenzen“.

Ich hatte aber auch noch etwas für ihn in Bereitschaft:

„Ich werde mich über Ihr Benehmen bei dem Hauseigentümer beschweren,“ erklärte ich möglichst eisig. „Auch dürfte es nötig sein, einmal zu untersuchen, ob die Kohlen und der Koks, die nach jeder größeren Anlieferung abends von hier fortgeschafft werden, mit Zustimmung des Hauseigentümers weiterveräußert werden.“

Diese Drohung entschlüpft mir eigentlich halb gegen meinen Willen. Ich tat nur äußerlich so, als ob mich Neumanns Gehässigkeit gleichgültig ließ. Ich war erregt, und nur deshalb kam es zu diesem Gegenschachzug, den ich nachher sofort als unvornehm und meiner Charakterveranlagung wenig entsprechend bereute.

Nun waren diese Worte aber einmal gefallen und ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Ihre Wirkung blieb nicht aus. Der Dicke wechselte die Farbe.

Ich hielt es für das beste, seine Erwiderung nicht abzuwarten. Ohne Gruß verließ ich seine Wohnung.

 

9. Kapitel.

„Schon zurück, Kind?“

Frau von Nimski schaute ihre Tochter fragend an.

„Wo ist Albert?“ fügte sie hinzu.

Irmgard küßte der Mutter, die wie immer in ihrem Lehnstuhl am Fenster saß, die Wange und erwiderte leichthin: „Er mußte plötzlich abreisen, läßt herzlich grüßen und wird sehr bald schreiben –“

„So plötzlich?! Abgereist?! Ohne noch zu mir zu kommen!“ Die Gelähmte schüttelt langsam, schwerfällig den Kopf. „Sonderbar – Albert vergißt mich doch nie. So ohne Abschied! – Ja – wart ihr denn gar nicht in Werder?“

„Nein – nur in Wannsee.“ Irmgard nahm vor dem hohen Stehspiegel in der Ecke ihren Hut ab. „Albert telephonierte von dort an seine Firma. Die rief ihn schleunigst zurück. Jetzt dürfte er schon unterwegs nach Leipzig sein.“

Die welken Finger der Kranken strichen über die Decke hin, die über ihre Knie gebreitet war. Ihre Augen, doppelt groß und klar in dem bleichen, faltendurchfurchten Gesicht aufleuchtend, forschten in den Zügen der Tochter.

„Ist das alles auch wahr, Irmgard?“

„Muttchen, sei doch nicht so komisch! Weshalb sollte ich dich belügen?!“

„Ja – ja – weshalb – weshalb?!“ Die trotz ihrer erst siebenundfünfzig Jahre einer Greisin gleichende Frau sprach wie zu sich selbst. „Weshalb – so plötzlich. Ich möchte so manches Wissen – so manches. Zuweilen befällt mich eine Angst – eine Angst –“

Ihre Blicke glitten über die einzelnen Möbel des behaglich eingerichteten Zimmers hin. Über dem Sofa hing ein Bild Albert von Nimskis, des Flickschneiders, aus dessen besten Mannesjahren. Die Gelähmte fuhr noch leiser fort. „Wie ähnlich er ihm sieht – wie ähnlich! Mein Gott, wenn er nur nicht auch das – das von ihm geerbt hätte –“

Irmgard stellte sich jetzt neben den Lehnsessel an das Fenster und schaute flüchtig auf die Straße hinab. –

Ach – da war ja der Mann aus Wannsee auch wieder, der Geheime! Dann sagte sie: „Muttchen, was redest du da eigentlich wieder vor dich hin. Was soll Albert nicht geerbt haben?“

„Oh – nichts – nichts,“ hastete die weißhaarige Frau hervor. „Nichts, Kind. Man plapperte vieles vor sich hin. Bei mir eilen die Gedanken doppelt schnell. Das kommt davon, wenn man so viel Zeit zum Denken hat. Und da wirft man allerlei durcheinander –“

Eine Weile Schweigen.

„War es schön in Wannsee?“ fragte die Kranke dann. Man hörte es an dem Tonfall ihrer Stimme, daß ihre Gedanken nicht bei der Sache waren. Sie wollte nur den Eindruck erwecken, als ob sie nur an das Nächstliegende, diesen kurzen Ausflug ihrer Kinder, dachte.

„Albert ist zuweilen kein sehr angenehmer Gesellschafter, Muttchen.“ meinte Irmgard mit halber Aufrichtigkeit. „Wir – wir haben uns eigentlich ein wenig veruneinigt. Er hatte an mir so viel herumzuerziehen –“

Frau von Nimski nickte unwillkürlich wie zustimmend. Ihr Blick begegnete dem der Tochter. Und Irmgard wich diesen klaren, großen Augen aus.

„Ja, ja, Kind, – er sprach auch mit mir über deine Zukunft,“ sagte die Gelähmte leise. „Ich wünschte, du würdest dich mehr seinen wohlgemeinten Ratschlägen anpassen, – wirklich! Albert will ja nur unser Bestes – stets – stets –“ Wie Sonnenschein lief es bei den letzten Worten über ihr Gesicht hin. „Wo findet man wohl einen so treu sorgenden Sohn und Bruder, einen so selbstlosen, aufopfernden Menschen überhaupt wie er es ist,“ fügte sie zärtlich und dankbar hinzu. –

Albert von Nimski war mit dem Auto bis vor eines der kleineren Hotels in der Nähe des Friedrichstraßen Bahnhofs gefahren und verließ nach Begleichung seiner Rechnung das Hotel, um nach einigen Kreuz- und Querfahrten mit zwei Autos und einem Taxameter – Vorsichtsmaßregeln für alle Fälle – in einem Fremdenheim in der Invalidenstraße zu landen.

Er schrieb sich als Oberlehrer Kurt Pilz aus Frankfurt am Main in das Fremdenbuch ein, ließ sich starken Kaffee, Schinkenbrötchen und zwei Eier bringen und freundete sich etwas mit dem Stubenmädchen an, dem er so nebenbei mitteilte, er würde wahrscheinlich vier bis fünf Tage bleiben, da er auf der Universitätsbibliothek zu tun hätte.

Nimski war ein vorzüglicher Schauspieler. Die große Hornbrille mit runden Gläsern, die er sich im letzten Auto aufgesetzt hatte, und eine gewisse Schüchternheit und Weltfremdheit, nicht gar zu stark hervorgekehrt, paßten durchaus zu einem strebsamen jungen Philologen.

Dann benutzte er die Fernsprechzelle des Fremdenheims, das einer Frau Major von Melcher gehörte.

Er bekam auch sofort Anschluß.

Bei Müllers meldete sich Anna, die Köchin.

„Hier Maaßen, Leipzigerstraße,“ erklärte Nimski. „Fräulein Elly Müller hat bei uns eine Seidenjacke gekauft. – Aber am besten ist, ich richte dem gnädigen Fräulein selbst aus, was zu bestellen ist.“

„Gut – werd’ sie rufen.“

Elly stürzte in den Flur, wo der Fernsprecher hing.

„Hier Elly Müller. Sind Sie noch da?“ Ihr Herz jagte vor ungewisser Erwartung. Es konnte ja nur Nimski sein. Er hatte ihr diesen kleinen Schwindel mit „Maaßen“ vorgeschlagen. Die Seidenjacke sollte ja erst in acht Tagen fertig sein. Das paßte so gut. –

Aber – er war doch gar nicht mehr in Berlin, hatte ihr doch –

Da – seine Stimme …

„Könnten wir uns um halb sieben am Bahnhof Schmargendorf treffen? – Freut mich sehr, also dann bestimmt! Aber – sprechen Sie mich nicht an, bitte. Warten Sie ab, ob ich Sie anredete. – Wiedersehen!“ –

Die Gegend um den Bahnhof Schmargendorf ist noch wenig bebaut. Biegt man rechts über die Brücke, kommt man in stille Straßen und bald auf offenes Feld.

Hier sprach Nimski Elly Müller an. Sie reichte ihm nicht die Hand wie sonst. Ein schneller prüfender Blick traf ihr ernstes Gesicht mit den leicht zusammengepreßten Lippen. Heute war auch nicht eine Spur von Befangenheit darin. Das, was den blauen Engel hierher führte, war so schwerwiegend, daß dieses halbe Kind gänzlich verwandelt schien.

„Ich danke Ihnen, Fräulein Elly,“ begann er nun mit schlichter Innigkeit.

„Wofür?“ Sie schaute immer geradeaus, vermied es ihn anzusehen.

„Daß Sie gekommen sind,“ erklärte er. „Weshalb aber plötzlich so förmlich? Ich hatte auf einen kameradschaftlichen Händedruck gehofft.“

Sie schwieg. Dann blieb sie stehen, schien einen Mann zu beobachten, der in seinem Laubengärtchen die Beete goß – es wurde ihr doch schwer, so ohne jeden Übergang das zu erörtern, was sie so unsagbar quälte. Sie atmete unruhig, ihr keckes Bubengesicht rötete sich. Und nun platzte sie heraus:

„Weshalb sollte ich warten, bis sie mich ansprächen?“

Er zog einen Moment die Augenbrauen hoch.

„Weil ich Spione fürchtete,“ erwiderte er langsam und schaute sie fest an.

Ihre Blicke begegneten sich jetzt. Nur Sekunden hafteten sie ineinander. Dann wandte Elly schnell den Kopf wieder zur Seite. Ihre Augen hatten sich verschleiert. Alles Weh ihres jungen Herzens verkündete dieser Tränenschleier, den sie vor dem Geliebten zu verbergen suchte.

„Lassen Sie uns weiter gehen,“ bat er. „Ich habe Ihnen viel zu sagen –“

Die Abenddämmerung brach schnell herein. Weit und breit jetzt kein Mensch. Vor ihnen lief die noch unbebaute, zementierte Straße wie ein endloser heller Strich hin.

Nimski begann wieder:

„Spione, Fräulein Elly. Ahnen Sie, weshalb ich sie fürchte?“ Er fragte mit Vorbedacht. Ihr verändertes Wesen hatte ihn stutzig gemacht. Sollte durch irgend eine seltsame Verkettung von Umständen ein Argwohn in ihr aufgestiegen sein?

„Ja,“ sagte sie fest. „Ich glaube das richtige zu vermuten.“

„Und das wäre?“

Ihre Stimme zitterte unmerklich, als sie nun in überstürzter Hast das vorbrachte, was sie heute vormittag erlebt hatte.

Still hörte er zu. –

„Nimskis Methode“, die Kriminalbeamten und der Einbruch in die Villa Bärenstein bildeten die Hauptpunkte dessen, was sie hervorsprudelte.

„Und nun – nun sehe ich Sie hier gänzlich verändert wieder. Sie sind gar nicht mehr der, den ich kennenlernte. – Und sie haben Angst vor Spionen. Tragen eine Brille. Was soll das alles?! Wer sind Sie?! Und warum haben Sie mich –“

Hier stockte sie. Eine Blutwelle schoß ihr ins Gesicht. Sie hatte fortfahren wollen: „Warum haben Sie mich so elend gemacht?!“ Noch zur rechten Zeit schlossen sich ihre Lippen.

„Wir wollen umkehren,“ sagte er. Und sprach weiter: „Ich kann Ihnen all diese Fragen nicht beantworten, Elly. Zum ersten Male wurde er so vertraulich. „Ich kann es nicht, und ich will es auch nicht. Nur eins muß ich, Sie um Verzeihung bitten, daß ich mich Ihnen überhaupt aufgedrängt habe. Ein Mensch wie ich sollte nicht jeder Augenblickseingebung folgen. Als ich Sie damals durch Fräulein Strauß im Cafee des Westens kennen lernte, fesselte mich Ihre Unberührtheit. Sie wollten die Berlinerin aus Berlin W. spielen. Und blieben doch stets der mutwillige, liebe, harmlose Kobold. Nehmen Sie mir diesen Ausdruck nicht übel, bitte. Diese Stunde ist zu Redensarten nicht geeignet. –

Ich fühlte, daß Sie entwicklungsfähig waren – nach der guten Seite hin. Aber nicht Lilli Strauß hätte diese Entwicklung gefördert. Wissen Sie noch, daß ich Sie vor diesem angekränkelten Wesen, das Sie Freundin nennen, gleich beim ersten Alleinsein gewarnt habe, daß ich Sie darauf hinwies, wie gefährlich derartige Bekanntschaften und ein inhaltsloses Leben werden können? –

Genug davon. Heute führt mich ein anderer Zweck zu Ihnen, Elly. Wir – wir werden heute zum letzten Mal zusammen sein, uns wahrscheinlich nie mehr sehen. Bitte – fragen Sie nicht nach den Gründen. Ich würde schweigen. Von anderer Seite werden Sie ohne Zweifel früher oder später über meine Person aufgeklärt werden. – Jedes Wort, das ich noch spräche, würde wie eine Entschuldigung klingen, – so, als ob ich mich und mein Tun zu verteidigen suchte. Deshalb sofort: ein kurzer Abschied! – Leben Sie wohl, Elly. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Glück für Ihre Zukunft!“

Er stand vor ihr, zog den Hut.

„Leben Sie wohl!“ Schon wandte er sich um, eilte davon, hörte noch ein halbunterdrücktes „Bitte – noch ein Wort!“, wollte es nicht hören, stürmte weiter.

Die Gaslaternen waren vorhin aufgeflammt. Unter der dritten begegnete er einer unscheinbar gekleideten älteren Frau. –

Nimski verstand Blicke zu deuten. Die Frau schaute ihm in einer Weise ins Gesicht, das er sofort mißtrauisch wurde. – Etwa eine Polizeiagentin? Sollte er doch nicht vorsichtig genug gewesen sein? Wurde etwa Elly beobachtet? –

Der Blaue Engel starrte Nimski nach, bis er verschwunden war, dann ging auch sie. Ganz langsam. Und in ihrem Innern wehklagte es: „Vorbei – vorüber. Er ist dir entglitten. Du weißt nichts von ihm. All die Zweifel sind geblieben. Du wirst ihm nachtrauern wie einem, der dir den Seelenfrieden nahm, den du liebst – trotz allem was geschehen ist und noch geschehen wird –“

 

10. Kapitel.

Wie ich mich freue! Mein Abenteuer ist nicht armselig im Sande verlaufen. Es geht weiter.

Das als Einleitung für die heutige Eintragung. –

Es ist jetzt genau Mitternacht. Die Wanduhr wird gleich schlagen. – Ich war sehr müde, als ich vorhin heimkehrte. Ich vertrage Bowle so schlecht. Sie macht mich schläfrig, schwerfällig. Dann habe ich gelesen, was ich gestern geschrieben hatte und ich wurde schnell munter. Es ist besser, die Eindrücke dieser Begebnisse von heute sofort zu Papier zu bringen. Vergißt man doch Kleinigkeiten zu leicht.

Zum Beispiel, als Parla und Burg heute vormittag bei mir waren, hat ersterer – und er ahnte nicht, wie genau ich ihn beobachtete! – das Aktenstück „Janke’sche Stiftung“ mit einer Genauigkeit durchgeblättert und so gewissenhaft die blauen Zahlen der einzelnen Seiten nachgezählt, daß – ich’s nachher auch tat! –

Doch ich sehe, ich springe sozusagen mitten in die Sache hinein. – Ich will lieber eins nach dem andern berichten.

Parla brachte Burg mit. Ich konnte Parla melden, daß der Schirm nicht abgeholt wäre. Die Bedeutung dieser Tatsache liegt auf der Hand. Herr Müller hat ein schlechtes Gewissen!

Dann durchblätterte Parla die „Jahnke’sche Stiftung“. Dies erwähnte ich bereits. Ob er dasselbe entdeckt hat, was ich, seinem Beispiel folgend, entdeckte?! –

Ich zählte die blauen Seitenzahlen leise mit:

„– 32, 33, 34, 35, 37, 38 –“

Erst als ich bereits 39 sozusagen auf den Lippen hatte, kam mir zum Bewußtsein, daß mir eine Zahl fehlte.

Wirklich – 36!

Ich prüfte die Stelle. Es war deutlich zu sehen, die Seite war mit einem scharfen Messer dicht an der Heftkante herausgeschnitten worden! Es war nur noch ein sehr schmaler Streifen Papier übrig geblieben.

Sollte Parla wohl – falls er das Fehlen von 36 bemerkt hat! – ebenso schnell wie ich auf den meines Erachtens so naheliegenden Gedanken gekommen sein, daß Müller vielleicht diese Seite herausgetrennt haben könnte?!

Mir jedenfalls stieg dieser Verdacht sofort auf. Und mein zu logischem Denken geschulter Juristenverstand knüpfte daran sofort weitere Fragen.

Zunächst:

Wenn Müller die Nr. 36 sich rechtswidrig angeeignet hat, so muß sie für ihn doch einen erheblichen Wert gehabt haben! –

Diese Folgerung ist zweifellos richtig. – Und aus ihr ergeben sich verschiedene Unterfragen:

1. Worin liegt oder lag für Müller der Wert dieser Seite?

2. Wollte er sie lediglich aus den Akten entfernen, das heißt vernichten, oder in ihren Besitz gelangen?

3. Woher wußte er, daß sie diesen Wert für ihn hatte?

4. War ihm bekannt, daß das Aktenstück Janke gerade damals in meinem Zimmer ihm unter Umständen zugänglich war? –

Als ich am Vormittag mit der Nachprüfung „meines Falles“ so weit gekommen war, habe ich das Aktenstück nochmals zur Hand genommen und festzustellen versucht, welchen Inhalt das fehlende Blatt wohl gehabt haben könnte.

Und da gelangte ich zu der die Sachlage noch mehr verwirrenden Überzeugung, Nr. 36 könnte lediglich ein Umschlagbogen eines längeren Konsulatsberichtes gewesen sein.

Nr. 36 war sicherlich ein ganz belangloses Blatt!

Nachdem ich dann eine Weile meinen Fall von allen Seiten nochmals beleuchtet hatte, legte ich die „Jahnke’sche Stiftung“ beiseite. Ich war genau so klug wie vordem geblieben.

So lagen die Dinge, als Parla mich dann nachmittags anrief.

Kurz nach acht Uhr abends fand ich mich bei Erwin Burg ein. Nun – um es gleich zu sagen, ich war enttäuscht! Dieses Poetenheim hatte ganz den Bohemienanstrich wie der Besitzer.

Doch – darauf kommt es nicht an. Vielleicht fehlt mir der Sinn für eine bunt zusammengewürfelte, phantastische Zimmerausstattung. –

Die Hauptsache, Erwin Burg entpuppte sich jetzt, wo wir fast eine ganze Stunde allein waren, als ein wirklich recht sympathischer, nein, mehr noch, als ein „famoser Knabe“, würde Parla sich ausdrücken.

Zu meinem Erstaunen sah ich, daß er für unseren Empfang ziemlich kostspielige Vorbereitungen getroffen hatte. In einer Ecke stand eine Batterie Weinflaschen neben einem Bowlengefäß und einer Schüssel Eis; auf einem Seitentischchen neue Zigarrenkisten und Zigarettenschachteln.

Mir waren diese Zurüstungen insofern außerordentlich peinlich, als ich seine pekuniäre Lage nur zu gut kannte.

Als er meine etwas mißbilligenden Blicke merkte, mit denen ich die vielversprechende Ecke mit voller Absicht wiederholt bedachte, klärte er mich in seiner offenen Art über „die Herkunft der Barmittel zu dieser flüssigen Verschwendung“ auf und zeigte mir sogar den Postanweisungsabschnitt über das Vorschußhonorar.

Da war ich beruhigt.

Nachdem wir wieder zwei Glas Rotwein getrunken und dabei unsere Abenteuer – Nimski und Müller – eingehend durchgesprochen hatten – von der fehlenden Nr. 36 schwieg ich! – meinte er, wir würden es oben auf dem Dachgarten viel luftiger haben. Also gingen wir hinauf, nachdem Burg außen an seine Flurtür einen Zettel geheftet hatte mit der Aufschrift: Bitte ein Stockwerk höher!

Burg war gerade in seine Wohnung hinabgestiegen, um Zigarren zu holen, als ich dicht an den inneren Rand des Daches trat und ohne jede bestimmte Absicht in den Hof hinabschaute.

Meine hin und hereilenden gleichgültigen Blicke blieben jedoch auf der Gestalt eines Mannes haften, der an einem der Hinterfenster des Vorderhauses stand.

Das Zimmer, in dem der Mann sich befand, war hell erleuchtet. Und die Fenstervorhänge waren zur Seite gezogen.

Ich sah nur das Profil zunächst, stutzte aber sofort. Nun drehte der Mann etwas den Kopf, trat ins Zimmer zurück.

Es war Müller – mein Müller! –

Ich stand dicht an dem niedrigen Eisengeländer des Daches. Vor mir senkte sich dieses steil bis zu der im Sternenlicht der klaren Nacht mattglänzenden Zinkrinne abwärts; dann kam die gähnende Leere – der Hofraum – die Tiefe. Und ich dachte: „Wenn du da hinabstürzt und unten auf die hellen Fliesen aufschlägst, ist Müller einen Gegner für alle Zeiten los!“ –

Da kam Erwin Burg mit den Zigarren, und wir setzten uns an den Tisch, den wir aus der Laube des Hausverwalters mitten unter die armseligen Beete geschleppt hatten.

Gegen viertel zehn erschien Rolf Parla. Etwas lärmend wie immer. Weshalb er seinem Übermut derart die Zügel schießen ließ, erfuhren wir nicht.

Die Bowle war bald gebraut. Schade, daß wir sie aus Wassergläsern tranken. Geschliffene Römer hätten besser gepaßt.

Während eines allgemeinen Gesprächs fragte Parla seinen Freund Burg:

„Heute nachmittag am Telephon machtest du eine Andeutung über einen Auftrag für mich, – stimmt’s? Was ist’s mit diesem Auftrag?“

Burg zögerte und schaute zu mir herüber.

„Na – vor Karlchen Bender brauchst du doch keine Geheimnisse zu haben,“ meinte der „Lakai“ ziemlich scharfen Tones. „Heraus mit der Sprache, mein Junge.“

Burg bat mich, Schweigen über das zu bewahren, was – Fräulein Ilse Müller ihm aufgetragen hätte.

Ilse Müller – Müller! Mich überlief’s ganz heiß. Kein Wunder! „Sie“ war „seine“ älteste Tochter.

Und was sie von Parla wollte?! – Seltsam genug, dieser Auftrag! – Nimski hatte mit der jüngeren Müller angebändelt, diese leider sofort ihr Herz an den fragwürdigen Menschen verloren und zu allem Unheil dann heute allen Grund dazu erhalten, Nimski mit einem großen Einbruchsdiebstahl bei dem Juwelier, der unten im Hause sein Geschäft hatte, in Verbindung zu bringen. – Parla sollte sich nun über diesen Nimski etwas genauer unterrichten. Dahin war Ilse Müllers Bitte gegangen.

Der Allerweltskerl von Filmschauspieler griff sofort zu.

„Schlau, schlau, Junge,“ sagte er zu Burg, der sichtlich verlegen wurde, „dieser Dachgarten scheint auch anderen Zwecken als nur Bowlenabenden zu dienen! Dachnachmittage können gefährlich werden. Halte dein Herz fest, Erwin! – Im übrigen, ich werde deiner nichtzahlenden Malschülerin gern helfen.“

Und nach kurzer Pause meinte er wieder: „Ich hatte keine Ahnung, daß hier ein Müller wohnt. Kinder, wenn das der Schirm-Müller wäre! Wie sieht er denn aus?“

Mir fiel auf, daß Erwin Burg nur widerwillig antwortete. Seine Beschreibung konnte auf meinen Müller zutreffen. Er schloß sie dann aber mit den Worten: „Es dürfte in Berlin hunderte von graubärtigen Herren dieses Namens gegeben. Der Rentier aus dem Vorderhause dürfte kaum der Schirm-Müller sein. Er ist reich, schwer reich, und – na kurz und gut, er ist’s sicher nicht!“ –

Parla erklärte darauf, geradezu teuflisch grinsend – er hatte sehr schnell getrunken:

„Ganz recht, mein Junge. Lassen wir diesen Müller aus dem Spiel!“ Er wollte noch mehr hinzufügen, stand nun aber plötzlich auf und schaute angestrengt nach dem Nachbardach hinüber.

Ich folgte der Richtung seines Blickes und glaubte hinter einem Schornstein den Kopf eines Menschen hervorlugen zu sehen.

Parla setzte sich wieder.

„Die Nachbarschaft geniest unser Gelage aus der Entfernung mit,“ meinte er. „Dort hinter dem Schornstein steckt jemand.“ Dann ergriff er sein Glas und schwenkte es gegen den heimlichen Beobachter.

„Prosit, schleichende Eule drüben! Und grüße mir die Linde und die Ammer!“

Das war wieder so recht Parlascher Blödsinn.

 

11. Kapitel.

Gegen halb zwölf verabschiedeten sich meine Gäste. Ich brachte sie bis an die Haustür hinunter, schloß auf, ließ sie hinaus. Bender bedankte sich mit gewählten Worten für den gemütlichen Abend. Parla war betrunken und torkelte.

Der Assessor nahm ihn unter den Arm, und dann zogen sie ab. Nur ein paar Schritte weit kamen sie. Da riß Parla sich los, taumelte wieder auf mich zu und gröhlte: „Du – du vermurkster Schulmeister – du mußt mich heute als – als Schlafbursche bei dir aufnehmen. Ich – ich bin zu voll!“

Kaum hatte ich dann aber die Haustür von innen wieder abgeschlossen, kaum waren wir also allein, als er mit einem Schlag ganz nüchtern wurde. Er hatte den Angeheiterten vorzüglich gespielt.

„Ich habe noch mit dir zu reden,“ meinte er kurz. „Gehen wir in den Olymp zurück.“

Wir setzten uns in meinem Wohnzimmer an den Mitteltisch. Parla hatte den Korbsessel mit Beschlag belegt und streckte sich behaglich, während ich die letzte Flasche Mosel entkorkte.

Dann sagte er unvermittelt, die Zigarette im Mundwinkel behaltend: „Es gibt keinen Verlag dieses Namens.“

Ich schaute erstaunt auf. Dann begriff ich.

„Woher weißt du das?“

Er nahm den Postanweisungsschein vom Tisch und hielt ihn mir hin. „Er ist mit verstellter Handschrift ausgefüllt. Prüfe ihm nur mal daraufhin genau.“

Ich tat’s, und ich nickte nach einer Weile etwas unsicher und verdutzt. „Du hast recht. Aber – wer –“

„Wer? – Natürlich Nimski!“

„Verdammt!“ entfuhr es mir. „Und von diesem Sündenlohn habe ich bereits die Hälfte ausgegeben.“

„Feinfühliger armer Schlucker!“ höhnte Parla, wurde aber sofort wieder ernst. „Lieber Junge, wir sind ohne unser Zutun in zwei üble Geschichten hineingeraten. Beide sind übel, Nimski und Müller. Sie haben leider auch eine leichte Verbindungsbrücke, diese „Fälle“, – eine eigenartige, ein Mädchenherz: Elly Müller!“

„Verbindungsbrücke? – Hm – eine sehr leichte nur!“ meinte ich nun.

„Heuchler!“ Er zuckte die Achseln mit kurzem Auflachen.

„Weshalb?“

„Weil du schon heute vormittag, als wir bei Bender waren, auf August Müller aus dem Vorderhaus Verdacht hattest; weil du ferner heute abend den steifgestärkten Assessor von der richtigen Fährte abbringen wolltest; schließlich weil du dich jetzt auch wieder dumm anstellst. Elly Müller, Tochter des Vaters, der bei Bender auf krummen Pfaden wandelte, liebt den Mann, der dich für eine Nacht ins Kittchen gebracht hat. – Das ist die Brücke.“

Ich setzte mich ihm gegenüber, sagte kleinlaut:

„Gut denn –: ich glaube beinahe mit Bestimmtheit, daß August Müller der ist, der den Schirm preisgegeben hat.“

„Beinahe mit Bestimmtheit?! – Etwa des grauen Bartes wegen?“

„Nein. Müller besitzt einen Schirm mit Silberkrücke. Ich selbst habe ihn damit vor dem Hause noch unlängst gesehen.“ Und nach kurzer Pause fügte ich hinzu: „Woher aber weißt du, daß Müller –“

Eine Handbewegung schnitt mir das Wort ab.

„Ich? Lieber Junge, ich gehe in diesem Hause als dein Intimus oft genug aus und ein. Und ich halte meine Augen stets offen. Selbst für die Nichtigkeiten. Daß hier ein Müller wohnt, war mir bekannt. Vor vierzehn Tagen begegnete ich Müller nebst Töchtern dann im Hausflur. Ich wußte sofort, wer dieser würdige, magerer Herr war. Und mithin ahnte ich schon gestern, als das Assessorlein ihn mir beschrieb, daß – und so weiter.“

Er trank sein Glas aus, füllte es und hielt es gegen das Licht. „Ich wünschte, die Fälle Nimski und Müller wären so klar wie dieses Weinchen. Leider sind sie vorläufig recht trüber Most; vielversprechend – aber noch lange nicht reif.“

„Wirst du sie zur Reife bringen?“ warf ich fragend hin.

„Vielleicht. Ich bin auf dem besten Wege dazu. – Ich wollte beide mit dir noch heute durchsprechen. Du mußt eingeweiht werden, mein Junge, damit du keine Dummheiten machst.“ Er trank mir zu. „Es lebe dieser Segen von Sensationen! Er rieselt über mich hin wie eine erfrischende Dusche. Ich brauche so etwas Anregung. Heute morgen in dieser Zelle drückte ich mich anders aus.“

Ich wurde aufmerksam.

„Ja – anders. Ich sagte etwa: „Ich bin wieder restlos glücklich. Fast ein halbes Jahr lang habe ich mich umsonst gesehnt“ –‚ – Da dachtest du an Weiber, an Liebe – und ich doch nur an meine kleine, heiß geliebte Nebenbeschäftigung – ans Detektivspielen.“

Ich beugte mich weit über den Tisch. Ich war voll überrascht durch dieses Eingeständnis. Von dieser Neigung wußte ich noch nichts, kannte Parla nur als einen Menschen, der jeden Gaul zu reiten verstand. Aber Detektiv, so mit allem Drum und Dran!

„Wunderst du dich?! Hast mich ja selbst Ilse Müller empfohlen,“ lachte er vergnügt.

„Ja – für einfache Erkundigungen.“

„Es wird mehr als das werden – weit mehr, guter Erwin! Und – ich bin schon ordentlich im Zuge. Ich kann mir zum Beispiel ganz genau sagen, wo Albert von Nimski, dein und unser Wohltäter, jetzt die müden Glieder in einem Bett ausruht. Mithin weiß ich einen ganzen Haufen mehr als die Polizei, als die Linde und die Ammer – Lindammer!“

Bei diesem Namen ging mir ein Licht auf.

