Kriminalroman
von
Walter Kabel
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89
Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Graf Roderich Blenkners letzte Fahrt. –
Kaum zehn Minuten dauerte sie, vom alten, efeuumrankten Schloße bis zum Erbbegräbnis der Familie auf der Sandinsel im Galgen-See.
Die Beisetzung erfolgte genau so, wie der Sonderling es in seinem Testament angeordnet hatte.
Wie die Menschen so sind: bis zum vierzigsten Lebensjahre nannte man den Grafen den „tollen“ Blenkner, dann bis zum sechzigsten den „verrückten“ und nachher mit etwas mehr Achtung vor dem schlohweißen Haupte „den alten Sonderling“. Und er hatte bis zuletzt dafür gesorgt, daß er diesem Namen auch Ehre machte.
Nur fünf Personen außer den Trägern durften dem Sarge folgen, der auf einem gewöhnlichen Ackerwagen gefahren, dann am Seeufer auf drei zusammengebundenen Kähne gestellt und nach der Insel hinübergerudert wurde.
Es war nur ein gelbweißer Sandberg, diese Insel des Galgen-Sees, von dem man sich im nahen Städtchen so allerlei Sagen erzählte; hie und da ein paar kümmerliche Grasbüschel, und nur vor dem Eingange zum Erbbegräbnis derer von Blenkner warfen zwei struppige Tannen lange Schatten fast bis zum Wasser hinab.
Einen wunderbar schönen Maimorgen hatte der alte Graf sich für seine letzte Fahrt ausgesucht.
Der greise Pfarrer Terrmeelen machte den Oberinspektor Rickert leise darauf aufmerksam. Und der erwiderte: „Es hätte zu meines Herrn ganzer Lebensführung mehr im Einklang gestanden, wenn der Donner eines Gewitters das Glockengeläute und zuckende Blitze die Ehrensalven für den früheren Offizier und Mitkämpfer von 70/71 ersetzt hätten.“
Das Erbbegräbnis war erreicht. Die Träger hatten schweißglänzende Gesichter. Die fünfzig Stufen der steilen Steintreppe mit dem schweren Eichensarge zu erklimmen erforderte Kraft und gute Lungen.
Die schmucklose, letzte Ruhestätte des Grafen von Blenkner, ein tief in den Sand hinabreichender Bau aus Granit mit einem grünlich schimmernden, kupferbelegten Kuppeldach, bildete im Innern nur eine einzige Halle. Zwölf Särge standen hier zum Teil auf in die Mauer eingelassenen Eisenschienen.
Rechtsanwalt Hartock, einer der fünf Auserwählten, sah sich neugierig in dem hellen Raum um. Unter der Decke befanden sich dicht bei dicht bunte Fenster mit mattem Glase. Und außerdem war die schwere Flügeltür weit offen. Das gab genügend Licht.
Hartock war zwar bereits drei Jahre Sachwalter des Grafen gewesen, hatte aber bisher keine Gelegenheit gehabt, das Erbbegräbnis zu besichtigen. Nun aber konnte er sich davon überzeugen, ob das, was die Bekannten in Perlburg, der nahen Kreisstadt, ihm längst erzählt hatten, wirklich stimmte.
Mit einer gewissen Scheu trat er an einen der neueren Särge heran, die sämtlich am Kopfende oben ein längliches Fenster besaßen, so daß man gerade das Gesicht des Toten sehen konnte.
Der Sarg enthielt eine Frauenleiche. Nach der Aufschrift auf der Messingplatte am Fußende war die Gräfin Ursula von Blenkner, geborene Freiin von Gallburg, vor vierzig Jahren im Alter von siebenunddreißig Jahren selig entschlafen, – also noch verhältnismäßig jung.
Hartock beugte sich tiefer über das Sargfenster. Was er sah, war der Kopf einer Mumie. Die Züge des jetzt braunen, eingetrockneten Gesichtes waren noch ganz gut zu erkennen. Das wohlfrisierte Haar lag in vielen Tuffen nach der damaligen Mode tief auf der edlen Stirn. Die Frau mußte einmal sehr hübsch gewesen sein.
Die Perlburger hatten also tatsächlich nicht zu viel gesagt, als sie Hartock gegenüber behauptet hatten, daß die Toten hier nicht verwesten, sondern infolge großer Trockenheit und besonderer Beschaffenheit der Luft mumifizierten, eine Erscheinung, die dem Anwalt durchaus nicht neu war. Er kannte verschiedene Friedhöfe, auf denen die Leichen ebenso vorzüglich erhalten blieben. Und in den Katakomben Italiens und den Felsengräbern Mexikos und Perus konnte man ja noch heute Jahrhunderte alte Mumien sehen, die gleichfalls ohne Einbalsamierung der Verwesung getrotzt hatten.
Roderich Blenkners Eichensarg wurde auf die freie Stelle an der rechten Wand gerückt. Die Träger entfernten sich. Dann sprach Pfarrer Terrmeelen ein kurzes Gebet.
„Der Letzte seines Geschlechts ist dahingegangen. Die Welt nannte ihn einen Sonderling. Wir aber wissen, daß sich hinter all seinen Eigentümlichkeiten ein wahrhaft edles Herz verbarg – “
*
Inzwischen hatten sich in dem großen Speisesaale des Schloßes, wie es der Verblichene gewünscht hatte, die gesamten Angestellten und Arbeiter des ausgedehnten Gutes eingefunden, alle festlich gekleidet, alle etwas gedrückt, schweigsam und erwartungsvoll.
Nun traten auch die fünf Herren ein, die dem Toten das letzte Geleit gegeben hatten: der Pfarrer, der Rechtsanwalt, der Förster Neukirch und der schon recht zittrige, aber noch immer würdevolle Hausmeister Tobias Werner, der sich seit dem Schlaganfall vor fünf Jahren stets eines Stockes als Stütze bediente und dem man jetzt als einzigem außer dem Geistlichen einen Sessel hinschob. Alle übrigen harrten stehend der Eröffnung des Testaments ihres Herrn.
Selbst Hartock kannte den Inhalt dieser letztwilligen Verfügung nicht, hatte sie nur in seiner Eigenschaft als Notar in Verwahrung gehabt; außerdem auch eine zweite Urkunde, die jedoch nur die Bestimmungen über das Begräbnis und die Testamentseröffnung enthalten hatte.
Der große Umschlag aus Leinenpapier war mit drei Siegeln versehen. Als der Lack jetzt knisternd unter Hartocks Fingern brach, begannen die Herzen aller Anwesenden schneller zu schlagen.
Dann verlas der Anwalt langsam mit klarer Stimme den letzten Willen des alten Sonderlings, dem man ein Vermögen von Millionen nachsagte. Wie viel Graf Roderich besessen hatte, kam erst jetzt an den Tag. Zu seinen Lebzeiten hatte er niemandem einen Blick in seine Geldverhältnisse gewährt.
Zuerst waren in dem Testamente die einzelnen Vermögensstücke aufgeführt. Es ergab sich so, daß außer dem Rittergute Blenknerhof mit seinen vier Vorwerken noch ein Barvermögen von rund drei und ein halb Millionen Mark vorhanden war.
Die Anwesenden tauschten bedeutungsvolle Blicke aus oder stießen sich heimlich an.
Es folgten nun eingehende Begründungen für größere Legate, die an Pfarrer Terrmeelen und die vier anderen Herren fielen, die der Beisetzung hatten beiwohnen dürfen. Der alte Hausmeister wurde flammend rot, als Hartock vorlas:
„Er hat meiner Familie einige sechzig Jahre treu gedient. Als Hütejunge trat er in unsere Dienste, als Diener rauchte er in bescheidenem Maße meine Zigarren mit, enthielt sich aber jeglichen Alkoholgenußes, und später als Hausmeister war er ehrlicher als ich selbst. Mit fünfzigtausend Mark kann er den Rest seiner Tage in Behaglichkeit leben.“
Auch die Begründung der anderen vier Legate entbehrte nicht ähnlicher ironischer Wendungen.
Dann folgten für die Gutszugehörigen je nach der Dauer ihrer Dienstzeit auf Blenknerhof verschieden abgestufte Geldzuwendungen. Die geringste Summe war dreihundert Mark.
Überall strahlende Gesichter. Jeder war zufrieden.
Nur einer nicht. Der stand hinter dem Sessel des Hausmeisters an die hohe Flügeltür gelehnt da und hatte die Lippen fest zusammengekniffen. Etwas wie ein höhnisches Lächeln spielte um seinen Mund. Er merkte, daß dieser oder jener ihn schadenfroh ansah. Er war wohl bei niemandem beliebt. Nur bei dem, der jetzt im Sarge auf der Sandinsel ruhte, hatte er auf Anerkennung und eine entsprechende Belohnung gerechnet.
Der junge Notar hatte eine kurze Pause gemacht. Jetzt las er weiter.
Da – der Mann an der Tür fuhr leicht zusammen. Sein Name! Also doch nicht mit lumpigen tausend Mark für diese Jahre treuester Dienstbeflissenheit abgefunden!
„Ich habe nachstehenden Zusatz, der sich auf meinen Diener Karl Wermig bezieht, für notwendig erachtet. Ich kenne Wermig jetzt drei und ein halbes Jahr. Ich bin stets mit ihm zufrieden gewesen. Für meinen Geschmack war er sogar zu ehrlich und eifrig, zu besorgt um mich und zu sehr bestrebt, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Auf seine tadellosen Zeugnisse hin nahm ich ihn ohne persönliche Empfehlung von anderer Seite in meine Dienste. Ich glaube, er hat mich in mancher Beziehung unterschätzt. Er wird auf mehr gerechnet haben, als er erhalten soll. Wenn ich nun hier den Namen Marwitz nenne, dürfte er sich zusammenreimen können, weshalb ihm eine bescheidene Summe genügen muß.“
Alles blickte auf den schlanken Menschen mit dem glattrasierten Gesicht – alles. Ein Raunen und Zischeln ging durch den Saal. Gute Bekannte fragten einander flüsternd, was diese seltsamen Sätze wohl zu bedeuten hätten.
Karl Wermig war erst das Blut in starker Welle zu Kopf geschossen. Dann wurde er plötzlich bleich. Und seine eben noch so spöttisch überlegenen Augen suchten den Boden.
Es war ein Zwischenfall, der noch lange in der Umgegend erörtert wurde.
Hartock las jetzt absichtlich mit erhobener Stimme weiter. Er wollte für Wermig das Peinliche dieser Situation abkürzen, obwohl auch er diesen allglatten Burschen nicht gerade liebte.
Die nächsten Sätze des Testamentes waren auch ganz dazu geeignet, die allgemeine Aufmerksamkeit von dem Diener abzulenken.
„Mein Gesamtvermögen soll bis zu dem Zeitpunkte, wo mein Universalerbe in seiner Rechte eintritt, von Rechtsanwalt Hartock und meinem braven Oberinspektor Rickert unter Aufsicht des Amtsgerichtes Perlburg verwaltet werden. Wer dieser Universalerbe ist, darüber gibt ein zweites eigenhändiges Testament Aufschluß, das in dem Geheimfach meines Geldschrankes liegt und erst ein Jahr nach meinem Tode zu eröffnen, bis dahin aber beim Amtsgericht Perlburg niederzulegen ist. Letzteres hat sofort zu geschehen. Hartock und Rickert sollen es überbringen. Das Geheimfach befindet sich in der inneren Tür des Tresors. Eine dreimalige Umdrehung der Mittelrosette dieser Tür läßt eine Klappe herabfallen.“
Abermals ein Flüstern und Wispern ringsum.
„– Universalerbe – erst ein Jahr später – keine erbberechtigten Verwandten – Erbschaft müßte an den Fiskus fallen –“ – So und ähnlich ging’s von Mund zu Mund. Niemand ahnte, wer dieser glückliche Erbe sein könne, niemand. Auch nicht die entfernteste Vermutung vermochte jemand zu äußern. Man hatte allgemein angenommen, Graf Roderich würde, weil sein Geschlecht mit ihm erlosch, das Vermögen unter wohltätige Anstalten verteilt haben.
Gleich darauf leerte sich der Saal, und Hartock und der Oberinspektor begaben sich nun, begleitet von dem Pfarrer und dem alten Hausdiener, die sie absichtlich als Zeugen mitnahmen, nach dem Arbeitszimmer des Verstorbenen.
Das Geheimfach wurde gefunden. Aber – es war leer.
Tagelang suchte man dann unter den Papieren des Toten, blätterte jeden einzelnen Band der großen Bibliothek durch, klopfte die Wände der Zimmer ab, ob dahinter vielleicht ein Versteck vorhanden sei, – kurz, nichts wurde unterlassen, um das zweite Testament herbeizuschaffen, das doch offenbar irgendwo zu finden sein mußte. Der Graf konnte es ja inzwischen an anderer Stelle verwahrt haben.
Die ganze Mühe war umsonst.
Am sechsten Tage nach der Beisetzung des letzten Blenkner kam Hartock wieder einmal nach dem Schloße hinaus. Rickert konnte ihm jedoch nur mitteilen, daß alles Suchen abermals erfolglos gewesen sei.
„Vielleicht verstehen wir diese Art Arbeit mit,“ sagte der Anwalt. „Was meinen Sie dazu, wenn wir uns einen Mann aus Berlin verschreiben würden, der auch auf solche Dinge geeicht ist?“
„Sie denken an einen Kriminalbeamten, nicht wahr?“
„So was Ähnliches – einen Privatdetektiv!“
Der Oberinspektor lächelte.
„Halten Sie wirklich was von den Künsten dieser Herren?! Ich nicht! Außerdem, hier handelt’s sich doch nicht um die Beibringung von Ehescheidungsmaterial oder um die Beobachtung von Angestellten, die im Verdacht stehen, etwas lange Finger zu machen!“
Hartock wurde lebhaft. „Sie sind doch wohl nicht ganz ausreichend über das Betätigungsfeld eines wirklich guten Detektivs unterrichtet, lieber Rickert. Berliner Kollegen, besonders angesehene Strafverteidiger, kommen ohne die über dem Durchschnitt stehende Intelligenz dieser Leute gar nicht aus. Und dann handelt es sich oft um Tod oder Leben, um Zuchthaus, Gefängnis oder Freiheit, Unbescholtenheit.“
„Mag sein!“ erklärte Rickert mit leichter Gereiztheit im Ton. „Mag sein! Aber durch Bretter und Balken, Tapeten und sonst etwas, wo kein Loch drin ist, vermag auch so eine gewerbsmäßige Spürnase nicht hindurchsehn!“
Der Anwalt wollte schon neue Beweise für die Tüchtigkeit einzelner Vertreter dieses modernen Erwerbszweiges aufführen, als ihm urplötzlich ein besonderer Gedanke durch den Kopf schoß.
Er schwieg also, ging dann auf einen anderen Gegenstand über und – handelte allein. Mit einer vollzogenen Tatsache, mit einem Entschluß, dem das Nachlaßgericht in Perlburg zugestimmt hatte, mußte sich Rickert eben abfinden.
Berd Holk stand vor dem geöffneten Kleiderschrank und überlegte. Seine Augen ruhten unbeweglich auf dem einzigen Kleidungsstück, das in dem Schranke hing. Es war ein langer, brauner, flockiger Ulster.
Dann hörte er draußen den kalten Herbstregen gegen die Scheiben prasseln, und heulend fuhr ein Windstoß um die Mansarde.
Nein – bei dem Wetter konnte er den Mantel nicht entbehren! Ausgeschlossen! Es war nicht schicklich, daß er mit regenfeuchtem Bratenrock bei Müllenheims erschien.
Es mußte dann eben auch ohne ein Trinkgeld für das Stubenmädchen gehen! Vielleicht machte er sich dieserhalb auch ganz unnötig Gedanken. Vielleicht würde der Professor die Gäste auch selbst die eine Treppe hinabbegleiten, um die Haustür aufzuschließen.
Seufzend warf Berd Holk die Schranktür zu, – mit einem Kraftaufwand, der auf gelinde innere Wut schließen ließ.
Das verd… Geld! Daß es auf dieser schäbigen Erde auch so ungerecht verteilt sein mußte!
In dem kleinen Dachatelier, das dem Maler gleichzeitig als Wohnung diente, brannte eine einzige Glühbirne der vierarmigen, billigen Krone.
Holk trat vor den bis zum Boden hinabreichenden Stehspiegel in der Ecke und musterte kritisch sein Äußeres. In dem schon etwas ausgewachsenen schwarzen Gesellschaftsrock sah er wie ein Dorfschulmeister oder ein Predigtamtskandidat aus. Die schöne Frau Agnes Müllenheim würde sich kaum in ihn verlieben!
Seine üble Laune steigerte sich. Dieser ewige Dalles. Wie der einen zermürbte, jede Lebensfreude erstickte!
Es klopfte. Holk rief „Herein!“. Und gleichzeitig dachte er: „Wenn’s nur nicht die alte Schlumpe ist! Die fehlt mir gerade noch!“
Eine dürre Frauengestalt schob sich süß lächelnd ins Atelier. In dem schmutzigen, roten Morgenrock sah die verwitwete Kanzleisekretär Mischke noch größer und hagerer aus.
„Entschuldigen Sie schon, lieber Herr Holk,“ flötete sie sanft. „Ich hätte nicht gestört. Aber der Kohlenhändler ist eben mit der Rechnung da. Könnten Sie mir vielleicht – Sie wissen ja, Sie sind mit dreiundachtzig Mark Miete rückständig.“
Der Maler zwang sich zu einer nicht ganz echt erscheinenden Liebenswürdigkeit.
„Liebste Frau Mischke, ich sagte Ihnen ja schon vorgestern, daß die Maggi-Gesellschaft mir die Plakatentwürfe nicht früher als am ersten November honoriert. Dann sollen Sie Ihr Geld haben. Augenblicklich besitze ich genau zwanzig Pfennig, habe mir sogar vor kaum drei Minuten allen Ernstes überlegt, ob ich nicht meinen Ulster versetzen soll.“
Klara Mischke hob die Arme mit theatralischer Bewegung als Ausdruck ihres Widerwillens gegen derartige Finanzoperationen hoch.
„Sie werden doch nicht!“ meinte sie mit mildem Vorwurf. Sie war näher an Berd Holk herangetreten und schaute ihm mit einem Ausdruck in den Augen ins Gesicht, der des Malers schon lange gehegte Vermutung zur Gewißheit machte.
Dieses Weib gänzlich unbestimmbaren Alters mit gefärbten Haaren, geschminkten Wangen und dem stark ausgeprägten Erwerbssinn, um Habsucht und Hartherzigkeit mild zu umschreiben, hatte es auf ihn abgesehen. In diesem völlig reizlosen, verblühten Körper brannte noch eine späte Flamme, deren Widerschein begehrlich aus den Augen hervorleuchtete.
„Sie werden doch nicht,“ wiederholte sie jetzt leise mit einem Dirnenlächeln. „Darf ich Ihnen nicht mit einer Kleinigkeit aushelfen? Fünf Mark etwa. Der Kohlenhändler kann ja warten.“
Holk kämpfte einen Moment mit sich. Dann nickte er.
„Wenn Sie so liebenswürdig sein wollten – “ Es kam ihm schwer über die Lippen. Aber – zwanzig Pfennig! Er mußte doch noch zwei Tage bis zum Ersten sich durchschlagen.
Aus einer speckig glänzenden Lederbörse reichte sie ihm mit gezierter Handbewegung einen Fünfmarkschein.
„Besuchen Sie mich doch mal abends, Herr Holk,“ bat sie mit vielsagendem Blick. „Ich bin immer so einsam. Heute habe ich sogar etwas recht Gutes in der Küche auf dem Feuer. Aber Sie sind ja wohl eingeladen.“
„Allerdings. Und ich muß mich auch gleich auf den Weg machen.“
Sie reichte ihm ihre stets geradezu nach Wasser und Seife jammernde Hand. Brillantringe blitzten daran über all der Unsauberkeit. – Frau Mischke lebte in sehr guten Verhältnissen. Aber sie stöhnte immer über die schlechten Zeiten. Bei ihr traf auch zu: „Wenn der Stöhner nichts hat, – der Prahler gewiß nicht!“
„Auf Wiedersehen, lieber Herr Holk!“ Abermals das Dirnenlächeln.
Als sie draußen war, ging der junge Maler zum Waschtisch und spülte sich die Finger ab. „Wie gräßlich, widerwärtig und erniedrigend das alles ist,“ dachte er verbittert. –
Ihm fehlte bisher jener „göttliche“ Leichtsinn, der einem so kläglichen Dasein die schärfsten Dornen nimmt.
*
Das Ehepaar Müllenheim befand sich im Salon der mit feinstem künstlerischen Geschmack ausgestatteten sechs Zimmerwohnung und erwartete die Gäste, die heute zum Teeabend geladen waren.
Der Professor, ein Hüne mit blondem, wohlgepflegtem Spitzbart, schritt auf den dicken, seidigen Smyrna mit unhörbaren Schritten auf und ab, während Frau Agnes in einem Sessel vor sich hin träumte.
Dann blieb Manfred Müllenheim vor seiner Gattin stehen und fragte leichthin:
„Hast du an deinen Vater geschrieben?“
„Nein. Ich werde es auch nicht tun.“ Ihre Stimme klang so müde und gleichgültig, daß dies ihn noch mehr ärgerte als die offene Ablehnung seiner Bitte.
„So – nicht?! Du hattest es mir doch versprochen,“ sagte er gereizt. „Es muß sein, verstehst du mich – es muß! Dein Vater kann ganz gut so zehntausend Mark von dem Legate des Grafen abgeben. Am dritten ist der Wechsel fällig. Sollen sich für uns aus der Nichtbegleichung der Schuld vielleicht Unannehmlichkeiten ergeben, – ja, – willst du das wirklich?!“ Er sprach ganz leise. Aber seine Stimme klang doch wie das Grollen eines aufziehenden Gewitters.
„Ob ich es will?! Welche Frage! Natürlich nicht! – Aber ich kann es leider nicht verhindern, daß wir vielleicht bloßgestellt werden. An meinen Vater wende ich mich jedenfalls nicht. Wir haben schon zu oft seine Hilfe in Anspruch genommen. – Übrigens, ich hatte dir keineswegs versprochen, an ihn zu schreiben. Das bist du im Irrtum. Als du mir vor drei Tagen diese neuen Schulden beichtetest kam kein Wort von mir zu alledem. Das habe ich mir ja längst abgewöhnt, eben weil es zwecklos ist. Von deiner krankhaften Sucht, teure Altertümer zu erwerben, deren Ankauf sich höchstens ein Millionär leisten könnte, bist du ja doch nicht zu heilen.“
„Natürlich – natürlich, – ich bin schuld! Selbstredend, ich allein!“ fuhr er mit einem kurzen Lachen auf, indem er in übertriebener Verzweiflung die Arme hochreckte. „Krankhafte Sucht! Lächerlich – lächerlich, – eine Verdrehung der Tatsachen, wie du sie dir nur leisten kannst mit deiner – deiner –“
Er suchte vergebens nach einem passenden Ausdruck.
„Ja, mit meiner kühlen Korrektheit, die dir so verhaßt ist, mit meiner Wirtschaftlichkeit, die den festgefahrenen Wagen unseres Haushalts bisher immer wieder vorwärtszuschieben wußte!“ sagte sie bitter. Und fuhr dann mit einer müden Handbewegung fort: „Wozu aber diese Szene, die in der gleichen Art sich bei uns alle zwei Wochen abspielt?! – Ich habe es jetzt endgültig satt, deine Liebhabereien durch das Geld meines Vaters immer wieder zu bezahlen. Mache es einmal selbst durch, was es heißt, – betteln gehen zu müssen, besorge dir selbst das Geld, das du brauchst. Es gibt da ein sehr einfaches Mittel: Verkaufe deine Sammlung!“
Wieder lachte er schrill auf.
„Zunächst wären dann wohl deine Brillanten entbehrlicher, meine ich!“ polterte er heraus.