„Der Mann drüben auf dem Dach hinterm Schornstein –“

„– einer von Lindammers Schergen!“ vollendete er heiter. „Wer sonst?! Hast du an die „neugierige Nachbarschaft“ geglaubt, die nur für Bender berechnet war?! – Wir stehen unter scharfer Kontrolle, Erwin. Deshalb hat uns ja Lindammer heute morgen nur laufen lassen, damit er uns heimlich beobachten kann, – uns und die Leute, mit denen wir zusammen kommen. Unter diesen hätte sich Nimski befinden können. – Verstehst du nun, weshalb deine Haft sobald beendet war? Ja – ein alter Trick der Polizei war’s – weiter nichts! Ich durchschaute Lindammer bereits heute früh. Besinne dich nur. Ich machte eine Redensart: „Die Nimski-Geschichte wird jetzt anders bedeichselt–“ –“

„Allerdings. Das stimmt.“

„Ja – und der mildgestimmte Kommissar schien zu merken, daß mir bewußt war, was an dieser Haftentlassung bemerkenswert war. – Er hat den Ausdruck seiner Augen noch nicht ganz in der Gewalt –“

„Ah – richtig!“ warf ich ein. „Ihr schautet euch so eigenartig an. – Nein, – daß ich nicht gleich auf die einzig zutreffende Erklärung für dieses vielsagende Beäugen gekommen bin!“

Parla legte den Zigarettenstummel in den Aschbecher und griff nach einer neuen „Kronprinz“. Er blies ein paar tadellose Rauchringe, schaute ihnen sinnend nach und meinte dann:

„Also zunächst mal Albert von Nimski. Der Mann geht uns eigentlich nur noch wenig an. Was du mit ihm vorhattest, ist erledigt. Er hat sich dir gegenüber sehr anständig benommen – vergleiche Honorarvorschuß. Erst dreihundert Mark, dann diese fünfhundert. Und letztere nur, weil er ahnte, daß die Polizei die Bezahlung für die ihm geleisteten Dienste einziehen würde, – besser, weil er es gewußt haben muß. Schwer war’s ja auch nicht, sich nach Lage der Sache zusammenzureimen, daß die Sicherheitsbehörde dich kaltstellen würde. – Der Honorarvorschuß wirft ein besonderes Licht auf Nimskis Charakter – kein schlechtes fürwahr!“

„Lindammer wollte uns Nimskis Person möglichst im unklaren lassen,“ fuhr er fort. „Immerhin merkten wir, der, den du als Bräutigam vertreten hast, muß ein rarer Vogel sein, – kein harmloser Spatz, der aus fremden Trögen frist, nein, mehr ein gefährlicher Habicht, der sich nicht mit ein paar Brocken begnügt. Ilse Müller wünscht nun, daß wir diesen Raubvogel genauer uns ansehen. Mithin bleibt er für uns Studienobjekt. –

Nimski war mir völlig unbekannt, bis du mir dann von deinem Abenteuer bei „Aschinger“ erzähltest. Es folgten die Ereignisse, bei denen du eine nicht gerade beneidenswerte Rolle spieltest, es folgte der heutigen Nachmittag, den ich nach schneller Abschüttelung des mir zugeteilten Geheimen dazu benutzte, mich so etwas mit Nimski zu beschäftigen. Seine Mutter und Schwester wohnen in der Turmstraße in Moabit, recht behaglich und offenbar in guten, wenn auch bescheidenen Verhältnissen. Ich habe den Hauswart dort gehörig ausgepumpt. Er sang ein Loblied auf den Herrn Ingenieur, auf die alte, halb gelähmte Frau von Nimski und sprach zurückhaltender von der schönen, gepuderten Irmgard. Nimski muß ein sehr liebevoller Sohn und ebenso besorgter Bruder sein. Außerdem wissen wir ja bereits aus eigener Erfahrung, daß er dankbar und kein Knicker ist. Wie reimt sich dies alles nun mit unserer Vermutung zusammen, er müsse ein recht schlimmes Früchtchen sein?! Wie bringen wir diese ausgesprochen guten Charakterseiten in einem Klang mit dem, was Elly Müller das kleine Herz bedrückt, – mit dem Verdacht, Nimski sei der Einbrecher, der bei Bärenstein das Geschäft geplündert hat? –

Gewiß, Verbrecher zeigen oft die seltsamsten Widersprüche in ihrer Charakterveranlagung! Aber unser Objekt hier ist doch ein gebildeter Mensch, der die Hochschule besucht hat, der jetzt eine angesehene Stellung bekleidet – dies betone ich besonders! –, eine Stellung mit sehr hohem Einkommen, in der er das vollste Vertrauen seines Chefs besitzt. –

Du merkst, mein Junge, nicht allein bei dem Hauswart in der Turmstraße habe ich angeklopft. Auch andere Quellen taten sich mir auf. Ich weiß nun viel von ihm, recht viel, und doch nicht genug, um das Handeln dieses Mannes begreifen zu können. Ist er ein Verbrecher, ein Lump – ist er es nicht? – Ich erlaube mir vorläufig darüber kein Urteil.“

Nach kurzer Pause dann: „Bester Erwin – ich habe Appetit auf eine Tasse starken Kaffee.“

Wir gingen in meine winzige Küche. Das Gas unter dem Wassertiegel pufte auf. Parla setzte sich mit der Kaffeemühle im Schoß auf die Fußbank, während ich die Tassen säuberte.

Nach ein paar Umdrehungen sagte er: „Der arme Kerl! Die Geschichte muß ihm recht langweilig werden.“

„Meinst du Nimski?“

Mein Gegenüber lachte ironisch auf. „Nee, mein Lieber – den Mann auf dem Dach meine ich. Schau’ mal ganz unauffällig zum Fenster hinaus. Die Silhouette des Lindammer-Beauftragten zeichnet sich deutlich gegen den hellen Mondhimmel ab. Der Kerl da oben auf dem Dach des Vorderhauses hat sogar ein Fernglas mit. Wir können stolz darauf sein, derart beachtet zu werden.“

Parla hatte recht. Ein Mensch stand dort und hob jetzt gerade beide Arme mit einer Bewegung, die deutlich erkennen ließ, daß er ein Glas an den Augen hielt.

„Kümmere dich nicht weiter um ihn,“ sagte der „Lakai“ gleichgültig. „Er mag da bis in die aschgraue Ewigkeit stehen. So, mit meiner Malerei bin ich fertig. Der Kaffee riecht doch wundervoll. – Wie, du stimmst nicht mit ein in diesen Lobgesang?! Gerade du begeisterte Kaffeeschwester nicht?!“

Meine geistige Abwesenheit hatte seinen guten Grund. Mir war der andere Mann auf dem Dach eingefallen, den ich damals bemerkte, als ich Ilse kennen gelernt und mich der Regen so eilig vertrieben hatte.

„Woran denkst du, zum Donner?!“ fuhr Parla mich jetzt an. „Das Wasser kocht – vorwärts, mach’ hurtig. Ich sehne mich nach der braunen Giftbrühe, die uns abgehetzten Kindern dieser nervenfressenden Zeit so wohl tut.“

Ich schüttelte das feinkörnige Pulver in die Kanne, hob den Tiegel vom Feuer und erklärte dabei:

„Das Dach dieses Hauses erfreut sich großer Beliebtheit in den letzten Tagen –“

Ich berichtete weiter von dem Menschen, der sich an jenem Schornstein des Vordergebäudes etwas zu tun gemacht hatte.

Parla pfiff leise durch die Zähne. „Sieh, sieh! Ganz interessant! – Wer kann’s nur gewesen sein?“

„Keine Ahnung!“

Dann zogen wir wieder in mein Atelier hinüber. Parla langte nach einer Kronprinz. Dann, nach mehreren tadellosen Rauchringen: „Unser Müller hat aus dem Aktenstück eine Seite herausgeschnitten, vermute ich.“

„Wirklich? Etwa aus der „Jahnke’schen Stiftung“?“ Ich war durch diese Mitteilung so völlig überrascht, daß ich sehr laut sprach.

„Pst!“ warnte da der „Lakai“. „Weißt du, ob nicht jemand draußen an dem schrägen Fenster dieses Salons lehnt und ob er nicht durch die offene Luftklappe uns zu belauschen sucht?! – Also piano, lieber Junge, pianissimo!“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Ich werde mir von Bender die Akte Jahnke mal für ein paar Stunden leihen. Auf diese Weise hoffe ich Aufschluß darüber zu erhalten, wo August Müllers Federmesser damals schneller Arbeit tat.“

Meine Wanduhr schlug mit blechernem Ton eins.

Parla gähnte, strich sich mit der Hand über den kurz geschorenen Kopf, gähnte dann wieder, erhob sich, reckte sich und begann den Bindeschlips loszuknöpfen. –

Das hieß: „Jetzt will ich schlafen gehen!“ Und ich machte ihm denn auch ein Lager auf dem Diwan zurecht, wobei ich Zeit fand, ihn etwas zu fragen, das den Fall Nimski betraf.

„Vorhin erklärtest du, du könntest mir genau angeben, wo Nimski jetzt – seine müden Glieder ausruht, oder so ähnlich. – Stimmt das, oder war’s nur dichterische Übertreibung?“

„Es stimmt!“

„Und woher –“

Sein rechter Stiefel fiel polternd auf die Dielen.

„Denkst du etwa, lieber Junge,“ er begann den linken auszuziehen, „daß ich nur deshalb die Wache vor dem Hause Dresdenerstraße bezog, um dich nötigenfalls zu schützen?! Nein, ich ahnte gleich bei deiner Schilderung des „Aschinger“-Erlebnisses, das etwas mehr dahinter steckte. Ich habe noch nie so kühn gelogen als Lindammer gegenüber, dem ich verheimlichen wollte, wer es war, der so viel Mutterwitz besaß, draußen vor dem Hause nach der Entfernung des „Brautpaares“, der Beamten und der Stammtischherren zu harren, bis Nimski – der echte Nimski auf die Straße trat – in der Verkleidung eines buckligen Männchens, der eine große Pappschachtel trug.“

„Und du schlichst ihm nach?“

„Na ob! – Nach allerlei Mätzchen, etwa vorhandene Verfolger von seiner Spur abzubringen, verschwand er im Norden Berlins in einer jener Kasernen der Gartenstraße, wo jeder Mieter „möblierte Herren“ hat. Ich sah ihn dann an einem Fenster des ersten Stockwerks, vermutete, daß er sobald nicht wieder das Haus verlassen würde, läutete von der nächsten Kneipe unsere Flimmerburg an und bestellte mir den Fritz Maraunke nach der Gartenstraße, meine schon oft erprobte Stütze bei Befriedigung meines Detektivsparrens. Der Fritz ist für diese Art Arbeit genauso ehrlich begeistert wie er eine geordnete Tätigkeit aus vollem Herzen verachtet. Er bezog dann meinen Posten, da ich fürchten mußte, Nimski würde schließlich doch auf mich aufmerksam werden, wenn ich noch länger hinter ihm her blieb. Und der gerissene Darsteller frecher Straßenlümmel hat auch wirklich herausgebracht, wohin Nimski noch an demselben Abend sein Quartier verlegte. Wir ließen ihn fortan nicht mehr entschlüpfen, und so vermag ich dir jetzt auch mitzuteilen, daß Herr Albert Nimski zur Zeit unter dem Namen eines Oberlehrers Doktor Kurt Pilz im Fremdenheim Melcher in der Invalidenstraße wohnt. Vielleicht hat es auch einiges Interesse für dich zu erfahren, wie schlecht Elly Müller das der Älteren gegebene Versprechen hielt. Sie hat heute mit Nimski ein Stelldichein gehabt, – abends sieben Uhr am Bahnhof Schmargendorf. Bei dieser Gelegenheit hat meine Stütze festgestellt, daß Elly gleichfalls von der Polizei überwacht wird. Eine Agentin war hinter ihr her. Beweis genug für die Annahme, Lindammer kennt der jüngere Müller Beziehungen zu Nimski.“

„Alle Wetter,“ entfuhr es mir. „Auch der blaue Engel! – So nennt Papa Müller seinen Liebling, wie Fräulein Ilse mir anvertraute.“

„Auch der blaue Engel wird „beschattet“!“ bestätigte Rolf Parla, zog die Steppdecke über dem hageren Körper noch zurecht und – wünschte mir gute Nacht.

 

12. Kapitel.

Während auf dem Dachgarten die Bowle von drei ungleichen Gesellen geleert wurde, saß August Müller in einer Hausjoppe vor seinem Schreibtisch und klebte ein paar jüngst für teures Geld erstandene Briefmarken von Madagaskar in einen seiner drei dicken Albumbände ein, die in all ihrer äußeren kostbaren Ausstattung und ihrem inneren hohen Wert vielleicht das einzige waren, was der Rentier wirklich liebte und in seiner Weise verhätschelte.

August Müller kam heute nicht zu einem restlosen Genuß dieser Sammlerfreude.

Oft hielt er mitten in seiner Arbeit inne und starrte lange vor sich hin, bis er dann mit einem ärgerlichen Brummen und Kopfschütteln wieder zu seinem Handwerkszeug griff und seine Tätigkeit fortsetzte. Abermals wichen Müllers Gedanken jetzt auf andere Dinge ab. Er legte die Pinzette hin, lehnte sich in dem Schreibtischsessel zurück, stützte das Kinn in die Rechte und stierte wie gebannt auf das Vergrößerungsglas. Seine Lippen bewegten sich leise, aus einzelnen Worten wurden bald ganze Sätze.

„Vernichten – verbrennen. Dann hätte ich Ruhe. – Warum tat ich’s überhaupt?! Was werde ich davon haben – nichts – nichts! Nur weiter Angst und Selbstvorwürfe. – Daß ich Narr auch den Schirm stehen ließ! Der verfl… Schirm! Und mein Weibervolk – es sind die reinen Peiniger! Immer wieder der Schirm – der Schirm! Wenn ich nur irgendwo genau den gleichen zu kaufen bekäme! Dann – dann hätte ich hier wenigstens diese ewigen Fragen und Erinnerungen nicht mehr zu fürchten. – Daß mich auch der Teufel reiten mußte, nicht daran zu vergreifen! Hätte ich nur nicht erkannt, was mich nachher so gereizt, so kopflos gemacht hat. Ehrlich gewesen, – und nun nichts besser als jeder gewöhnliche Spitzbube. – Ja – wirklich ein Dieb, wirklich? Vielleicht doch nicht. Wer hatte ein Interesse daran? Niemand! – Nein – ein Gauner und ich – da gibt es Unterschiede! – Wenn sie mich aber abfassen, wenn’s jemand merkt, Verdacht schöpft, wenn sie mir auf die Spur kommen?! – Nein – wie sollten sie! Unsinn – ausgeschlossen! Ich quäle mich ganz unnötig. Nichts wird erfolgen – nichts. Die Zeit wird verstreichen, und – nach einem Jahr kann ich’s dann wagen, irgendwie – recht schlau und vorsichtig – meinen Besitz bekannt zu geben –“

August Müllers gefurchte Stirn glättete sich.

„Aber – aber wenn das Schreckliche doch eintritt!“ murmelte der Rentier mit einem Gesicht, als säße ihm schon eine Polizeifaust im Nacken. „Wenn der Assessor Argwohn geschöpft hätte. Wenn es auffällt, daß ich den Schirm im Stich lasse –“

Die Angst quoll wieder in ihm auf, überschwemmte die zuversichtlichen Gedanken, wusch sie fort.

Kläglich seufzte er auf, so recht armselig – verängstig, dachte wieder: „Verbrennen – vernichten – dann hast du Ruhe!“

Und dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr. Plötzlich erhob er sich, begann in dem großen Zimmer auf und ab zu gehen. Die Hände auf dem Rücken schritt er mit seinem wiegenden Gang auf dem Teppich hin und her, lautlos in seinen weichen Morgenschuhen – ganz lautlos.

Noch hinderte ihn die Furcht vor dem Gesehenwerden an der Ausführung dessen, wozu das Verlangen nach Beseitigung des gefährlichsten Zeugen ihn drängte. Aber immer heftiger ward der Wunsch nach einer endgültigen Lösung dieser unerträglichen inneren Spannungen.

Dann blieb er vor der altertümlichen Uhr neben dem Paneelsofa stehen.

Halb zwölf. Wenn er den Hinteraufgang benutzte, der ihn auf das Dach des ersten Seitenflügels führte, würde er kaum einem der Hausbewohner begegnen. Dort in der Schublade lag ja auch eine Ersatzbatterie für die elektrische Taschenlampe. Und die Schlüssel zu den beiden eisenbeschlagenen Bodentüren hingen im Flur am Schlüsselbrett. –

Müller traf seine Vorbereitungen für den nächtlichen Gang mit derselben Sorgfalt, die sein ganzes Tun auszeichnete. Wie ein Einbrecher schlich er nachher nach oben. Der schwere Deckel dieser Bodenluke hier wurde selten geöffnet, quietschte wie ein gequältes Tier unter seinen drängenden Fäusten.

Nun endlich klappte die Luke zurück. Müller schob vorsichtig den Kopf über den Rand des viereckigen Loches hinweg. Er spähte umher. Alles schien sicher zu sein. Er schwang sich auf das Dach. Unter seinen Morgenschuhen knisterte die Dachpappe leise.

Dann – wie eingemauert stand er plötzlich. Dort drüben schlich ein Mensch entlang – dort auf dem anderen Flügel, nahm auch die Richtung auf das Vorderhaus.

Es war ein Mann von untersetzter Gestalt, soweit Müller erkennen konnte. Und – er machte jetzt gleichfalls halt, schien zu seinem Gegenüber, von dem ihn der dunkle Abgrund des Hofes trennte, hinüberzuschauen, – nur ein paar Sekunden, setzte sich dann in Trab, eilte an Neumanns Laure vorbei und – hatte es offenbar auf Müller abgesehen.

Der Rentier langte in Schweiß gebadet wieder in seinem Zimmer an, drehte schnell die Stehlampe auf dem Schreibtisch aus, warf sich in den geschweiften Stuhl vor dem breiten, geschnitzten Diplomaten und horchte – horchte – mit jagenden Pulsen, wartete auf das Anschlagen der Flurglocke, auf den Polizeispion, der dort oben ihm aufgelauert hatte.

Als seine Nerven dann etwas ruhiger geworden waren, schaltete er die Stehlampe wieder ein. Die Dunkelheit ringsum bedrückte ihn. Er wartete nicht mehr auf den Lärm der Klingel. Nein – wenn er auch überzeugt war, daß der Mann dort oben es auf ihn abgesehen gehabt hatte, wenn er jetzt auch den heutigen Besuch des Kommissars mit diesem Mann in Verbindung brachte und es ihm gewiß schien, daß man bereits gegen ihn Verdacht geschöpft hatte, so mitten in der Nacht würde man ihn nicht verhaften; noch hatte er eine Galgenfrist, noch fehlten vielleicht der Polizei einige Glieder der Beweiskette.

Müller schritt wieder auf und ab, nur lebhafter als vorhin. Und er überlegte sich dabei folgendes: „Wenn du den Gang nach oben zum zweiten Male wagst, mußt du allerdings damit rechnen, dem Geheimen wieder zu begegnen. Nun gut – mag es geschehen! Du spielst einfach den Harmlosen, erklärst dem Mann, du seist nur deshalb noch auf den Beinen, weil du so etwas auf eigene Faust den Einbruch bei Bärenstein aufklären möchtest. Dies mit biederem Gesicht und pfiffigem Lächeln vorgebracht, muß glaubhaft erscheinen, wenn du noch hinzufügst, du hättest vor ein paar Tagen auf dem Dach abends zwei verdächtige Gestalten bemerkt.“

August Müller gratulierte sich selbst zu dieser Schlauheit. Sie kam ihm einfach glänzend vor.

Mittlerweile war es zwei Uhr morgens geworden. Wieder schlich der Rentier über die Hintertreppe nach oben. Als er die Dachluke öffnete, sah er sofort, daß die Szenerie sich inzwischen hier insofern geändert hatte, als der Mond jetzt das schwarze Pappdach mit einer Silberpatina überzog und man im Stande war, ziemlich weit über die Hügellandschaft der stillen Giebel hinwegzuschauen.

Dieses silberne Dämmerung machte dem „nächtlichen Schwärmer“ noch mehr Mut. Mit einem Sicherheitsgefühl, das nur zur Hälfte noch vorgetäuscht war, ging er über das knisternde Dach dahin. Nicht weit. Vielleicht fünfzig Schritt. Dann – wahrhaftig, da war wieder ein Mensch. Aber der – der floh ja vor ihm, verschwand nun so urplötzlich, daß Müller schon glaubte, jener sei abgestürzt, und jeden Augenblick müßte nun ein dumpfer Krach das Aufschlagen des Körpers auf den Boden anzeigen.

Nichts davon. Kein Laut. Nur die Telephondrähte sangen leise.

Müller setzte seinen Weg fort, wobei er von dem Gedanken gequält wurde, daß, so flüchtig er auch jetzt wieder jenen Menschen gesehen, es ihm doch geschienen hatte, als wären die beiden Männer im Anzug und Größe recht verschieden gewesen. Der, den er bei seinem ersten Aufstieg bemerkt hatte, war fraglos kleiner, rundlicher gewesen. Nummer zwei soeben war schlanker und trug ein recht merkwürdiges Kostüm, so etwas wie einen langen Schlafrock und auf dem Kopf einen Fes. Ja – zweifellos einen Fes – zweifellos!

August Müller saß nach weiteren drei Minuten abermals vor seinem Schreibtisch. Seine knochigen Hände hielten die Knäufe der Armlehnen des Stuhles krampfhaft umklammert; von seiner feuchten Stirn kann ein Schweißtropfen den Nasenrücken entlang; sein Gesicht war blaß und verzerrt, die Augen stier.

Und seine Gedanken blieben immer dieselben, sein Hirn brachte nichts anderes hervor: „Was nun – was nun?! Was bedeutete dies – was in aller Welt – was –?!“

Müller sank vor Erschlaffung ganz in sich zusammen. Taumelnd stand er dann auf, ging in das Schlafzimmer hinüber.

Der Morgen graute bereits, als August Müller all sein Elend im Traum weiter auskosten durfte.

 

13. Kapitel.

Am anderen Vormittag gegen neun Uhr.

Wachtmeister Hertel betrat Lindammers Zimmer.

Den Morgenbericht erstattete er in knapper Form. Der Kommissar haßte jede Weitschweifigkeit.

„Ich hatte mir einen recht guten Platz auf dem Nachbardach ausgesucht und habe so verschiedenes beobachtet und später auch erlauscht,“ begann er. „Dieser Filmonkel und der Schriftsteller Burg verkehren mit dem Magistratsassessor Bender. Und die drei leerten auf dem Dachgarten bis gegen Mitternacht eine recht umfangreiche Bowle. Dann brachte Burg seine Gäste hinunter. Parla schien betrunken zu sein. Nachher merkte ich, daß er sich nur verstellt hatte. Es kam ihm wohl darauf an, den Assessor loszuwerden. – Burg und der Schauspieler haben dann noch lange in dem Atelier sich unterhalten. Manches verstand ich. Die Luftscheibe war zwei Handbreit offen, und ich habe gute Ohren. Leider wurde ich aber, als sie gerade über Albert von Nimski sprachen durch einen Mann gestört, der aus der Dachluke des rechten Seitenflügels auftauchte und dem ich dann vergebens den Rückweg abzuschneiden suchte.“

Lindammer richtete sich gespannt in seinem Schreibtischstuhl auf.

„Ein Mann – merkwürdig!“ warf er ein.

„Ja, es war ein mittelgroßer Mensch auf weichen Schuhen. Von seinem Gesicht konnte ich nichts erkennen. Aber der Kerl wandelte nicht gerade auf ehrlichen Wegen. So wie er sich benahm, benimmt sich nur einer, der ein schlechtes Gewissen hat.“

„Vielleicht ein Bodendieb?“

Hertel schüttelte den Kopf. „Der Mann trug keinen Ballen, kein Paket, – nichts, gar nichts bei sich. Ein Bodendieb war das nicht.“

„Ja, aber was wollte der Mensch denn mitten in der Nacht auf dem Dach?“

„Lassen Sie mich erst zu Ende berichten, Herr Kommissar,“ meinte der Wachtmeister eifrig. „Die Geschichte wird nämlich noch rätselhafter. – Nachdem er mir entschlüpft war, überlegte ich, ob ich nicht hinter ihm her sollte. Ich tat’s auch, kam aber zu spät. Der Vorraum des Bodens ist von der Treppe wie überall in den neuen Häusern durch eine eiserne Tür abgesperrt. Ich hörte nur noch, wie diese Tür sehr leise abgeschlossen wurde.“

„Ah – sehr wichtig! Also vielleicht einer der Hausbewohner?!“ fiel Lindammer seinem Untergebenen ins Wort.

Hertel nickte. „Das vermute ich auch. – Ich kehrte dann auf meinen Lauscherposten zurück. Aber die beiden im Atelier sprachen jetzt so leise, daß ich nicht mehr viel verstand. Trotzdem harrte ich aus.“

„Aber etwas haben Sie doch verstanden, sagten Sie vorhin.“

„Ja – etwas. Und das genügte eigentlich, um mir die Überzeugung beizubringen, daß wir hier auf falscher Fährte sind. Ich glaube kaum, daß Burg und Parla mit Nimski unter einer Decke stecken. Der Filmonkel äußerte sich einmal etwas lauter, ungefähr so „den du als Bräutigam vertreten hast, muß ein gefährlicher Vogel sein –“ und nach einer Weile wieder „ich habe mich nachmittags ein wenig mit Nimski beschäftigt. Seine Mutter und Schwester wohnen in der Turmstraße. Ist er ein Verbrecher – ist er es nicht?!“ – Das hörte ich ziemlich deutlich, konnte mir auch aus einzelnen Worten noch zusammenreimen, das Parla offenbar gestern versucht hat, Genaueres über Nimski zu erfahren, was doch darauf hindeutet, wie wenig sie über den Mann Bescheid wissen. – Die Wette scheint also doch nicht bloß in Szene gesetzt worden zu sein, um Burg zu schützen, um für ihn eine Ausrede bereit zu haben.“

„Oder Burg und Parla ahnten, daß sie belauscht wurden und ihre Unterhaltung darauf einrichteten,“ meinte der Kommissar zweifelnd.

„Ganz recht – geahnt mögen Sie es haben. Aber ihr Gespräch war kein erkünstelt zwangloses. So etwas merkt ein alter Praktikus wie ich schon. – Die beiden brühten dann in Burgs Küche Kaffee auf und tranken ihn recht behaglich im Atelier, wobei ich folgendes wieder verstand „– aus dem Aktenstück eine Seite herausgeschnitten, vermute ich“ – Das sagte Parla. Ich habe diese Worte gut behalten. Und darauf rief der Schriftsteller ganz erstaunt: „Wirklich? Etwa aus der – Stiftung?“ – Vor Stiftung nannte er einen Namen. Den verstand ich leider nicht. – Der Filmschauspieler machte nun warnend „Pst!“ und schaute nach der Luftklappe empor, sprach dazu auch leise einiges. Nun unterhielten sie sich im Flüsterton, und das fernere Verbleiben auf dem schmalen Sims war zwecklos. Ich kroch also wieder auf das Dach zurück.

Nach einer halben Stunde schob ich mich wieder auf dem Sims dicht über der Dachrinne entlang. Im Atelier war jetzt alles dunkel. Ich steckte sogar den Kopf durch die Luftscheibe hinein, hörte einen Menschen laut schnarchen und dann die Sprungfedern eines Ruhebettes dicht unter mir knacken. Auf dem Diwan lag fraglos der Filmschauspieler. Der Schnarchende muß Burg gewesen sein. – Ich hätte nun eigentlich heimgehen können. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß diese Nacht mir noch mehr Material einbringen würde. Außerdem merkte ich, daß Parla nicht schlief, sondern sich unruhig auf seinem Lager hin und her warf. Ich blieb also noch stehen, obwohl mir bereits wieder die Beine zitterten. Die Stellung an der Luftklappe war nicht gerade bequem. Inzwischen war der Moment so hoch gestiegen, daß er die Dächer ringsum unangenehm hell bestrahlte. Nur mein Platz lag noch im Schatten. Doch ich wollte ausharren, bis ich ihn vor dem weiterkriechenden hellen Schein räumen mußte. – Zum Glück war ich geblieben! – Parla rieb ein Hölzchen an. Dann begann er sich bei Kerzenbeleuchtung anzukleiden, und zwar tat er dies unter Vermeidung auch nur des kleinsten Geräusches. – Nun mußte ich aber schleunigst von dem Sims hinunter. Das Mondlicht traf das schräge Atelierfenster, und wenn Parla aufschaute, konnte er mich da deutlich erkennen. Ich bezog also aufs neue den Platz hinter dem Schornstein des Nachbarhauses. – Nach etwa zehn Minuten – geben Sie acht, Herr Kommissar, was nun kommt – stieg aus der Bodenluke des Hintergebäudes eine recht merkwürdig gekleidete Gestalt heraus. Ich kann nicht beschwören, daß es der Filmschauspieler war, glaube aber, dies mit ziemlicher Bestimmtheit behaupten zu können. Der Mann trug einen schlafrockähnlichen, anscheinend großgeblümten Mantel und einen roten Fes mit Troddeln. Er rauchte eine Zigarette, schritt gelassen durch die Beete des Dachgartens, nachdem er sich sorgfältig umgeschaut hatte, auf das Vordergebäude zu und betastete hier in aller Ruhe einen der Schornsteine, was ich mit Hilfe meines Fernglases ganz genau erkannte. Dann ein Zwischenfall. Der Kerl Nummer eins hatte auch wieder Sehnsucht nach den oberen Regionen bekommen –“

„Wahrhaftig?! – Das wird ja recht interessant.“

„Allerdings. – Der im Fes sah Nummer eins gerade noch zur rechten Zeit, um sich unbemerkt dünne machen zu können, das heißt, hinter einen weiter zurückstehenden Schornstein zu kriechen. Der Andere zeigte jetzt genau dasselbe Verhalten wie vor etwa anderthalb Stunden, blickte ängstlich um sich, näherte sich sehr vorsichtig dann jenem Schornstein, den der Schlafrock-Mann so sorgsam abgefühlt hatte. Mein Glas brachte mir Nummer eins nahe genug, um feststellen zu können, mit welch wachsender Hast er nun dasselbe tat, wobei er besonders einer Stelle etwa einen halben Meter über dem Dache ganz besonders seine Beachtung schenkte. Wenigstens drei Minuten blieb er in gebückter Haltung vor dem Schornstein stehen. Er drehte mir den Rücken zu, und ich hätte ihn nun ganz bequem überraschen können, unterließ dies aber, da ich es für klüger hielt abzuwarten, was weiter geschehen würde. – Nichts geschah mehr – nichts Besonderes! Nummer eins wandte sich seiner Bodenluke wieder zu, ging sehr, sehr zögernd davon, blieb ein paarmal stehen und stieg dann wieder die Treppen leider hinab. Ich war neugierig, wie der im Fes sich nun benehmen würde. Denken Sie, Herr Kommissar, der Mensch schritt nach weiteren drei Minuten in aller Seelenruhe pfeifend dem Hinterhause zu – er pfiff „Komm’ herab oh Madonna Theresa –“ – und kletterte in seine Luke hinein.“

„Sie haben ihn nicht anzuhalten versucht, Hertel?“ In der Frage lag deutlich ein Vorwurf.

„Nein, Herr Kommissar, absichtlich nicht. Inzwischen hatte ich mich nämlich darauf besonnen, daß der Hausverwalter Neumann einen Fes zum Schutze seines kahlen Schädels zu tragen pflegt, wenigstens in seiner Wohnung. Ich war ja vorher bei Neumann gewesen, hatte ihn ins Vertrauen gezogen und von ihm die Bodenschlüssel des linken Seitenflügels mir geben lassen. – Ich nahm also an, der im Fes war Neumann. Und deshalb –“

Hertel wollte noch hinzufügen. Doch Lindammer rief dazwischen:

„Mensch, Hertel, – Neumann – Neumann?! Das ist doch ausgeschlossen! Der wußte doch, daß Sie oben Wache hielten! Da würde er sich wohl gehütet haben, Dinge zu treiben, die auch den Mann Nummer eins auf das Dach gelockt hatten!“

Der Wachtmeister schwieg betreten. Nach einer Weile sagte er kleinlaut: „Ich kann ja Neumann fragen, ob er –“

Lindammer machte eine abwehrende Handbewegung.

„Darauf ist wenig zu geben, Hertel. – Also jener dritte Bowlentrinker heißt Bender?“

„Jawohl, und der ist wie gesagt Magistratsassessor.“

„Den Herren werde ich mir mal persönlich vornehmen,“ erklärte Lindammer lebhaft. „Man wird kaum zu fürchten brauchen, daß auch er wie Burg und Parla zu Nimski in fragwürdigen Beziehungen steht, – falls dies bei den beiden überhaupt zutrifft, was noch klar zu beweisen wäre. Vorläufig argwöhnen wir’s ja nur.“

„Sehr richtig. Ich rate, mit diesem Verdacht recht vorsichtig zu sein. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht sind so merkwürdig, daß man –“

„– leicht auf den Gedanken kommt, der Schornstein könnte als Diebesversteck benutzt werden,“ vollendete Lindammer mit Nachdruck.