„So?! – Nur ein Egoist kann so sprechen. Doch – beenden wir dieses ebenso unerquickliche wie zwecklose Gespräch.“
Sie erhob sich. Ihre schlanke und doch volle Gestalt kam in dem einfachen, einen vornehmen Geschmack verratenden Gesellschaftskleide aus mattlila Crepe de Chine aufs vorteilhafteste zur Geltung. Ein eigener Reiz lag über der Gesamterscheinung dieser schönen Frau, in deren feingeschnittenem lieblichen Gesicht besonders die großen dunklen Augen und der süße, taufrische Mund auffielen. In dem hochfrisierten, aschblonden Haar funkelte eine Spange aus kleinen Brillanten in Form einer länglichen Krone. Und diesen königlichen Schmuck paßte nur zu gut zu diesem jungen Weibe, das jetzt einer jugendlichen Fürstin gleich, mit einem seltsam leichten, schwebenden Gange die Schwelle zum Nebenzimmer überschritt.
Manfred Müllenheim blickte ihr mit einem ganz besonderen Ausdruck in den hellen, lebhaften Augen nach. Ärger und Enttäuschung waren’s, auch wohl ein wenig ohnmächtige Wut, daneben aber jetzt, alles andere verdrängend, die Freude an und der Stolz auf die Schönheit seines Weibes.
Seines Weibes?! – War sie wirklich noch sein?! Lag nicht seit zwei Jahren eine stetig zunehmende Entfremdung wie eine unübersteigbare Schranke zwischen ihnen??! Entglitt sie ihm nicht immer mehr?! Gab es denn überhaupt ein wärmeres Gefühl, irgend eine Zärtlichkeit zwischen ihnen?! Gingen sie nicht lediglich nur noch nebeneinander her wie Fremde, nein, wie Feinde?
Der Professor, dieser Riese mit dem unfertigen Charakter eines Kindes, seufzte verstohlen auf. Etwas wie Einsicht und Reue regten sich in ihm. Wollte er ganz ehrlich zu sich selbst sein, eigentlich hatte Agnes in allem nur zu sehr recht! Aber – durfte er als Mann das zugeben, und – sollte er verzichten auf diese Freude, die ihm die Vervollständigung seiner Sammlungen bereitete?
Wieder seufzte er. Und ein Gedanke drängte sich ihm auf, der ihm schon zuweilen wie ein häßlicher Vogel zugeflogen war, er hätte ja eine ganz andere Partie machen können! Millionärstöchter aus Berlin W. wären für ihn sicher leichter zu erobern gewesen als dieses stille, ernste Pfarrerstöchterlein aus Perlburg! Millionärstöchter mit einem Vermögen, das ihm gestattet hätte, sich alle – alle Wünsche zu erfüllen. – Ob sie jedoch eine solche Frau geworden wären, wie Agnes, die sich so schnell in das gesellschaftliche Leben der Reichshauptstadt hineingefunden hatte und dabei sehr bald der Mittelpunkt eines Kreises geistig hochstehender Gelehrter und Künstler geworden war, so daß die Müllenheimschen Teeabende jetzt eine Art Berühmtheit bildeten mit ihren oft wechselnden, aber stets der geistigen Aristokratie aller Länder angehörigen Besuchern, – ja, ob diese oberflächlichen Großstädterinnen mit dem leichten Firnis einer Scheinbildung das Haus Müllenheim so aus der Alltäglichkeit herausgehoben hätten, das war sehr die Frage.
Hier mußte der Professor diese Gedankenreihe notwendig abschließen. Er hörte im Flur Stimmen. Die ersten Gäste kamen. –
Frau Agnes begrüßte Berd Holk sehr liebenswürdig. Der junge Maler, der die Kunstakademie besuchte, war erst vor zwei Monaten in die Kupferstecherklasse übergetreten, der der Professor vorstand. Und Müllenheim hatte dann sehr bald erklärt, daß er selten einen so begabten Schüler gehabt habe, hatte Holk in sein Haus gezogen und machte keinen Hehl daraus, wie sehr er diesem auch äußerlich so bestechenden jungen Menschen auf jede Weise vorwärtszuhelfen suchte.
Seiner Gattin war Holk ebenso sympathisch mit seiner Bescheidenheit, seinen guten Umgangsformen und dieser noch etwas jungenhaften Ehrlichkeit. Das Holk nebenbei ein noch wenig gefestigter Charakter war, konnte einer Frau wie Agnes Müllenheim nicht lange verborgen bleiben. Sie entdeckte sogar bei dem jungen Künstler manche Züge, die sie an ihren Mann erinnerten. Vielleicht hatte der Professor sich mit Berd Holk aus diesem Grunde auch so schnell angefreundet. Nicht immer stoßen sich verwandte Charaktere ab.
Frau Agnes erkundigte sich, ob Holk neue Aufträge für Plakatentwürfe erhalten habe. Er bejahte eifrig.
„Recht so,“ meinte sie. „Auch die Kunst muß nach Brot gehen. Wenn Sie erst Ihr Studium bei meinem Manne beendet haben werden, können Sie leicht eine Ihnen zusagende Stellung finden.“
Abermals erschien ein neuer, Müllenheims noch unbekannter Gast, der von dem bekannten Nervenarzt Geheimrat Pastoli eingeführt wurde.
Es war ein indischer Arzt, der in Berlin seine Kenntnisse erweitern wollte.
Agnes Müllenheim sprach zunächst mit dem braunen, europäisch und sehr elegant gekleideten Doktor Ungra ben Magore englisch, bis er lächelnd erklärte, er verstehe auch ein wenig deutsch.
Magore, ein schlanker Hindu von lichtbrauner Gesichtsfarbe, entstammte einer alten Fakirfamilie. Vor einer Woche hatte er in der Berliner Universitätsaula einen Experimentalvortrag vor einem Auditorium gehalten, das sich aus den Koryphäen der medizinischen Wissenschaft, Staatsmännern und anderen Leuten von Rang und Ansehen zusammensetzte. Die Presse hatte diesen Vortrag eingehend besprochen und Ungra ben Magore einen Mann genannt, der alle Grundprinzipien menschlicher Lebenserscheinungen auf den Kopf stellte. Die Fähigkeit, seinen Herzschlag nur durch die Kraft seines Willens fünf Sekunden lang aussetzen zu lassen, die ganz willkürlich auf seiner Haut auftretenden Farbenveränderungen in Gestalt einfacher Gegenstände, Blätter, Umrisse eines sitzenden Vogels und anderes, gingen weit über das Begriffsvermögen des Europäers hinaus[1].
Agnes Müllenheim war dieser Inder mit seinen geheimnisvollen Fähigkeiten hochinteressant. Auch er fand an der schönen, weißen Frau offenbar Gefallen und wich den Abend über kaum von ihrer Seite. –
Etwa zwölf Herren und vier Damen bildeten heute die Gäste des Müllenheimschen Teeabends.
Es ging ganz zwanglos her wie immer. Gegen zehn Uhr erschienen noch zwei Besucher: der Hofschauspieler Möwing, der vor kurzem den Glückssprung von einem Possentheater zum Königlichen Schauspielhause dank seiner glänzenden Begabung gemacht hatte, und ein kurländischer Baron namens von Wenden, ein älterer, vornehm aussehender Herr, der sich heute zum ersten Male bei Müllenheims einfand.
Möwing stellte ihn der Hausfrau mit den Worten vor:
„Gnädige Frau gestatten: – Baron von Wenden, eine Zufallsbekanntschaft von mir und ein Weltreisender, der jeden Winkel unseres Planeten kennt.“
Der Baron küßte Frau Agnes die Hand.
„Ich habe bisher nicht gewußt,“ sagte er in einem tadellosen Deutsch mit nur ein wenig harter Aussprache, „daß es in Deutschland Familien wie die Ihre gibt, die einem müden Erdenpilger so freundlich und zwanglos Aufnahme gewähren.“
Der indische Arzt, der sich mehr im Hintergrunde gehalten hatte, trat jetzt näher und machte sich mit dem Baron bekannt.
„Ah – welche Überraschung, – Herr Doktor Magore,“ rief Wenden ganz begeistert. „Sie sind jetzt in Berlin Tagesgespräch! Und – ich bewundere Sie! Ich habe doch während meines langen Aufenthaltes in Indien allerlei Dinge gesehen, die ich mit meinen armseligen fünf Sinnen nicht begriff, aber Ihre Experimente! Das ist höhere Fakirkunst!“
„Zunächst nichts als bestausgebildete Willenskonzentration,“ meinte der Arzt bescheiden.
Der Hausherr gesellte sich jetzt der Gruppe. Diese Gelegenheit benutzte Magore, um an den Professor eine Bitte zu richten.
„Sie sind doch Kupferstecher, Herr Professor. Ich habe gestern in einer Kunsthandlung Ihre Reproduktionen von einigen Rembrandtbildern mir betrachtet. Ich war begeistert. Vielleicht dürfte ich einmal eine solche Platte sehen, von der nachher die Drucke gefertigt werden. Mir fehlt gerade von Ihrer Kunst so jede Vorstellung.“
Müllenheim verbeugte sich. „Aber bitte – sehr gern! Wenn Sie mit in mein Atelier hinüberkommen wollten, kann ich Sie sofort etwas in die Besonderheiten des Kupferdruckes einweihen.“
Der Kurländer bat sich anschließend zu dürfen.
„Man lernt nie genug, gnädige Frau,“ meinte er mit seinem feinen Diplomatenlächeln zu Agnes.
Die Herren verschwanden, und Agnes Müllenheim blieb allein in dem kleinen Damenzimmer zurück. Sie setzte sich in einen der Seidensessel und bemühte sich, eine Weile an gar nichts zu denken. Sie fühlte sich heute sehr abgespannt. Die Unterhaltung mit Magore hatte sie angestrengt.
Dann ein leichter Schritt, ein Knarren des gewachsten Stabfußbodens. –
Sie schaute auf.
„Wirklich, Röder, – Sie?! – Je später der Abend, je schöner die Gäste! – Ihnen gegenüber darf ich ja wohl auch mal eine abgedroschene Redensart gebrauchen.“ Sie lächelte. – Wie sehr dieses Lächeln ihr süßes Gesicht verschönte!
Felix Röder küßte ihr in stummer Huldigung beide Hände, die sie ihm hingestreckt hatte, ohne sonst ihre Haltung zu verändern.
„Sie machen sich in letzter Zeit wieder sehr rar,“ sagte sie dann und wies auf den Hocker neben ihrem Sessel. „Manfred war in der vergangenen Woche dreimal bei Ihnen, ohne Sie anzutreffen. Ihre Sekretärinnen wußte auch nicht, wo Sie steckten, ob Sie überhaupt in Berlin wären.“
Röder hatte auf dem Hocker Platz genommen.
Mittelgroß, hager, dabei aber offenbar im Besitz nicht geringer Körperkräfte, war sein Gesicht von einer geradezu grotesken Häßlichkeit. Die hochgewölbte Stirn, überragt von einer Bürste kurzgeschnittenen, roten Haares, sprang in der Augengegend in zwei förmlichen Beulen vor. Dünne, kaum wahrnehmbare Brauen lagen wie leicht rötliche Pinselstriche über ein paar stets halbzugekniffenen Augen, die durch eine Brille mit grauen Gläsern noch mehr verdeckt wurden. Die Nase wieder war zu schmal und wirkte mit ihrer krankhaften Blauröte wie ein länglicher Streifen in dem sonst farblosen Antlitz. Der Mund, viel zu groß geraten, besaß fast gar keinen Lippenansatz und diente dem breiten, plumpen Kinn nach oben hin wie eine schmale, bogenförmige Furche als Abschluß. Auch die Ohren waren mit ihrer unwahrscheinlichen Länge nur zu sehr geeignet, diesen bartlosen Männerkopf in eine reine Clownsvisage zu verwandeln.