Doch Hertel schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe mir jenen Schornstein nachher ja genau angesehen, besonders die eine Stelle einen halben Meter über dem Dache. Da ist lediglich ein fingerlanges Stück Mörtel lose und läßt sich herausnehmen. Der Raum dahinter ist so klein, daß höchstens ein paar Schlipsnadeln oder Broschen hineingehen. Und es war leer. – Weiter fand ich an dem Schornstein nichts, aber auch gar nichts irgendwie Bemerkenswertes.“

Lindammer strich den kurzen Schnurrbart glatt.

„Trotzdem deutet diese Stück Mörtel auf ein Versteck hin, – zum Beispiel für geheime Mitteilungen von Leuten, die offen miteinander nicht verkehren wollen.“

Hertel hob die Achseln. „Leider alles nur Vermutungen, Herr Kommissar,“ meinte er mit unzufriedenem Gesicht.

Dann berieten die beiden Beamten noch ganz eingehend alles, was weiter geschehen solle, um endlich zum Ziel zu kommen. Dieses Ziel war jetzt nach dem Einbruch bei Bärenstein Nimskis Verhaftung, gegen den man genügend Beweise für die Verübung einer ganzen Reihe ähnlicher Vergehen zusammengetragen zu haben glaubte.

 

14. Kapitel.

Es ist zwei Uhr nachmittags. Ich komme soeben von Mittagessen. Die Stadtverordnetenversammlung hat nicht lange gedauert. Ich habe mich recht kurz gefaßt, als ich den Bericht über die frei werdenden Stiftstellen erstattete.

Um elf würde die Sitzung beginnen. Und um zehn Uhr kam als erster wichtiger Besucher – wichtig insofern, als durch diese Besuche geradezu eine Sehnsucht nach meinem verschwiegenen Vertrauten, diesem Tagebuch, in mir geweckt wurde! – ja, da kam Parla zu mir, natürlich des Schirm-Müllers wegen.

Rolf Parla erklärte sofort nach der Begrüßung: „Du mußt mir für heute das Aktenstück Jahnke überlassen. Gibst du es mir, kann ich dir vielleicht heute abend sagen, weshalb unser Schirm-Müller dir so verdächtig vorkam.“

Ich erwiderte, ich dürfe Privatpersonen keine Akten aushändigen. Und dachte dabei: „Ob Parla wirklich entdeckt hat, daß die Seite 36 fehlt? – Fast scheint es so.“

Der Schauspieler nahm meine Weigerung sehr gelassen hin. „Sei kein Frosch, Assessor, – es geschieht doch im Interesse deiner Behörde, wenn ich die Sache aufzuklären suche,“ sagte er. „Verschanze dich nicht hinter Bestimmungen, die hier nicht zutreffen. Meinetwegen kann die Müller-Geschichte vergessen und begraben werden. Ich glaubte nur, dir läge daran, dem Mann hinter seine geheimen Absichten zu kommen.“

Worauf ich entgegnete, es täte mir so sehr leid, aber das Aktenstück dürfte ich wirklich nicht fortgeben.

Da zwinkerte mir Parla ironisch zu und meinte:

„Mein Lieber, du mußt schon etwas früher aufstehen, wie man zu sagen pflegt, um mich einzuwickeln. – 36 eine feine Nummer – wie?!“

Dieses Vorbringen der Zahl 36 war eine Falle, in die ich leider glatt hineinsauste – da ich nämlich törichterweise ausrief:

„Wie – du weißt?!“

„Ob ich weiß! – Das merkst du ja jetzt. – Ich wollte eben nur feststellen, ob du’s auch weist. Jetzt weiß ich, was ich wissen will, weiser wissenschaftlich gebildeter Stiftungsverwalter!“

Ich ärgerte mich jetzt noch über alle Maßen, daß ich mich so ungeschickt benahm, ärgerte mich umso mehr, als Parla mir dann sehr bald bei der Erörterung der Frage, was jene Seite wohl Wertvolles für den Dieb enthalten haben könnte, eine zweite Schlinge legte, der ich ebensowenig entging.

Inzwischen, das heißt heute morgen, war bei mir nämlich jeder Zweifel darüber geschwunden, ob das Aktenstück vor dem Besuch Müllers seine volle Seitenzahl gehabt hätte. – Die Seiten waren vollständig gewesen. Ich hatte ja gerade vor dem Erscheinen Müllers eine bestimmte Stelle in dem Schriftwechsel mit dem englischen Konsulat gesucht und dabei die ersten vierzig Seiten Blatt für Blatt überflogen. Mir wäre es fraglos nicht entgangen, hätte 36 gefehlt. – Hierauf besann ich mich wie gesagt, erst heute früh.

Dies teilte ich auch Parla mit, worauf er erklärte:

„Gut, so ist der unbekannte Müller, wenn auch kein Halsabschneider, so doch ein Seitenschneider. – Übrigens, hast du seine Töchter schon mal gesehen?“

Ich hätte nun antworten müssen: „Ja – hat er denn etwa? Und – woher weißt du das?“

Und ich?! Im Augenblick vergaß ich ganz, daß ich es ja für mich behalten wollte, daß Schirm-Müller gefunden sei, vergaß auch, daß es mir neu war, daß Parla ihn, wie aus der Frage nach den Töchtern zu entnehmen, gleichfalls entdeckt hatte.

Ich erwiderte – trat also in die Schlinge wie ein Blinder hinein!:

„Natürlich weiß ich’s!“ –

Kaum hatte ich das gesagt, da kam auch schon die Erkenntnis. – Zu spät! Dieser geriebene Mensch, der so ungemein geschickt meine Katerstimmung ausnutzte, zog die Schlinge schon zu.

„Du gestehst mithin ein, Müller ausbaldowert zu haben!“ grinste er mich an. „Assessor, weshalb hieltest du denn gestern abend mit dieser Weisheit so hinterlistig zurück, he? Ist das ehrlich Spiel?“

Parla versetzte mein roter Kopf in ausgelassenste Heiterkeit.

„Karlchen Bender, für dich ist Schwindeln nichts!“ rief er. „Du bist zur Aufrichtigkeit geboren.“ Ebenso plötzlich wurde er dann wieder ernst. „Bekomme ich jetzt das Aktenstück?“ fragte er. „Ich muß es haben. Müller soll nicht sagen, ich sei ihm ohne genügende Beweise auf den Pelz gerückt.“

„Was heißt das? Willst du etwa –“

„Vorläufig will ich gar nichts. Ich lasse den Mann in Ruhe, bis ich genau weiß, wie die Dinge liegen. Diese Redensart spricht sich leichthin. Aber es dürfte nicht so einfach sein, mit vollster Sicherheit festzustellen, was er hier in diesem Zimmer eigentlich ausgefressen hat.“

„Nun – die Seite 36 gestohlen, – sehr einfach!“

Wieder verzog sich sein mageres Gesicht zu einem Hohnlächeln.

„Sehr – sehr einfach! Und weshalb stahl er sie? Um sie als Altpapier zu verkaufen?! Doch – du bist mir noch die Antwort schuldig. Kriege ich das Aktenstück für drei Stunden? Das dürfte mir genügen.“

„Meinetwegen, obwohl ich mein Gewissen –“

„Quatsch – Gewissen! Gib’s her. Ich wickele es mir in diese Zeitung ein.“

Gerade in diesem Moment meldete der Bureaudiener den – Kriminalkommissar von Lindammer.

„Prost Mahlzeit!“ meinte Parla leise und schaute mich mit halb zugekniffenem linken Auge von der Seite an. Schnell füllt er dann hinzu: „Ich verschwinde – Vorsicht, Karlchen! Das Tier beißt und spuckt!“

Lindammer trat ein, und Parla sagte sehr laut: „Wiedersehen, lieber Bender! Also dann abends neun Uhr bei Burg –“ Dem Kommissar machte er nur eine steife Verbeugung.

Ich kann nicht behaupten, daß mir sehr behaglich zu Mute war. Mit aller Willenskraft spielte ich trotzdem den Unbefangenen, bat Lindammer Platz zu nehmen und fragte nach seinen Wünschen.

„Ich komme in etwas heikler Mission,“ begann er. – Was er weiter sagte, bezog sich alles auf Burg und Parla. Er wollte von mir hören, ob ich die beiden für einwandfreie Charaktere hielte.

Wie meine Antwort ausfiel, brauche ich hier nicht anzugeben. Ich verteidigte meine Bekannten warm, unterließ es jedoch nicht anzudeuten, daß ich mit ihrem Bohemiendasein durchaus nicht einverstanden wäre.

Dann kam Lindammer auf die Wette zu sprechen, also auf Nimski.

Jetzt wurde ich zurückhaltender. Ich wußte ja hierüber mehr wie er, besonders über die Weiterentwicklung der Dinge hinsichtlich Elly Müller-Nimski und des Auftrages, den die ältere Schwester Parla erteilt hatte.

Der Kommissar ließ diesen Gegenstand denn auch bald fallen, schaute mich plötzlich mit seinen klaren Augen fest an und fragte: „Was wollte Herr Parla soeben hier bei Ihnen, Herr Assessor? – Ich halte mich zu dieser Frage berechtigt, da ich fürchte, daß Sie nicht alles, was dieser Herr unternimmt, so richtig zu beurteilen vermögen wie ich.“

Diese Anzapfung war mir denn doch zu viel. Besonders ärgerte mich der Nachsatz. Das klang geradezu anmaßend. –

Sehr kühl erwiderte ich daher: „Es handelte sich um eine reine Privatangelegenheit, die zu dem Fall Nimski in keinerlei Beziehung steht, was ich sehr wohl beurteilen kann.“

„Oh – seien Sie doch nicht empfindlich, Herr Assessor,“ meinte er liebenswürdig. „Hier steht doch recht Großes auf dem Spiel, die Entlarvung und Unschädlichmachung eines der geriebensten Einbrecher des Kontinents, eines Gentlemandiebes, wie ihn die Kriminalgeschichte bisher nicht zu verzeichnen hat.“

Ich blieb förmlich. Und Lindammer schaute sich nun in dem nicht eben freundlichen Raume um, bis seine Augen wieder mein Gesicht sich als Ruhepunkt aussuchten, und er nun mit etwas erhobener Stimme sagte: „Herr Parla hat gestern nacht nur den Trunkenen gespielt. Man wollte Sie los sein. Er und Burg haben nachher noch lange aufgesessen und dabei – auch über ein Aktenstück gesprochen.“

Ich zuckte zusammen, wechselte die Farbe. Trotzdem behielt ich noch genügend Widerstandskraft, um ablehnend zu entgegnen:

„Ich kann nur wiederholen, eine Erörterung von Privatangelegenheiten ist zwecklos, da ich nicht gewillt bin, mich eines Vertrauensbruchs schuldig zu machen.“ –

Diese Antwort besagte eigentlich nichts, paßte kaum zu den letzten Sätzen Lindammers. Sie sollte es aber auch nicht! Die Sache Müller, die für mich wie ein prickelnder Trank war, durfte nicht in die ausgefahrene Bahn einer polizeilichen Untersuchung hinübergleiten – niemals! Ich wollte diesen „meinen Fall“ wie die Löwin ihr Junges verteidigen.

„Gut – auch einen Stand!“ sagte Lindammer nun. „Trotzdem bitte ich Sie, mir über diese Privatsache Aufschluß zu geben. Wir sind doch beide Beamte, Herr Assessor, und sollten uns nach Möglichkeit unterstützen. Ich weiß, daß mit diesem Aktenstück etwas Besonderes los ist, um mich ganz allgemein und volkstümlich auszudrücken. Parla und Burg haben hierüber in der verflossenen Nacht sich unterhalten, – Grund genug für mich, auch dieser Angelegenheit nachzugehen.“

Ah – er wollte mich jetzt durch den Hinweis auf meine Beamteneigenschaft kirre machen! Doch – auch das verfing nicht.

„Ich würde eine grobe Indiskretion begehen, wenn ich –“ Weiter kam ich nicht. Es klopfte.

Wer trat sehr hastig ein? – Parla – Parla!

Und was wollte er?! – Man höre und staune:

„Die Herren entschuldigen,“ sagte er mit jener Liebenswürdigkeit, die er ebenso schnell bereit hatte jede andere Gefühlsäußerung. „Lieber Bender, ich habe gestern meinen Schirm hier stehen lassen. Wenn ich mich recht entsinne, hast du ihn dort in den Schrank eingeschlossen. Bitte gib ihn mir. Der Himmel ist voller Wolken, und ich habe heute allerhand in der Stadt herumzulaufen.“

Den Schirm wollte er haben – diesen Schirm?! Ich war so verdutzt, daß Parla erst recht laut wiederholen mußte: „So gib ihn mir doch!“ ehe ich einsah, daß ich notwendig seiner Aufforderung Folge leisten mußte. Natürlich hatte er diesen Überfall schlau berechnet gehabt. Er – wußte, ich konnte hier nicht nein sagen, auch in Gegenwart Lindammers keine Erklärung verlangen.

Kurz, er zog mit Müllers Schirm ab.

Ich war recht zerstreut in Folge dieses unglaublichen Tricks, mir den Schirm zu entführen, und als der Kommissar jetzt mit leiser Ironie sagte:

„Sie schienen den eleganten Schirm schon ganz vergessen zu haben!“ kam mir erst langsam zum Bewußtsein, daß Lindammer fraglos auch jetzt wieder hinter diesem Wiederauftauchen Parlas irgend etwas witterte.

Ich tat das klügste, was ich tun konnte. Ich nickte zustimmend, – ersparte mir dadurch eine Erwiderung, bei der ich mich vielleicht verhaspelte hätte.

Der Kommissar verabschiedete sich gleich darauf.

Zehn Minuten blieb ich allein. Dann kam der Höhepunkt dieses Vormittags: August Müller!

Mit seiner Ladentisch-Höflichkeit bat er „tausendmal um Verzeihung“, – ihm wäre erst heute früh eingefallen, daß er seinen Schirm wahrscheinlich hier bei mir hätte stehen lassen – und so weiter.

„Oh – das tut mir leid, Herr Müller! Gerade vorhin – es ist keine Viertelstunde her, – hat ein Freund von mir den Schirm mitgenommen, um ihn auf dem Fundbüro abzugeben. Ich hatte ja keine Ahnung, Herr Müller, wo Sie wohnen und wie ich Ihnen daher Ihr Eigentum wieder zustellen könnte.“

„Na – dann werde ich ihn mir eben von dort abholen,“ sagte der ältere Herr. – „Ich will nicht weiter stören. Ganz gehorsamer Diener –“ Damit schob er mit vielen Bücklingen ab.

Ich aber schrieb sofort an Parla einen Rohrpostbrief: „Müller war eben hier nach seinem Schirm. Sagte, du hättest das Malefizding auf dem Fundbüro abgeliefert. Tu’s also ohne Säumen! Wenn nicht, sind wir geschiedene Leute.“ –

– Was Bender an dieser Stelle noch weiter in sein Tagebuch eingetragen hat, kann ich fortlassen. Nur die letzten Sätze will ich noch anführen – aus ganz bestimmten Gründen. Ich betone, die letzten Sätze; denn mit ihnen schließen diese Aufzeichnungen überhaupt. Mein armer Assessor, den ich trotz der Kürze unserer Bekanntschaft bereits ehrlich lieb gewonnen hatte, sollte keine Gelegenheit mehr finden, seine Erlebnisse in seiner für ihn so ungemein charakteristischen Form niederzuschreiben.

Also die letzten Sätze:

Dieser Besuch Lindammers hat jede Freude an diesen meinem Abenteuer in mir zerstört. Allerhand Zweifel und Sorgen quälen mich. Parla und Burg sind mir gegenüber unaufrichtig gewesen. Ersterer markiert den des süßen Weines Vollen, und dann bleiben sie noch beieinander und haben mich vielleicht belächelt, mich argloses – doch nein, keine zu scharfe Kritik meiner selbst! –

Und die Sorgen, die schleichen aus allen Winkeln hervor. Darf ich denn diesen Diebstahl der Seite 36 verschweigen – darf ich es?! Nein – nein! Und wenn Lindammer doch hinter diese Geschichte kommen sollte, dann – wie stehe ich dann da vor meinen Vorgesetzt?! –

Diese Stromschnelle in meinem stillen Lebensbächlein wird für mich vielleicht noch sehr verhängnisvoll werden! –

– Der Leser mag dieses „verhängnisvoll“ in Gedanken unterstreichen.

 

15. Kapitel.

Der Assessor war frei von jedem Verdacht gegen ihn – kein Zweifel! – Müller lächelte ganz wenig. – Gut, daß ihm diese Probe auf das Exempel eingefallen war und daß er den Mut gefunden hatte, die Höhle des Löwen zu betreten. Nun waren die Schrecken der verflossenen Nacht vergessen. Mochte geschehen, was wollte; er hatte sich den Rücken gedeckt, hatte gezeigt, daß er keine Angst hatte, auch zu erklären, welcher von den zahllosen Müllers den Schirm hatte stehen lassen.

Kurz vor Tisch war er wieder daheim. Und kurz nach ihm erschien das blaue Engelchen. – In seinem Arbeitszimmer trafen sie zusammen.

„Na, Mohrchen, – etwas gebummelt?“ fragte er gutgelaunt und wollte ihr die Wange tätscheln, was höchst selten vorkam.

Ellychen tat einen Schritt zurück. In ihren dunklen Mausäuglein glitzerte etwas, das dem Papa leises Unbehagen bereitete.

„Was machst du denn für ‘n Gesicht – he?!“ versuchte er zu scherzen.

Sie zuckte die Achseln, sah ihn wieder sehr merkwürdig an und öffnete schon den Mund, um mit dem herauszuplatzen, was sie bewegte, als die Mutter und Ilse eintraten.

Frau Klara, blaß, blaue Ringe um die Augen, nickte dem Gatten heiter zu. Auch Ilse lächelte bescheiden.

„Du, Gustel, – ich habe eine große Überraschung für dich in Bereitschaft,“ begann Frau Klara und setzte sich auf den nächsten Sessel. „Ich war mit Ilse ein Stückchen spazieren gegangen. Jetzt eben auf dem Rückweg kamen wir an dem Schirmgeschäft an der Ecke Wandlitzstraße vorüber, blieben vor dem Schaufenster stehen und schauten nach einem passenden Ersatz für deinen Schirm aus, dessen Wiedererlangung doch recht zweifelhaft ist.“

August Müller lächelte nun auch, mit einer so recht durchtrieben pfiffigen Miene, wiegte sich auf den Fußspitzen hin und her und dachte: „Nun kann ich gleich meine Schirmgeschichte ebenfalls erzählen.“

„Ja – und?!“ fragte er, als seine Frau eine Kunstpause machte.

„Ja – denk’ dir unsere Überraschung, Gustel!“ fuhr Frau Klara fort. „Da – da stand im Schaufenster genau derselbe Schirm wie der deine, genau derselbe! Wir also sofort hinein in den Laden und – was fehlt dir denn Guste? Du steckst ja ein Gesicht plötzlich auf, als ob –“

„Weiter – weiter!“ rief Müller ungeduldig. Das Lächeln war verschwunden.

„Wir ließen uns den Schirm zeigen,“ berichtete Frau Klara jetzt recht kleinlaut. „Auf den ersten Blick sahen wir, daß es kein neuer war, noch mehr, daß es – dein Schirm sein mußte. Den seidenen Überzug habe ich doch unten etwas nachgenäht, und die Stelle –“

Müller hatte sich schwer in seinen Schreibtischstuhl fallen lassen.

„Gustel – was – was hast du nur,“ meinte Frau Klara beunruhigt. „Freue dich doch – es ist dein Schirm, und wir haben ihn gleich mitgebracht.“

Da brüllte Müller los: „Steckt das Ding in den Ofen – ich will es nicht mehr sehen! – Es kann nicht mein Schirm sein. Und wenn er’s ist, dann – dann –“ Er wußte offenbar gar nicht, was er redete. Auf diesen Wutausbruch kam aber sofort der Rückschlag. Müller sank wie ein Häufchen Unglück zusammen und winkte dann Ilse zu. „Gib ihn mir mal her,“ bat er ganz tonlos.

Die beiden Damen warfen sich ratlose Blicke zu. Ilse ging kopfschüttelnd in den Flur hinaus und reichte dann dem Vater den teuren Schirm, der jetzt so kühl begrüßt wurde – so auffallend kühl.

Leicht zitternde Hände nahmen ihn in Empfang. Der Rentier stierte auf die Silberkrücke. Da war der lange Kratzer, da die Einbeulung.

Er war’s – er war’s!

Müller legte ihn auf den Schreibtisch. Dann quälte er sich ein erfreutes Lächeln ab. Es wurde nur ein fratzenhaftes Verziehen des Gesichtes.

„Ich – ich bin zu – zu überrascht!“ brachte er stoßweise hervor.

Die Damen merkten: Er log. – Hier spielte etwas mit, von dem sie nichts ahnten. Sie tauschten wieder beredte Blicke aus.

Zum Glück für den fassungslosen, verstörten Rentier erschien jetzt das Stubenmädchen und meldete, daß angerichtet sei.

Ellychen haspelte das Tischgebet noch schneller ab als sonst. Schweigend löffelte man die Suppe. Müller schob sehr bald den Teller beiseite.

Dann kam der falsche Hase, lieblich duftend.

Nach zwei Bissen dieses Gerichts knüllte Müller die Serviette zusammen, warf sie auf den Tisch und stand auf.

„Ich habe keinen Hunger. Ich werde mich etwas hinlegen. Kopfschmerzen! Stört mich nicht.“

Die Schiebetüren nach seinem Zimmer knallten hinter ihm zusammen.

Frau Klara fragte Ilse leise: „Was ist ihm nur?“

„Ich begreife das auch nicht,“ meinte die Älteste nachdenklich.

Und Elly fügte hinzu: „Der Papa wird schon wissen, weshalb er so – so komisch sich benimmt.“ ‚Komisch’ war für sie ein sehr bequemes Wort, das das Auswählen einer treffenden Bezeichnung in vielen Fällen ersparte.

Frau Klara wurde aufmerksam.

„Du scheinst uns Aufschluß darüber geben –“ Mohrchen unterbrach sie hastig:

„Nein – woher denn?! – Jetzt wollen wir aber die Sache ruhen lassen. Der ganze Braten wird kalt!“

Sie aß trotz ihrer inneren Aufregung mit gutem Appetit.

Nach dem Essen waren die Schwestern allein. Frau Klara hielt die gewohnte Mittagsruhe.

Die Ältere saß vor ihrem Schreibtisch. Der blaue Engel hockte neben ihr auf einem geschnitzten Bänkchen.

Ilse starrte auf den weisen Mosaikgott, suchte Trost in seinem so ausdrucksvoll wiedergegebenen Gesicht.

Wieder tasteten ihre Finger an dem einen Stein herum. Da gab der nach, war wie ein Knopf, der sich herabdrücken ließ.

Elly wurde auf dieses gedankenverlorene Spiel aufmerksam. Ihre Neugier war erwacht.

„Der Stein ist ja beweglich?!“ sagte sie fragenden Tones.

Ilse blickte aus ihrer Versunkenheit auf und die Schwester an, nickte zerfahren.

„Ich habe es eben herausgefunden –“

„Das muß doch etwas zu bedeuten haben, Ilse.“ Die Jüngere beugte sich weit vor.

„Ja – fraglos! Ich vermutete in der so auffallend dicken Tischplatte dürfte sich ein Geheimfach befinden. Aber die Art und Weise, wie es zu öffnen ist, läßt sich nicht so leicht entdecken. Ich habe schon so viel versucht. Sieh – auch dieses gelbe Steinchen am Kinn kann man bequem drehen. Das ist aber auch alles.“

Elly probierte es selbst. „Du wirst recht haben, Ilse,“ meinte sie voller Eifer. „Denk’ nur, wenn das Geheimfach Gold enthielte, – oder Schmucksachen, so recht kostbare indische Halsketten –“

„Oder gar ein ganzes Fürstentum samt einem Rajah, der mich heiraten würde!“ lächelte die Ältere.

Elly schaute mit besonderem Blick an der Schwester hoch.

„Ja – du mit deiner Figur, du – du kannst schon Ansprüche stellen!“ sagte sie nachdenklich. Sie beneidete Ilse um ihre Größe. Und wenn dieses Gefühl sie beschlich, trat in ihre Augen ein kalter, abstoßender Ausdruck, der an ihres Vaters Augen in gewissen Momenten erinnerte.

Die Ältere stand jetzt auf. „Entschuldige mich, Mohrchen, ich möchte noch eine halbe Stunde malen gehen,“ sagte sie und begann ihre Gerätschaften zusammenzupacken.

Der blaue Engel hatte jetzt auf dem geschnitzten Schemel den Kopf in beide Hände gestützt und starrte vor sich hin. Erst nach einer Weile fragte sie: „Hoffst du Burg dort zu treffen?“

Ilse wurde rot. „Ja – ich bin gern mit ihm zusammen. Wozu soll ich das leugnen?!“

„Und was soll daraus werden?! Eine unglückliche Liebe?“

„Vielleicht. Aber besser so, als Altwerden und nie einen Schimmer von jener großen Seligkeit kennen gelernt zu haben, nach der ich mich in all dieser klösterlichen Eintönigkeit unseres Daseins hier sehne“

Elly hob den Kopf mit einem Ruck. „Ah – also auch du, Große, – auch du!“

Ilses jetzt fast strenges Gesicht verschlug ihr die Rede.

„Du übersiehst, daß Burg nicht unter einem so schweren Verdacht steht wie Nimski,“ sagte Ilse mit Nachdruck.

Da weiteten sich Mohrchens Mäuseäuglein in jäh aufflammender Heftigkeit.

„Verdacht – Verdacht! Meinetwegen!“ rief sie und sprang auf die Füße. „Dich würde das vielleicht abschrecken. Mich nicht! Ich liebe Nimski, und selbst wenn er ein Verbrecher ist, werde ich ihn lieb behalten. Ich habe ihn gesucht. – Ich will ihn wiedersehen – ich will! Dieser Abschied gestern kann keiner für immer gewesen sein!“

Ihr zierlicher Körper flog jetzt förmlich wie von Fieberfrost geschüttelt hin und her; ihre Augen schwammen in Tränen; um ihren Mund zuckte es wie von allertiefstem Herzeleid.

„So – so sehr liebst du ihn?“ meinte Ilse fast ungläubig.

„Ja – so kann ich lieben, ich, Mohrchen, blaues Engelchen, – ich, Papas Spielpüppchen, mit der er zärtlich tut, wenn er mal eine weiche Stunde hat. Ihr kennt mich ja alle nicht – die Eltern am wenigsten! Ich bin nicht so zahm, wie ihr denkt, zahm und kühl!“

Plötzlich drehte sie sich auf dem Absatz um dem Fenster zu, stützte sich auf das weiß lackierte Fensterbrett. Es war, als ob sie sich schämte, so offen gewesen zu sein. Bisher hatte sie ja der Schwester so selten einen Blick in ihr Inneres gegönnt.

Ilse stand noch ein Weilchen wie in angstvollem Staunen da. Diese Leidenschaftlichkeit der Jüngeren hatte sie erschreckt. Was sie bei Elly noch immer für ein wenig Eitelkeit und backfischhafte Unternehmungslust gehalten hatte, erkannte sie jetzt als etwas weit Gefährlicheres mit aller Deutlichkeit. Hier hatte sich in kurzem eine Wandlung vollzogen, hier war aus einem gedankenlosen Kind ein reifes Weib geworden, – und dies ließ schwerwiegende Kämpfe und böse Widerwärtigkeiten vorausahnen.

Ilse hätte gern auch in diesem Augenblick wieder gewarnt, abgeraten, vielleicht auch um Rücksicht auf die Eltern, besonders die kranke Mutter, gebeten. Aber – hatte sie nicht soeben selbst gesagt: „Besser so, als – nichts – nichts!“

Leise schlich sie hinaus. Die Tür drückte sie vorsichtig ins Schloß.

Elly wandte den Kopf. Sie war allein. Ihr Blick streifte zufällig den kostbaren Schreibtisch. Da kam ihr die Erinnerung an das Geheimfach, und in der Überzeugung, jetzt vor jeder Überraschung sicher zu sein, setzte sie sich an das eigenartige Erzeugnis eines indischen Kunsttischlers und begann nach dem zu suchen, was Ilse nicht gefunden hatte.

Eine halbe Stunde später schlüpfte sie zum Hause hinaus. Der lange, grüne Seidenregenmantel, den sie jetzt trug, und der schwarze Lackhut waren unauffällig und doch kleidsamen. Niemand beachtete sie. Eilig schritt sie dem Bahnhof Schmargendorf zu. Nun kam sie an der Laterne vorbei, an der Nimski gestern als trunkener Strolch gelehnt und ihr die Warnung zugeflüstert hatte. Wie blitzschnell es ihm nur gelungen war, sein Aussehen so völlig zu verändern! Mein Gott – ja, wenn man diese Fähigkeit sich zu verkleideten in Betracht zog, gab das nur wieder einen neuen ihn belastenden Beweis ab. –

Elly seufzte qualvoll auf. –

Dann dachte sie weiter: „Und doch hat er sich geirrt. Ich werde nicht beobachtet. Ich habe heute vormittag ja so genau achtgegeben.“ Sie schaute sich wieder um. Die Straße war leer. Nur eine Frau mit einem bunten Kopftuch, einen Marktkorb im Arm, kam hinter ihr drein. –

Dann stutzte sie, zuckte ordentlich zusammen.

Da war noch ein Mann ganz weit hinten zu sehen, mit einer Kiepe auf dem Rücken, aus der Blumen herausragten. Und dieser gebückte, weißhaarige Alte hatte ihr mit ein paar leuchtend roten Rosen so auffallend zugewinkt.

Ihr Herz pochte schneller. Ihre Gedanken umspielten diesen Mann. Sollte es etwa Nimski sein?! – Je länger sie das Für und Wider gegeneinander abwog, während sie jetzt langsamer weiterschritt, desto mehr entschied sie sich für ein Ja. Weshalb sollte der Weißbart ihr sonst wohl so zugewinkt haben?!

Sie überlegte. Sie wollte es auf eine Probe ankommen lassen. Aber sie wollte auch vorsichtig sein. –

In der Vorhalle des Bahnhofs kaufte sie die neueste Nummer der Zeitschrift „Die Dame“, hielt sich eine Weile an dem Zeitungsstand auf, sprach mit dem Händler, der sie bereits als gelegentliche Kundin kannte. Als sie dann wieder auf die Straße hinaustrat, hatte sich der Weißbart an der Brücke aufgestellt und hielt Rosen feil. „Nur dreißig Pfennig – kaufen Sie doch, Fräuleinchen!“

Elly hatte ein Blick in des Alten Gesicht genügt. Es waren Nimskis Augen, die sie bittend anschauten.

Sie kaufte, gleich für drei Mark, und mit den duftenden zarten Rosen wanderte ein eng gefalteter Zettel in ihrer Hand.

„Dank’ auch schön, Fräuleinchen. Baldigst lesen!“ klang’s als Beigabe.

Baldigst! Und Nimski hatte auf sie gewartet, sicher irgendwo am Rüdesheimer Platz. Das hatte etwas zu bedeuten! – Sie fieberte förmlich. Sie dachte an die Aufpasserin. Keine Übereilung, sagte sie sich! Und ging gemächlich denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Jetzt schritt sie ganz allein auf der Straße. Da entfaltete sie den Zettel. Ein Hundertmarkschein lag darin. Sie las:

„Man ist mir auf der Spur. Kaufen Sie mir eine Fahrkarte vierter Klasse nach Hamburg und einen mittelgroßen Pappkarton. Vorher aber schütteln Sie die Spionin ab. Sie trägt heute ein buntes Kopftuch und einen braungestrichenen Henkelkorb. Steigen Sie in einen Stadtbahnzug ein, aber wieder aus, sobald er sich in Bewegung setzt. Dann suchen Sie ein Auto zu bekommen. Ich erwarte Sie in anderthalb Stunden dort, wo wir gestern Abschied voneinander nahmen. Wenn Sie noch Zeit dazu haben, besorgen Sie mir auch einige Lebensmittel und packen Sie sie in den Karton. – Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen wollen. Sie können vielleicht dadurch Unannehmlichkeiten haben. Wäre ich nicht in so verzweifelter Lage, dann würde ich Ihnen dies alles nicht zumuten.“ –

Es regnete sacht. Ein harmloser Sprühregen begann, nur wie aus einer ganz feinen Blumenspritze. Die Straße glänzte jetzt wie polierter Stahl. Auf der Bordschwelle, an einen der dünnen Bäume gelehnt, saß der Weißbart und rauchte eine Zigarre. Seine Rosen war er sämtlich losgeworden. Die Tragkiepe war leer.

Vom Bahnhof Schmargendorf her kam Elly Müller die Straße entlang. Der Pappkarton, den sie in der Hand hatte und der mit hellbrauner Glanzleinwand außen bezogen war, schien recht schwer zu sein.

 

16. Kapitel.

Etwa zu derselben Zeit, als Lindammer umsonst aus Karl Bender herauslocken wollte, was es mit jenem Aktenstück auf sich hatte, kleingelte es an der Flurtür der Frau von Nimski. Diese saß auf ihrem gewohnten Platz am Fenster und rief jetzt Irmgard lebhaft zu:

„Vielleicht der Postbote. Vielleicht eine Nachricht von Albert! Geh’ doch öffnen, Kind!“

„Ja – ja, – um diese Zeit kommt aber gar kein Briefträger,“ meinte das junge Mädchen zerstreut. Sie hatte gerade vom anderen Fenster aus am gegenüberliegenden Schaukasten einer Buchhandlungen einen Mann beobachtet, der ihr recht verdächtig erschien, hatte gedacht: „Wahrscheinlich wieder ein Polizeispitzel!“

Nicht eben schnell verließ sie jetzt das Zimmer. Die Sicherheitskette der Flurtür blieb eingehakt, und durch den Spalt sah sie nun einen Menschen in blauer Arbeiterbluse, der ihr unfreundlich zurief:

„Machen Sie man ruhig auf. Ich bin von die Jasanstalt von wejen den Automaten.“

„Albert!“ hauchte Irmgard bestürzt. „Albert – du – du?!“ Dann machte sie auch schon die Sicherheitskette los und ließ ihn eintreten.

„Albert – in diesem Aufzug willst du zu Mutter?!“ meinte sie hastig, die Kette wieder vorlegend. „Wirst du sie nicht erschrecken?! Sie ist ohnehin schon argwöhnisch geworden, und –“

„Ich konnte nicht fort, ohne ihr Lebewohl zu sagen,“ erwiderte er gepreßt. „Still! Kommt da nicht jemand die Treppe hoch?! – Nein, ichhabe mich getäuscht. Ich bin heute nervös wie ein entnervter Lebejüngling –“

Aus dem Zimmer hörten die Geschwister jetzt die Stimme der alten Frau herausdringen: „Irmgard – Irmgard, – wo bleibst du nur?!“ Nimski trat ein. Die Kranke erkannte ihn erst, als er sich über sie beugte und sie auf die Stirn küßte.

„Du – du, mein Junge?!“ Ihre zitternde Linke tastete nach seinem Kopf, streichelte ihn.

Er rückte einen Stuhl neben den Lehnstuhl, blieb aber vorsichtig dem Fenster fern.

„Ja, Mutter, – dein Junge. Du wunderst dich, wie?! – Oh, mach’ doch ein ander’ Gesicht. Du siehst ja ganz verängstigte aus. Wozu das? Etwa weil ich wieder mal mein Steckenpferd reite und der Fabrik von Löwe unerkannt als einfacher Arbeiter aus Fachinteresse einen Besuch abstatten will!? – Mutter, das ist doch wahrhaftig kein Grund, so – so trübselig dreinzuschaun!“

Nimski nahm der Mutter weiße Hände in die seinen. Da sah er, daß Irmgard ihm heimlich zuwinkte und auf die Straße deutete.

Er erhob sich halb, schaute durch die Gardine hinaus. Er sah da unten zwei Männer. Den einen kannte er. Also hatte man seine Fährte doch nicht verloren!

„Mutter – leb wohl, – ich hab’s sehr eilig,“ sagte er hastig und so unvermittelt, daß die Kranke sofort wieder argwöhnisch wurde.

Er küßte sie. Und bevor sie noch etwas fragen konnte, war er schon aus dem Zimmer. Irmgard eilte ihm nach.

Er hatte die Flurtür geöffnet, horchte in das Treppenhaus hinab. Dann wandte er sich der Schwester zu:

„Sei Mutter eine brave Tochter, Irmgard. Ändere dich, damit sie wenigstens an einen ihrer Kinder Freude erlebt!“

Dann schlüpfte er hinaus, lautlos, geschmeidig, den Kopf vorgestreckt, lief die Treppe abwärts, verschwand um die Biegung. –

„Ah, da ist er wieder!“ sagte der Kriminalschutzmann Wieler zu seinem Kollegen Lippke. „Ob wir jetzt sofort zugreifen?“

Nimski war auf der Straße erschienen, schlenderte jetzt gemächlich dem Kriminalgericht zu.

„Natürlich zugreifen!“ meinte Lippke. „Nur nicht etwa wieder warten! Es wird zwar einen Auflauf hier in der Turmstraße geben, aber – verdammt – so ein schlauer Halunke! – Auto halt – halt – Polizei – halt!“

Umsonst! Nimski war auf eine vorüberfahrende Kraftdroschke gesprungen, auf das vordere Trittbrett, hatte dem Chauffeur zugerufen: „Weiter – nicht anhalten – ich muß nach der Polizeiwache in der Karlstraße. Vorwärts – ich bin Kriminalschutzmann. Zehn Mark, wenn Sie in fünf Minuten dort sind –“

Der Chauffeur raste davon. Vor der Wache angelangt, sprang Nimski von dem Auto, reichte seinem Retter die versprochenen zehn Mark und sagte: „Warten Sie dort sechs Häuser weiter etwa vier Minuten auf mich. Bin ich bis dahin nicht zurück, dann können Sie weiter, dann brauche ich Sie nicht mehr.“

Eine Stunde später befand er sich vor der Gepäckausgabe des Stettiner Bahnhofs oben im Norden. Hier hatte er für alle Fälle auch jetzt wieder einen billigen Koffer mit all den Sachen darin zur Aufbewahrung abgegeben, die er, wenn die Not mal am größten war, notwendig brauchte. Im Waschraum des Bahnhofs hatte er die beste Gelegenheit, sein Äußeres so gründlich zu verändern, daß ihm nachher nur Elly Müllers von der Liebe geschärfte Augen sofort wieder erkannten. –

*

Herr August Müller hatte sich in einem der Plüschsessel bequem ausgestreckt und grübelte mit auf die Brust gesenktem Kopf vor sich hin.

Nebenan im Eßzimmer räumte das Stubenmädchen den Mittagstisch ab. Teller klapperten, Messer klirrten, Schubladen wurden auf- und zugeschoben, ein Messerbänkchen fiel auf den gewachsten Fußboden.

Endlich wurde es still. Für Müllers Nerven waren diese Geräusche wahre Folterqualen gewesen. Sie störten ihn beim Nachdenken.

Und nachdenken mußte er. – Der Schirm, dieser verd… Schirm! Nun stand er wieder draußen im Ständer! Wenn ihn doch die Erde verschluckt hätte.

Müller suchte in die Hetzjagd seiner Gedanken Ordnung hineinzubringen. – Also heute der Besuch bei dem Assessor. Vielleicht hatte der Mensch ihn angelogen, vielleicht hatte er gegen ihn sehr bald Verdacht geschöpft und den Schirm sehr schlau gerade in dem nahen Geschäft abgegeben, damit der Besitzer des Schirmes ihn bemerkte und sich verleiten ließ, sich irgendwie zu verraten.

Der Rentier ballte nach einer Weile die Hände zur Faust, schüttelte sie in ohnmächtigem Grimm gegen einen unsichtbaren Feind. Hatte er doch jetzt nach langem angestrengten Abwägen aller Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gemerkt, daß er eine ihn befriedigende Lösung für die Frage, weshalb der Assessor den Schirm so öffentlich zur Schau gestellt hatte, nicht finden könne.

Jedenfalls war aber das eine klar, Bender wußte, daß sein damaliger Besucher der Rentier August Müller vom Rüdesheimer Platz gewesen war, da er ja den Schirm ausgerechnet in dem Geschäft an der nächsten Ecke in das Fenster hatte legen lassen! – Aber – wenn er dies wohlüberlegt getan, dann – dann mußte er doch auch in dem Aktenstück gefunden haben, was – nicht mehr zu finden war, dann hätte er doch weit einfacher heute sagen können: „Herr Müller, Sie haben – usw. –“ –

Weshalb noch diese Falle mit dem Schirm also – weshalb?!

Dem Rentier schwirrte der Kopf. Seine Stirn wurde feucht. Ein nervöses Zittern lief über seinen Körper hin.

„Ich werde verrückt über dieser Geschichte!“ murmelte er kläglich. „Hätte ich nur nie – aber – was hilft jetzt dieses hätte – hätte! Über mir schwebt das Verhängnis. Ich fühle es. Die Sache endet schlecht, obwohl ich –“

Hier machten seine Gedanken einen Sprung.

Über einem Notenständer rechts von ihm hing die gerahmte Photographie von Tölz. Dort hatte er vor vier Jahren mit den Seinen einen genußreichen Sommer verbracht.

Tölz! – Sein Blick war auf das Bild gefallen. Da – eine Gedankenverbindung! Weshalb nicht sofort verreisen, weshalb nicht schon morgen fort von hier und alles zurücklassen, alle Angst, all diese herzbeklemmenden Befürchtungen, Überlegungen, – all das eben, was mit dem verd… Schirm zusammenhing?!

August Müllers Gesicht hellte sich auf. – Natürlich – daß er auch nicht schon früher an diesen einfachen Ausweg gedacht hatte!

Er richtete den Oberkörper hoch. Noch eine Minute des Zauderns. Dann ging er an seinen Schreibtisch, nahm das Kursbuch und suchte einen passenden Zug nach Karlsbad aus. Während er die Abfahrtszeiten feststellte, während er fühlte, wie die Zentnerlast auf seiner Brust mehr und mehr zusammenschrumpfte, bis nur noch ein knappes Pfündlein von Unbehagen übrigblieb, redete er sich bereits ein, doch mehr im Interesse seiner kranken Frau so plötzlich abreisen zu wollen, als in seinem eigenen, freute er sich schon auf den Glorienschein des selbstlosen Gatten, der über seinem Haupte erstrahlen würde, wenn er den Seinen nachher am Kaffeetisch mitteilte: „Ich bin doch um Mama so besorgt. Wir wollen möglichst schnell nach Karlsbad!“ – Das würde für ihn eine stolze Genugtuung sein, wenn Ilse ihn dankbar ansehen würde. –

Die Standuhr mit dem tiefen Gongton schlug halb. Müller schob die Türen nach dem Eßzimmer auseinander. Seine Frau und Ilse saßen bereits am Kaffeetisch. Elly fehlte. Das verdarb ihm schon etwas die Stimmung.

„Wo ist Elly?“ fragte er kurz.

„Spazieren gegangen,“ erwiderte Frau Klara kleinlaut.

„So?! So?! Weiß sie nicht, wann wir –“

Die Köchin brachte das Sahnekännchen nach.

„Ach, Fräulein Ellychen kommt gleich. Sie ist nur noch mal schnell auf den Boden gelaufen, um nach einem Unterrock zu suchen,“ erklärte sie.

Da erschien das Mohrchen auch schon, setzte sich, vermied aber die anderen anzusehen.

Müller sparte sich den Verweis für seine Jüngste, obwohl er leicht gereizt war.

Dann kam der große Moment. – Tatsächlich schlug die Ankündigung, daß bereits morgen abend oder übermorgen früh die Reise angetreten werden sollte, „natürlich nach Karlsbad, für Mama muß etwas geschehen!“ –, wie eine Bombe ein, nur nicht mit der Wirkung, die Müller erwartet hatte.

Elly rief sofort: „Ausgeschlossen! Ich habe ja meine Seidenjacke noch nicht!“

Und Frau Klara fügte nervös hinzu:

„Unmöglich, Gustel. Unsere Wäsche erhalten wir erst nach einer Woche aus der Waschanstalt zurück.“

Der Rentier stemmte die Fäuste gegen die Tischkante und drückte sich bolzgerade in seinen Lederstuhl zurück. Er war ganz bleich geworden. Alles andere hatte er erwartet, nur nicht diese kurze Ablehnung – „ausgeschlossen“ – „unmöglich“. Elly, die doch sonst zuweilen zu ihm hielt, war mit diesem ärgerlichen „ausgeschlossen“ zuerst bei der Hand gewesen.

Dieselbe Elly sagte jetzt achselzuckend zu ihm, indem sie den Blick nach der Zimmerdecke richtete:

„Manchmal bist du ganz unbegreiflich, Papa. Total unverständlich! Woher nur dieser plötzliche Entschluß?“

Ihre Augen suchten die der Mutter. Und Frau Klara nickte ihr verstohlen zu. Das hieß: „Natürlich wird aus dieser überhetzten Abreise nichts!“

August Müller ließ die Arme sinken, setzte sich bequem zurecht und erwiderte dann mit stark übertriebener Gleichgültigkeit:

„Ihr versteht mich allerdings nie –, nein, ihr nicht! Darin habe ich mich schon längst gefunden. Meine besten Absichten werden verkannt. Ich bin stets der Schuldige, wenn etwas vorkommt, stets! Meine Fürsorge für euch überseht Ihr geflissentlich, doch lassen wir diesen Gegenstand fallen. Wir werden einander nie gebührend und richtig einschätzen. – Gut denn, wir bleiben noch hier! Aber ich lehne jede Verantwortung für Mamas Gesundheitszustand ab – jede – jede! Besonders du, Ilse, als reifer Mensch hättest sofort einsehen müssen, welche Beweggründe diesen Vorschlag veranlaßt hatten.“

Er räusperte sich kräftig, holte das Taschentuch hervor, betupfte die Lippen und begann dann wieder:

„Natürlich – du schweigst, Ilse! Wo wirst du auch diese Verantwortung für Mamas Befinden übernehmen! Alles bleibt auf mir allein sitzen wie stets! Und deshalb, Mama und ich werden übermorgen früh abreisen. Ihr beide kommt nach. Dabei bleibt’s!“

Dann strich er sich ein Brötchen, füllte seine Tasse wieder und nahm beides mit hinüber in sein Zimmer.

Es war ein guter Abgang – glaubte er.

Er täuschte sich. Kaum knallten die Schiebetüren aneinander, als Elly, wieder den Blick gen Himmel richtend, leise flüsterte: „Man könnte wirklich denken, Papa sei plötzlich ein wenig übergeschnappt!“

„Elly!“ meinte Frau Klara verweisend.

„Ach was – ihr müßt doch auch zugeben, für dies Benehmen ist „komisch“ noch eine sehr milde Bezeichnung. Vor Tisch das Intermezzo mit dem Schirm, jetzt wieder diese so kläglich begründeten überhasteten Reisepläne! Ich kann mir keinen Vers daraus machen!“

Frau Klara nickte. „Ich auch nicht, – denn meinetwegen – meinetwegen! Hat er je auf mich Rücksicht genommen?!“

Ilse sagte nichts. In ihrer Erinnerung lebte noch so frisch all das, was sie vor kaum einer Stunde aus anderem Munde über den Vater gehört hatte.

 

17. Kapitel.

Was sie gehört hatte, will ich jetzt nachholen. Und wie es kam, daß sie mich halb und halb zum Sprechen zwang, ist eine Geschichte für sich, bei der ich nicht gerade sehr gut abschneide. –

Nachdem ich festgestellt hatte, daß das Verlagshaus Menke ein bloßes Phantasiegebilde Nimskis war, begann mein böser Dalles wieder von neuem. Von dem Rest dieses „Honorars“ wollte ich nichts mehr ausgeben. Daher ersetzte ich das Mittagessen an diesem denkwürdigen Tage auch durch stramme Haltung, wie wir früher als Studiosi zu sagen pflegten. Immerhin besaß sich noch einige Vorräte, die es mir ermöglichen, dem Magen eine warme Mahlzeit in Gestalt von Bratkartoffeln und saurem Hering vorzutäuschen.

Als ich gerade die letzten mehr besengten als gebratenen Kartoffelscheiben in den Mund schob, trat Parla wie stets ohne anzuklopfen ein.

Er schnupperte sofort wie ein hungriger Köter mit erhobener Nase in der Luft umher und stand wenige Minuten später in meiner Küche am Gasherd vor der Bratpfanne, um die allerletzten Reste meiner genießbaren Habe für sich zu einer bescheidenen Mahlzeit herzurichten.

Ich saß derweilen auf dem Holzstuhl am Fenster und hatte meine Freude daran, mit welchem Geschick mein Freund sich die aus geriebenem alten Schweizer Käse, Kartoffeln, Brot, Zwiebeln und einem Bouillonwürfel hergestellten fleischlosen Klopse bräunte.

Nach einer Weile begann er allerlei Andeutungen zu machen, die sich nur auf Nimski und den Schirm-Müller beziehen konnten.

„Ich habe heute bereits für jemand anders ein sehr schönes Gericht zusammengebraut,“ meinte er zum Beispiel, einen Klops auf die noch helle Seite legend. „Ein schmackhaftes Gericht, das jedoch nicht jedem bekommt. Dem alten Herrn aus dem Vorderhause wird es kaum behagen.“

Vielleicht lauerte er nun darauf, daß ich ihn neugierig um Aufklärung über diese Andeutung bitten würde. Aber ich tat ihm den Gefallen nicht, rauchte meine Verdauungszigarre behaglich weiter und spielte den Gleichgültigen.

Das reizte ihn. „Heuchler, ich durchschaue dich!“ rief er nach einer Weile. „Du wirst nächstens vor Neugier platzen.“ Dann kratzte er den Rest Butter von der Untertasse und tat das bereits stark ranzige Fett in die Pfanne. Während es laut aufzischte, fuhr er fort: „Mein Lieber, der Lindammer ist hinter Freund Bender her. Ich traf ihn in dem würdigen Dienstzimmer. Karlchen hat einen schweren Stand gehabt gegenüber diesem energischen Herrn.“

Jetzt schaute ich Parla doch erwartungsvoll an.

Er lachte laut auf. „Aha – angebissen, lieber Barsch! Schau, nun hast du doch Feuer gefangen. – Na, ich will barmherzig sein. – Also was der Lindammer dort wollte? Ja, denk’ dir, – das Aktenstück bereitete ihm Kopfschmerzen. Und bei Bender hoffte er das Heilmittel gegen diese Migräne zu finden. – Woher er von der „Jahnke’schen Stiftung“ etwas erfahren hatte? Im – in deinem Atelier liegt die Lösung: die Luftklappe!“

„Also sind wir wirklich belauscht worden?“

„Natürlich – ich wußte es auch, daß außen ein Horcher stehen würde. Aber ich wollte den Mann nicht verscheuchen, das, worauf es ankam, sprach ich stets leise, und ich wette, der nächtliche Dachbesucher wird gerade nur das Unwesentliche verstanden haben. Ein Beweis hierfür ist das, was Bender mir auf meine telephonische Anfrage hin über den Verlauf seiner Unterredung mit Lindammer mitteilte. Der Kommissar hat mit langer Nase abziehen müssen. Karlchen ist fest geblieben, hat nichts von der Schirmgeschichte preisgegeben. Lindammer wußte also nicht alles. Daher kam er zu Bender.“

Er erzählte mir nun, auf welche Weise er Müllers Schirm an sich gebracht hatte, wie er dieses elegante und doch so belastende Regendach dann in dem Geschäft an der nächsten Ecke abgegeben und den Inhaber bewogen hatte, genau nach seinen Anweisungen zu verfahren.

„Der Mann glaubte mir, daß ich einem Bekannten, der seinen Schirm vermißte, nur eine unverhoffte Freude machen wollte. Meine List ist geglückt. Frau Müller und die älteste Tochter haben den Schirm bereits mitgenommen, und der Rentier und Seitendieb dürfte daheim einen Freudentanz aufgeführt haben, als seine Damen mit dem wiedergefundenen „verlorenen Sohn“ heimkehrten, zumal er – gib acht, Erwin! – zumal er nämlich heute ebenfalls bei Bender vorsprach und den Schirm abholen wollte, was ich leider gerade kurz vorher getan hatte, so daß Karlchen dem „Seitendieb“ notwendig einen kleinen Bären von einem Freunde aufbinden mußte, der den Schirm heute noch auf dem Fundbüro abgeben sollte.“

Parlas Klopse waren fertig, und er begann gleich am Herd mit seiner gar nicht übel duftenden Mahlzeit.

Ich schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Mir scheint, du hast diesen Streich mehr deshalb ausgetüftelt, um den Mann zu ängstigen, als um in die Sache selbst Licht hineinzubringen. Daß Müller etwas Unrechtes getan, steht ja schon fest, ebenso, daß ihm der Schirm gehört. Wozu also eine Falle dieser Art?! Nur aus Lust daran, einen alten Herrn, der eine unüberlegte Torheit sich hat zu Schulden kommen lassen, zur beunruhigen, zu quälen – sinnlos zu quälen?!“

Parla ließ die Gabel, auf der ein halber Klops steckte, sinken und schaute mich mit einem Blick an, dem ich nicht standzuhalten vermochte.

Langsam sagte er dann: „Wir kennen uns doch schon eine geraume Zeit, mein Junge. Aber – mich kennst du noch immer nicht.“ Und nach kurzer Pause: „Ich wußte doch, was dir Ilse Müller trotz der erst jungen Bekanntschaft bereits geworden ist, ahnte voraus, was sie dir noch werden wird. Und da sollte ich nicht so viel für dich übrig haben, um den Versuch zu wagen, zu verhüten, daß der Vater dieses jungen Mädchens in schwere Ungelegenheiten gerät, da sollte ich nicht mein bißchen Grips anstrengen, um Bender den Schirm zu entführen, mit dem unser würdevoller Assessor vielleicht noch arge Dummheiten anrichten konnte?! – Lieber Erwin, streiche mal sofort all das aus im Gedächtnis, was ich soeben gesagt habe, – denn es war nichts als Unsinn, betrachte dann bitte die Geschichte von dem Gesichtspunkt aus, daß es vielleicht in meiner Absicht gelegen haben kann, Müller zu – warnen!“

Ich duckte mich zusammen. „Liebster, bester „Lakai“, – ich bin ein bußfertiger Sünder,“ meinte ich kleinlaut „es war also ein Freundschaftsdienst! Und ich Esel mit Eichenlaub und Schwertern konnte dir zutrauen, daß du –“

Er spießte den letzten Klops auf die Gabel und fiel mir ins Wort:

„Im Interesse der Müllerschen Damen darf die Seite 36 die Öffentlichkeit nie beschäftigen. Öffentlichkeit ist hier gleich Strafjustiz. Der alte Herr ist ein Dieb, und die Familie wäre mit einem Makel fortan behaftet, wenn das Oberhaupt wegen Entwendung eines Objekts im Werte von fünfundzwanzigtausend Mark zu Gefängnis verurteilt würde.“

Er biß ein großes Stück ab und kaute mit Behagen. So fand ich Muße, über seine Worte nachzudenken. Das Resultat dieser geistigen Anstrengung war die Frage meinerseits:

„Objekt von fünfundzwanzigtausend Mark?! Ja – was heißt denn das? – Müller hat doch allem Anschein nach nur ein einzelnes Blatt aus einem alten Aktenstück herausgeschnitten. Wie kann dieses von dir als so kostbar bezeichnet werden?!“

Ich mußte auf die Antwort warten, da er sich jetzt als Schlußtrunk der Mahlzeit ein Glas Rotwein aus den Flaschenneigen zusammengoß und dann mit Andacht austrank.

„Ja, mein lieber Erwin,“ sagte er nun und lehnte sich mir gegenüber an das Fensterbrett, „– Objekt von fünfundzwanzigtausend Mark! Vielleicht sogar noch wertvoller, wie mir ein Sachverständiger erklärte. Im Katalog der berühmten Firma Klinker & Co. steht: Wert fünfundzwanzigtausend bis siebenundzwanzigtausend Mark.“

Er zog ein rotgebundenes, kleines, dickes Buch aus der Tasche, klopfte mit dem Zeigefinger auf den Deckel und fuhr fort: „Hiermit dürfte sich unser Müller sehr oft beschäftigen. Zu oft! Jede Sammlerwut kann zu verbrecherischer Betätigung ausarten.“

Da erst kam mir halbwegs die Erleuchtung. Mir fiel das Gespräch ein, daß ich mit dem Rentier auf dem Dachgarten geführt, und sein argwöhnischer Blick, als ich von Sammlerleidenschaft gesprochen hatte.

„Ja – was in aller Welt sammelt er den?“ fragte ich, Parla begierig anstarrend. „Was kann es nur sein, und was hat die Seite 36 damit zu tun?“

Er lächelte ganz wenig. „Ist das so schwer zu erraten, Erwin? Überleg’ dir mal, das Blatt ist als Umschlag für ein Schreiben benutzt worden.“

Ein Blitz erhellte mein Hirn urplötzlich. – Es konnte – mußte so sein.

„Eine Briefmarke!“ stieß ich hervor.

„Allerdings – eine Briefmarke. Hast du eine Ahnung von Briefmarkenkunde? – Du schüttelst dein schlaues Haupt. Nun – ich wußte ja auch nicht viel davon, aber gerade genug, um sehr bald auf der richtigen Fährte zu sein, als ich mich für den Fall Müller zu interessieren begann. – Aus den Akten „Janke’sche Stiftung“ war ersichtlich, daß der englische Konsul in Port Louis auf der Insel Mauritius mit dem Berliner Magistrat verschiedene Schreiben gewechselt hatte. Als ich das Wort Mauritius zunächst auf der Seite 30 las, ging mir ein Licht auf, denn die äußerst seltenen Mauritius-Marken bedeuten dem Briefmarkensammler dasselbe wie etwa ein echter Rubens dem Inhaber einer Privatgalerie. –

Gestatte, daß ich dir kurz einiges über diese kostbaren Papierstückchen mitteile. Der Mensch lernt nie genug. Ich fülle so eine Lücke in deiner allgemeinen Bildung aus. – Die Briefmarke in ihrer jetzigen Form ist in England erfunden worden. Der Zeitungsverleger J. Chalmers brachte zur Vorausentrichtung des Portos ein aufklebbares Wertzeichen schon 1834 in Vorschlag, und fünf Jahre später wurde die Briefmarke gesetzlich eingeführt. Die englischen Kolonien folgten sehr bald diesem Beispiel. So wurden denn auch auf Mauritius im Jahre 1847 von einem Kupferstecher zwei Marken hergestellt, die beide das Bildnis der Königin Viktoria mit einem Diadem im Haar zeigen und von denen die zu 1 Penny rotorange, die zu 2 Penny dunkelblau ist. Erstere hat heute „nur“ einen Wert von etwa zwanzigtausend, letztere von – fünfundzwanzigtausend Mark. Die Umrandung dieser Marken ist „geschnitten“, wie der Sammler sagt, denn die Durchlochung zur bequemen Abtrennung einzelner Stücke wurde erst 1852 von dem Engländer Archer erfunden. –

So – das mag genügen, wenn ich noch hinzufüge, daß von der rotrangen und blauen Mauritius je nur etwa zwölf Exemplare heute noch vorhanden sind. Eine davon besitzt das Postmuseum hier in Berlin.“

„Verbindlichsten Dank! – Aber, woher weißt du, daß es gerade eine Marke von fünfundzwanzigtausend Mark Wert war, die sich auf der Seite 36 befand, – also eine blaue Mauritius, – eine blaue Königin!“

Parla verzog wieder die Lippen zu einem überlegenen Lächeln.

„Nun, durch scharfsinnige Schlußfolgerungen habe ich’s nicht herausbekommen. Das wäre unmöglich gewesen. Ich habe Seite 36 eben gesehen.“

„Gesehen?“ meinte ich gedehnt. Ich glaubte, er wollte mich aufs Glatteis führen.

„Ja, lieber Erwin, – gesehen!“

„Also vor dem Diebstahl, das heißt, als das Blatt noch nicht herausgeschnitten war?! Aber, –“

„Was ging mich das Aktenstück Jahnke wohl vor dem Diebstahl an?!“ unterbrach er mich.

Ich schaute ganz verwirrt zu ihm auf. Dann hatte ich begriffen.

„Nach dem Diebstahl – wirklich, nachher?!“ stieß ich hervor. „Mithin mußt du –“ Ich wußte den Satz nicht recht zu Ende zu bringen.

„Gib’ dir keine Mühe, Erwin,“ sagte er da voller Ironie. „Du kommst doch nicht auf das Richtige, wenn ich dir nicht helfe. Besinnst du dich auf den Mann, der sich an dem einen Schornstein des Vorderhauses zu schaffen machte und von dem du mir so einiges erzähltest, weil er dir aufgefallen war? – Nun, als ich erst August Müller und den Schirm miteinander in Beziehung gebracht, als ich weiter als das Objekt des Diebstahles die blaue Königin festgestellt hatte, war es nicht schwer zu der Vermutung zu gelangen, daß der Mann am Schornstein unser Schirm-Müller gewesen sein könnte, der dort vielleicht seinen Raub versteckt hatte. Ich benutzte daher die erste Gelegenheit, die sich mir bot, diese Vermutung nachzuprüfen. Und das war, als du nach dem Bowlenumtrunk wie eine Ratze fest schliefst. Da habe ich mir das eng zusammengefaltete Blatt aus der Ritze zwischen den Ziegeln des Schornsteins hervorgeholt. – Bitte – wenn du es sehen willst, – hier ist es.“

Er faßte in die Innentasche seiner Weste und reichte mir das stark geknüllte Papier.

Ah – also das war sie, – sie, die berühmte Blaue, Wert fünfundzwanzigtausend Mark! – Die blaue Königin!

Meine angeregte Phantasie brachte mir jetzt Worte auf die Zunge, die den Schriftsteller verrieten. Der geneigte Leser mag meinen Erguß, der ja auch den Anfang dieser Geschichte bildet, nochmals nachlesen – bis auf die letzten Sätze. Dann weiß er, was ich damals sagte: „Sie kam von weit her, von einer Insel –“ –

„Ein Dichter hat soeben gesprochen,“ meinte Rolf anerkennend. „Nun spricht der nüchterne „Detektiv aus Liebhaberei“ – höre weiter. Als ich dem Diebe die Marke glücklich gestohlen hatte, erschien er selbst auf dem Dach. Ich kroch in der Rinne entlang und entkam. Aber diese Szene hatte ein dritter beobachtet, derselbe Kriminalbeamte, der uns belauscht hatte. – Begreifst du, was dies auf sich hat?! Nun – es kann für Lindammer vielleicht ein Fingerzeig sein, der ihm auf der Suche nach einer Aufklärung der Aktenstück-Sache weiterhilft. Müller schwebt also recht stark in Gefahr, entlarvt zu werden. Jetzt wird dir wohl mein Verhalten hinsichtlich der Mitnahme des Schirmes und dessen späterer Abgabe in dem Laden noch klarer sein. Ich wollte Müller tatsächlich nur noch mehr Angst einjagen, als er sie bereits nach dem Verschwinden des Blattes aus dem Schornsteinversteck empfunden haben muß, wollte ihn zwingen, schleunigst hier das Feld zu räumen, damit er Lindammer aus den Augen kommt. – Ich tat aber noch mehr. Ich habe mir das Aktenstück von Bender geliehen, um daraus alles zu tilgen, was gegen August Müller zeugen könnte.“

„Zu entfernen? Was denn?“ Ich glaube, diese schnelle Zwischenfrage war berechtigt.