Mit seiner heiseren, stets so spöttisch klingenden Stimme erwiderte er jetzt:
„Wo ich gesteckt habe? – Bald hier, bald da. Sie kennen ja meine Unrast. Ich leide eben an periodischem Reisefieber. – Wundern Sie sich nicht, Gnädigste, daß ich so ganz unverfroren in diesem blauen Jackenanzug hier bei Ihnen auftauche, wo doch selbst Ihre Elite geistvoller Gäste den Normen der guten Gesellschaft stets das Zugeständnis macht, zum mindesten für die Teeabende in den Smoking zu schlüpfen?! –
Na – ich kam eben ganz zufällig durch die Bambergerstraße. Da fiel mir vor Ihrem Hause ein: „Eigentlich könntest du mal zu Müllenheims nach oben!“
„Nur richtig, daß Sie kamen, lieber Freund. Ich habe so lange nicht mit Ihnen geplaudert. – Denken Sie, – Sie werden heute bei uns eine Berühmtheit kennenlernen: Ungra ben Magore, den indischen Arzt.“
„So?! – Ich bin doch eben die Zimmer durchgegangen. Der braune Doktor hat sich wohl unsichtbar gemacht?! Auch Ihr Gatte scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.“
„Die Herren sind im Atelier. Manfred sollte Magore ein paar druckfertige Kupferplatten zeigen.“
Röder erhob sich plötzlich.
„Ich will ins Atelier. Bin zu neugierig auf den Inder! Entschuldigen Sie, Gnädigste – “
Frau Agnes schaute ihm enttäuscht nach. Sie hatte sich so auf ein Plauderviertelstündchen mit Felix Röder gefreut. Und vielleicht hätte sie ihm dabei ihr betrübtes Herz wieder einmal ausgeschüttet.
Die Herren waren nach einer halben Stunde wieder aus dem Atelier, das im Seitenflügel lag, in den vorderen Räumen erschienen.
Baron Wenden nahm jetzt den Hofschauspieler bei Seite und fragte, wer eigentlich dieser menschliche Pavian sei, – Röder hieße er ja wohl.
Möwing zog die Schultern hoch.
„Ich habe ihn auch erst hier bei Müllenheims kennengelernt. Er ist so was wie Privatgelehrter, sammelt Altertümer, versucht sich als Erfinder und – hat ein ganz gefährliches Mundwerk. Vor Röders beißender, aber treffender Ironie ist niemand sicher. Nebenbei ist er der anerkannte Seelenfreund der schönen Frau Agnes.“
„Wohl reich?“ meinte der Baron.
„Keine Ahnung. – Wie gesagt, unsere Bekanntschaft endet auf der Schwelle dieses Hauses.“ –
Im Bibliothekszimmer hatten sich Röder und Berd Holk in einer gemütlichen Ecke zusammengefunden.
Der junge Maler, der mit Möwing vorhin etliche Liköre im Speisezimmer probiert hatte, war sehr gesprächig. Er hatte sich in dieser Gesellschaft erlauchter Geister bisher nicht recht wohlgefühlt und war nun froh, einen Gesinnungsgenossen entdeckt zu haben, der gern auf gelehrte Gespräche verzichtete und mit Künstlerschnurren und einem Glas Sekt zufrieden war.
„Mir ist immer so, als hätte ich Sie schon mal irgendwo gesehen, Herr Holk,“ sagte Röder jetzt, indem er die Sektflasche aus dem Kühler nahm und die Gläser wieder füllte. „Wo war’s nur? – Es muß bei einer besonderen Gelegenheit gewesen sein. – Na, zunächst mal, zum Wohle! – Gut und billig, der Sekt. – Aha – sehen Sie, wie vortrefflich ich uns dieses stille Plätzchen ausgesucht habe?! Die Mira singt im Salon. Hier hört man wenig davon. Zum Glück! – Aus dem „Rosenkavalier“ von Strauß. Kennen Sie dieses modernste Opernmachwerk? – Na – Sie haben nichts dran verloren. Die Straußsche Musik ist sehr Geschmacksache – sehr! – Famos – nun weiß ich auch, woher ich Sie von Ansehen kenne. Rosenkavalier – Rosengarten im Tiergarten. Das kam meinem Gedächtnis zu Hilfe. Also im Rosengarten habe ich Sie mal eine halbe Stunde lang, um ganz ehrlich zu sein, heimlich beobachtet. Sie interessierten mich weniger. Aber Ihre Begleiterin, das schien mir etwas ganz Rares zu sein. Eine Kreolin scheinbar, wenigstens nach dem gelblichen Teint zu urteilen, dabei auffallend hübsch.“
Der junge Künstler wurde etwas verlegen.
„Sie irren, Herr Röder,“ meinte er zögernd. „Es ist eine Inderin. Der Vater soll ein Europäer gewesen sein. Die Herkunft der jungen Dame ist dunkel.“
„So – also jedenfalls hat sie einen Schuß exotischen Blutes in den Adern. – Wohl auch Künstlerin?“
„Nur auf der Schreibmaschine. Tippfräulein bei einem Justizrat.“
„Mit wieviel Gehalt?“
Berd Holk schaute Röder erstaunt an.
„Hundertzehn Mark monatlich,“ erwiderte er unsicher, um sofort hinzuzufügen: „Weshalb wollen Sie denn gerade das wissen?“
„Weil ich eine perfekte Maschinenschreiberin suche. Meine Sekretärin heiratet nächste Woche. Bisher hat sie mich enttäuscht, nun kommt ein anderer herein.“
Holk betrachtete Röder mißtrauisch. Sollte dieser Privatgelehrte etwa –? – Aber nein doch! Der Mann mußte ja sein Gesicht kennen! Und wer so gezeichnet umherläuft, müßte nebenbei noch ein Narr sein, wenn er glauben könnte, eine Ursula Palwner zu erobern! Und ein Narr war dieser Röder keinesfalls!
Der Privatgelehrte hatte Holks Gesichtsausdruck richtig bewertet, wie seine nächsten Worte bewiesen:
„Fürchten Sie nicht, junger Freund, daß ich Ihnen bei dem jungen Mädchen irgendwie ins Gehege kommen könnte. Ich habe meine großen Fehler, besonders Schönheitsfehler. Das reine Weib ist mir heilig. – Sehen Sie, die Sache liegt so. Einen jeden mag ich bei mir nicht beschäftigen. Ich diktiere oft wissenschaftliche Abhandlungen, die geheim bleiben müssen. Sie scheinen die Dame – wie heißt sie eigentlich?“
„Ursula Palwner.“
„– also Sie scheinen Fräulein Palwner doch näher zu kennen, könnten sie mir vielleicht empfehlen. Ich zahlte gut, überanstrenge keinen und sehe auch in einer Tippdame stets den gleichberechtigten Menschen.“
Holk wurde lebhaft. „Wenn Sie Fräulein Palwner engagieren wollten – ich wäre Ihnen sehr dankbar. Bei Justizrat Sternberg hat sie’s sehr schwer. Das reine Sklavenleben. Und empfehlen kann ich sie Ihnen mit bestem Gewissen.“
„Gut. – Wo wohnt sie?“
„Moabit, – Turmstraße 102, drei Treppen bei ihrer Pflegemutter Arnheim, einer Witwe. – Notieren Sie sich doch die Adresse.“
„Nicht nötig. Behalte ich so. – Prosit, trinken wir auf Ursula Palwners Wohl!“
„Sehr liebenswürdig!“ Berd Holks Augen leuchteten. Das machte nicht allein der Wein.
Felix Röder lächelte ganz wenig. Und dieses Lächeln schien mit einem Mal alle Häßlichkeit von seinem Gesicht fortzuwischen. Die Seele dieses Mannes lag in diesem gütigen, verstehenden Lächeln.
Und der Privatgelehrte sagte nun:
„Sie könnten mich mal besuchen, Herr Holk. Ich habe auch nichts dagegen, daß Sie mit meiner neuen Tippdame ein wenig plaudern –“
Der junge Maler wurde sehr rot.
„Wenn Sie gestatten! – Es wäre – wäre eine große Erleichterung für uns, Herr Röder. Frau Arnheim will nämlich nichts davon wissen, daß – daß –“
„Verstehe! – Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Fünfundzwanzig. Ich bin seit drei Jahren Waise. Niemand kümmert sich um mich. Aus einer Familienstiftung erhalte ich monatlich fünfzig Mark. Auf Rosen bin ich nicht gebettet. Erst habe ich Philosophie studiert, wollte Redakteur werden. Der Tod meiner Eltern, die von der Malerei nie viel hielten, erlaubte mir dann umzusatteln.“
Felix Röder merkte, daß Holk sich freute, jemanden gefunden zu haben, der Teilnahme für ihn zeigte. Er ließ ihn ruhig weitersprechen.
Dann kam Frau Agnes.
„Hier stecken die Herren! – Darf ich mich zu Ihnen setzen? Auch ein Tropfen Sekt wäre mir lieb.“
Holk sprang auf und rollte einen dritten Klubsessel an das Tischchen.
„Magore hat versprochen, nächste Woche hier bei uns einen Vortrag mit Experimenten zu halten,“ sagte Frau Agnes, nachdem sie den Sektkelch geleert hatte. „Ich bin sehr gespannt darauf. Da er mir die Zahl der Einladungen überlassen hat, sind Sie beide hiermit gleichfalls freundlichst für Mittwoch gebeten. – Ein seltsamer Mensch, dieser Inder,“ fügte sie sinnend hinzu.
„Sehr seltsam!“ meinte Röder.
Frau Agnes blickte ihn fragend an. Es war ein besonderer Unterton in diesem „sehr seltsam“ gewesen.
„Gefällt er Ihnen nicht, lieber Freund?“ forschte sie etwas zögernd.
„Sehr – sehr,“ erklärte Röder fast allzu eifrig. – Auch das entging der Hausfrau nicht. Aber sie drang nicht weiter in ihn. In Gegenwart Berd Holks würde er ja doch nicht mit seiner Meinung offen herausrücken. Bei nächster Gelegenheit sollte er ihr jedenfalls Aufklärung geben über diesen Gegenstand. –
Um ein Uhr brachen die meisten Gäste auf.
Berd Holk hatte mit dem Privatgelehrten verabredet, gemeinsam nach dem Nollendorfplatz zu gehen, um dort auf die Elektrische zu warten. Aber Felix Röder war plötzlich verschwunden.
Daher schloß Holk sich dem Baron von Wenden und Möwing an. Der Kurländer hatte ihn aufgefordert, mit ihnen noch im Tauentzien-Palast eine Tasse Kaffee zu trinken.
Aus der Tasse Kaffee wurde ein kleines Gelage. Der Baron bestellte einen schweren Burgunder, und Berd Holk war nach einer Stunde so ziemlich erledigt. Wein vertrug er nicht. Daran war er nicht gewöhnt.
Am nächsten Morgen wachte er erst gegen zehn Uhr auf – mit einem bösen Katzenjammer. Sehr undeutlich erinnerte er sich, daß der indische Arzt ebenfalls noch an ihren Tisch im Tauentzien-Palast gekommen war, daß Möwing früher aufbrach und die beiden anderen ihn dann in einem Auto nach Hause gebracht hatten. – Aber all dies konnte er auch ebenso gut geträumt haben.
Selbst als er sich fertig angezogen und durch zwei Flaschen Selterswasser Magen und Gehirn wieder leidlich in Ordnung gebracht hatte, konnte er die einzelnen Vorgänge in seinem Gedächtnis nicht zu einem klaren Bildern des Restes der vergangenen Nacht zusammenfügen.
Dann tauchte wieder blitzartig die Erinnerung an einen besonderen Zwischenfall in ihm auf. Und allmählich gelang es ihm, gerade dieses Begebnis so ziemlich mit allen Begleitumständen recht lebendig sich zu vergegenwärtigen. Offenbar hatte es sich gerade seiner Seltsamheit wegen in das Erinnerungsvermögen fester eingegraben als die sonstigen Einzelheiten der alkoholreichen Nachfeier des Müllenheimschen Teeabends.