„Nun, als Müller die Seite herausschnitt, wird er sicher die andere Hand, die das Messer nicht führte, mit gespreizten Fingern auf die Nebenseite gepreßt haben, um das Aktenstück festzuhalten. Und das mußte wunderschöne Abdrücke seiner Fingerspitzen ergeben haben. Was die Fingerabdrücke mit ihrem bei allen Menschen verschiedenen Muster von seinen Linien bedeuten, wie leicht man dadurch einen Übeltäter festnageln kann, ist dir bekannt.“

„Ah – du hast diese Fingerabdrücke –“

„Entschuldige – sie waren nur durch ein besonderes Verfahren sichtbar zu machen. Ich tat’s – sie waren vorhanden, und sie bildeten mit ihren fünf Flecken einen bösen Beweis gegen den Besitzer dieser Hand. Ich habe sie deshalb mit reinem Alkohol säuberlich abgewaschen. Und wenn jetzt Lindammer in den Akten herumschnüffelt, dann wird er nichts mehr finden.“

Mein jetzt folgendes Loblied auf Parlas weitschauende Klugheit ließ ihn völlig kalt. Er sagte nur:

„Ich rate dir also, falls du heute noch mit deiner Kameradin „oben“ zusammentriffst, ihr nahezulegen, jeden Reiseplan ihres Vaters nach Möglichkeit zu unterstützen. – So, deswegen bin ich hauptsächlich zu dir gekommen. Daß ich hier noch ein Schlemmermahl nebenbei würde einnehmen können, ahnte ich nicht. – Wiedersehen, Erwin! Abends hole ich dich ab. Bender, den ich jetzt aufsuchen will, kommt auch. Er muß seine Aktenstück zurückerhalten, außerdem will ich ihn gehörig bearbeiten, ja nicht Lindammer auf den Leim zu gehen.“

Er steckte Seite 36 wieder in die Weste.

„Und der Ausgang des Falles Müller?“ fragte ich zögernd.

„Die Seite wird den Akten wieder beigefügt, das heißt eingeklebt, – und hoffentlich ist dann alles für alle Zeiten begraben, es sei denn, daß Lindammer dem, was er für eine Nebenepisode des Falles Nimski hält und bei ihm wohl unter der Überschrift „Aktenstück – Fragezeichen – Fragezeichen“ geht, so große Bedeutung beimißt, daß er sich hartnäckig der Klärung dieser Episode widmet. Diese Hartnäckigkeit fürchte ich ein wenig. Inzwischen habe ich über Lindammer manches gehört, – nur Gutes, Anerkennendes. Hinter seinem Leutnantston verbirgt sich doch noch bessere Musik.“

Parla verabschiedete sich nun endgültig. Ich war wieder allein. Ich saß in meinem Prunkstück, dem bequemen Korbsessel, und überlegte mir nochmals all das, was soeben zwischen Parla und mir durchgesprochen worden war. –

Parlas Steckenpferd war seiner Behauptung nach das Detektivspielen. Nun – in diesem Falle hatte er mehr Vorsehung gespielt, und mit welchem Geschick! – Ich war ihm jedenfalls von Herzen dankbar.

Dann besann ich mich darauf, daß er mir eine nicht ganz einfache Aufgabe hinterlassen hatte. Sollte ich doch Ilse Müller veranlassen, mit ihrem ganzen Einfluß – groß war er leider nicht! – für eine sofortige Abreise ihrer Familie einzutreten.

Wenn ich nur Glück hätte und sie oben anträfe! Und – wenn ich die heikle Sache nur mit leidlicher Gewandtheit zu erledigen im Stande war!

Nun – es würde schon werden. Mit etwas diplomatischen Winkelzügen mußte operiert werden, und wenn man ähnliches in erfundenen Romanen schildern kann, wird man ja wohl der Wirklichkeit auch gewachsen sein!

So dachte ich. Und ganz frohgemut kletterte ich die Treppenleiter empor.

 

18. Kapitel.

Ich hatte Glück: Sie war da! Aber sie war heute noch schwermütiger, stiller und gedrückter als sonst. Das fühlte ich sehr bald heraus.

Ihre weiche, weiße Hand hatte bei der Begrüßung so leblos in der meinen gelegen. Meinen prüfenden, teilnehmenden Augen wich sie aus. Mit krampfhaftem Eifer führte sie wieder ein Gespräch über die Bilder der vor einigen Tagen eröffneten Ausstellung der freien Sezession.

Dann gelang es mir die Unterhaltung auf das Gebiet der Briefmarkenkunde zu bringen, sprach von der Entwicklungsgeschichte der heutigen Marke, wobei mir Parlas kurzer Vortrag ohnehin zu gute kam, und zermarterte mir nebenbei mein Hirn, um unauffällig zu dem Kernpunkt dieser Unterredung zu gelangen.

„Sie sind mit der Geschichte der Briefmarken recht gut vertraut,“ meinte Ilse. „Sogar die Jahreszahlen kennen Sie. Ihr Beruf verlangt hohe Kenntnisse auf diesem Gebiet?“

„Ja, gewiß, so ist’s,“ log ich hastig. Aber mein Blick wich dem ihrigen aus. Vielleicht wurde ich auch ein wenig rot. Jedenfalls trat nun eine Gesprächspause ein, während der Ilse mich offenbar forschend betrachtete. Dann sagte sie plötzlich:

„Mein Vater hat mich gestern abend gefragt, ob Sie einen sehr ausgedehnten Verkehr hätten. Sind Sie vielleicht mit einem Assessor Doktor Bender befreundet, Herr Burg?“

Ich horchte auf, schaute sie voll an.

„Erkundigte sich Ihr Herr Vater nach Bender, der zwar nicht gerade mein Freund, aber doch immerhin ein guter Bekannter von mir ist?“

Ihr Blick wurde argwöhnisch. Und ihre nächste Frage versetzte mich in recht peinliche Verlegenheit.

„Wissen Sie vielleicht, ob mein Vater Herrn Bender kennt?“

„Hm – ja, – glaube –“

„Sie weichen mir aus, Herr Burg. Ich bitte Sie, seien Sie doch offen zu mir! Ich habe in den letzten Tagen bei uns so mancherlei Beobachtungen gemacht, die mich beunruhigen. Wenn auch Sie noch mit mir Versteck spielen, dann habe ich niemanden, der mir raten, mit dem ich diese Angelegenheit durchsprechen kann. – Sie sehen schon wieder an mir vorbei, fürchten meinen Blick offenbar! Mein Gott, was ist denn nur geschehen, daß mir die Luft mit gefahrdrohender Gewitterschwüle erfüllt zu sein scheint?! Ich fühle irgend etwas Verhängnisvolles sich nähern, ich zermarterte mir den Kopf, um die Ursachen dieser dunklen Stimmung herauszufinden, ich taste hierhin, dorthin. Überall greife ich ins Leere! Und dennoch –“ –

Eine kurze Pause.

Dann: „Ich habe das Empfinden, daß Sie besser über den Grund meines seelischen Bedrücktseins Bescheid wissen als ich. Nur eine weitere Frage zum Beispiel: Weshalb hat Ihr Freund Parla den Schirm meines Vaters, den dieser angeblich in der Straßenbahn hatte stehen lassen, in dem Geschäft an der Ecke abgegeben? – Es war Herr Parla. Der Ladeninhaber beschrieb ihn mir kurz, tat dabei sehr geheimnisvoll. Doch Herr Parla mit seinem charakteristischen Gesicht ist unverkennbar.“

Oh – das hatte ich nicht vorausgesehen! Nun auch noch der Unglücksschirm! Der fehlte noch gerade.

Ich rückte auf meinem Sitz hin und her. Mir wurde heiß. Parla hatten mir da wirklich eine nette Mission übertragen!

„Wollen Sie nicht antworten – oder dürfen Sie nicht?“ meinte Ilse jetzt leise und traurig. –

Ich dachte an ihre Worte vorhin. „Dann habe ich ja niemanden –“ – Nein – sie sollte merken, daß ich ihr Freund war, daß sie sich in mir nicht getäuscht hatte!

„Fräulein Ilse – Verzeihung – gnädiges Fräulein, ich –“

„Verfallen Sie doch nicht in den Fehler erkältender Förmlichkeit?“ unterbrach sie mich.

„Nun gut. – Fräulein Ilse, ich darf Ihnen zu Ihrem eigenen Besten nicht alles sagen, was ich weiß. Glauben Sie mir, die Kenntnis dessen, was mit diesem Schirm noch weiter zusammenhängt, würde Ihnen nur ganz zwecklos trübe Stunden bereiten. Forschen Sie bitte nicht näher nach, dringen Sie nicht darauf, daß ich ehrlich und offen sein soll. Es gibt eine Offenheit, die Unheil stiftet. Geben Sie sich damit zufrieden, wenn ich Ihnen jetzt als aufrichtiger Freund rate: Sorgen Sie dafür, daß Ihre Eltern recht bald Berlin für längere Zeit verlassen.“

Ihre Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Auf ihrer Stirn erschien eine Falte. Dann sagte sie energisch:

„Offenheit, die Unheil stiftet, – mag sein! Aber vergessen Sie nicht, daß Ungewißheit schlimmer ist, als das Unheil selbst. Wenigstens für Menschen, die nicht gern in Augenblicken der Gefahr den Kopf in den Sand stecken wie der Vogel Strauß. Zu diesen Menschen gehöre ich nicht. – Also, bitte keine falsche Rücksicht, Herr Burg! – Vorher aber noch folgendes: Vorgestern abend war der Kommissar von Lindammer bei uns. Und gestern abend sah ich, wie mein Vater beim Anblick eines Herrn, der oben auf dem Dach stand, merklich zusammenzuckte. Ich vermute, daß dieser Herr der Assessor Bender war. Ich selbst stand hinter dem Fenstervorhang meines Zimmers, beobachtete dieses heftige Zusammenfahren meines Vaters ganz deutlich. Gleich darauf fragte er mich, ob Sie einen Assessor Bender kennen. – Weiter! Der Kommissar kam angeblich nur Nimskis wegen. Ich argwöhne mehr hinter diesem Besuch. – Schließlich, mein Vater ist bisher noch nie auf dem Dach gewesen. Jetzt – jetzt – schleicht er sogar spät nachts hinauf. Ich lag gerade wach, und ich habe gute Ohren.“

Erschöpft hielt sie inne, und ihre Augen ruhten nun flehend auf meinem verlegenen Gesicht. –

Was sollte ich tun?! Gab es hier noch eine Möglichkeit, ihr die Wahrheit zu verheimlichen? Hatte Ilse nicht bereits eine zu große Menge von Verdachtsmomenten zusammengetragen, als daß sie sich noch würde täuschen lassen?!

Ich hatte zu lange mit der Antwort gezögert. Ein grober taktischer Fehler von mir, wie ich erfahren sollte, als sie nun erklärte:

„Ihr Zaudern sagt genug. Mein Vater hat etwas begangen, das mit dem Schirm in Beziehung steht, so seltsam es vielleicht auch klingt. – Leugnen Sie, wenn Sie die Stirn dazu haben!“

Ich saß fest. Mit dem diplomatischen Geschick hatte ich mich böse blamiert.

So kam es, daß ich schonend mit der Wahrheit herausrückte. – Ilse unterbrach mich häufig durch Zwischenfragen. Als ich von der blauen Königin sprach und ihrem Wert, flüsterte sie tonlos: „Fünfundzwanzigtausend Mark – fünfundzwanzigtausend Mark!“ –

Dann wieder sagte sie, als ich Parlas mir erteilten Auftrag wiederholte:

„Ihr Freund ist ein guter Mensch!“

„Das ist er!“ bekräftigte ich. „Wenn nur all diese steifleinenen Gehaltsempfänger und Titelträger in Zivil und Uniform ahnen würden, wie viele hochanständige Seelen sich unter der schäbig-eleganten Kluft der sogenannten Bohemiens verbergen! – Werden Sie nun Parlas Rat befolgen, Fräulein Ilse?“

„Nein!“

Ich schaute sie überrascht an.

„Nein,“ wiederholte sie mit weniger Nachdruck. „Mein Vater würde einmal nie auf mich hören, falls ich ihm nicht gerade andeutete, weshalb ich eine plötzliche Abreise so dringend vorschlage. Dann aber hoffe ich auch, daß diese – diese unbedachte Tat dank der Umsicht Ihres Freundes weiter keine Folgen nach sich ziehen wird. – Ich gedenke nur langsam die Mama dafür zu gewinnen, daß wir früher als sonst – für alle Fälle! – ein Bad aufsuchen.“

Ich mußte ihr beipflichten. –

Nach einer Weile kamen wir auf Elly zu sprechen.

„Sie hat eine unselige Leidenschaft für diesen Nimski gefaßt,“ sagte Ilse und schilderte mir die Szene, wie das Mohrchen in höchster Erregung geäußert hatte, sie würde an Nimski festhalten, auch wenn er ein Verbrecher wäre.

„Oh, was stürmt jetzt alles auf mich ein!“ klagte mein liebes Aschenbrödel mit tiefer Herzensangst. „Wenn ich nur einen Weg wüßte, Elly von diesen Gedanken abzubringen! Wenn doch auch hier Parla hilfreich einspringen würde! – Hat er Ihnen heute Neues über Nimski berichtet?“ –

Ich kann das, was wir jetzt noch sprachen, hier fortlassen. Es ist ohne Belang.

Der Leser weiß bereits, wie Ilse sich dann am Kaffeetisch benahm, als August Müller ganz von selbst mit dem Vorschlag einer beschleunigten Abreise herausrückte.

*

Als Parla das Haus am Rüdesheimer Platz verließ, bemerkte er drüben auf der anderen Seite den alten Blumenverkäufer, der neben seinem Tragkorb von duftenden Rosen stand und den wenigen Vorübergehenden seine Ware anbot.

Da dort bisher noch niemals ein Händler sich aufgestellt hatte – dazu war diese Gegend doch zu einsam! – vermutete der Filmschauspieler in dem Alten einen geschickt maskierten Kriminalbeamten, ging langsamer und entwarf einen Schlachtplan, wie er wohl feststellen könnte, ob er sich täuschte. Dann erkannte er in der Frau, die keine hundert Schritt weiter ein Schaufenster betrachtete, in dem es nichts zu sehen gab, die ihn von seiner Tätigkeit als Liebhaberdetektiv nicht ganz fremde Agentin Brösicke.

Der Besuch bei Bender hatte noch Zeit. Und daher entschloß sich Parla, eine halbe Stunde zu opfern und zu beobachten, ob sich hier vielleicht irgendetwas ereignen würde, das von Wichtigkeit war. Er betrat einen nahen Papierladen, in dem ein älteres Fräulein allein bediente. Es war die Inhaberin selbst, und Parla erklärte ihr offen, weshalb er gern eine Weile hinter der Glastür verborgen ein paar Leute im Auge behalten wolle. „Ich bin Privatdetektiv und gerade „bei der Arbeit“,“ meinte er. –

Das Fräulein war nicht gerade erbaut von diesem Besuch, taute aber bald auf, als Parla ihr allerlei spannende Berufsabenteuer erzählte.

Dann erlebte er aus vorsichtiger Entfernung das Wiedersehen zwischen Elly Müller und dem Weißbart mit, ahnte sofort, in dem Blumenhändler Albert von Nimski vor sich zu haben und heftete sich nachher mit mehr Geschick, als die Polizeiagentin in diesem Falle entwickelte, an des blauen Engels Fersen, indem er das Einsteigen in den Stadtbahnzug so lange verzögerte, bis er sah, daß Elly den Türdrücker ihres Abteils in der Hand behalten hatte, und daher sofort ihre Absicht durchschaute, die Brösicke abzuschütteln, folgte ihr getreulich bei allen ihren Einkäufen, wurde so auch Zeuge der Übergabe des Kartons an den auf der einsamen, unbebauten Straße harrenden Alten, dem er dann mit jener Fertigkeit, die er sich durch häufige Übung in derlei Dingen angeeignet hatte, nicht wieder aus dem Gesichtskreis verlor, obwohl Nimski sich alle Mühe gab, einen Verfolger, der möglicherweise hinter ihm war, von seiner Spur abzulenken.

Es war ein Kampf zwischen zwei ziemlich gleichwertigen Gegnern, dieses heimliche Nachschleichen und dieses schlaue, plötzliche Abschwenken von einem bisher eingeschlagenen Wege. Parla siegte. –

Als Nimski gegen fünf Uhr nachmittags den Lehrter Bahnhof betrat, fühlte er sich vollkommen sicher.

Parla sah sich jetzt einer Sachlage gegenüber, die nicht so ganz einfach für ihn war. Nimski wollte fliehen. Offenbar hatte er sich von Elly Müller auch eine Fahrkarte besorgen lassen, denn er ging jetzt ohne weiteres an die Sperre, ließ die Fahrkarte lochen und suchte nach einem passenden Platz in einem Abteil 4ter des bereits wartenden Personenzuges nach Hamburg.

Parla mußte mit Bestimmtheit annehmen, daß die Bahnhöfe scharf überwacht wurden. Der Zug würde erst in einer Viertelstunde abgehen. Noch konnte er also darüber mit sich ins Reine kommen, ob er Nimskis Flucht verhindern solle oder nicht. Elly Müller war ja zweifellos am meisten damit gedient, wenn Nimski – vielleicht für immer – Berlin und Deutschland verließ. Aber Parla hatte jetzt ein starkes persönliches Interesse daran herauszubekommen, was eigentlich hinter der widerspruchsvollen Persönlichkeit dieses Mannes steckte. Ein gewisser Ehrgeiz trieb ihn dazu, die Geheimnisse dieses rätselhaften Menschen zu enthüllen, nicht etwa für die Öffentlichkeit, nein, nur für die Nächstbeteiligten.

Während er noch Nimskis Bewegungen verfolgte, nahm er etwas wahr, das ihm sofort zu denken gab. Der Bahnbeamte an der Sperre, an dem der verkleidete Nimski soeben vorübergegangen war, hatte einem in der Nähe stehenden Kollegen mit der Hand ein Zeichen gemacht und dann nach dem Alten hingeschaut, der jetzt gerade einen der letzten Wagen des Zuges bestieg.

Kriminalbeamte – ganz sicher! – Parla zögerte nicht lange. Eine Bahnsteigkarte lösen und zusammen mit einigen Händlerfrauen die Sperre passieren, bedurfte keiner zwei Minuten.

Nimski saß allein in einem Abteil. Jetzt stieg ein Soldat ein, dann Parla. Und dieser sagte zu dem von Urlaub kommenden Infanteristen recht laut: „Gleich wird die Polizei den Zug durchsuchen. Draußen stehen schon zwei Geheime, als Bahnschaffner verkleidet. Na – ich habe ein reines Gewissen! Kommen Sie, wollen uns vor die Tür stellen. Ich zeige Ihnen die Kriminaler.“

Auf dem Nebengleis stand ein D-Zug. Kaum war das Abteil dank Parlas Geschickt wieder leer, als Nimski zur anderen Tür hinausschlüpfte und mit einem Satz hinter der schnell aufgerissenen Tür eines D-Wagens verschwand. –

Die Polizei suchte den ganzen Bahnhof ab. Doch der Alte war nicht mehr zu finden. Parla hatte vorsichtigerweise sehr bald wieder den Bahnsteig verlassen, da er fürchten mußte, daß der Soldat womöglich auf den den Umständen nach naheliegenden Gedanken kam, er habe den Weißbart, der doch eben noch in dem Abteil saß, warnen wollen.

Leider verlor er aber auch Nimski auf diese Weise zunächst aus dem Gesicht. –

Eine halbe Stunde darauf wurde Elly Müller, die allein daheim geblieben war, wieder einmal von Maaßen, Leipziger Straße, an den Fernsprecher gerufen.

Mit zitternder Hand nahm sie den Hörer vom Haken. – Das Gespräch war kurz.

„Ich muß von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen. – Wird es gehen? – Den Karton habe ich preisgeben müssen.“

„Ja. – Um sieben Uhr ist die günstigste Zeit. Die Meinen kommen erst um halb acht heim. Ich habe Kopfweh vorgeschützt.“ –

Das Mohrchen holte sich dann sofort die Bodenschlüssel aus der Küche. Die Mädchen waren gleichfalls ausgegangen. Hastig eilte sie die Hintertreppe empor. Erst zehn Minuten später betrat sie wieder ganz erhitzt die Müllersche Wohnung.

Als die Köchin nachher das Abendrot vorbereitete, merkte sie, daß das erst am Vormittag gekaufte große Brot bis auf einen Kanten verschwunden war. Auch Butter fehlte; ebenso vier Eier und eine halbe Dauerwurst.

Wo diese Eßwaren geblieben, wurde nie aufgeklärt. Wenigstens erfuhr die Köchin nichts von dem wahren Sachverhalt. Sie beargwöhnte das Stubenmädchen, da es einen Schatz hatte, einen Unteroffizier mit einem wahrscheinlich sehr gesegneten Appetit.

 

19. Kapitel.

In den letzten Tagen hatten Lindammers Untergebene es nicht ganz leicht gehabt. Die Sache Nimski war ein im Sande festgefahrener Karren, und Lindammer hatte sich genötigt gesehen, selbst die Schulter gegen das versackte Gefährt zu stemmen, um es wieder flott zu bekommen.

Nachdem er sich von Assessor Bender verabschiedet hatte, der allen Anzapfungen gegenüber hartnäckig stumm geblieben war, fuhr er mit der Straßenbahn nach der Kreuzbergstraße, wo Parla wohnte. Dessen Wirtin war daheim. Der Kommissar zeigte seine Legitimation und hatte mit der ältlichen Frau dann eine längere Unterredung, deren Ergebnis darin bestand, daß die Schwiedowski Lindammer in den sogenannten Salon führte, hier die Tür nach Parlas Zimmer aufschloß und eine Trittleiter holte, von deren oberen Sprossen aus der Kommissar über den Kleiderschrank hinwegsehen konnte, der in Parlas Zimmer diese Verbindungstür verstellte.

Der Filmschauspieler erschien erst nach einer reichlichen Stunde, setzte sich sofort an seinen Schreibtisch und begann sich mit dem dicken Aktenstück zu beschäftigen, daß er mitgebracht hatte. Nachher schloß er es in eine Schublade ein und verließ wieder das Haus. –

Wachtmeister Hertel saß gerade über einem mächtigen Eisbein mit Sauerkohl in einer kleinen Bierstube, als Lindammer eintrat und sich nun gleichfalls neben seinem Untergebenen niederließ. Leise flüsterten sie dann miteinander, und zwar erstattete Hertel zuerst Bericht. –

Ihm war das vergnügte, fast triumphierende Lächeln aufgefallen, als Parla die Straße dahergekommen war, ein flaches Paket im Arm und in der Rechten einen Regenschirm mit silberner Krücke, den er beinahe verliebt immer wieder betrachtete.

„Ich wollte sehen, was der Mensch eigentlich vorhatte,“ fuhr Hertel fort. „Seine Fröhlichkeit erschien mir verdächtig. Nun, denken Sie sich, Herr Kommissar, der Parla hat den Schirm in einem Schirmladen in der Nähe des Hauses abgegeben, in dem sich die Bärensteinsche Filiale befindet.“

Lindammer schaute von seinem Wiener Schnitzel auf.

„Was bedeutet das, Hertel?“

„Keine Ahnung! Jedenfalls steht der Schirm jetzt im Schaufenster des Ladens. – Na, es ist ja nicht schwer, den Geschäftsinhaber zum Reden zu bringen. Ich werde nachher mal hingehen. Im übrigen bin ich dann Parla bis zu dessen Wohnung gefolgt. Da er nach einer halben Stunde noch immer nicht die Straße wieder betrat, gab ich das weitere Warten auf und fuhr hierher.“

Lindammer blickte seinen Wachtmeister sinnend an.

„Der Fall Nimski wird immer seltsamer,“ meinte er kopfschüttelnd. „Der Kreis der Personen wächst, die mit hinein verwickelt scheinen. – Ahnen Sie, was das Paket enthielt, das Parla trug?“

Hertels Nase glänzte vor Eifer und Begeisterung.

„Und ob – und ob! Es war nicht schwer, hier eine Vermutung aufzustellen. Als der Filmschauspieler zum ersten Male das Bureauhaus verließ, hatte er das Paket schon bei sich. Es war in Zeitungspapier eingeschlagen. Die Form entsprach der eines Aktenstücks!“

Lindammer nickte seinem Untergebenen zu.

„Stimmt, Sie sind auf der richtigen Fährte. Aber eine Zwischenfrage. Was tat Parla, als er zum ersten Male von Ihnen nur mit dem Aktenstück, ohne den Schirm gesehen wurde?“

„Er ging ein Ende die Straße entlang, kaufte sich in einem Bäckerladen ein paar Hörnchen, verzehrte sie gemächlich vor dem Schaufenster einer Buchhandlung und verschwand dann wieder in dem Gebäude, um sehr bald mit dem Schirm bewaffnet zurückzukehren.“

„Hm!“ Lindammer schob mechanisch einen Bissen in den Mund.

Dann sagte er: „Das Aktenstück hat die Aufschrift „Jahnke’sche Stiftung“ –“

Eine überraschte Bewegung Hertels ließ ihn verstummen. Lächelnd fuhr er dann fort: „Ja, ja, lieber Hertel, – ich hab’s in den Händen gehabt. Und das kam so. Als der Bureaudiener mich dem Assessor meldete, sah ich durch die Türspalte, daß Parla hastig ein Aktenstück in eine Zeitung einschlug. Nachher machte Bender allerlei Ausflüchte, als ich ihn bat, mir über jenes Aktenstück, das von Burg und Parla bei ihrer nächtlichen Unterhaltung erwähnt worden war, Aufschluß zu geben. Inzwischen war auch der Filmschauspieler nochmals zurückgekehrt und hatte den Schirm geholt, wobei Bender sich recht merkwürdig benahm. Ich hatte den Eindruck, daß Parla dieser Schirm gar nicht gehörte. Das so neben–bei. – Ich suchte später Parlas Wirtin auf, konnte deren unregelmäßigsten Mietzahler beobachten und habe dann nach seinem Weggang mir das Aktenstück hervorgeholt, in dem mir eine fehlende Seite Nr. 36 und ein noch recht stark der Seite 35 anhaftender Spiritusgeruch allerlei verriet.“

„Es kommt immer toller!“ warf Hertel ein.

„Für unsereinen ist eine solche „Spiritusabreibung“ recht vielsagend,“ fuhr Lindammer gutgelaunt fort.

„Natürlich!“ platzte Hertel heraus. „Fingerabdrücke, Herr Kommissar!“

„Sehr gut! Ich habe mir nun auf dem Wege hierher überlegt, wer wohl die Seite 36 herausgeschnitten haben kann und was an ihr Wertvolles daran gewesen sein kann. Ich bin aber jetzt noch genau so klug wie vordem. – Tat es Nimski etwa? – Wenn ja, dann hätten wir einen ziemlich sicheren Beweis dafür gewonnen, daß Parla, Burg und unser jetziges großes Sorgenkind Albert wirklich ein gefährliches Kleeblatt bilden. Doch wie gesagt, ich finde keinerlei Verbindung zwischen Nimski und diesem Aktenstück, weiß ebensowenig, was es gerade mit dieser Seite 36 auf sich hat. – Lassen wir auch alles Erörtern dieser ungeklärten Fragen. Bender muß jetzt einfach mit der Sprache herausrücken, falls wir bis morgen nicht selbst dieses neue Moment genügend durchleuchtet haben. Falls! Ich hoffe nämlich, daß der Schirm uns weiterhelfen wird. Diese Schirmgeschichte ist ja so vielverheißend. Wenn wir unsere Mahlzeit hier beendet haben, können wir zusammen jenen Laden besuchen.“ –

Gegen sechs Uhr nachmittags wollte Lindammer gerade sein Dienstzimmer verlassen, als ein Kriminalbeamter eintrat und Bericht über das abermalige Entkommen Nimskis erstattete.

Lindammers bisher so glänzende Laune, die den Erfolgen der verflossenen Stunden zuzuschreiben war, sank sofort wieder unter den Nullpunkt.

„Wie die Tapergreise habt ihr euch benommen!“ meinte er ärgerlich. „Der Mann muß zu finden gewesen sein! Er konnte sich nur in dem leeren D-Zug versteckt haben!“

„Seinen Pappkarton haben wir ja gefunden,“ meinte der Beamte kleinlaut. „Außer allerlei Lebensmitteln lag darin auch der weiße Bart und die Perücke, die Nimski für seine Verkleidung benutzt hatte, ferner – ferner –“

„Nun?! Heraus mit der Sprache!“

„– ein Zettel, darauf stand mit Bleistifte: „Auf Wiedersehen! Vorläufig hoffentlich nicht!“ – Die reine Verhöhnung der Polizei also!“

„So eine Frechheit!“ rief Lindammer. „Der Kerl ist schlauer als wir alle zusammen – leider! – Es bleibt ein wahres Rätsel, wie er uns entschlüpft sein kann.“ –

Als er wieder allein war, ließ er sich mit Hertels Wohnung verbinden. Die Frau des Wachtmeisters meldete sich sofort.

„Ja, ich weiß, Ihr Mann schläft. Es tut mir auch leid, daß ich ihn abermals stören muß, Frau Hertel. Aber – Dienst ist Dienst! Er soll mich um acht Uhr am Bahnhof Schmargendorf erwarten. Telephonarbeiter. – Sie verstehen! Schluß.“ –

Lindammer legte den Hörer auf die Stützen zurück. Dann sah er die eingegangene Post noch schnell durch, die ein Beamter soeben hereingebracht hatte.

Einer der Briefe hatte für den Kommissar besonderes Interesse. Das Schreiben war eine eingehende Auskunft des Chefs der Maschinenfabrik, bei der Nimski eine leitende Stellung bekleidete.

Lindammer überflog es. Einige Sätze las er nochmals.

„– hochbegabt – angenehme Umgangsformen, bei allen sehr beliebt, – fleißig, zuverlässig, – eine eigentümliche Neigung neben alledem, sich stets als Verteidiger berüchtigter Verbrecher aufzuspielen, – dann noch sehr geschätztes Mitglied des hiesigen Theatervereins „Frohe Stunden“. – Liegt gegen ihn irgendein Verdacht vor? Wenn ja, – wohl nur Fehlgriff, halte ihn selbst durchaus für hochehrenwerten Menschen; bekannt als guter, fürsorglicher Sohn, – halbes Gehalt wird stets an in Berlin wohnende Mutter überwiesen –“

Lindammer legte den Brief auf den Tisch zurück, glättete in Gedanken versunken den Scheitel, schüttelte wiederholt den Kopf und murmelte schließlich in leisem Selbstgespräch: „Die Sache wird immer komplizierter. Der Mann ist geradezu aus Widersprüchen zusammengesetzt –“

Und nach einer Weile: „Ob ich die Zeit bis acht Uhr nicht dazu benutze, Frau von Nimski zu besuchen? – Schaden kann es nichts! Ich muß noch klarer sehen über seinen Charakter.“ –

Irmgard war von ihrer Freundin Astrid Astra abgeholt worden und noch nicht wieder zurückgekehrt, als Lindammer sich durch die treue Pauline bei der alten Dame melden ließ, ohne seinen Namen und amtlichen Titel zu nennen

Dann saß er Frau von Nimski gegenüber, merkte die angstvolle Erwartung, die aus den bleichen Zügen der Kranken sprach, fühlte sich der würdigen Dame gegenüber recht unbehaglich und mußte sich erst wiederholt ins Gedächtnis zurückrufen, daß er nur die Witwe eines armseligen Flickschneiders vor sich hatte.

„Also meines Sohnes wegen kommen Sie?“ meinte die Gelähmte leise. Ihre Hände schoben dabei schwerfällig und doch in nervösem Spiel die über ihren Schoß gebreitete Decke hin und her.

Ein tiefer Seufzer folgte. Dann: „Ich ahne es, Sie sind von der Kriminalpolizei, Herr – Herr –“

„– von Lindammer.“

Der Kopf der Kranken schnellte förmlich hoch.

„Von – von Lindammer, – hörte ich recht?“ flüsterte sie, den Kommissar starr ansehend.

„Ja, Frau von Nimski,“ meinte Lindammer zögernd. Er merkte, sein Name war ihr nicht ganz fremd.

Und – „Lindammer – Lindammer“ kam es wie einen Hauch über der Gelähmten schmale Lippen.

Dann eine Weile nichts.

„Was war Ihr Vater, Herr von Lindammer?“ fragte die Kranke nun ebenso leise wie vorhin.

„Major, dann Direktor der Strafanstalt Bodenbrück.“

Wieder ein tiefes Aufatmen, ein unterdrückter Seufzer.

Frau von Nimskis Kopf war an die Kopflehne des Sessels zurückgesunken. Ihre Augen waren hinaus ins Weite gerichtet, aufwärts zum abendlichen Himmel, der heute voller schwerer Regenwolken hing.

„– Lindammer. Sein Sohn, sein Sohn,“ sprach die Kranke vor sich hin, als schaue sie eine Vision. „Im Vorgarten der Dienstwohnung habe ich mit ihm gespielt. Da war eine Laube aus wildem Wein. Eine Amsel nistete dicht dabei im Gebüsch. Das Märchen von Hans im Glück mußte ich immer wieder erzählen –“

Lindammers Erinnerung erwachte. –

Eine feine, schlanke Frau in Schwarz war zuweilen im Direktorhaus erschienen. Der kleine Bodo wußte, daß ihr Mann dort drüben im großen roten Hause sich befand, zusammen mit einigen hundert anderen, die auch büßten wie er für schlimme Sünden. –

Das Märchen! Ja – und die schwarze Frau hatte so viel geweint, so viel! Und die Mutter hatte sie stets wie ihresgleichen behandelt. –

Da fand die Kranke sich in die Wirklichkeit zurück.

„Was wollen Sie hier?“ fragte sie plötzlich hart und feindselig.

Lindammer merkte, die Brücke zur Vergangenheit war unter der Last der Gegenwart eingestürzt. – Vielleicht war es gut so. Er saß hier als Beamter. Die Pflicht stand hinter ihm.

„Ich möchte einiges über Ihren Sohn wissen,“ fuhr er daher geschäftsmäßig fort.

Ein reges Lächeln spielte um den welken Mund der weißhaarigen Frau.

„Alle belügen mich. Werden Sie es auch tun?“ sagte sie traurig. „Selbst Irmgard sucht mich zu täuschen. Ach, es gibt eine Schonung, die wie ein mit dünner Watte belegter Stachelball ist. Seien Sie aufrichtig, ich flehe Sie an. – Was liegt gegen Albert vor?“

Lindammer wurde es heiß vor peinlicher Verlegenheit. Er zauderte.

Die Kranke drehte den Kopf und heftete den Blick auf das Bild ihres Gatten an der Wand.

„Sein Blut regt sich in ihm,“ flüsterte sie wieder halb abweisend. „Das verfluchte Erbteil! Sünden der Väter, – und alles also umsonst gewesen, alles. Es war nicht auszurotten –“

Lindammer lauschte mit wachsender Spannung.

„– Abenteuerlust, unbefriedigt, Sehnsucht nach den Schönheiten fremder Länder, ein unruhiger Geist, phantastische Pläne, bald dieses, bald jenes, – Gefühl einer Überlegenheit, die alles zu erreichen hoffte. Und das Ende – das Ende?!“

Draußen fiel jetzt die Flurtür laut ins Schloß. Gleich darauf trat Irmgard ein.

Lindammer erhob sich, nannte seinen Namen.

Das junge, stattliche Weib zuckte leicht zusammen. Dann tat es eine hastige, angstvolle Frage:

„Ist – ist Albert verhaftet worden?“

„Nein!“

Irmgard huschte zur Mutter an das Fenster, sank vor dem Sessel in die Knie und murmelte unter Tränen:

„Du – du Ärmste – du Ärmste!“

„Ah – also doch Gefühl, doch Kindesliebe!“ dachte Lindammer, der sich hier sehr überflüssig vorkam. Trotzdem blieb er. Der Mensch mit dem weichen Herzen durfte jetzt nicht hervortreten; er mußte Beamter sein, nichts weiter.

Irmgard hatte die Wirkung ihres mitleidigen Ausrufs nicht richtig eingeschätzt. Die Kranke war durch die tiefste seelisch Gebrochenheit andeutende kniende Haltung ihrer Tochter von noch bangeren Gedanken gepackt worden. Erst saß sie eine Weile wie versteinert da, dann aber suchte sie sich höher aufzurichten, blickte über Irmgards allzu reich garnierten Blumenhut hinweg auf Lindammer, hob plötzlich – hier siegte die Erregung über die verstorbenen Muskeln – beide Arme gegen den, dem sie einst Märchen erzählt hatte, und kreischte in Fisteltönen, die dem Kommissar einen Kälteschauer über den Rücken jagten:

„Sie – Sie haben ihn gemordet, – Sie – Sie Diener einer sogenannten Gerechtigkeit, die stets blind bleiben wird, weil ihre Vertreter sich das Herz gegen jedes wärmere Empfinden panzern, weil sie die Unglücklichen nicht verstehen können, die vom geraden Wege abgewichen sind –“

Da stand Irmgard schnell auf, drückte der Mutter die Hände in den Schoß zurück, schmiegte sich an sie.

„Nein, nein, – Albert lebt, – wirklich, er lebt. Du hast mich mißverstanden –“ Ihre Worte überstürzten sich. „Glaube mir, Mutter, – ich lüge nicht. Albert ist nichts geschehen – So bestätigen Sie es mir doch, Herr von Lindammer, seien Sie hier wenigstens für Sekunden Mensch!“

Lindammers Mund verzog sich zu einem trüben Lächeln; nur für einen Augenblick. Dieses junge Weib teilte die Ansicht der großen, ungerechten Welt da draußen. Kriminalpolizei – das war eine gefühllose Maschine mit eisernen Armen, die plötzlich aus dem Verborgenen sich vorstreckten, zupackten, auch mal vorbei griffen, aber stets festhielten, was sie erst in den Klauen hatten.

„Ihr Sohn lebt und befindet sich auf freiem Fuß,“ erklärte er dann laut.

„Sie verfolgen ihn aber, lauern ihm auf. – Warum – warum?! Seien Sie barmherzig. Sagen Sie es mir!“

Irmgard entgegnete schnell statt seiner: „Du weißt es doch, Mama. Es handelt sich nur um Saccharinschmuggel, auf den zunächst nur Geldstrafe steht. Herr von Lindammer wird gern zugeben, daß dieses Vergehen Albert noch nicht einmal sicher bewiesen ist –“

„Allerdings,“ meinte der Kommissar leise, und beteiligte sich so an dieser frommen Lüge.

Frau von Nimski wurde ruhiger. Ihre Sprache war wieder jenes kraftlose Flüstern, das so seltsam ans Herz griff.

Sie hieß Irmgard die Gaslampe über dem Mitteltisch anzünden, die Vorhänge zuziehen und den Sessel neben das Sofa rollen, wobei Lindammer zuvorkommend half. Dann mußte er sich in die Sofaecke neben die Kranke setzen. Irmgard verschwand auf einen Wink der Mutter.

Da erst begann Frau von Nimski: „Ich möchte Ihnen gern zeigen, daß mein Albert, falls er etwas Strafbares begangen hat, kaum dafür verantwortlich zu machen ist –“

Sie erzählte die Geschichte ihrer Liebe, ihrer Ehe, ihres Unglücks. –

Aus dem stillen Pfarrhause dort in der Nähe der Obststadt Werder hatte der flotte, elegante Herr von Nimski, Leutnant a. D. und Verwalter eines Privatgestüts die frische, blühende achtzehnjährige sich geholt. Wie ein Rausch war die Brautzeit gewesen. Die bescheidene, weltunkundige Erna Mirl schaute zu dem glänzenden Kavalier wie zu einem Ritter aus einem Zauberland auf. Pfarrer Mirl warnte. „Bleib’ mit den Füßen auf der Erde, Kind!“ –

Sie war ja seine Einzige, sein ein und alles. –

Kurz vor der Hochzeit verlor der Bräutigam seine gut bezahlte Stellung. Er hatte auf dem Gestüt kostspielige Neuerungen eingeführt, ohne den Besitzer vorher zu fragen. Das Neue hätte sich nach Jahren rentiert, ohne Zweifel. Aber der Majoratsherr Graf Steinheil war einer von jenen Großgrundbesitzern, die nur als gut und praktisch anerkennen, was sofort Zinsen abwirft. Nun, Nimski fand schnell einen anderen Posten, – als erster Sekretär des Kaiserlichen Automobilklubs. So kam es, daß Erna Mirl als junge Frau sofort in das Weltgetriebe Berlins hineinversetzt wurde. Sie blieb hier fremd und war überglücklich, als die Geburt eines Stammhalters ihr guten Vorwand gab, sich gänzlich von all diesen öden Festlichkeiten zurückzuziehen. Ihr Gatte, zuerst ein feuriger, aufmerksamer Liebhaber, begann nun seine eigenen Wege zu gehen. Es war das alte, trübe Lied: Dorf und Stadt! –

Innerhalb von drei Jahren wechselte Nimski siebenmal seine Stellung. Nichts genügte ihm. Sein Unternehmungsgeist fand nirgends Verständnis. Alles erfaßte er mit Geschick und praktischem Sinn, aber alles auch nur für Monate, bis die Unrast ihn eben neuen Plänen und Hoffnungen nachjagen ließ. –

Irmgard wurde geboren. Und genau vier Wochen nach der Taufe dieses zweiten Kindes trat die Katastrophe ein. –

Die Verhaftung des Direktors der Reklamegesellschaft „Lux“ wegen Beteiligung an einem Millionenschwindel und unter dem Verdacht verschiedener Museumsdiebstähle hielt die Berliner Gesellschaft wochenlang in Atem.

Pfarrer Mirl verlangte, daß seine Einzige sich sofort von dem Verbrecher scheiden lasse. Doch sie weigerte sich, überwarf sich mit den Eltern, zog mit den Kindern hoch oben in die Müllerstraße zu den Ärmsten der Armen, arbeitete von früh bis spät, half sich über das Schlimmste hinweg, sah ihre Schneiderstube, in der ihre Nähmaschinen tagaus, tagein rasselten, bald auch von besserer Kundschaft besucht, fand Trost in der Achtung und Liebe, die ihre die ganze Nachbarschaft entgegenbrachte, und harrte voller Ungewißheit der Stunde, wo ihr Gatte aus dem Zuchthaus wieder würde entlassen werden.

Und er kam – ein gänzlich Gebrochener, fast zum Kinde Gewordener. Eins hatte er doch dort hinter den roten Mauern zugelernt, der, der in allen Sätteln feste: die Flickschneiderei. Und ein anderes gewöhnte er sich in drei Monaten an: das Trinken! –

Alles Geld zerfloß ihm zwischen den Fingern – für Wein und Spirituosen. –

Ehrliche Reue über sein verfehltes Leben und seinen Leichtsinn, mit dem er jetzt den Verdienst seiner Frau durchbrachte, führten häufig zu tränenreichen Szenen. Er war völlig haltlos geworden. Das Verhältnis zu seiner Frau und seinen Kindern wollte und wollte nicht wärmer werden. In allem witterte er Andeutungen auf die fünf Kerkerjahre. Dann – hing er sich eines Tages auf dem Hausboden an einem Balken auf. –

Frau von Nimski schaffte nach seinem Tode weiter mit derselben Emsigkeit, bis eine zunächst ganz harmlose Influenza sie zu dem machte, was sie heute war, zu einer auf fremde Hilfe angewiesenen Halbgelähmten.

„Nun kennen Sie meine Lebensgeschichte, Herr von Lindammer,“ schloß sie die traurige Schilderung dieser Ehe. „Nun werden Sie hoffentlich einsehen, daß Albert – Gott sei’s geklagt! – ein Erbteil von seinem Vater übernommen hat, das wie ein Verhängnis über ihm schwebt. Mein Sohn ist in vielem wie der Tote. Nur beständiger in seinen zarten Regungen. Seine Liebe zu mir, die Fürsorge für seine Schwester werden nie aufhören, nie schwächer werden –“

Erschöpft hielt sie inne. Dann tastete ihre Linke nach Lindammers Arm, ihre Finger krallten sich in dem Stoff seines Ärmels fest.

„Beim Andenken an Ihre Eltern, die mir treue Freunde durch meine Besuche dort – dort – geworden waren, beschwöre ich Sie. Helfen Sie Albert, schützen Sie ihn vor sich selbst! Sie können es – gerade Sie! Sie ähneln Ihrem Vater so sehr.“

Lindammer würgte es in der Kehle. Nie hatte er vermute, daß einmal eine Stunde kommen würde, in der er seinen geliebten Beruf als eine Last empfand. – Er sollte helfen, schützen, – er, der hierher geeilt war, um neues Material zu sammeln gegen den, der in sich so rätselhafte Widersprüche vereinte!

Das bleiche Gesicht der Kranken, eben noch verklärt von einem Hoffnungsschimmer, erstarrte bei dem Ausbleiben einer Antwort.

Lindammer stand schnell auf.

„Ich verspreche Ihnen zu tun, was in meinen Kräften steht!“ sagte er dann, beugte sich über eine kühle Hand und küßte sie.

Dann ging er schnell hinaus. – Im Wohnungsflur harrte Irmgard seiner. Sie hatte gerötete Augen und Tränenspuren auf den Wangen.

„Ich habe gelauscht,“ flüsterte sie. „Machen Sie Ihr Versprechen wahr. Retten Sie Albert!“

„Retten?!“ Er hob trostlos die Schultern. „Retten? Wie kann ich das? Ich bin durch meinen Diensteid gebunden. Soll ich ihn brechen?!“

Irmgards Kopf senkte sich tiefer. Sie nickte schwach. Und ihr Seufzer war wie das Stöhnen einer, die nichts mehr zu hoffen hat.

Dann ganz unerwartet eine Frage:

„Herr von Lindammer, was hat Albert begangenen, – was – was?! Mir müssen Sie’s anvertrauen –“ Sie hatte die Hände gefaltet. Ihr Gesicht war gänzlich verwandelt. Ein rührender Zug von Hilflosigkeit und Seelenpein verwischte jede Erinnerung an die geputzte, gepuderte Irmgard, an die Freundin des übelbeleumundeten Filmstars.

„Sie wissen nichts? Und doch halfen Sie ihm damals, aus der Dresdenerstraße zu entwischen?“ meinte Lindammer zweifelnd.

„Ich weiß nichts!“ Sie schaute ihn voll an dabei. „Oder besser, ich glaube nicht an den Sacharinschmuggel!“

Lindammer sah erst jetzt, wie anziehend das Gesicht dieses jungen Weibes war. Der Puder war es gewesen, der es leblos und kalt wie eine Maske gemacht hatte.

„Seien Sie ehrlich!“ flehte Irmgard abermals.

Da nahm er ihre Hände zwischen die seinen, drückte sie, sagte leise:

„Ich darf nicht! Sobald ich aber sprechen darf, komme ich wieder! – Seien Sie Ihrer Mutter Stütze und, meiden Sie einen Verkehr, der Sie nur hinabzieht. Sie verstehen mich wohl!“

„Ja. – Die Warnung ist nicht mehr nötig. Ich habe heute jedes Band zwischen mir und Astrid Astra zerschnitten, jedes – für immer! Und von morgen ab nehme ich an einem Schreibmaschinenkurs teil – als erstes. Nachher werde ich mich weiter für den Beruf als Buchhalterin ausbilden lassen.“

Als Lindammer dann wieder die Straße betrat und nach der Uhr sah, stellte er fest, daß Hertel ihn bereits seit einer halben Stunde vergeblich am vereinbarten Treffpunkt erwartete.

 

20. Kapitel.

Karlchen Bender erschien gegen halb neun bei mir – durch einen Regenschauer stark angefeuchtet und mit der Miene eines Staatsanwalts, dem die Geschworenen soeben einen angeblich „vollständig überführten“ freigesprochen haben. Seinen neuen Strohhut hatte er vor den fallenden Tropfen unter dem Rock geschützt, und daher glänzte auch sein Haar wie frisch geölt.

Er begrüßte mich – wohl absichtlich – sehr kühl. Ich wußte aber schon, wie man ihn zu nehmen hatte.

„Schlechter Laune?“ fragte ich harmlos und reichte ihm einen meiner Malkittel, damit er seinen nassen Rock über eine Stuhllehne zum Trocknen ausbreiten konnte.

Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, schlüpfte aber doch in den Kittel.

„Sie und Parla hintergehen mich!“ sagte er mit einer erregten Handbewegung. „Ich bin nur hergekommen, um mit Ihnen beiden abzurechnen.“

„Bester Assessor, zunächst, bitte, dort in den Sessel! – Wozu so ungemütlich eigentlich?! Hintergehen? – Mir schleierhaft!“

Er setzte sich stocksteif nieder.

„Nennen Sie es etwa ehrlich Spiel, wenn Sie gestern Nacht noch mit Parla, nachdem Sie mich so halb und halb weggeekelt hatten, Dinge besprechen, die mitanzuhören ich dasselbe Anrecht hatte?!“

Ich wollte antworten, doch abermals ging ein heftiger Regenguß hernieder. Ich saß auf dem Diwan, rauchte gelassen meine Zigarette, schaute nach Bender hinüber, der offenbar ungeduldig auf die Beendigung dieses kleinen Wolkenbruchs wartete, um seine Standpauke fortsetzen zu können.

Die Scheiben des großen Fensters klirrten stets wie unter dem Anprall von Hagelgeschossen, wenn es so stark wie jetzt regnete. Das gab einen beträchtlichen Lärm ab, an den ich längst gewöhnt war, der aber wohl Benders heute recht gereizten Nerven stark zusetzte. Eine Unterhaltung mit den gewöhnlichen Stimmitteln war tatsächlich augenblicklich nicht möglich. Und deshalb rief der Assessor mir jetzt auch mit verzweifelt gen Himmel gereckten Armen zu:

„Wie halten Sie das nur aus?! Ich würde dabei auf die Dauer verrückt werden!“

Eine dritte Stimme antwortete von der soeben geöffneten Tür her:

„Das wäre für den Magistrat sehr schlimm! Wo bekäme er schnell eine ebenso tüchtige Ersatzkraft her!“

Es war Parla, angetan mit einem sehr langen Gummimantel, den er stets trug, wenn er einen „Lakai auf dem Kutschbock“ zu spielen hatte.

Er troff vor Nässe, und sein breitbandiger Filzhut hatte die Krempe traurig gesenkt. Doch darunter lachten uns vergnügte Augen so recht übermütig an.

Sein Regenrock flog über die nächste Stuhllehne, der Hut auf den Sitz. Dann deutete er nach oben.

„Ihm geht schon die Puste aus – hört ihr’s? – Leise, ganz leise – klingt’s durch den Raum – lieblicher Walzer-Regentraum –“ Er sang diese letzten Worte mit verzückter Miene nach der Melodie des bekannten Walzers aus „Ein Walzertraum“.

Dann aber wurde er wieder ernst und begann zu berichten. Das, was Parla uns erzählte, war ja auch in der Tat geeignet, die volle Aufmerksamkeit zu verlangen.

„Ja, Kinder, dieser Nimski, – das ist einer – „einer mit Ärmeln“, wie der Berliner sagt,“ meinte er zum Schluß. „Das reine verschleierte Bild zu Sais[1]. Man weiß nicht, was eigentlich hinter diesem Menschen steckt.“

Bender räusperte sich.

„Lieber Parla, weit wichtiger als Nimski ist mir die Frage, ob du mir das Aktenstück Jahnke zurückgebracht hast. Du wolltest doch –“

„Hatte keine Zeit dazu. Entschuldige schon. Morgen in aller Frühe!“

„Und – und der Schirm?“

Der „Lakai“ streckte die Beine behaglich von sich.

„Müller hat ihn bereits durch seine Gattin zurückerhalten.“

„W-a-a-s –?!“

„Ich hatte Erbarmen mit ihm! Ein so teurer Schirm!“

„Bitte – verulke mich nicht! – Also, weshalb –“

„Erwin, erzähl du’s ihm. Ich bin zu faul!“ fiel er Karlchen ins Wort.

Ich tat’s. –

Dann unterbrach er mich: „Vergiß nicht zu erwähnen, daß ich die Fingerabdrücke, nachdem ich sie sichtbar gemacht, mit Spiritus sorgsam entfernt habe.“

„Unglaublich!“ meinte der Assessor nachher. „Also so hast du August Müller den Schirmen zurückgegeben –!“

Parla hob plötzlich warnend den Finger. Wir saßen ganz still da und lauschten. Obwohl der Regen, der jetzt sacht und gleichmäßig fiel, immer noch einiges Geräusch verursachte, hörten wir doch auf dem Dach einen schweren Schritt.

„Wir wollen feststellen, wer dort herumkraucht,“ flüsterte Parla. „Vielleicht beobachtet der Kerl uns. Wir müssen ihn überraschen. Ich werde tun, als ob ich mich verabschiede. Ihr begleitet mich bis auf den Vorboden. Während wir, Burg und ich, in der Ateliertür stehen bleiben und einen lebhaftes Gespräch zu dreien markierend, schlüpft Bender die Treppenleiter hoch und lüftet die Dachluke soweit, daß ich sofort hindurchschlüpfen kann. Dann könnt ihr folgen. Ich werde den Mann schon abfassen.“

Alles hätte programmmäßig ablaufen können, wenn der Assessor nicht von einem plötzlichen Ehrgeiz gepackt worden wäre. Als Parla nun die Leiter emporhastete, fand er den Deckel der Luke zurückgeschlagen. Halb mit dem Oberkörper über dem Rand der viereckigen Öffnung stehend rief er mir zu: „Bender ist verschwunden – verdammter Übereifer! Man sieht keine drei Schritte weit bei diesem Regennebel. Komm’, ihm nach Erwin!“

Ich kletterte hinterdrein, stand nun auf dem flachen Dach neben Parla, der den Kopf hierhin und dorthin wendend angespannt lauschte.

Da – aus der Richtung des Dachgartens ein gellender Schrei, gleich darauf, scheinbar aus der Tiefe des Hofes emporschallend, ein dumpfer Krach.

Dann wieder die helle Kommandostimme eines Mannes: „Packen Sie ihn, Hertel, – schießen Sie, falls er nicht steht!“

Vor uns nichts als die grauen Schleier des feinen, dichten Landregens. Wir sahen nichts. Nur unsere Ohren enthüllten uns einen Teil dessen, was geschah.

Jetzt eine andere Stimme, ein tiefer, kräftiger Baß: „Ich hab’ ihn!“

„Aber da war noch einer!“ klang’s zurück. „Der Kerl ist mir entwischt –“

Jetzt blitzte links vor uns ein weißer Lichtstrahl auf, – eine elektrische Taschenlaterne.

„Vorwärts!“ meinte Parla. „Ich ahne Furchtbares –“

Wir liefen so schnell es ging, auf den Lichtschein zu. Drei Leute standen da dicht am Innenrande des Daches beieinander: Lindammer, Wachtmeister Hertel und – der geisterbleiche, an allen Gliedern schlotternde August Müller. Der Regen hatte gerade für ein paar Sekunden völlig aufgehört, begann nun aber wieder sacht herabzuträufeln.

„Ah – Sie beide sind’s,“ begrüßte uns Lindammer hastig. „Hier ist soeben ein Verbrechen verübt worden. Ihr Freund Bender ist in den Hof hinabgestoßen worden!“ –

Ich will das, was nun zunächst folgte, nur kurz andeuten. Parla eilte in den Hof hinab. Müller wurde durch den Wachtmeister in mein erleuchtetes Atelier gebracht. Lindammer und ich durchstöberten beim Schein einer Taschenlaterne das ganze Dach, auch das des Nebenhauses. Wir suchten den Mann, der dem Kommissar entschlüpft war. Natürlich vergeblich. Dann stiegen auch wir in meine Wohnung hinab.

Dort saß Müller auf einem Rohrstuhl am Mitteltisch. Er trug eine seidene Reisemütze und eine dunkle Hausjacke, die am linken Ärmel weißliche streifige Flecken hatte. Sein Gesicht war aschfahl, der Mund halb geöffnet, die Stirn mit dicken Schweißperlen bedeckt. Seine Gestalt erschien wie die eines Zwerges, so in sich zusammengesunken war sie.

Das verkörperte schlechte Gewissen, dachte ich.

Hertel wieder stand vor dem dürren Rentier und bewachte ihn, als ob dieser total gebrochener Mann noch gefährlich werden könnte.

Gleich hinter uns trat Parla ein.

Ich hatte ihn noch nie in einer solchen Verfassung gesehen.

„Einen Kognak, Erwin!“ sagte er heiser. „Sonst kippe ich um.“

Er stürzte den Inhalt des Doppelkümmel-Glases hinab.

„Der Anblick ist – ist entsetzlich,“ brachte er mühsam heraus. „Bender ist tot – gerade auf den Schädel gestürzt, von dem nur noch eine unförmige Masse vorhanden ist.“ Er leckte sich die trockenen Lippen, taste sich nach dem Diwan hin, fiel halb darauf nieder.

Lindammer, der einen dünnen, durchsichtigen Ölmantels trug, trat jetzt dicht vor August Müller hin.

„Geben Sie zu, daß Sie den Assessor Bender hinterrücks in den Hof hinabgestoßen haben?“ fragte er langsam.

Der Rentier regte sich nicht. Seine Hände lagen im Schoß, wie zum Gebet gefaltet. Der Mund blieb halb offen. Der Mann glich einem Sterbenden.

„Antworten Sie!“ herrschte der Kommissar ihn an.

Die Lippen bewegten sich.

„Einen – einen Schluck Wasser –!“

Nachdem er getrunken, suchte er sich etwas mehr Haltung zu geben, schaute Lindammer an und sagte: „Ich war’s nicht, so wahr mir Gott helfe!“

„Leugnen hat hier keinen Zweck, Müller. Wirklich nicht. Ich habe ja selbst gesehen, wie Sie fast auf allen Vieren dem jetzt für alle Zeit stumm Gewordenen nachkrochen, beobachtete dann auch den heimtückischen Stoß, der Bender hinabbeförderte. Wie ein Stein flog der Ärmste den steilen Dachabhang hinunter.“

Der Rentier kämpfte mit einer Ohnmacht. Er wäre vom Stuhl gesunken, wenn Hertel ihn nicht gestützt.

Ich reichte auch ihm einen Kognak. Der half besser als das Wasser vorhin. Müller gewann die Herrschaft über seinen Körper zurück.

„Weshalb begingen Sie diesen Meuchelmord?“ fragte Lindammer da wieder.

Müller rang in verzweifelter Angst die Hände.

„Ich war’s ja nicht! Da war noch ein Mann, der – der tat’s!“

„Gut – meinetwegen! Wenn Sie aber beim Leugnen bleiben, wird das nicht zu Ihren Gunsten sprechen. – Hertel, – schleunigst nun das Präsidium anrufen!“ –

Dann bat Lindammer uns, nach unten zu gehen und bei der Leiche Wache zu halten.

„Bedecken Sie sie, wenn’s geht,“ fügte er hinzu.

„Das wird der Hausverwalter schon besorgt haben,“ meinte Parla. „Er ging gerade über den Hof. Bender wäre beinahe auf ihn herauf gefallen.“

„Der arme, arme Bender,“ sagte ich, noch immer ganz verstört. Eine leise Hoffnung lebte noch in mir. Der gab ich jetzt Ausdruck. „Ob Müller tatsächlich der Mörder ist?“ fragte ich Parla zweifelnd.

Der wandte den Kopf nach mir hin, blieb auf dem untersten Treppenabsatz stehen und schaute mit einem Blick, der in eine endlose Ferne zu gehen schien, über mich hinweg.

„Eigentlich spricht alles gegen Müller,“ meinte er leise. „Und – trotzdem, – ich kann mir auch nicht recht denken, daß er hier als der Schuldige in Betracht kommt. Vielleicht – vielleicht läßt sich etwas für ihn tun.“

Ich wurde aufmerksam. Er hatte den letzten Satz so merkwürdig betont. Ich wollte gern eine weitere Frage an ihn richten. Aber er eilte schon die Stufen hinab.

Auf dem regenfeuchten Hof an der linken Seite sah ich bereits ein gutes Dutzend Neugieriger stehen. Zögernd trat ich näher. Da lag dicht an der Grenze des Rasenstücks unter einer schmutzigen Decke ein Etwas, – die sterblichen Überreste Karl Benders.

Parla trieb die müßigen Gaffer jetzt in einer Weise auseinander, als sei er ein Polizeibeamter. Auch die Köchin Anna bemerkte ich. Sie hatte mich ebenfalls erkannt, winkte mir heimlich und deutete auf den Eingang des rechten Seitenflügels. Durch den Vorhang des feinen Regens, schwach beleuchtet durch den Schein einiger Gaslampen aus den gegenüberliegenden Küchen, sah ich jetzt auch Ilse in der Tür stehen, einen bunten Schal lose über Kopf und Schultern geworfen, in den Händen aber etwas Weißes, Schmales, das gegen das dunkle Hauskleid scharf sich abhob. Ich näherte mich ihr.

Ilse flüsterte mir mit einer Stimme zu, die die Angst der Ungewißheit zittern machte:

„Wo ist mein Vater, Herr Burg? Sagen Sie es mir – schnell. Ich muß sofort wieder nach oben, sonst wird Mama argwöhnisch.“

Was sollte ich antworten? –

Da kam mir Parla zu Hilfe. Seine laute, herrische Stimme scheuchte die Müllersche Köchin und zwei anderen Mädchen nach der Tür hin, in der Ilse und ich uns dicht gegenüberstanden.

Ich fühlte etwas in meiner Hand, schloß unwillkürlich die Finger. Ilse hatte mir den bereitgehaltenen Brief zugesteckt, verschwand im dunklen Flur mit einem leisen „Auf Wiedersehen!“

Den Brief schob ich in die Tasche, ging dann wieder zu Parla hinüber, neben dem ich jetzt auch Neumanns breite Gestalt bemerkte.

Der Hausverwalter war erst bei meinem Anblick leicht zusammengefahren, reichte mir dann aber mit einem „Ist das nicht wirklich furchtbar!“ die Rechte.

Parla stand dabei, die Hände in den weiten Taschen seines langen Gummimantels vergraben.

„Es ist der zweite plötzliche Todesfall mit etwas auffälligen Begleitumständen, den ich sozusagen mitmache,“ meinte er, indem er den Blick auf der unter der nassen Decke sich deutlich abzeichnenden Leiche des armen Bender haften ließ. „Der erste war der Mord an der Händlerin Mikula in der Gartenstraße. Ich wohnte damals nur drei Häuser weiter, und ich kam zusammen mit dem Schutzmann in den Grünkramkeller. Erst eine halbe Stunde später erschien die Kriminalpolizei.“

Neumann strich das zweite Hölzchen für seinen Zigarrenstummel an und fragte gespannt:

„Mikula – Mikula? War das nicht die Sache, bei der ein Weißkohlkopf eine so große Rolle spielte?“

Parland nickte. „Ein Weißkohlkopf und ein in den Zeitungen mit Namen nie erwähnter Herr, der sich als Liebhaberdetektiv versucht und die Beamten darauf aufmerksam gemacht hat, daß in einem halb los gelösten Außenblatt des Kohlkopfs der Hacken eines Stiefels ganz scharf sich abzeichnete. – Dieser Herr war ich selbst. Und das Kohlblatt half den Mörder überführen.“

Ich hörte kaum hin. Ilses Brief lenkte meine Gedanken ab. Ich ging mit einem „bin gleich wieder da“ in den Flur des Gartenhauses, schaltete die Nachtbeleuchtung ein und riß den Briefumschlag auf, der keine Aufschrift trug und ganz frisch zugeklebt gewesen war. Ein Bogen war mit Bleistifte flüchtig geschrieben – ohne Anrede, ohne Datum.

Ich habe vom Fenster meines Zimmers aus oben auf dem Dach im Lichtkegel einer Taschenlaterne das Gesicht meines Vaters zu erkennen geglaubt. Ich beschwöre Sie: Wo ist mein Vater? – Geben Sie mir Nachricht, indem sie einen Zettel durch den Briefspalt des Hintereinganges unserer Wohnung stecken. – Lassen Sie mich nicht in Ungewißheit, und wenn auch Schlimmes sich ereignet haben sollte. Anna hat uns soeben von dem Todessturz Ihres Bekannten erzählt. – Ich will versuchen, diesen Brief Ihnen zuzustecken.