Er war hin und wieder auf seinem Stuhl im Tauentzien-Cafee eingenickt. Als dies wieder einmal geschehen war, hatte ihn jemand scharf gerüttelt. Zusammenfahrend, hatte er wie durch einen Schleier gesehen, daß er allein am Tische saß. Die Stühle des Barons, des Inders und Möwings waren leer. Dann tauchte vor ihm das häßliche Gesicht Felix Röders auf, und der Privatgelehrte flüsterte ihm etwas zu. –
Was war das nur gewesen, was?! Was hatte Roeder gesagt? – Darauf besann er sich doch nicht. Nur daß der Privatgelehrte sehr eindringlich seine Worte betont hatte. Ja, war es nicht so etwas wie eine Warnung gewesen?! Aber vor wem nur? – Schade, daß ihm gerade der eine Satz – denn mehr konnte es nicht gewesen sein, – nicht einfiel.
Nachher war er wohl sofort wieder eingeschlafen.
Hm – ob er sich nicht irre, ob dieser Zwischenfall nicht doch lediglich ein Traumbild gewesen war?!
Wie sollte Röder ins Tauentzien-Cafee kommen. Er wohnte doch draußen in Charlottenburg! Lietzenseeufer 20.
Der Gedanke an dieses unaufgeklärte Vorkommnis verließ den jungen Maler nicht so bald. Immer wieder dachte er daran. Und nachmittags ging er dann kurz entschlossen ins Tauentzien-Cafee und erkundigte sich beim Geschäftsführer, wer von den Kellnern dort in jener Ecke in der vergangenen Nacht bedient hätte.
Der Kellner hatte seinen Dienst schon wieder angetreten. Holk fragte ihn, ob vielleicht ein Herr, der so und so ausgesehen habe – Röder war ja leicht zu beschreiben – in der Nähe ihres Tisches gesessen hätte, was sofort bejaht wurde.
„Dort hinter der Säule hatte der Herr seinen Platz,“ erklärte der Kellner. „Von Ansehen ist er mir schon lange bekannt. Wie er heißt und was er ist, weiß ich freilich nicht. Aber jedenfalls gehört er zu den Herren, die nachts gern von Lokal zu Lokal wandern.“
Berd Holk stand wieder auf der belebten Tauentzien-Straße. In Gedanken versunken schritt er der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche zu. –
Seltsam, – Felix Röder war also tatsächlich im Tauentzien-Cafee gewesen. Dann mußte auch das andere alles der Wirklichkeit angehört haben: daß der Privatgelehrte ihn als er gerade allein war, wachgerüttelt und zu ihm gesprochen hatte.
Berd schaute zu dem schlanken, grauen Turme der Kirche empor, die hier an der Kreuzung wichtiger Verkehrsstraßen sozusagen als Grenzstein des jungen Berlins, des Berlin W., stand. Die vergoldeten Zeiger wiesen auf fünf. Er hatte also noch zwei Stunden Zeit, bevor er sich aufmachen mußte, um Ursula abzuholen und eine nur zu kurz bemessenen Frist ihre Gegenwart zu genießen, falls eben nicht wieder der böse Zerberus, die Witwe Arnheim, vor dem Hause wartete, in dem sich das Bureau des Justizrats Sternberg befand.
Er schlenderte nun am Zoologischen Garten vorüber durch den herbstlichen Tiergarten dem Brandenburger Tor zu. Daß der ganze Tag für ihn verloren war, daß er wieder einmal nichts gearbeitet hatte, – deswegen machte er sich keine Gedanken. Wozu war man denn ein freier Künstler?! Das ewige Einerlei geregelter Tätigkeit mochte der großen Masse, den Philistern vorbehalten bleiben, auf die Berd Holk heute unter dem Einfluß des Alkohols mit noch größerer Verachtung als sonst herabblickte. Auch die Tatsache, daß er nur noch über eine Barschaft von zwei Mark verfügte, nachdem er recht gut zu Mittag gegessen hatte, störte ihn nicht. Er hatte sich schon überlegt, wie er es anfing, seine Börse heute nicht noch durch die Kosten eines Abendbrotes weiter zu erleichtern. Felix Röder war ja so liebenswürdig gewesen, ihm gegenüber anzudeuten, er sei am besten abends anzutreffen. –
Wenn er also Ursula nach Hause begleitet hatte, konnte er mit der Elektrischen gleich von Moabit nach dem Lietzenseeviertel in Charlottenburg hinaus. Röder würde ihn dann ja sicher zu einem Imbiß einladen.
Berd Holk seufzte plötzlich auf. Soeben hatte er sich noch in jener künstlich gehobenen Stimmung eines Nachkatzenjammers befunden. Nun würgte ihm mit einem Mal etwas wie Ekel vor sich selbst in der Kehle. –
Wie berechnen er doch geworden war. Wenn man zwei Mark in bar und ein Dutzend Pfandscheine in der Tasche hat, bemüht man sich auf besondere Weise zu sparen, – indem man auf eine Gratismahlzeit bei einem eigentlich wildfremden Menschen rechnet! – Pfui Teufel! Also soweit war es schon mit ihm gekommen.
Am Brandenburger Tor schwenkte er plötzlich nach links ein. Das Menschengewoge unter den Linden stieß ihn ab. Er wollte allein sein – nach Möglichkeit. So ging er denn durch stille Seitenstraßen weiter.
Und sein Gewissen hielt strenge Abrechnung mit ihm. Zum ersten Male warf er alle jene Scheinentschuldigungsgründe, mit denen er sein so genanntes Künstlerdasein bisher vor sich selbst zu rechtfertigen gesucht hatte, wie traurigen, innere Haltlosigkeit verhüllenden Flitter bei Seite. Die Menschen, die in geschäftiger Eile an ihm vorbeieilten, sah er nicht mehr mit jener Geringschätzung an, die im Grunde nichts anderes als ein Ausflug moralischer Unreife gewesen war. Jetzt beneidete er alle die, die nach einem arbeitsreichen Tage die Lebensfreuden doppelt in dem Bewußtsein treuer Pflichterfüllung genossen. – Pflichterfüllung! Bis vor einem Vierteljahre hatte er ja nur Pflichten gegen sich selbst gehabt. Dann aber war jener Abend gekommen, jener köstliche Juliabend, an dem er Ursula in die Arme genommen, geküßt und vor Seligkeit immer wieder seine kleine Braut genannt hatte. Von dem Augenblick an hätte er sein Leben von Grund auf ändern müssen. Vorgenommen hatte er es sich oft genug, auch große Anläufe dazu getan, die aber stets – Anläufe blieben! Gute Freunde, besonders die genialen Philisterverächter des Stammtisches „Palette“ und seine eigene Charakterschwäche sorgten dafür, daß er immer weiter hinabglitt in den trüben Sumpf des sogenannten „zwanglosen Sichauslebens“. –
Oh – wie jämmerlich er doch eigentlich war, wie gewissenlos! Wenn er gearbeitet hätte, wenn er sein Können für die moderne Plakatkunst eingesetzt hätte, dann wäre er längst aus all der Misere heraus gewesen, dann wäre wohl auch mancher Sparpfennig zurückgelegt worden, wovon ja Ursula immer so gläubig geschwärmt hatte. ‚Wenn du erst mehr verdienst, legen wir uns ein Sparkassenbuch an, Berd! Und dann wird jedes Zehnpfennigstück drei Mal umgedreht, ehe es ausgegeben wird. Auch ich werde dann ja hoffentlich schon Zulage bekommen haben und knapse mir ab, was nur irgend möglich ist. Das wird dann das Fundament unserer gemeinsamen Zukunft, unseres Glückes. Schade, daß es kein Glück ohne Geld gibt. Und – ganz glücklich werden wir doch erst sein, wenn wir uns für immer angehören – als Ehepaar.“
Berd Holk seufzte abermals tief auf. – Ja, wenn er auf Ursula gehört hätte! Ach – sie war ja schon so unheimlich verständig für ihre achtzehn Jahre!
Wenn – wenn – !
Er mußte jetzt die Friedrichstraße am Hotel „Kaiserhof“ überqueren. Eine Reihe Autos zwang ihn, an der Bordschwelle stehen zu bleiben.
Da schlug ihm jemand leicht auf die Schulter.
Es war der Baron von Wenden.
Der Kurländer sah wieder aus, als käme er geradenwegs aus einem ersten Schneideratelier in ganz neuen Sachen.
Der grauschwarze, kurze Herbstüberzieher mit den Atlasaufschlägen, der tadellose Zylinder, die gebügelten, dunkelgestreiften Beinkleider, die Lackknopfschuhe, – alles von unaufdringlicher Vornehmheit, soeben nur die Grenze des Geckentums streifend. Dazu das von einem bereits leicht ergrauten Spitzbart umrahmte, sonst aber noch recht frische Gesicht, in dem das Monokel in dem linken Auge wie eingemauert schillerte, während um den Mund ein blasierter, leicht hochmütiger Zug sich deutlich ausprägte, – das war der Baron Stanislaus von Wenden, der Weltenbummler, der in den Hafenspelunken von Melbourne in Australien ebenso gut Bescheid zu wissen schien wie in den norwegischen Fjorden.
„‘n Abend, Herr Holk. – Wie ist Ihnen denn der gestrige Abend bekommen? – Zum Teufel – in diesem Lärm versteht man ja sein eigenes Wort kaum! – He, Auto – halt! – Steigen Sie ein, bester Holk. Vorwärts – vorwärts! Keine Umstände. Sie müssen mir helfen, den Abend totzuschlagen. Erst fahren wir zu „Traube“. – Aber los doch, hinein mit Ihnen – “
Berd Holk sträubte sich. Doch lachend schob der Baron ihn in das Auto. –
Ursula Palwner schaute sich heute vergebens nach ihrem Verlobten um, als der Bureaudienst endlich vorüber war.
Daheim empfing ihre Pflegemutter sie mit einem nicht enden wollenden Schwall von Worten.
Sie hatte einen anonymen Brief erhalten, in dem Berd Holk als ein ganz gefährlicher Wüstling und unverbesserlicher Trunkenbold hingestellt war. Auch allerlei Beweise hatte der unbekannte Briefschreiber angeführt: „Fragen Sie ihn doch mal, ob er in der vergangenen Nacht nicht erst um vier Uhr total bezecht von zwei Herren heimgebracht worden ist, ob er nicht alle seine Sachen versetzt und seine Wirtin angeborgt hat, nur um sich noch sattessen zu können –“
„Und von dem Menschen läßt du dich begleiten, Ursel. Von so einem verkommenen Burschen!“ jammerte Frau Arnheim weinerlich! „Armes Kind, du bist ja noch so kurzsichtig, so unerfahren! Ein Glück nur, daß ich dich so streng behütet habe. Sonst hätte dieser Holk dir womöglich allerlei Flausen vorgemacht von heiraten so weiter – man kennt das ja!“
Ursula nahm den Brief und las ihn langsam Zeile für Zeile. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt.
Dann sagte sie leise: „Ich habe Kopfschmerzen. Verschone mich heute bitte mit diesen Widerwärtigkeiten – “
An demselben Tage war Rechtsanwalt Hartock mittags in Berlin angekommen. Er traf seinen Kollegen und Bundesbruder Siering – sie waren beide Alte Herren der Turnerschaft Borussia-Berlin – in dessen Bureau in der Potsdamer Straße gerade noch an, als dieser eben zu Tisch gehen wollte.
„Hartock – welche Freude! – Tag, alter Sohn! Wie sieht’s denn bei euch im Perlburg aus? Haben dich Geschäfte hierher geführt? – Du, wir wollen zusammen bei „Kempinski“ futtern. Natürlich! „Kempinski“! – „Hat der Berliner fünf Mark fünfzig, so zieht’s ihn zu Kempinski hin –“ – Kennst du noch das Couplet[2], wie?“
Rechtsanwalt Siering war so der Typ des modernen Strafverteidigers: elegant, Lebemann, nervös, siebenmal gesiebt und ein glänzender Jurist.
Da bei ihm Zeit Geld bedeutete, raste ein Auto mit den beiden Freunden gleich darauf die Potsdamer entlang. –
„Kein Schneckentempo, lieber Benzinkutscher!“ hatte Siering zu dem Chauffeur gesagt. Und „Ick weeß schonste Bescheid!“ hatte der Lederumhüllte erwidert. „Ick habe Ihnen nich det erst Mal, Herr Rechtsanwalt.“ –
Oskar Siering war eben trotz seiner achtundzwanzig Jahre in Berlin bekannter als mancher Minister.