Während ich die Zeilen nochmals langsamer überflog, griff eine Hand von hinten nach dem Brief, und Rolf Parla flüsterte mir ins Ohr:

„Gestattete einen Augenblick! – Ach – diese Mitteilung an dich ist recht vielsagend. Merkst du, daß Ilse bereits ahnt, daß es sich hier um keinen Unglücksfall handelt?! Was gedenkst du zu tun?“

Ich zuckte die Achseln. Da sagte Parla:

„Schreibe ihr auf denselben Bogen, daß sie in Begleitung ihrer Schwester zu dir ins Atelier kommen soll, sobald Frau Müller sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hat, und daß sie der Mutter gegenüber angeben soll, Müller helfe der Polizei noch die Dächer absuchen, da man hier einen heimtückischen Überfall vermute.“

Parla ging wieder auf den Hof hinaus, ich schrieb eiligst die wenigen Zeilen und schlich dann im rechten Seitenflügels die Treppe hinauf, schob den Zettel durch den Spalt, fühlte, wie er hineingezogen wurde, und flüchtete wieder nach unten.

 

21. Kapitel.

In meinem Atelier befanden sich jetzt noch außer Parla und mir der Kommissar von Lindammer, Wachtmeister Hertel, der Regierungsrat Waldhof, der Leiter der Kriminalpolizei, und August Müller.

Waldhof hatte angeordnet, daß Müller erst später, wenn es im Hause ruhiger geworden, weggebracht werden sollte. Die Handschellen waren dem Rentier wieder abgenommen worden. Lindammer hatte inzwischen eingesehen, daß Müller tatsächlich ungefährlich war und gar nicht an Flucht dachte.

Bei der Vernehmung war nichts herausgekommen. Müller leugnete nach wie vor. Gewiß – Lindammer hatte zugegeben, daß sich noch ein zweiter Mann auf dem Dach in der kritischen Zeit befunden hatte, war aber mit aller Bestimmtheit dabei geblieben, daß dieser Andere mindestens zehn Schritt nach dem Dach des Vorderhauses zu von jener Stelle entfernt gewesen wäre, an der Bender in den Hof hinabgestoßen wurde.

Nie wieder hat in meinem Atelier eine so beklommene Stille geherrscht wie damals, als wir, da wir kein gleichgültiges Gespräch führen wollten und nur das schnelle Verrinnen der Zeit herbeisehnten, stumm dasaßen, stets das klägliche Bild des Mannes vor Augen, der mehr tot als lebendig auf seinem Stuhl hockte.

Dann klopfte es.

Es war Ilse – Ilse allein, ohne ihre Schwester.

Sie trug denselben Schal, dasselbe einfache Kleid. Als sie ihren Vater erblickte, wurde ihr farbloses Gesicht noch blässer. Müller begann zu weinen.

Regierungsrat Waldhof war schnell aufgestanden. Er bewies, daß er richtig kombinieren konnte.

Unsicher – nur weil diese Szene auch ihm peinlich war und zwecklos erschien – fragte er mit leichter Verbeugung:

„Fräulein Müller, nicht wahr? Sie wünschen?“

Da erhob sich auch Parla.

„Sie gestatten, Herr Regierungsrat. Fräulein Ilse Müller dürfte sich hier nach dem Verbleib ihres Vaters erkundigen wollen.“

Mit großer Gewandtheit und mit warmem Mitgefühl suchte er dann Waldhof klarzumachen, daß eine sofortige Überführung des Verhafteten nach dem Polizeigefängnis der zuckerkranken Frau Müller das Leben kosten könne. Sein Vorschlag ging dahin, daß dem Rentier gestattet würde, noch diese Nacht in seiner Wohnung zu bleiben. Dann sollte Müller morgens seiner Gattin erklären, er würde nach Karlsbad vorrausfahren, um eine recht behagliche Wohnung aussuchen zu können. – Auf diese Weise würde man den frommen Betrug mindestens eine Woche durchführen können, bis man eben eine anderen Notlüge gefunden hätte, die Kranke auch weiter über den wahren Sachverhalt zu täuschen.

Der Regierungsrat gab seine Zustimmung, gleichzeitig aber nahm er die Gelegenheit wahr, Ilse in ein verhörähnliches Gespräch zu verwickeln, das jedoch sehr bald beendet war, da das junge Mädchen kurz erklärte, sie verweigere weiter jede Aussage.

Dies belastete ihren Vater zwar sehr, trotzdem handelte sie klug, denn schon die nächste Frage Waldhofs, ob ihr Vater in letzter Zeit öfters das Hausdach aufgesucht hätte, würde sie zu einer Lüge oder einem Hinweis auf die andere Verfehlung ihres Vaters, eben den Diebstahl der blauen Mauritius gezwungen haben. Deshalb wohl auch die kühle Erklärung: „Ich verweigere ab jetzt jede Aussage.“

Ilse zog sich dann zurück, indem sie dem Regierungsrat für seine Rücksichtnahme dankte und die Frage hieran anknüpfte, ob er etwas dagegen hätte, daß sie vorausginge und die beiden Dienstboten zu Bett schickte, damit diese den Wachtmeister nicht bemerkten.

Zehn Minuten später gingen auch Müller und Hertel, und gleich darauf auch Waldhof, den ich hinabbegleitete, während Lindammer noch blieb. „Ich möchte mit den Herren noch über den Ermordeten sprechen,“ sagte er zu Waldhof, der damit ganz einverstanden war.

Parla war mit dem Kommissar allein. Erst als ich wieder erschien, unternahm Lindammer auf meinen Freund einen scharfen Angriff, den er durch die Bemerkung einleitete, Müller wäre seines Erachtens trotz des harmlos Äußeren ein sehr geriebener Verbrecher.

„Meinen Sie nicht auch, Herr Parla?“ fügte er hinzu.

Der schlaue „Lakai“ erwiderte ausweichend:

„Schon möglich!“

„Na, na, Herr Parla, – tun Sie nur nicht so, als ob Sie nicht über Müller noch andere Dinge wüßten,“ sagte Lindammer darauf vertraulich. „Weshalb suchen sie eigentlich diesem Mann den Rücken zu decken?“

Rolf Parla blickte den Kommissar prüfend an.

„Was wissen Sie eigentlich alles, Herr von Lindammer?“

Dieser änderte nun den Ton. Ich fühlte, daß es sich hier um einen ernsten Wettstreit handelte, ausgefochten mit den Waffen guter Nerven, Geistesgegenwart und Schlauheit.

„Alles,“ erklärte der Gegner scharf. „Genug, um sie sofort verhaften zu können. Übergenug, um Ihr und Ihres Freundes Burg Einverständnis mit einem unserer schlausten Verbrecher beweisen zu können.“

„Ah – damit meinen Sie jetzt Albert von Nimski!“ – Parla blieb völlig gelassen.

„Ja. – Doch zunächst etwas anderes noch, ehe wir diese Sache berühren.“

Nun kam’s, nun erfuhren wir, daß Lindammer tatsächlich alles wußte: von dem Aktenstück, den ausgelöschten Fingerabdrücken und von dem Schirm, der in dem Eckladen abgegeben und von den beiden Damen Müller als Eigentum des Hausherrn reklamiert und mitgenommen worden war.

„Sie haben gute Arbeit geleistet,“ sagte Parla jetzt anerkennend. „Sie haben mich überlistet – besser – geschlagen. Ich erkläre mich für besiegt. Nun möchte ich noch bitten, mir auch anzugeben, welche Schlüsse Sie aus all diesen Beobachtungen gezogen haben, Herr von Lindammer. Bisher haben Sie uns nur eine Reihe von Tatsachen mitgeteilt, die wir gar nicht ableugnen wollen.“

„Sie fragen, welche Schlüsse?“ meinte Lindammer triumphierend. „Nun – einfach genug: Müller hatte eben jene Seite 36 gestohlen!“

„Und zu welchem Zweck?“

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten.

„Hm – darüber bin ich mir noch nicht im klaren.“

„So – so. Dann wissen Sie also doch nicht alles, Herr von Lindammer,“ lächelte Parla. „Zum Beispiel auch das wohl kaum, welchen Wert diese Seite für einen Mann wie mich haben könnte.“

Ich war geradezu starr vor Staunen. Wahrhaftig, er hatte gesagt: „Für einen Mann wie mich!“ Wollte er etwa –? – Da fragte auch Lindam–mer schon:

„Für Sie? Was heißt das?“ –

Parla wird vielleicht in seinem ganzen Leben keine so große Stunde mehr haben wie damals in jener Nacht, als wir drei um meinen Sofatisch herumsaßen und mein bewunderungswürdiger Freund in edler Selbstlosigkeit sich eines Vergehens bezichtigte, nur um einen Anderen, einen Mörder, nicht auch als Dieb überführt zu sehen.

Ja – es war seine große Stunde! Und heute nach vier Jahren, nachdem meinen Schwiegervater längst die Erde deckt und meine Frau mir erlaubt hat, all diese Ereignisse, die wie ein bunter Kranz die blaue Mauritius umgeben, in dieser Form zu veröffentlichen, schildere ich gerade diese Szene mit einer dankbaren Begeisterung.

Auf Lindammers Frage tat Parla folgendes: Er stand auf, öffnete die Weste, griff in die Innentasche und – reichte dem Kommissar mit einem: „Bitte!“ die Seite 36.

Lindammers Augen wurden weit.

„Also deswegen – und Sie selbst!“ rief er. „Nun begreife ich endlich, – das heißt, die Geschichte mit dem Schirm bleibt noch immer dunkel.“

„Wird auch noch hell werden!“ sagte Parla ernst und setzte sich wieder.

„Eine Mauritius – eine blaue Mauritius!“ stieß Lindammer jetzt erregt hervor, das Papier ganz verzückt anstarrend. „Ich bin ja selbst Sammler – in ganz bescheidenem Maße, daher mein Verständnis für diese Rarität, diese Königin unter den Briefmarken!“

„Ja – und diese Königin hat mich beinahe zum Dieb werden lassen, – beinahe,“ fügte Parla hinzu. Und er tat dies mit so ehrlich zerknirschtem Gesicht, daß jeder sich hätte täuschen lassen.

„Ich will Ihnen nun alles mitteilen, was meine Verfehlung anbetrifft. – Bender und ich waren gute Freunde. Ich besuchte ihn oft in seinem Dienstzimmer. Von Briefmarken hatte er keine Ahnung, der liebe, gute Karl. Eines Tages blätterte ich aus Langeweile in jenem Aktenstück. So stieß ich auf die Blaue. Eines anderen Tages dann schnitt ich im günstigen Augenblick die Seite 36 aus. Und wieder zwei Tage später hatte Bender diesen Diebstahl bemerkt, hatte als Jurist, wohlvertraut auch mit der Kriminalpraxis, sofort an Fingerabdrücke gedacht und – mich, seinen besten Freund, so entlarvt. Es kam zu einer überaus heftigen Aussprache zwischen uns. Das war gestern. Bender sagte mir zum Schluß, er wolle sich bis heute überlegen, ob er als Beamter nicht verpflichtet sei, die Sache anzuzeigen. Sein gutes Herz siegte. Er gab mir heute das Aktenstück mit. Ich sollte die Seite 36 eigenhändig wieder einkleben und die Fingerabdrücke auf Seite 35 sorgfältig entfernen. – Leider hatte ich keinen Klebstoff bei mir zu Hause vorrätig und mußte so die Seite noch weiter bei mir tragen. Doch sagte ich Bender heute hier in Gegenwart Burgs fest zu – Burg wird dies bestätigen! – daß der Assessor morgen in aller Frühe das Aktenstück zurückerhalten würde.“

Lindammer nickte. „Das alles klingt durchaus glaubwürdig.“ Sein Interesse an dieser Sache schien erloschen. Er reichte die Seite 36 Parla wieder über den Tisch zu und meinte: „Kleben Sie das Blatt ein und suchen Sie das Aktenstück an seinen Platz zurückzubringen. Aus dieser moralischen Entgleisung will ich Ihnen keinen Strick drehen.“

Er betonte das „dieser“ recht merklich, fuhr dann fort: „Nun zu dem Schirm.“

„Der hat mit der Mauritius natürlich nicht das Geringste zu tun,“ erklärte Parla, die Miene des armen Sünders beibehaltend. „Der Rentier Müller hatte Bender um eine Auskunft gebeten und beim Verlassen des Dienstzimmers seinen Schirm stehen gelassen. Der Assessor kannte nun von Müller nur den Namen, sonst nichts, war also nicht in der Lage, den Rentier zu benachrichtigen, daß er den Schirm vorläufig in Verwahrung genommen hätte. Dann sah Bender den Besitzer des kostbaren Regendaches gestern abend ganz zufällig an einem der Fenster des Vorderhauses. Er wollte nun natürlich Müller sofort eine Mitteilung zugehen lassen, wo der Schirm sich befände. Inzwischen hatten wir beide aber, Burg und ich nämlich, bereits durch Fräulein Ilse Müller, mit der mein Freund auf vertraulich kameradschaftlichem Fuße steht, erfahren, daß der Rentier seinen Schirm irgendwo, seiner Meinung nach wahrscheinlich in der Straßenbahn, vergessen hätte, und hierauf einen Plan entworfen, wie wir Müller eine spaßhafte, freudige Überraschung bereiten könnten, durch die Erwin Burg Gelegenheit gegeben wäre, mit der Familie seiner Dacht-Bekanntschaft näher im Verkehr zu kommen.“

Lindammer winkte plötzlich lebhaft ab.

„Das genügt mir! – Ich verstehe! – Nun aber eine weit ernster liegende Angelegenheit, bei der sie leider keine einwandfreie Rolle gespielt haben. Waren Sie heute auf dem Lehrter Bahnhof – heute nachmittag?“

„Ja. – Übrigens wollen wir uns nicht lange um den Kernpunkt herumdrücken, Herr von Lindammer. Ich weiß, die Polizei wirft mir vor, Nimski zur Flucht – besser zum abermaligen Entkommen verholfen zu haben. Ich leugne das gar nicht. Nur muß ich betonen, daß ich meine ganz bestimmten Gründe hatte, als ich so handelte.“

Parla sagte das alles jetzt in leichtem Plauderton, so, als fürchtete er nicht die geringsten Weiterungen dieses seines Verhaltens wegen.

Lindammer setzte eine strenge Miene auf.

„Sie scheinen sich über die Tragweite dieser Begünstigung eines Verdächtigen nicht recht im klaren zu sein. Sollten die Gründe hierfür nicht stichhaltig sein, so würde ich mich gezwungen sehen, meine bisherige Taktik Ihnen und auch Ihrem Freunde gegenüber zu ändern. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß der Eindruck, Sie beide stecken mit Nimski unter einer Decke, sich bei mir nur noch verstärkt hat.“

Der „Lakai“ nickte zustimmend. „Ich kann Ihnen dies auch kaum verargen, Herr von Lindammer. Wir erscheinen tatsächlich als schlimme Verächter der Gesetze infolge einer Reihe von Ereignissen, die nur zu leicht zu unseren Ungunsten gedeutet werden können. Was aber meine Gründe für diese Begünstigung eines Menschen angeht, den ich auch heute noch kaum persönlich kenne, so darf man bei deren Beurteilung nicht lediglich Beamter sein, das heißt, man muß das Herz mit urteilen lassen. Dann nur wird man mir gerecht werden. – Nimski kann kein gewöhnlicher Verbrecher sein,“ – er betonte dieses Wort „Verbrecher“ jetzt stark –, „mag er sich auch noch so schwer gegen das in Paragraphen gezwängte Strafgesetz vergangen haben. Ich habe mir über seinen Charakter Aufschluß zu verschaffen gesucht, und daher –“

Lindammer unterbrach ihn hier. Sein Gesicht hatte den Ausdruck gewechselt. Etwas Sinnendes, Weiches lag jetzt darin.

„Sie brauchen dies nicht weiter auszuspinnen, Herr Parla,“ sagte er. „Ich glaube, ich weiß über Nimski besser Bescheid als Sie.“

„Wenn es tatsächlich so ist,“ fuhr mein Freund warmen Tones fort, „so werden sie begreifen, daß man hier vielleicht einen halb Gestrauchelten noch retten kann, der durch eine Bestrafung sicherlich der menschlichen Gesellschaft als nützliches Mitglied ganz verloren ginge.“

Lindammer zögerte mit der Antwort. Er sprach das Folgende dann ganz leise, als scheue er sich, diese seine Ansicht offen zu vertreten.

„Ich ahnte, daß dies Ihre Gründe seien, Herr Perla. Wenn ich Ihnen nur glauben könnte, was Sie eben behaupteten, wenn Sie nur wirklich aus reiner Nächstenliebe Nimskis Entweichen begünstigt hätten und nicht sein Spießgeselle wären!“

Rolf Parla lächelte fein, stand auf, reckte den schlanken Körper höher und entgegnete:

„Lassen Sie mir bis morgen abend Zeit, Herr von Lindammer. Dann sollen Sie die Beweise dafür erhalten, daß Nimski und wir beide nichts weiter miteinander gemein haben als zum Beispiel – Sie und er – nichts weiter!“

Der Kommissar blickte zweifelnd zu ihm auf.

„Ich verstehe Sie nicht ganz –“

„Oh – Sie werden mich dann schon verstehen. – Erinnern Sie sich noch an den Fall Mikula? – Nun, dann will ich Ihnen heute nur sagen, daß ich jener Liebhaberdetektiv war, der es der Polizei leicht machte, die Hand nach dem Schuldigen auszustrecken. Ich bin in solchen Dingen also nicht ganz unbewandert.“

„Ihre Erfolge in der Sache Mikula kenne ich, Herr Parla,“ erklärte Lindammer nachdenklich und schaute meinen Freund abermals fragend in das magere, scharfkantige Gesicht. „Ich begreife nur nicht, was diese Ihre gelegentliche Tätigkeit als –“

„Liegt hier nicht ein Mord vor?!“ fiel ihm Rolf Parla mit Nachdruck ins Wort. „Haben Sie nicht das größte Interesse daran, dieses Verbrechen bald aufgeklärt zu sehen?! – Dies mag für heute genügen.“

„Ah – Sie machen mich neugierig,“ sagte der Kommissar eifrig und beugte sich vor. „Müller ist doch fraglos –“

„So – fraglos?! – Na, das bleibt abzuwarten. Nennen Sie mir doch bitte ein Motiv für diese Tat?! Weshalb sollte dieser alte Herr zum Meuchelmörder geworden sein –?! – Nun –?!“

„Aber – aber man schnappt doch nicht bei Regen auf dem Dach zu so später Stunde frische Luft?! – Was wollte er denn –“

„Oh – es gibt halt Sonderlinge!“ meinte Parla, indem er eine frische Zigarette nahm. „Doch – ich denke, wir nehmen jetzt besser von einer weiteren Erörterung dieser Sache Abstand. Ich hege Zweifel, daß Müller der Täter ist, und diese Zweifel hoffe ich binnen zwölf Stunden klären zu können.“

 

22. Kapitel.

Ich brachte den Kommissar hinunter. Als ich mein Heim wieder betrat, saß der „Lakai“ in einer Sofaecke.

Ich setzte mich neben ihn, schob meinen Arm in den seinen.

„Mußtest du dich wirklich selbst so schwer belasten, mußtest du dich zum Dieb stempeln, – hätte es nicht genügt, wenn du Müller auf andere Art herausgeschwindelt hättest?!“ sagte ich mit ehrlicher Bewegtheit.

Er schaute mich von der Seite an, zuckte die Achseln.

„Werde nun nicht rührselig, mein Junge! Ich hasse das. Wenn ich nicht alle Schuld auf mich genommen hätte, würde mir Lindammer diese Geschichte nie geglaubt haben.“

„Na, na, – es wäre genug gewesen, ihm vorzureden, du hättest aus Reue über den Diebstahl des Aktenblattes dich Bender anvertraut und die Sache aus dir selbst heraus wieder einrenken wolle.“

„Nein – das hätte nicht genügt. Hier mußte recht dick aufgetragen werden, um die Wahrheit zu verdecken. Im übrigen – Geschehenes läßt sich ja auch nicht mehr ändern. Nur keine zwecklosen Wenn und Aber.“

Er blickte nach oben, wo die noch von außen feuchten Scheiben weißlich glänzten.

„Es klärt auf,“ meinte ich. „Ich glaube, der Mond wird bald hinter den jagenden Wolken hervortreten.“

„Dann hat’s Eile mit uns. Komm’!“ Er zündete eine Laterne an.

„Wohin?“

„Wohin? – Ich will dir nur mal zeigen, was ein Weib alles auf sich nimmt, wenn Liebe mitspricht. Aus einem Kinde ist ein opferfreudiger reifer Mensch geworden. Im Vergleich zu dem, was dieses junge Weib getan, ist mein für Lindammer gesponnenes Lügennetz ein Nichts.“

„Was heißt das alles? Geht das auch –!

„Komm’ – du wirst sehen und hören. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Hoffentlich schläft im Hause alles fest. Die eisenbeschlagenen Türen knarren so laut. Und er könnte infolge des Geräusches an Flucht denken.“

Er zog ein paar größere und kleinere Schlüssel aus der Tasche, die mit einem starken Bindfaden zusammengebunden waren, dann schob er die Laterne unter die Jacke und trat auf den Vorboten hinaus. Ich schloß meine Tür ab und folgte Parla nun leise die Treppen hinab, über den Hof und im rechten Seitenflügel die Treppe wieder hinan, bis wir hier vor der Bodentür standen, deren Schloß jetzt von der Laterne einen Moment beleuchtet wurde.

Im Dunkeln flüsterte Parla, bevor er den Drücker niederpreßte und öffnete: „Ah – unverschlossen! – Neumann sagte, daß der Oberstabsarzt aus dem dritten Stock vorn verreist und auch die Köchin nach Hause beurlaubt sei. Ich holte das so auf Umwegen aus ihm heraus. Wir werden ja gleich sehen, ob meine Vermutung zutrifft.“

Dann standen wir in dem langen Gang zwischen den Lattenverschlägen der einzelnen Bodenkammern. Vier gab es davon auf jeder Seite. –

Parla hob die Laterne, schlich auf Fußspitzen weiter. Die Namen der Besitzer der einzelnen Bodenkammern waren mit blauer Kreide auf die Türen geschrieben.

Vor dem dritten Verschlag rechts machte er halt. „Müller“ war da undeutlich zu lesen.

Plötzlich glaubte ich ganz in der Nähe ein Geräusch zu hören. Ich packte Parlas Arm. Doch der lächelte nur, nickte mir zu und sagte dann ganz laut:

„Keine Sorge – gut Freund!“

Dann schien er angespannt zu lauschen.

„Wo stecken Sie? Melden Sie sich bitte! – Hier der Warner vom Lehrter Bahnhof!“ fügte er nun hinzu, als alles still blieb.

Mir ging endlich ein Licht auf – endlich! – Da kam auch schon die Antwort:

„Hier, – öffnen Sie nur die Müllersche Bodentür. Dann zeige ich Ihnen schon den Durchschlupf.“

Das Vorhängeschloß wurde leise abgehakt. Wir traten ein. Jetzt sah ich zwischen den breiten Ritzen im Nebenboden ein Gesicht: Nimski! Und jetzt wurde das breiteste der Bretter, zu dem man nur durch Wegrücken von zwei übereinandergestellten Reisekoffern gelangen konnte, wie ein oben befestigtes Pendel zur Seite geschoben.

Parla drängte sich durch die schmale Öffnung hindurch, vorbei an einen hier stehenden Kleiderschrank und allerhand aufgetürmten Gerümpel, zwischen dem man nur eben hindurchkam, um bis zu einem jener billigen eisernen Bettgestelle gelangen zu können, das bis dicht unter das schräge Dach gerückt war und auf dem jetzt – Albert von Nimski saß und uns mit seinen durchdringenden Augen entgegenblickte.

Weiter sah ich noch unter dem Kopfende des Bettes eine kleine, offene Kiste, in der allerlei sauber auf weißem Papier ausgebreitete Lebensmittel lagen, daneben zwei Flaschen Rotwein und ein Glas.

Auch Parla hatte all dies mit schnellem Blick überflogen und begann nun mit gedämpfter Stimme:

„Sie können Ihrer Freundin sehr dankbar sein, Herr von Nimski, daß sie Sie hier untergebracht hat. Ist Fräulein Elly allein auf den Gedanken gekommen, Sie vorläufig hier zu verbergen?“

Nimski antwortete nicht sofort. Erst nach einer Weile sagte er in demselben vorsichtigen Flüsterton:

„Bevor ich mich mit Ihnen auf derartige Erörterungen einlasse, möchte ich wissen, weshalb Sie sich eigentlich meiner in dieser Weise auf dem Lehrter Bahnhof angenommen haben und woher Sie –“

„Sollen Sie alles erfahren,“ meinte Parla, ihm ins Wort fallend. „Wir können diese Fragen aber in einer etwas behaglicheren Umgebung erledigen, nämlich in der Wohnung meines Freundes, wo Sie ebenso sicher wie hier sein werden. Nein – noch sicherer, glauben Sie mir!“

Nimski überlegte. „Ich vertraue Ihnen,“ meinte er einfach. „Nur – kann ich bei Herrn Burg auch für längere Zeit bleiben?“

„Gewiß. – Gehen wir also.“

Die Einleitung zu der nun folgenden Aussprache und zu der Generalbeichte des Mannes, der jetzt mein Gast geworden, will ich fortlassen. Parla erklärte ihm ganz offen, daß Ilse diejenige gewesen wäre, die den Anstoß dazu gegeben hätte, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen, und daß hierbei Dinge sich ergeben hätten, die darauf hindeuteten, wie wenig der Mann, den Elly Müller liebte, zu den gewöhnlichen Verbrechern gerechnet werden dürfte.

Als Ellys Name genannt wurde, leuchtete es in Nimskis Gesicht auf. Und ganz leise sagte er nun:

„Ich hätte nie geglaubt, daß ich je ein Weib – und hier noch ein halbes Kind! – finden würde, daß in seiner schrankenlosen Hingabe mir wieder den Glauben an die Menschheit zurückgeben könnte. – Noch eine Frage, bevor ich Ihnen rückhaltlos die Geschichte meines Lebens berichte. – Woher wußten Sie, daß Sie mich dort auf dem Boden des Oberstabsarztes finden würden, Herr Parla?“

„Sehr einfach. – Ich hatte auf dem Lehrter Bahnhof Ihre Spur verloren und sagte mir nun, daß Sie es wahrscheinlich aufgeben würden, bei der Ihnen nunmehr bekannt gewordenen scharfen Überwachung der Bahnhöfe Berlin sofort zu verlassen. Weiter sagte ich mir, daß Sie vielleicht mit Elly Müller für den Fall eines Mißlingens der Flucht nach Hamburg ein Zusammentreffen verabredet haben würden, und aus diesem Grunde bewachte ich abermals dieses Haus, fand auch bald meine Vermutung bestätigt, da ich Sie, jetzt wieder in der Maske eines Herrn mit großer Brille, in dem Hause verschwinden sah. Sie erschienen nicht wieder. Dafür gab es nur eine Erklärung! Ihre Freundin –“

„Verzeihung – seit heute meine Braut,“ verbesserte Nimski mit glücklichem Lächeln.

„Ah – meinen herzlichen Glückwunsch! Also – nur eine Erklärung! Ihre Braut mußte Sie im Hause selbst irgendwo verborgen haben. Wo – das war dann nicht schwer zu erraten.“

Nimski lehnte sich jetzt in dem Korbsessel weit zurück, so daß sein Gesicht mehr im Schatten lag. Ich glaubte, er tat es absichtlich. Er sah voraus, daß dieses abermalige Vergegenwärtigen einer von Demütigungen, Beschimpfungen, Haß und Rachegelüsten vergifteten Vergangenheit öfters die verschiedenartigsten Gemütsbewegungen bei ihm auslösen würde, wie er uns nicht durch den veränderten Gesichtsausdruck verraten wollte.

Dieses abermalige Vergegenwärtigen! Denn, wie er einleitend bemerkte, hatte er heute bereits genau dasselbe ohne jede Beschönigung Elly Müller anvertraut, als sie ihn in seinem Versteck aufsuchte, während ihre Schwester hier bei mir in Gegenwart der Beamten die stumme Zuhörerin spielte.

Nimski schilderte nun zuerst die Ehe seiner Eltern, zeichnete mit knappen Zügen den Charakter seines Vaters, sprach sehr eingehend von dessen krankhafter Neigung, die eigene Persönlichkeit weit zu überschätzen und den hieraus entstehenden traurigen Folgeerscheinungen, – alles Dinge, die der Leser bereits kennt und zwar durch die Unterredung zwischen der kranken alten Dame und Lindammer.

Dann begann Nimski von sich selbst zu sprechen.

„Durch mein ganzes Leben zog sich wie ein schwarzer Faden die Bestrafung meines Vaters hindurch. Schon als Knabe von neun Jahren lernte ich diese brutale Grausamkeit kennen, die den meisten Kindern eigen ist, da ihnen noch die Fähigkeit für ein gerechtes Abwägen von Ereignissen fehlt, die sie nur zu gern als Tatsachen mit dem Sensationshunger ihres unausgereiften Geistes hinnehmen. Plötzlich war ich für alle nur der Sohn des Zuchthäuslers, wurde gemieden, stand ganz allein da, lernte nie das Gefühl kennen, einen Schulfreund zu besitzen.

Ich bezog die Hochschule. Ich fand ein paar Studiengenossen, die fast ein Jahr lang mich hoffen ließen, daß Menschen in diesem Alter mitleidiger und gerechter sind. Ich war Mitglied eines wissenschaftlichen Vereins geworden, war dort beliebt trotz meines zurückhaltenden Wesens, das manche als Stolz deuteten. Und es handelte sich doch nur um scheue Vorsicht, um jene stete Angst, wann wird auch hier laut werden, daß dein Vater im Zuchthaus gesessen?! –

Gerade als ich begonnen hatte, ein wenig freier zu atmen, als ich bisweilen schon harmlos lachen konnte, da folgte der Rückschlag. Ein früherer Mitschüler von mir tauchte auf, und dieser reiche Jüngling wurde mein Verderber. Ich merke sofort, wie der Ton, in dem man mit mir verkehrte, ein anderer, erzwungen-liebenswürdig oder auch gönnerhaft, wurde, merkte, wie um mich herum dieselbe Leere entstand, unter der ich bereits auf der Schule gelitten. –

Ich brauche all dies wohl kaum weiter auszuspinnen. Ich wechselte die Hochschule. Durch Stundengeben half ich mir weiter, denn der Zuschuß von Seiten meiner Mutter war karg genug. Ich mied jeden Verkehr, wies jede Annäherung zurück. Meine Begabung verschaffte mir durch wissenschaftliche Preisarbeiten Reisestipendien und bald auch sonst noch gut bezahlten Nebenverdienst. Das Examen als Diplomingenieur bestand ich mit Auszeichnung, und sofort fand ich dann eine Anstellung bei meiner jetzigen Firma, deren Chef zu den wenigen Menschen gehört, die es trotz Kenntnis meiner verfemten Herkunft stets gut mit mir meinten.

Dann mußte ich meiner Dienstpflicht genügen, wurde befördert, erledigte die zwei vorgeschriebenen Übungen, stellte mich als begeisterter Soldat zur Wahl zum Reserveoffizier, wurde gewählt, als man mir plötzlich nahelegte, mein Gesuch um Beförderung zurückzuziehen. Ich ahnte, weshalb. –

Ich tat’s! An demselben Tage, als ich dem Bezirkskommandeur dieses Schreiben vorgelegt hatte, war ich genau an demselben Punkt angelangt wie schon wiederholt in meinem bisherigen traurigen Dasein. Ich fühlte mich hinabgestoßen zu denen, die das Gesetz verachtet, fühlte etwas wie Hinneigung zu Diebesgesindel und Betrügern. Sie standen mir näher als die, die nicht gerecht genug waren einzusehen, daß ich nicht selbst ein Sträfling, sondern nur das schuldlose Kind eines solchen war.