Im Auto erledigte Siering erst noch die Vormittagspost – seine Privatbriefe. –
„Entschuldige, Hartock, – aber du weißt ja, der Weg zur Abfütterung ist für die Privatkorrespondenz ein für alle Mal vorbehalten.“
Hartock sagte nur: „Laß dich nicht stören!“ und dankte in seinem Innern dem gütigen Gott, daß er in Perlburg und nicht in Berlin Anwalt war.
Bei „Kempinski“ fanden sie noch im Erdgeschoß im Kadiner Saal einen freien Tisch.
Dann mußte Hartock erzählen, weshalb er aus seinem märkischen Städtchen herübergekommen war.
„Es handelt sich um dieselbe Sache, deretwegen ich mich damals vor etwa einem halben Jahre an dich gewandt hatte. Du wirst dich noch besinnen; verschwundenes Testament des Grafen Blenkner.“
„Weiß schon. Sollte dir einen Detektiv empfehlen. Warst aber nachher mit dem Manne nicht sehr zufrieden, den ich schickte.“
„Ehrlich – das war auch kein Detektiv, sondern ein scheußlich unliebenswürdiger und wortkarger Mummelgreis, der vor Zugluft, Wind, Regen und Kälte dauernd in Angst war.“
Siering lächelte. „Er war doch inkognito bei euch, nicht wahr? – Als was führte er sich ein?“
„Als Antiquitätenhändler, der einiges aus dem gräflichen Nachlaß zu erwerben wünschte. Aber unter seinem richtigen Namen Balduin Kämpfer.“
„Richtig, du schriebst’s mir ja. – Freundchen, den Balduin unterschätzt du aber, glaub’ mir ! Der hat bei euch eben nur seine Rolle als verhutzelter Altertümler bis ins kleinste durchgeführt. Das tut er immer. – Hat er nichts wieder von sich hören lassen?“
„Nichts! Drei Tage ist er im Schloße wie ein Gnom umhergeschlichen, hat alle Papiere durchstöbert und sagte uns dann, dem Oberinspektor Rickert und mir: „Meine Tätigkeit hier ist zu Ende. Ich reise abends ab. Eine Vergütung beanspruche ich nicht.“ – Na – wir waren froh, als er fort war.“
Wieder lächelte Siering, kam aber auf Balduin Kämpfer nicht mehr zurück, sondern fragte:
„Hat sich das Testament etwa gefunden?“
„Bewahre! Ich fürchte, es wird auch verschwunden bleiben. Aber zweierlei ist doch geschehen. Erstens hat der preußische Fiskus gegen die Verwalter des Blenkner’schen Nachlasses als gesetzlicher Erbe bei Fehlen anderer Erbberechtigter Klage auf Anerkennung seiner Ansprüche erhoben, und zweitens – paß auf, nun kommt’s! – sind aus dem Erbbegräbnis auf der Insel zwei der mumifizierten Leichen – gestohlen worden! Wann dies geschehen ist, weiß niemand. Entdeckt wurde der Diebstahl erst gestern früh, als Rickert rein aus Neugierde sich überzeugen wollte, ob Graf Roderich auch bereits sich in eine braune Mumie verwandelt habe, was bei dem alten Sonderling, der bis zuletzt täglich seine sechs Flaschen Rotwein vertilgte, vielleicht schneller gehen würde in Folge der Alkoholdurchtränkung der Materie, – wie Rickert sich ausgedrückt hat. Nun – Graf Roderich spielte seinem braven Oberinspektor einen Streich – er hatte sich stehlen lassen! Der Sarg war leer, genau so wie der seines Oheims, des Grafen Winfried Blenkner, eines sehr jung dahingegangenen Mitgliedes des feudalen Geschlechts.“
„Ne – was du sagst – gestohlen?! Unglaublich!“ Siering hatte Messer und Gabel hingelegt und schüttelte immer wieder den Kopf. – “Wirklich – unglaublich!“ fuhr er fort. „Hatten die beiden Blenkner denn etwa in den Sarg Schmucksachen mitbekommen, – Ringe oder sonst was von Wert?“
„Nichts! – Das ist ja eben so merkwürdig bei der Geschichte! – Wozu dieser Diebstahl?! Ich begreif’s nicht.“
„Und – was willst du nun hier in Berlin?“
„Mit dir die Sache besprechen, – ich meine das Verschwinden der beiden Leichen, und dann einen beim Kammergericht zugelassenen Kollegen als Prozeßvertreter wider den Fiskus bestellen. Wir Verwalter des Nachlasses sind nämlich der Ansicht, daß das Testament immer noch durch einen Zufall entdeckt werden kann, daß der Fiskus also noch zu warten hat, bis etwas mehr Zeit nach dem Todesfall des Erblassers verstrichen ist.“
„Hm – mit mir besprechen!“ Siering hatte sein Glas Rheinwein langsam geleert. „Sehr schön. Aber – was gibt’s da groß zu bereden? – Ihr wollt doch den Dieben oder dem Diebe nachspüren lassen, Ihr Herren Nachlaßverwalter, nicht wahr? – Na also! Dann mußt du dich besser an den „Mummelgreis“ als an mich wenden.“
„Wie – an diesen Balduin Kämpfer?! – Niemals! Das ist ein Idiot, ein – “
„Halt – stopp!“ unterbrach Siering den Freund ziemlich scharfen Tones. „Schmähe einen Mann nicht, dem wir beide nicht das Wasser reichen! – Hast du in den letzten Tagen eine Berliner Zeitung genau gelesen? – So, dann wirst du ja auch wohl wissen, daß die kleine Probiermamsell, die Hedwig Meinke, die ihren Bräutigam vergiftet haben sollte und gegen die so erdrückende Beweise vorzuliegen schienen, aus der Untersuchungssache entlassen worden ist. Angeblich habe ich das Entlastungsmaterial beschafft als ihr Offizialverteidiger. Die Presse hat mich wieder mal als Genie gefeiert. In Wahrheit ist Balduin das Genie gewesen, – der Mummelgreis, der Idiot! – Gewiß, er hat in meinem Auftrage gehandelt. Aber die Palme gebührt ihm. Daran läßt sich nicht deuteln.“
Hartock war verlegen geworden.
„Ja – aber weshalb in aller Welt spielte dieser Kämpfer denn bei uns in Perlburg sich so als Trottel auf?!“ meinte er zögernd.
„Weiß ich nicht. Jedenfalls kann ich dir nur raten, ihn bitten, sich dieser Mumienaffäre anzunehmen. Wenn du willst, begleite ich dich zu ihm. Ich habe ohnedies etwas mit ihm zu besprechen. Nachher werde ich ihn anläuten, wann er bestimmt daheim ist.“
Hartock war einverstanden. Und Siering brachte dann aus der Telephonzelle den Bescheid mit, daß Balduin Kämpfer die beiden Herren um ein halb fünf bei sich erwarte. –
Das Auto hielt vor Lietzenseeufer 20. Es war wohl das älteste Haus dieses Viertels. Wie ein Zwerg nahm es sich zwischen den beiden modernen Mietspalästen mit seinen altmodischen Fenstern und mit seinem hohen, schrägen Dach aus.
Hartock und Siering stiegen die mit einem billigen Läufer belegte Treppe empor. Im ersten Stock blieb der bekannte Verteidiger stehen und deutete auf die rechte Flurtür.
„Wir sind am Ziel. Hier ist die Höhle des Löwen.“
Dann wandte er sich nach links. An dieser zweiten Tür war über dem Briefeinwurf ein Messingschild mit dem Namen „Felix Röder“ angebracht.
„Diesen Röder kenne ich auch,“ meinte Siering. „Ein Original, sag’ ich dir. Verkehrt in der besten Gesellschaft, obwohl seine Zunge Gift zu schleudern weiß. Ein Spötter, ein Weltverächter. Also hausen hier zwei Menschen besonderer Art nebeneinander.“
Dann hob er den Griff der elektrischen Glocke von Balduin Kämpfers Tür, die ein kleines Porzellanschild mit der Aufschrift „Kämpfer– Detektivinstitut und Auskunftei“ schmückte.
Ein älterer Mann öffnete. Siering begrüßte ihn vertraulich.
„Es ist Kämpfers „rechte Hand“, – Herr Karl Marx,“ erklärte er Hartock.
Marx führte die beiden Herren in einem mit alten Möbeln ausgestattetes großes Zimmer, das gleichzeitig Bibliothek, Laboratorium und Studierstube zu sein schien.
Balduin Kämpfer hatte an einem einfachen Holztische gestanden und über einer Spiritusflamme ein Glasröhrchen gedreht, in dem ein paar rote Kristalle lagen.
„Bitte, nehmen Sie Platz,“ sagte er. „Ich bin sofort fertig.“
So fand Hartock Zeit, sich Kämpfer genauer anzusehen. – Mit dem Herrn, der auf Schloß Blenknerhof als Antiquitätenhändler überall umhergeschnüffelt hatte, besaß der Mann mit dem Glasröhrchen dort am Tische sehr wenig Ähnlichkeit. Eigentlich gar keine. Hartock mußte sich eingestehen, daß er ihn nie wiedererkannt hätte.
Balduin Kämpfer hatte einen fahlblonden Vollbart, trug einen Kneifer mit schwarzer Horneinfassung, der auf einer Nase mit breiten, aufgeblähten Flügeln balancierte, besaß blondes, gescheiteltes Haar und hatte über einen gutsitzenden schwarzen Jackenanzug unter den Armen eine blaue Schürze wie ein Hausknecht festgebunden – wohl zum Schutz gegen Chemikalienspritzer. Seine Stimme war näselnd und leise, als leide er an einer hartnäckigen Nasenerkrankung. Und diese Stimme erinnerte Hartock als einziges an den Antiquitätenhändler. Der hatte auch so undeutlich gesprochen.
Jetzt legte Kämpfer das Gläschen bei Seite, band die Schürze ab, warf sie auf den Tisch und kam die Herren begrüßen, reichte jedem die Hand und sagte dann zu Hartock, indem er sich ihm gegenüber an den Kachelofen lehnte:
„Eigentlich hätten die Diebe wenigstens Respekt vor dem ehrwürdigen alten Grafen haben müssen, nicht wahr?! Wenn sie schon den Grafen Winfried mitnahmen, dem Roderich hätten sie seine Ruhe wohl gönnen können.“
Hartock saß wie erstarrt in dem altmodischen Plüschsessel. Dann fragte er geradezu maßlos erstaunt:
„Ich denke, Siering hat Ihnen am Telephon mittags noch gar nicht gesagt, weshalb – “
„Ne, habe ich auch nicht,“ fiel Siering mit Nachdruck ein.
„Stimmt – hat er nicht!“ näselte der Detektiv. „Im übrigen weiß ich schon seit drei Tagen, daß die beiden Grafen aus dem Erbbegräbnis verschwunden sind.“
Hartock glaubte zu träumen.
„Ja, um alles in der Welt, – woher denn?“ fragte er völlig verwirrt. Gestern früh hat Rickert doch erst – “
Kämpfer unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung.