Damals begann ich, erst nur ohne bestimmte Absicht, das zu tun, was man in Verbrecherkreisen „eine Gelegenheit ausbaldowern“ nennt. Schon hierbei empfand ich eine seltsame Befriedigung, bis – bis auch der Tag kam, wo ich nach einer Abendgesellschaft bei meinem Chef, erfüllt von bis ins Unermeßliche gesteigertem Haß in Folge neuer Demütigungen durch ein paar anwesende Damen, in einem Zustände halber Unzurechnungsfähigkeit den Laden des Juweliers Grieb ausplünderte. –

So fing mein Doppelleben an – als Ingenieur und – Gentlemandieb. –

So trieb ich es jahrelang. Dann – es war etwa vor drei Wochen – merkte ich, daß die Berliner Kriminalpolizei auf mich aufmerksam geworden war. Vielleicht habe ich mir das selbst zuzuschreiben. Ich war übermütig geworden. Ich glaubte alles wagen zu können. Hier in Berlin sollte dann nach dem Einbruch bei Christoph in der Tauentzienstraße das Netz über mir offenbar zugezogen werden.

Ich entkam. Wie, das wissen Sie beide am besten! Aber ich wollte durch diesen kecken Streich nicht gleichzeitig der Polizei einen Beweis für mein schlechtes Gewissen geben, hoffte vielmehr, das Unheil durch List noch abwenden zu können. Deshalb verstand ich es, die Herren des Stammtisches zu jener Wette zu reizen, die mir in jedem Fall die Ausrede ermöglichte, ich hätte lediglich die Wette gewinnen wollen, wäre im übrigen ganz unschuldig und müßte verlangen, mir das nachzuweisen, was man mir vorwarf – eben die Einbrüche. So gedachte ich der Polizei gegenüber aufzutreten.

Hier muß ich nun notwendig auf das Verhältnis zwischen Elly Müller und mir zu sprechen kommen. Einen Einbruch in die Bärensteinsche Filiale hatte ich schon früher ins Auge gefaßt und meiner jetzigen Braut Bekanntschaft suchte ich nur, um mir über die Verhältnisse in jenem Hause Aufschluß verschaffen zu können. Das Schicksal ging seine eigenen Wege – ich verliebte mich, fand Gegenliebe. –

Trotzdem wurde der Plan ausgeführt und in jener Nacht die Filiale geplündert. Es war dies sozusagen mein letzter Versuch, mich zu retten, die Polizei stutzig zu machen und Zeit zu gewinnen, durch ein geordnetes, harmloses Leben den Verdacht wieder abschwächen zu können.

Ich habe dann, nachdem ich eine mir sehr am Herzen liegende Aussprache mit meiner Schwester unter Benutzung meiner mir nicht zustehenden Uniform gehabt hatte, von Seiten Ellys die erste Warnung erhalten, daß bei Bärenstein nach der „Nimski–Methode gearbeitet“ sein sollte. Ich stellte bei dieser Unterredung fest, wie eine Agentin Elly nachschlich; ich erkannte die vermehrten Anstrengungen der Polizei, wollte mich für immer von diesem jungen Wesen trennen; ich war ja einer reinen Liebe nicht wert. –

Wieder mischte das Schicksal die Karten anders. Ich erhielt den Beweis, daß Elly auch den Einbrechern Nimski liebte, daß sie mich eben liebte wie ich war –: ein Mensch mit einem Charakter scheinbar unlösbarer Widersprüche. –

Alles weitere haben Sie bereits erfahren. –

Das ist meine Beichte. In vielem hätte ich ausführlicher sein, manches, was zu meiner Entschuldigung mit beiträgt, stärker unterstreichen können. Ich tat es absichtlich nicht. Ich bin durch die Gefühlsrohheit und verkehrte Moralbegriffe der Gesellschaft auf diese dunkle Bahn gedrängt worden. Das Verhängnis, die strafende Gerechtigkeit umlauert mich jetzt.“

 

23. Kapitel.

Nimski schwieg. Sein Blick streifte brütend unsere Gesichter.

Da beugte sich Parla vor und reichte ihm die Hand.

„Man hat sie wirklich mit Fußtritten hinabgestoßen vom geraden Wege,“ meinte er herzlich.

Auch ich konnte nur in derselben Weise meinem Gaste versichern, daß ich seine Verfehlungen nachsichtig beurteilte. Stand es doch bei mir fest, daß Nimski die Beute seiner zahlreichen Einbrüche nie zu Geld gemacht und dieses für sich verwandt hätte.

Parla zeigte jetzt, daß ihn derselbe Gedanke beschäftigte.

„Gäbe es nicht eine Möglichkeit, die dunklen Ereignisse dieser letzten Jahre aus der Welt zu schaffen, indem Sie den Geschädigten alles wieder zustellten, was Sie erbeutet haben?“ fragte er.

Nimski erwiderte schnell: „Ah – so sind Sie also überzeugt, daß ich keinerlei Vorteil von diesem Doppelleben hatte?“

„Fest überzeugt! Sie werden all die Schmucksachen fraglos an sicherer Stelle verborgen haben.“

„So ist’s. Ich bin in Magdeburg bei der Deutschen Bank Inhaber eines Schrankfaches, natürlich unter falschem Namen. Dort liegen sämtliche Sachen, in Päckchen geordnet, wie ich sie bei den einzelnen Einbrüchen raubte.“

„Wie wär’s, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingingen?“ sagte Parla. „Ich will für Sie den einzelnen Geschädigten das gestohlenen Gut wieder zustellen, falls Sie an Ihr Schrankfach gefahrlos herankommen und die Päckchen holen können.“

Nimski war aufgesprungen. „Wirklich – Sie wollten –“

„Ich will! – Und wenn Sie die Mittel besäßen, die Geschädigten noch durch eine gewisse Summe für ihre Aufregung und die zerstörten Schlösser, Glasscheiben und so weiter schadlos zu halten, hoffe ich durch meine Überredungskunst jeden einzelnen dazu zu bewegen, der Polizei schriftlich mitzuteilen, daß er an der Weiterverfolgung der Sache keinerlei Interesse mehr hätte, vielmehr bäte, das Verfahren einzustellen. – Ich bezweifle nicht, daß die betreffenden Geschäftsinhaber froh sein werden, ihre Juwelen zurückzuerhalten und daß sie auch Herz genug besitzen werden, Ihnen weitere Ungelegenheiten zu ersparen.“

Nimski saß jetzt mit einem Gesicht da, als schaue er nun erst in eine wirklich lichte Zukunft.

„Oh, ich habe wohl Barmittel,“ meinte er. „Nur dürften die kaum genügen, um als Entschädigung in der Art zu dienen, wie Sie dies planen, Herr Parla. – Ich könnte –“

Er zögerte.

„Nun?“ munterte ihn mein Freund auf. „Nur jetzt ganz offen sein, bitte!“

„Das bin ich. Es handelt sich aber um eine Geldquelle, die so – so eigenartig ist, daß ich – gut, Sie sollen auch dies wissen.“

Der Leser ahnt vielleicht schon, was wir nun zu hören bekamen. Ich habe ja nicht ohne Absicht den indischen Schreibtisch hier wiederholt erwähnt.

Kurz, Elly Müller hatte damals, als Ilse sie nachmittags in ihrem Zimmer allein ließ, nachdem sie ihr eben die beweglichen Steine des Brahmakopfes gezeigt hatte, das Geheimnis des verborgenen Mechanismus entdeckt und in dem Geheimfach unter dem als Ganzes aufklappbaren Götzenhaupt eine Halskette von wasserklaren, großen Diamanten sowie ein halbes Dutzend wertvolle, altertümliche Ringe gefunden. Ilse, der die Jüngeren erst abends hiervon Mitteilung machen konnte, hatte daraufhin sofort erklärt, daß Elly natürlich die Hälfte der Juwelen als der Entdeckerin gehören sollten, und war dann mit der Schwester überein gekommen, den kostbaren Fund vorläufig zu verschweigen, bis sie festgestellt hätten, ob sie sich auch wirklich als Eigentümer der Schmuckstücke betrachten dürften. –

Elly hatte also bereits angedeutet, daß sie ihren Anteil gern für den Geliebten opfern wolle. Und an dieser Äußerung anknüpfend sagte Parla nun:

„Sie haben ganz recht, Herr von Nimski, der Schmuck gehört fraglos je zur Hälfte den Schwestern. Wenn Ihre Braut nun mir es überlassen wollte, ihren Anteil zu veräußern, könnte ich die geschädigten Juweliere wahrscheinlich so glänzend abfinden, daß meine Mission vollen Erfolg haben müßte! Jedenfalls stehen die Aussichten für uns jetzt recht günstig. Auch auf Lindammer hoffe ich so viel Einfluß zu gewinnen, daß er uns nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Ich glaube, er wird mir dankbar sein, wenn ich ihm den Mörder Karl Benders entlarven helfe, – denn der Rentier Müller kann hier nicht in Betracht kommen. Diese Verhaftung ist ein Fehlgriff.“

„Verhaftung?!“ Nimski fuhr geradezu hoch. Seine Miene drückte trostloseste Verzweiflung aus. Und dies so auffällig, daß es uns beiden nicht entging.

Parla schaute mich beunruhigt an, schüttelte unzufrieden den Kopf und fragte dann:

„Sie scheinen dieser Verhaftung eine Bedeutung beizumessen, Herr von Nimski, als ob –“

Nimski stöhnte auf, fiel dann Parla ins Wort:

„Oh – ich soll büßen für das, was ich tat, – das Schicksal will es! Ich ahne voraus, wie alles kommen wird! Man wird den wahren Mörder nicht ausfindig machen, Herr Parla, und dann bin ich gezwungen als Zeuge aufzutreten, dann kann ich nicht, wie ich’s jetzt vorhatte, außer Landes gehen, falls Ihr hochherziger Plan geglückt wäre und ich mich frei von Schuld hätte fühlen dürfen. Es soll nicht sein! – Arme – arme Elly! Die Mutter schwer krank, – da kann sie doch, mag sie mich noch so sehr lieben, niemals zulassen, daß ihr Vater auch nur eine Stunde länger als nötig verhaftet bleibt, weil ihre Mutter durch diese Aufregungen aufs schwerste an der Gesundheit geschädigt werden würde. Ich muß mich also ausliefern – muß – muß!“

„Sie müssen nicht!“ sagte da mein Freund mit Nachdruck. „Ruhe – und Kopf oben behalten, Herr von Nimski! Hören Sie mich an! Ich machte schon vorhin eine Andeutung, daß ich mit Ihnen diesen Mord durchsprechen wollte. Das hat seine guten Gründe. Ich vermute nämlich, Sie waren ebenfalls zur Zeit, als der heimtückische Stoß den armen Bender in die Tiefe stürzte, auf dem Dach. – Habe ich recht? – Doch – was frage ich! Natürlich waren Sie dort. Sie sagten ja eben, Sie müßten sonst als Zeuge auftreten. Mithin haben Sie etwas gesehen, das Müller entlastet.“

„Wie sind Sie auf diese Vermutung gekommen, Herr Parla?“ fragte Nimski gespannt.

„Daß Sie gleichfalls auf dem Dach waren? Sehr einfach, weil ich dem Unglückswurm Müller glaube, was er zu seiner Entlastung angab. Er behauptete, gestrauchelt und gefallen zu sein und noch halb im Liegen dann den Mörder gesehen zu haben, der unseren braven Bender offenbar mit ungewöhnlicher Kraft auf den Hof hinabstieß. – Mithin gab es an der Stelle, wo die Tat geschah, zwei Männer, in deren nächster Nähe sich Wachtmeister Hertel befand, während Lindammer wieder in dem selben Augenblick weiter nach dem Vorderhaus zu ebenfalls einem Menschen nachsetzte. Hertel packte den Falschen, Lindammer hatte noch weniger Glück. – Drei Leute befanden sich also zu gleicher Zeit dort oben, die Beamten nicht mitgerechnet. Und der, den der Kommissar nicht erwischte, waren Sie, Herr von Nimski.“

„Ich war’s,“ erklärte Nimski voller Eifer. „In meinem Versteck herrschte eine solch stickige Luft, daß ich nach all den Anstrengungen des Tages ohnmächtig zu werden fürchtete. Ich wollte hinauf auf das Dach, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, bewegte mich aber natürlich mit der größten Vorsicht, kroch sogar auf allen Vieren bis zu der Laube des Dachgartens, wo ich mich dann gerade auf einen Stuhl setzen wollte, als ein leises Geräusch mich veranlaßte, noch schärfer auf meine Umgebung zu achten. Ich nahm einen Mann wahr, der tief gebückt nach dem erleuchteten Fenster Ihres Ateliers schlich. Gleichzeitig hörte ich aber auch einen schweren Schritt, der von einem anderen, weiter entfernten Menschen herrühren mußte, den ich aber in Folge des Regens nicht sah.

Alles weitere spielte sich dann so schnell ab, daß ich kaum recht zum Bewußtsein dessen kam, was geschah. Es kam jemand in einem hellen Malerkittel vom Dache des Hinterhauses her, – der gleich darauf Ermordete war’s, und vor diesem Manne flüchtete der, der es auf das Atelierfenster abgesehen gehabt hatte. Dann tauchte hinter dem im Malerkittel eine neue Gestalt auf, ein großer, breitschultriger Mann, und dieser, dieser packte den im Kittel mit der Rechten beim Kragen, hob ihn halb hoch und schleuderte ihn über das niedrige Eisengeländer des Daches hinweg in die Tiefe. Da machte ich mich davon, lief aber gerade den Kommissar in die Arme, konnte noch eben hinter einem Schornstein verschwinden und gelangte später glücklich wieder in mein Versteck.“

Parla warf jetzt seinen Zigarettenrest mit Schwung in den Aschbecher, daß die Funken nur so stoben.

„Jetzt haben wir ihn!“ rief er triumphierend. „Ein wahres Glück für Sie, Herr von Nimski, daß die Hitze unter dem Dach Sie ins Freie trieb! – Wir haben ihn!“ wiederholte er. „Und – es ist dies nur wieder ein Beweis dafür, wie gut es ist, wenn man auf Kleinigkeiten achtet. – Gute Nacht! – Bring’ mich hinunter, Erwin. Und Sie, Herr von Nimski, – Sie schlafen sich mal gehörig aus, verstanden! Gegen neun Uhr vormittags finde ich mich hier wieder ein.“

 

24. Kapitel.

Der Morgen kam. Neumann stand an der Haustür und pfiff seinem Fips, der eine fettschwanzige Bulldogge knurrend umkreiste.

Hinter ihm eine Stimme:

„Morgen, Herr Verwalter.“

„Ah – Sie, Herr Parla. Schon so früh auf den Beinen? – Sie haben wohl bei Ihrem Freund Burg geschlafen? Sie kamen doch eben aus meinem Hause?“

„Gewiß! –  – Ich hätte eine Bitte, Herr Verwalter.“

„So?! Na – los damit!“

„Ich möchte Sie gern als Leumundszeugen mit nach dem Polizeipräsidium nehmen. Sie kennen doch Ihren Mieter, den Rentiere Müller, seit Jahren. Trauen Sie ihm zu, daß er –, na, Sie verstehen schon!“

Neumann rief sofort: „Gott bewahre! Noch schöner! Nein – niemals! Aber – aber –“ Er hob zweifelnd die breiten Schultern, rückte den Hut mehr aus der Stirn. „Aber – faul stehen doch wohl die Aktien für ihn. Das merkt man ja. Ich weiß, daß der Geheime die Nacht über in Müllers Wohnung war, und vor kaum zehn Minuten sind die beiden abgezogen –“

Parla machte ein trauriges Gesicht.

„Ja – ja, – eben deshalb muß versucht werden, der Polizei eine bessere Meinung über Müller beizubringen.“

„Hm – halten Sie ihn denn wirklich für schuldlos?“

Paula zuckte nur die Achseln.

„Und, warum nehmen Sie sich eigentlich seiner so an?“

„Weil mich jemand darum gebeten hat. Sie wissen ja, der Fall Mikula – der Kohlkopf-Fall. Ich soll hier auch Detektiv spielen.“

„Na – Kohlblätter mit Fußeindrücken gibt’s hier kaum, Verehrtester. – Hm – ja, – und Leumundszeuge?! Das wird dem Müller auch nicht viel helfen. Sicher nicht! Außerdem – ich habe keine Zeit.“

„Schade! – Wie wär’s aber, wenn ich Sie für den Gang ordentlich entschädigte, – sagen wir – hundert Mark!“

Neumann zauderte. „Weggeworfenes Geld! – Aber– wenn Sie durchaus Wert darauf legen, also gut, ich komme mit. Ich muß nur erst Fips ins Haus bringen.“

„Nehmen Sie ihn doch mit. Ich mag Hunde so gern. Ich passe schon auf ihn auf, während Sie Ihre Aussagen zu Protokoll geben.“

So machte der Terrier denn die Fahrt in einer Kraftdroschke mit. –

Lindammer schien Neumann schon erwartet zu haben. Er hatte ja mit Parla alles genau vorher vereinbart.

„Ah – da sind Sie ja. Ich ahnte, daß Sie mich aufsuchen würden,“ begrüßte er den Hausverwalter.

„Sie – Sie ahnten –“

„Ja doch – natürlich! Sie waren doch auch oben auf dem Dach, als der Mord geschah,.“

Neumann erbleichte erst, dann schoß ihm das Blut doppelt stark wieder ins Gesicht.

„Ich – auf dem Dach?!“ stammelte er. „Keine Rede davon! Ganz im Gegenteil! Auf mich wäre der arme Mann ja beinahe gefallen. Ganz dicht vor mir schlug er mit dem Kopf zuerst auf die Fliesen des Hofes auf.“

„So? Ganz dicht?!“

„Freilich, freilich. Keine drei Schritte waren’s! Vor Entsetzen tat ich einen Sprung rückwärts. Es war furchtbar – grauenhaft.“

„So – so,“ meinte Lindammer gedehnt. „Keine drei Schritte! Sehr wichtig!“

Neumann saß dem Kommissar an dem großen Schreibtisch gegenüber. Mehr im Hintergrund des fast dürftig ausgestatteten Dienstzimmers hatte Wachtmeister Hertel an einem kleineren Tisch als Protokollführer Platz genommen.

Nun sagte Lindammer wieder, indem er ein Lineal spielend über dem Knie krumm bog: „Hatten Sie gestern abend diesen selben Anzug an?“

Neumann nickte zögernd.

„So – dann treten Sie doch bitte mal hier dicht ans Fenster. – Nun –? Ich ersuche Sie dringend darum! Wird’s bald!“ Sein Ton war kalt und schneidend geworden.

Der Verwalter gehorchte. Und Wachtmeister Hertel nahm die Beinkleider Neumanns nun sehr genau in Augenschein.

„Nichts – nichts mehr,“ meldete er dann.

„So, so! – Sie haben also die Flecken ausgewaschen, Herr Neumann,“ meinte Lindammer jetzt, den in die Enge Getriebenen scharf musternd. „Wozu das? – Bitte – antworten Sie sofort!“

„Flecken – was für Flecken?! – Ich weiß nichts von Flecken.“ Der Verwalter machte ein Gesicht wie ein bissiger Köter.

„Merkwürdig! Sie wollen drei Schritte vor dem Abstürzenden entfernt gestanden haben, und doch haben Ihre Beinkleider nichts von dem umherspritzenden Blut und Hirn abbekommen, das doch bis an die Hauswand geflogen ist! – Wie erklären Sie dies Fehlen jeder Blutspur auf dem glatten hellgrauen Stoff Ihres Anzugs?“

Neumann stierte jetzt den Kommissar wie einen bösen Geist an. Sein Gesicht verzerrte sich. – „Ah – dieser Parla hatte ihn hier also in eine Falle gelockt, dieser schlaue Schuft! – Aber noch war nichts verloren – nichts – nichts! Nur Ruhe, nur Kaltblütigkeit, – nur vorsichtig mit den Antworten sein!“

Neumann brachte denn auch ein gequältes Lächeln zu Stande.

„Ja – das mag ein Zufall sein, Herr Kommissar. Ich sagte ja schon, ich sprang vor Entsetzen zurück, als der Körper des – des Unglücklichen wie eine Bombe herabsauste.“

„Hm, – etwas haben Sie Ihre Aussage soeben geändert. Vorhin behaupteten Sie, Sie wären zurückgesprungen, als der Assessor vor Ihnen auf das Pflaster aufschlug, – also erst nach dem vollendeten Absturz oder doch mindestens gleichzeitig. Dann müssen Ihre Beinkleider beschmutzt worden sein!“

Neumann lachte schrill auf.

„Was soll das eigentlich alles? He?! Stehe ich hier etwa als Angeschuldigter?! Fast scheint es so! Sollte ich etwa den Assessor ins Jenseits spendiert haben, ich – einen Menschen, den ich gar nicht kenne, den ich noch nie gesehen habe, soweit ich mich erinnere?!“

„Um diese Frage handelt es sich jetzt nicht. – Sie waren also nicht auf dem Dach?“

„Nein!“ Neumann setzte sich nieder, schlug ein Bein über das andere und versuchte ein gelangweiltes Gähnen.

„Holen Sie Parla und den Hund,“ befahl Lindammer dem Wachtmeister.

Des Verwalters Miene veränderte sich plötzlich. Wieder. Er blickte den Kommissar beunruhigt an, und das nervöse Spiel der Hände begann von neuem. –

Parla hatte Fips an einer langen Schnur festgebunden. Kaum trat er ein, als der Hund auch schon vor Freude winselnd an seinem Herrn hochsprang. – Neumann streichelte den Terrier.

„Mein Hundchen – mein Hundchen!“ Seine Stimme klang weich. Er liebte das Tier offenbar sehr.

Lindammer wies Parla einen Stuhl neben sich an. Der Filmschauspieler nahm Platz. Fips lagerte sich vergnügt und ahnungslos zu den Füßen seines Herrn.

„Bitte, Herr Parla, wollen Sie jetzt erzählen, was Sie gestern abend beobachtet haben,“ begann Lindammer.

„Ich darf mich wohl kurz fassen. – Als wir um die zugedeckte Leiche herumstanden, hörte ich plötzlich irgendwo einen Hund bellen und heulen. Auf Herrn Neumann machten diese Töne einen ganz besonderen Eindruck. Ich merkte, wie er angespannt lauschte. Dann blickte er sich unruhig um und begann mit einem Male sehr laut zu mir zu sprechen, wohl nur deshalb, um meine Aufmerksamkeit abzulenken. Gleich darauf sagte er: „Ich muß schnell der Portierfrau etwas bestellen! und eilte ins Vorderhaus. Ich ging ihm nach. Er hastete die Treppen empor – der Fahrstuhl war gerade von einem der Mieter besetzt – und kehrte dann nach einer Weile im Fahrstuhl, den er hatte nach oben kommen lassen, zurück und zwar in Begleitung seines Terriers, den er dann in die Loge des Hauswarts brachte. Hierauf trat er wieder zu uns, die wir um die Leiche herumstanden, und half die neugierigen Dienstboten auseinanderzutreiben.“

„Und wo hatte der Hund Ihrem Erachten nach geheult?“ fragte Lindammer, um Parlas Aussage zu ergänzen.

„Im Vorderhaus vor dem nach dem Hof zu gehenden kleinen Fenster des Vorbodens,“ erwiderte Parla.

„Nun – wie ist der Hund dort hinaufgelangt? – Bitte, welche Ausrede haben Sie nun bereit?“

Der Verwalter schaute zu Boden, bückte sich, kraute seinen Terrier den Kopf und schwieg. Er fand keine passende Antwort.

„Dann muß ich Ihnen die Anwesenheit des Tieres dort oben wohl selbst erklären,“ meinte Lindammer schneidend. „Sie haben Fips mitgenommen, als Sie auf das Dach wollten, ließen ihn aber auf dem Vorboden zurück. Als Sie dann schleunigst flohen – ich betone: flohen! –, taten Sie dies auf einem anderen Wege; durch die offenen Luke des rechten Seitenflügels, wo die Bodentüren gleichfalls unverschlossen waren, was Sie wußten und was Ihnen sehr gelegen kam. Sie mußten diesen Rückweg wählen, da ich Ihnen den nach der Luke des Vorderhauses versperrte.“

Neumann brauste auf, nur um seine Verwirrung zu bemänteln: „Ich verlange, daß Sie mir endlich sagen, was dieses Verhör eigentlich soll?! Denken Sie, ich werde rein aus Übermut einen Wildfremden ermorden?! Was ging mich der Assessor an – nichts, nichts!“

„Stimmt – der Assessor war Ihnen gleichgültig. Aber – Sie hatten es auf – Burg abgesehen, als Sie zupackten und mit Hilfe Ihrer Riesenkräfte den Mann, den Sie für Burg hielten, auf den Hof hinabschleuderten! Bender trug Burgs Malkittel, dessen Mütze. Die Beleuchtung war schlecht. Sie irrten sich in der Person!“

„Blech – Blech! Was schert mich Burg?!“

„Sie fürchteten ihn! Er hatte Ihnen rücksichtslos ins Gesicht gesagt, daß er Sie für einen Betrüger, einen Dieb hielt, daß Sie die Hauseigentümer bestehlen, wo es nur angeht! – Bisher hatte jeder Sie für ehrlich gehalten. Da trat nun Burg auf, der offenbar bessere Augen hatte als die anderen Mieter. Sie suchten ihn zum Schweigen zu bringen, zu bestechen! Denken Sie an die Nachhilfestunden! Doch er verhielt sich ablehnend. Und – deshalb packten Sie zu, als Sie Burg allein vor sich zu haben glaubten.“

Neumann war fahl geworden. „Das – das ist alles Unsinn – Unsinn!“ preßte er hervor.

„Also Sie wollen nicht gestehen?“

„Nein – nie – niemals! Beweisen Sie –“ Er hielt plötzlich inne, sprang auf.

Lindammer hatte aus der Schreibtischschublade einen Revolver hervorgeholt, entsichert ihn und zielte nun auf den Terrier.

„Was – was wollen Sie?!“ brüllte Neumann und trat schützend vor den Hund.

„Ein Tier, das Anzeichen von Tollwut zeigt, muß beseitigt werden,“ sagte Lindammer kalt. „Der Hund scheint von selbst auf den Boden gelaufen zu sein und dort geheult zu haben.“

Neumann ballte die Fäuste.

„Wagen Sie es – wagen Sie es – und – und –“

„Nun – und?“

„Ja – und – und!“ schrie Neumann. „Und Ihnen geht’s wie dem Andern! Ich schmeiße sie dünnes Gewächs dort durch das Fenster!“

„Ah! – Wie dem Anderen!“

„Ja – verfl… noch mal – wie dem Andern, Sie – Sie –“

„Genug!“ Lindammer sagte es mit einer Schärfe, daß Neumann unwillkürlich die Arme mit den drohenden geballten Fäusten sinken ließ. „Genug! – ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, Bender ermordet zu haben!“

Neumann sank auf den Stuhl zurück. Seine Rechte tastete nach Fips. Er nahm den Hund auf den Schoß, denn der Revolver bedrohte den Terrier noch immer.

„Tun Sie dem Tier nichts. Es hängt so an mir, – ich liebe es, es hat den reinen Menschenverstand –“ Die Stimme klang zerbrochen, rauh, und höchste Angst um das Leben des vierbeinigen Freundes durchzitterte sie.

„Gestehen Sie ein, Bender irrtümlich in den Hof hinabgestoßen zu haben?“

Neumanns Kopf sank tiefer.

„Lassen Sie mir den Hund – geben Sie ihn mir mit in meine Zelle, – dann –“

„Gut – es sei!“

„Dann – dann – ja, ich hab’s getan –“

*

Hiermit will ich die Akten über den an Bender verübten Mord, der ja mit der blauen Mauritius in enger Beziehung steht, schließen.

Als ich am Nachmittag in meinem Gehrock bei Müllers erschien und um Ilses Hand anhielt – wir waren uns drei Stunden vorher in der Dachlaube darüber einig geworden, daß wir Nimskis und Ellys Beispiel doch eigentlich folgen könnten! –, da fand ich den Rentier in einer seelischen Verfassung vor, die ich selbst nach all dem Vorgefallenen nie vorausgeahnt hätte.

Er empfing mich zuerst allein. Frau Klara war bereits eingeweiht.

Er saß in dem einen Sessel seines Arbeitszimmers und wagte mich kaum anzusehen. Auf meine Werbung erwiderte er leise und trostlos:

„Ich muß dankbar sein, wenn überhaupt noch ein anständiger Mensch eines meiner Kinder zum Weibe begehrt. – Ich habe nichts dagegen, nein. Meine Rolle hier als Familienoberhaupt ist ausgespielt. Ich sehe das ein. – Ich werde Ilse hunderttausend Mark mitgeben. Genügt das?“

Ich erklärte, daß Ilse und ich ganz bescheiden leben wollten, daß auch zehntausend genügen würden.

Aber im übrigen?! Er war innerlich zerbrochen, vollständig. –

Unsere Verlobungsfeier an demselben Tage, auf unseren Wunsch sollte die Sache noch geheim bleiben, beschränkte sich auf eine Flasche Sekt beim Abendessen. Und der Nachzug entführte meinen Schwiegervater dann nach Marienbad. Er hatte sich von diesem Plan nicht abbringen lassen.

Später haben wir ihn mit ehrlicher Liebe umgeben. Er tat uns leid. Doch er lebte nie wieder auf, verfiel langsam, hatte für nichts mehr Interesse. Höchstens noch für seiner Frau Ergehen, die uns noch bis heute erhalten geblieben ist und wohl noch manches Jahr sich am Glück ihrer Kinder erfreuen wird. Er dagegen siechte dahin.

Eines Tages fanden wir ihn tot in seinem Schreibtischstuhl sitzend – den Oberkörper halb über einen der Bände seiner Briefmarkensammlung gesunken. Er hatte seine Sammlung nie mehr hervorgesucht. Und gerade als er seit Jahren wieder einmal seine einst so geliebten Marken vor sich ausgebreitet hatte, mähte diesen verdorrten, kranken Baum der Sensenmann um. Es geschah dies an demselben Tage, als abends von Nimskis aus Zürich eine Depesche eintraf, in der sie uns die Geburt ihres zweiten Söhnchens anzeigten.

Parla hatte ja erreicht, daß aus Elly und Albert ein glückliches Paar geworden war. Meine Ilse hatte damals ihren Anteil an dem indischen Schmuck hergegeben, und die geschädigten Juweliere glänzend schadlos gehalten. Dank der Überredungskünste meines Freundes waren sie sämtlich bereit gewesen, von ihrer Seite aus nichts mehr gegen Nimski zu unternehmen. Fünf Tage hatte ich meinen Mitschwager noch bei mir verborgen gehalten gehabt. Dies ließ sich leicht durchführen, da Lindammer die Suche nach ihm sehr lässig betrieb. Dann brachten wir ihn nach der Schweiz, wo später auch in aller Stille, nachdem das Untersuchungsverfahren gegen ihn ganz eingestellt worden war, die Hochzeit des blauen Engels stattfand, zu der außer Parla – auch Lindammer geladen war.

Beide erschienen auch wirklich, und schon damals kam es mir so vor, als ob sich zwischen Irmgard und Lindammer etwas anbahnte. Frau von Nimski und ihre Tochter waren nämlich Albert sofort ins Exil gefolgt und hatten Berlin für immer verlassen. Meine Ahnung täuschte mich nicht: Lindammer ist längst im Besitz eines braven, lieben Weibes.

Bei Parla dagegen ist Hopfen und Malz verloren. Er wird sicher unbeweibt bleiben. Er ist noch immer „Filmonkel“ und Gelegenheitsdetektiv. Außerdem freilich Patenonkel meines Ältesten.

Und die blaue Königin?

Das habe ich bereits in der Einleitung angedeutet. –

Ich selbst hatte einen mir bekannten Stadtrat auf das Aktenstück Jahnke aufmerksam gemacht und die Vermutung ausgesprochen, daß eine Briefmarke, die ich dort zufällig kurz vor Benders Tod entdeckt hätte, vielleicht hohen Wert besäße.

So kam es, daß der Magistrat die blaue Königin versteigern ließ und das der Pariser Baron Rothschild sie für 26800 Mark erstand. In seiner berühmten Sammlung befindet sie sich noch heute.

 

 

Anmerkung:

  1. Der korrekte Wortlaut wäre eigentlich: „Das verschleierte Bild zu Sais“. Siehe auch Wikipedia bzw. Wikisource für den Volltext der Ballade von Friedrich Schiller.