„Lassen Sie! Bei dem Frage- und Antwortspiel vertrödeln wir nur Zeit. – Als ich damals Schloß Blenknerhof verließ, schienen Sie etwas enttäuscht zu sein, Herr Rechtsanwalt Hartock. Gewiß – ich hätte Ihnen ja anvertrauen können, daß ich immerhin so etwas wie einen Hinweis gefunden hatte, der eine bestimmte Person als Dieb des Testamentes verdächtigte. Wozu sollte ich aber Hoffnungen in Ihnen wecken, die vielleicht Hoffnungen bleiben?! Ich rede nicht gern über meine Arbeit, bevor sie nicht fix und fertig erledigt ist. – Diese ganze Geschichte da in Blenknerhof haben Sie falsch angepackt. Sie hätten mich früher holen lassen sollen, nicht erst, als ein Teil der alten Bediensteten bereits ihr Bündel geschnürt hatte, darunter auch der Karl Wermig, dessen Fingerabdrücke ich an der Stahlklappe des Geheimfaches des Geldschrankes fand – neben den Ihrigen, Herr Hartock, und denen des Oberinspektors. Na – Sie beide schieden ja für mich aus. Wie aber kamen die Fingerspuren des Dieners des Grafen auf die Innenseite der Klappe?! – Nicht wahr – das mußte mir doch auffallen! – Sehen Sie, Sie hatten mir ja das andere Testament zur Durchsicht gegeben, das damals vor allen Gutsleuten verlesen wurde. Und da war dieser Wermig in einer Weise erwähnt, die mir etwas merkwürdig erschien – sogar sehr merkwürdig, wie wohl jedem, der sich eingehender mit den Nachtseiten des Lebens beschäftigt hat. Graf Roderich hatte da etwa folgendes geschrieben:
„Wenn ich den Namen Marwitz erwähne, wird er – nämlich Wermig – wissen, weshalb er so karg bedacht worden ist.“ –
Irgendwas mit diesem Wermig stimmte also fraglos nicht. Und deshalb durchsuchte ich auch die Dachstube, die er bewohnt hatte. Ich fand natürlich nichts Wichtiges, nur an verschiedenen Stellen – am Metallleuchter, an einem Wasserglase und so weiter – die Abdrücke seiner Fingerspitzen. Und als ich diese nachher mit denen auf der Innenseite der Klappe verglich, da waren es genau dieselben. So kam es, daß mir Wermig immer interessanter wurde. Und dies wäre doch sicher auch eingetreten, wenn Sie, Herr Hartock, mich gerufen hätten, bevor Wermig aus Blenknerhof verschwand. Ich sage absichtlich „verschwand“! Bis heute habe ich ihn nicht wieder aufspüren können. Dabei habe ich mit einem Eifer nach ihm gesucht wie selten nach einem Verbrecher und einem alten Zuchthäusler, – denn er ist beides.“
Balduin Kämpfer wandte sich jetzt an seine „rechte Hand“, an Marx, der soeben mit einem großen Anrichtebrett eingetreten war, worauf eine Nickelkaffeekanne und drei Tassen, aber auch eine Platte sehr appetitlich belegte Brötchen standen.
„Stellen Sie das Brett nur auf den Tisch, Marx. Wir bedienen uns dann schon selbst,“ meinte er, verließ seinen Platz am Ofen und begann die Tassen zu füllen.
Marx verschwand wieder, und der Detektiv sagte näselnd wie immer:
„Sie werden einen kleinen Imbiß nicht ablehnen, meine Herren. – Bitte, langen Sie zu. – Der Kaffee ist prima extra. Ein Geschenk des Hamburger Senators Reuter, der bekanntlich mit Kaffee handelt. Ich habe ihm vor vierzehn Tagen zu zwanzigtausend Mark zurückverholfen, mit denen so ein frecher Bengel von Lehrling durchgebrannt war.“
Dann holte er noch Zigarren und Zigaretten herbei und erklärte:
„Wir wollen es uns gemütlich machen. Unsere Unterredung wird ja wohl etwas länger werden.“
Nach der ersten Tasse Kaffee und den ersten beiden Kaviarschnittchen sagte Hartock: „Ich habe Ihnen viel abzubitten, Herr Kämpfer.“
Der Detektiv nickte. „Glaub’ ich! Sie werden wohl Siering gegenüber mich einen kompletten Narren oder dergleichen genannt haben. Das haben schon manche. So auch jener Doktor Munkel, ein Chemiker, dem ich gern nachweisen wollte, daß er seine drei Frauen, jede stets nach einjähriger Ehe, vergiftet habe. Mit der vierten, der er dasselbe zugedacht hatte, war er gerade in Homburg zur Kur. Ich suchte unauffällig die Bekanntschaft des Paares und zwar als Gymnasialprofessor a. D. Der dreifache Mörder verulkte mich, wo er nur konnte, bis ich ihm nach acht Tagen auf der Brunnenpromenade seine Schandtaten nebst Beweisen vorhielt. Vielleicht war er gerade deshalb so völlig kopflos über diese meine Eröffnungen, weil sie eben von dem idiotenhaften Professor kamen. Er versuchte kaum zu leugnen. – Ja, es ist nun mal Tatsache, die Dümmsten entpuppen sich manchmal als ganz nette Durchschnittsgeister. Mehr bin ich auch nicht.“
„Dann sind eben Ihre Anforderungen an einen „Durchschnittsgeist“ auch ordentlich hohe!“ lachte Hartock.
Balduin tat, als habe er diesen Einwurf nicht gehört und fuhr fort – fast in einem Atem: „Kehren wir zu Karl Wermig zurück. – Wollen die Herren mal bitte freundlichst die Namen Wermig und Marwitz vergleichen. Fällt Ihnen dabei etwas auf? – Denken Sie nur ein bißchen nach.“
„Beide enthalten zwei gleiche Buchstaben,“ meinte Siering.
„Ist das alles? – Na, und die anderen vier Buchstaben?“
Die Anwälte schwiegen.
„Die vier anderen,“ sagte Kämpfer lauter, „sind in jedem Namen so beschaffen, daß sie sich leicht durch kleine Radierkünste und Tintenhäkchen verändern lassen, zum Beispiel M in W, a in e, z in g.“
„Aha!“ rief Siering. „Ich hab’s! Der Wermig hieß mal Marwitz und hat seine Papiere auf den ersten Namen gefälscht.“
„Sagen wir nicht „seine“ Papiere, sondern allgemeiner „Papiere“. – Ja, und mit diesem Namen Marwitz versuchte ich denn auch nach meiner Rückkehr aus Blenknerhof mein Glück. Das Zuchthaus in Mewa schrieb mir schon acht Tagen später, bei ihnen habe mal ein Marwitz gesessen, der aber vor etwa drei Jahren ausgebrochen und nicht wieder gefaßt wäre. Dieser Ausbrecher war in der Tat unser Karl Wermig. Das war unschwer festzustellen. Ich brachte folgendes über ihn in Erfahrung. Er war längere Zeit als Karl Marwitz bei einem hohen Staatsbeamten als Diener in Stellung gewesen, hatte sich hier dann eines Verbrechens schuldig gemacht, auf das Zuchthaus steht und war vom Schwurgericht abgeurteilt worden. Schon während der Voruntersuchung gegen ihn hatten sich sicherer Anhaltspunkte dafür ergeben, daß „Marwitz“ fraglos nicht der richtige Name des Angeklagten war. Es waren daher weitgehende Ermittlungen nötig, um die Persönlichkeit dieses angeblichen Marwitz zweifellos festzustellen. Doch alles umsonst. So wurde er denn unter diesem Namen auch wirklich verurteilt. Dem Manne war eben nicht beizukommen. Er war schlauer als die ganze wohllöbliche Staatsanwaltschaft mit ihren Hilfsorganisationen. –
Über Karl Marwitz’ Vergangenheit wissen wir mithin nicht gerade viel, über seine Person doch so allerlei, zum Beispiel, daß es auch dem Grafen Roderich aufgefallen sein soll, eine wie umfassende Bildung dieser herrschaftliche Diener besaß, der sich im Schloß Blenknerhof dadurch Eingang verschafft hatte, daß er die vor den Gerichten geretteten, auf Marwitz lautenden Papiere auf den Namen Wermig umfrisierte. Dies muß Graf Blenkner ohne Frage gemerkt haben, was sie ja aus der Bemerkung in dem einen Testament hervorgeht. Merkwürdig ist, daß er Wermig-Marwitz trotzdem bei sich behalten hat. –
Nicht wahr, meine Herren, es gehört doch schon reichlich viel Sinn für alles Absonderliche dazu, um einen Menschen beständig als Diener um sich zu haben, von dem man weiß, daß er sicher zu unlauteren Zwecken die Stellung angenommen hat. Aber Graf Roderich war eben ein sehr eigenartiger Herr, dem es vielleicht Spaß gemacht haben mag, sozusagen fortwährend mit einer Gefahr zu spielen und seines Dieners verbrecherischer Absichten unauffällig zu durchkreuzen. In einer solchen Situation muß ohne Frage ein gewisser Reiz gelegen haben. – Unterstellen wir also, daß Graf Blenkner lediglich aus Neigung zu allem Extravaganten Wermig-Marwitz bei sich behalten hat. – Eine bessere Erklärung wird jedenfalls schwer zu finden sein.“
„Sehr richtig,“ meinte Siering. „Eine bessere gibt es nicht. – Schade, daß Graf Roderich hierüber nicht mehr Auskunft erteilen kann!“
Der Detektiv ließ jetzt das Spirituslämpchen zum Anzünden der Zigarren von Hand zu Hand gehen.
Siering tat prüfend ein paar Züge aus einer dünnen Havanna mit braungrünem Deckblatt.
„Ein vorzügliches Kraut!“ meinte er. „Im übrigen, mein lieber Balduin, weswegen hat Wermig-Marwitz eigentlich in Mewa Freiquartier beziehen müssen?“
Kämpfer hüstelte. „Haben Sie schon mal erlebt, werter Gönner, daß ich mich ausfragen lasse? – Ich habe meine Gründe, dies vorläufig für mich zu behalten.“ Nach kurzer Pause fuhr er fort, – ohne besondere Betonung seiner Worte, obwohl er wissen mußte, daß diese wie eine Bombe wirken mußten:
„Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich den Universalerben auch ohne das verschwundene Testament auffinde, meine Herren.“
Die beiden Anwälte ruckten zusammen, als risse ein Riesenfaust sie hoch. Ungläubiges Staunen malte sich in ihren Gesichtern. Besonders Hartock, dem die zuweilen auf grobe Effekte hinarbeitende Art des Detektivs noch fremd war, konnte ein zweifelndes „Na, na – Sie scherzen wohl!“ nicht unterdrücken.
„Ich – scherzen?! In Berufsangelegenheiten?! – Da kennen Sie mich schlecht. – Ich sehe Ihnen beiden an, daß Sie sich anschicken, über mich mit einem ganzen Sack voll Fragen herzufallen. Bitte – schlucken Sie alle diese Fragen nur getrost wieder hinunter! Ich würde doch nicht antworten. Nur eins sagte ich Ihnen, Herr Hartock, falls Sie in Perlburg abkömmlich sind, bleiben Sie eine Weile hier in Berlin. Ich habe so das Gefühl, daß wir großen Ereignissen entgegentreiben. Und die werden Sie doch gern aus nächster Nähe miterleben wollen, nicht wahr? Außerdem könnte ich Sie hier vielleicht auch ganz gut gebrauchen – als Hilfskraft! Niemand kennt Sie hier. Sie dürfen daher ungefährdet unter falscher Flagge segeln, das heißt, irgend eine besondere Rolle spielen, die sich für Sie schon noch finden wird. Die Unkosten des hiesigen Aufenthalts sind mit Fug und Recht der Blenknerschen Nachlassmasse in Rechnung zu stellen, da Sie doch die beiden toten Grafen wieder herbeischaffen wollen. –
Hm – ja, – ich will einmal von meinem Prinzip abweichen und Ihnen Aufklärung darüber geben, wie es kam, daß ich, außer den Dieben – zuerst von dem Raube der mumifizierten gräflichen Leichen Kenntnis erhielt. Ich sagte Ihnen vorhin, ich hätte bereits vor drei Tagen von diesem Diebstahl etwas gewußt. War wirklich keine Großsprecherei von mir. Vor drei Tagen hatte ich nämlich wieder mal im Blenknerhof ganz inkognito zu tun. Ich habe damals auch mit Ihnen und Rickert gesprochen, Herr Hartock, und zwar nachmittags gegen vier Uhr auf dem Bahnhof in Perlburg. –
Sie grübeln jetzt darüber nach – wer, wie, was? – Strengen Sie sich nicht unnötig an! – Ich war nämlich der Viehhändler, der Rickert im Wartesaal 2. Klasse für einen Zuchtbullen zweitausendachthundert Mark bot. – Ja, ja, wir sind vielseitig, sind nicht immer nur ein Antiquitätenhändler voller mürrischer Schweigsamkeit. Jedenfalls führten mich meine Geschäfte dann spät abends auch nach dem Ufer des Galgen-Sees hin. Ich sah ein Boot, das die Insel leise verließ. In dem Kahn saßen drei Leute. – Was hatten die um neun Uhr noch auf der Insel zu tun?! – Ich nicht faul – hinein in einen Nachen, den ich bald in der Nähe fand, hinüber nach der Insel und genau nach dem Erbbegräbnis. Dort war jedoch nichts zu sehen, was meinen Argwohn verstärken konnte. Trotzdem gab ich mich nicht mit einer Besichtigung der kleinen Baulichkeit nur außen zufrieden. Ich bin stets sehr gründlich. Die schwere Flügeltür war verschlossen. Da mußte ich eben gewaltsam hinein. Und das ließ sich nur durch eines der runden Fenster bewerkstelligen. Als Leiter diente mir die linke der beiden Tannen, und ein Stein erleichterte mir das Öffnen eines der Fenster. Kurz, meine Taschenlaterne warf gleich darauf ihren weißen Lichtkegel auf zwei leere Särge. – Warum ich nun nicht sofort Lärm schlug?! – Sehr einfach! Die drei Leute in den Nachen hatten einen Vorsprung von einer halben Stunde; ihr Boot war quer über den See nach Norden zu verschwunden; dort entdeckte ich dann auch den leeren Nachen am Ufer, daneben Spuren im Sande und weiter auf einem nahen Feldwege die Fährte eines – Autos! – Mit der Eisenbahn hatten die Diebe ihre Beute also nicht wegzubringen gedacht. Sie waren eben vorsichtige Spitzbuben. Und dem Auto konnte ich nicht gut nachlaufen. Ein Eisenbahntransport wäre günstiger gewesen – für uns! Den hätte man abfangen können. –
Also waren die drei Leute längst über alle Berge. Würde ich nun nach dem Schloße geeilt sein und hätte ich dort die Bewohner alarmiert – was wäre dadurch gewonnen gewesen?! – Nichts! – Behielt ich meine Wissenschaft dagegen für mich, so konnte ich hoffen, daß die Diebe in dem Glauben, der Leichenraub könne noch lange unentdeckt bleiben, und in einem daraus entspringenden Gefühl von Sicherheit eine Dummheit oder Unvorsichtigkeit begehen würden, konnte auch mein inkognito bewahren und brauchte nicht auf unbequeme Fragen mit faustdicken Lügen zu antworten. – Nun – die drei Leichenräuber haben mich schwer enttäuscht. Bis heute sind sie mir genau so unbekannt wie der jetzige Aufenthalt unseres Freundes Wermig-Marwitz.“
Daß dieses Abenteuer Balduin Kämpfer Hartock nicht sonderlich interessierte, ging jetzt aus dessen etwas schüchterner Frage hervor, die bewies, daß seine Gedanken weit mehr einem anderen Gegenstande gegolten hatten:
„Und der Universalerbe, Herr Kämpfer? – Könnten Sie nicht vielleicht – “
„Nein – ich könnte nicht!“ unterbrach der Detektiv ihn kurz. „Ich habe für meinen Geschmack sogar schon viel zu viel geredet.“
Dann schaute er auf die altertümliche Wanduhr zwischen den Fensterpfeilern.
„Viertel sechs. – Ich bedauere außerordentlich, aber ich muß die Herren jetzt bitten, diesen Besuch zu beenden,“ sagte er mit einer Offenheit, die verletzt hätte, wenn nicht eben dieser merkwürdige Mann sie sich geleistet haben würde. „Ich bin jetzt sehr beschäftigt, muß sofort in die Stadt. – Auf Wiedersehen also. Und teilen Sie mir doch Ihre Wohnung mit, Herr Hartock, falls Sie sich entschließen sollten, hier in Berlin einige Zeit zu bleiben.“
Hartock erwiderte, er sei ganz gut abkömmlich und gedenke zunächst zwei Wochen dem Falle Blenkner zu opfern. Er wohne stets im „Zentral-Hotel“.
Gleich darauf half Marx den beiden Anwälten in die Mäntel.
Auf der Straße sagte Siering dann lächelnd zu dem Freunde: „Na – was hältst du jetzt von dem „mürrischen Idioten“, he?!“
„Ich erkläre, daß ich der Idiot war. Genügt dir das?“
„Vollkommen! – Nebenbei, ich kann dir von Balduin noch manches Scherzhafte berichten. Daß er ein Original ist, hast du ja schon gesehen. Weiber haßt er wie die Pest. Seine Arbeit läßt er sich von Reichen geradezu mit Wucherpreisen bezahlen. Vor einem Vierteljahre war dem Geheimen Kommerzienrat Mandelsloh – du weißt – „Bankhaus Mandelsloh und Söhne“ – eine Aktentasche mit wichtigen Papieren verloren gegangen, das heißt, der Bankier hatte sie in seinem Privatauto vergessen, der Chauffeur den Wagen, eines Schnäpschens wegen, ohne Aufsicht gelassen, und ein Langfinger diese Gelegenheit benutzt. Mandelsloh wandte sich sofort an Balduin, von dem er durch mich gehört hatte. Am nächsten Morgen war die Aktentasche wieder zur Stelle, und Kämpfer forderte zehntausend Mark Honorar. Der Geheimrat zahlte nicht, bot Balduin vielmehr einen Hundertmarkschein an. Das war sehr verkehrt, denn Kämpfer wußte mittlerweile, wie wichtig die Papiere in der Aktentasche für Mandelsloh waren und daß deren Verlust den Geheimrat allein an Notariatsgebühren für die neue Errichtung einiger darunter befindlicher Urkunden runde achtzigtausend Emmchen gekostet haben würde, und erklärte daher sehr kühl, er wurde es ruhig auf eine Klage ankommen lassen. Mandelsloh hatte nun aber sehr triftige Gründe, daß die Geschichte nicht an die Öffentlichkeit kam, und – blechte tränenden Auges, wie man zu sagen pflegt. Auf diese Weise kam der Verein für Volksküchen zu einer Spende von neuntausend Mark, die ich ihm im Auftrage eines nicht genannt sein wollenden Wohltäters auszahlte.“
„Kämpfer hat also – “
„Ja, Kämpfer hat für sich nur tausend Mark behalten und davon dürften noch manche kleineren Summen Armen und Bedürftigen zu gute gekommen sein. – Also besitz Balduin auch das, was man so Herz nennt, mein Lieber, – neben seiner – Durchschnittsintelligenz.“
Etwa um dieselbe Zeit, als Siering und Hartock bei Balduin Kämpfer mancherlei Neues über den Fall Blenkner erfuhren, stattete Professor Manfred Müllenheim dem Geheimen Kommerzienrat Mandelsloh in dessen Grunewald-Villa einen Besuch ab.
Der blonde Riese hatte am Vormittag an verschiedenen Stellen ein Darlehen von zehntausend Mark aufzunehmen sich bemüht, war aber überall höflich und kühl abgewiesen worden. Die pekuniären Verhältnisse des Professors waren eben genau so stadtbekannt wie die Teeabende in seinem Hause.
Müllenheim, der sich ganz als Opfer der „Einsichtslosigkeit“ seiner Frau fühlte, weil diese sich unter keinen Umständen an ihren Vater, den Pastor Terrmeelen in Perlburg, wenden wollte, kam zum Mittagessen in einer Stimmung heim, die halb Wut auf die Hartherzigkeit der Geldverleiher, halb bitterer Groll gegen seine Gattin war. Nebenher fühlte er aber noch so ein ganz klein wenig Reue, daß er damals, ohne lange zu überlegen, das kostbare chinesische Schränkchen erworben und den hohen Preis dafür mit einem kurzfristigen Wechsel bezahlt hatte. –
Doch – was half jetzt diese Reue?! Die Kunsthandlung Gebrüder Vollmer hatte es abgelehnt, den Wechsel zu prolongieren, also mußten die zehntausend Mark unbedingt besorgt werden. Wie schwer es hielt, Geld aufzutreiben, wenn einem das Messer an der Kehle saß, hatte Müllenheim heute zum ersten Male gemerkt. Bisher war es ja stets seine Frau gewesen, die die Rechnungen für seine kostspielige Liebhaberei, wertvolle Altertümer aus aller Herren Länder in seinem Atelier aufzustapeln, zu begleichen verstanden hatte.
Bei Tisch sprach das Ehepaar nur die nötigsten Höflichkeitsphrasen miteinander, lediglich in Rücksicht auf das bedienende Stubenmädchen. Dann ging der Professor in sein Atelier hinüber. Dieses war im Seitenflügel des Hauses gelegen, wo man den nötigen Raum durch Entfernen der Zwischenwände einer Gartenhauswohnung gewonnen hatte, während die Verbindung mit den Vorderräumen durch einen Mauerdurchbruch hergestellt worden war.
Müllenheim hatte sich eine Zigarre angezündet und ging langsam in dem großen, recht phantastisch herausgeputzten Raum auf und ab. Wohin sein Auge fiel, überall traf es auf altertümliche Kunstgegenstände, an denen sein Herz mehr hing als an seinem schönen Weibe, – weit mehr! Seine Freunde sagten immer: „Ein Glück, das Müllenheims keine Kinder haben, denn wo sollte dieser Vater wohl noch ein wenig Liebe für seinen Nachwuchs hernehmen, da er doch zunächst nur sich selbst und dann seine Sammlung liebt!“ – So wurde der Professor in seinen Bekanntenkreisen eingeschätzt.
Die weichen Perser machten selbst die wuchtigen Schritte dieses Hünen unhörbar. In seinem rastlosen Auf und Ab blieb er zuweilen doch stehen, streichelte hier zärtlich ein Elfenbeinfigürchen, dort eine bronzene Statue oder ein Stück Brokatstoff, das vom Meßgewande eines Bischofs des 16. Jahrhunderts stammte.
Dann verharrte er plötzlich vor einem schmalen, hohen Glasschrank längere Zeit. Darin stand, an einer unsichtbaren Stütze befestigt, eine tadellos erhaltene indianische Mumie. Ein Freund hatte sie vor Jahren dem Professor aus Mexiko mitgebracht, ein bekannter Forscher. Sie stellte die sterblichen Überreste eines berühmten Häuptlings eines längst ausgestorbenen Stammes dar, und man hatte Müllenheim für sie bereits sehr bedeutende Summen geboten. Hin und wieder war er auch nahe daran gewesen, sie zu verkaufen. Er liebte gerade dieses seltene Stück weniger als die anderen Raritäten, die er sämtlich teuer bezahlt hatte. Warum er sogar etwas wie Abneigung gegen diesen braunen Häuptling empfand, darüber vermochte er sich nicht klarzuwerden.
Die Mumie war nur bis zur halben Brust bekleidet, so daß die Tätowierungen auf der runzligen Lederhaut freilagen. Auch das Gesicht zeigte außer Tätowierungen einige Farbstriche, die es noch abschreckender erscheinen ließen. Um die Stirn dicht unter dem Haaransatz lief ein breiter Bronzereifen herum, der allerlei erhabenen Figuren zeigte. Das schwarze, straffe Haar war in einem helmartigen Schopf hochgebunden und wurde von einem zweiten, dünneren Bronzering zusammengehalten. Der übrige Teil des Körpers steckte, mit Ausnahme der frei herabhängenden nackten Arme, in einem reichverzierten Ledergewand. –
Alles in allem war die Mumie ein höchst eigenartiges und auch geradezu kostbares Stück, das jedem Museum zur Zierde gereicht hätte.
Müllenheim betrachtete, die Zigarre zwischen den Lippen, die Mumie mit einem Gemisch von Sammlerstolz und Widerwillen. Die Augen des Indianerhäuptlings, der nach dem Urteil Sachverständiger um das Jahr 1400 gelebt haben sollte, standen weit offen. Sie waren durch bemalte Glasstücke ersetzt und zwar so vortrefflich, daß ihr Blick im Verein mit dem grimmigen Gesichtsausdruck eine schrankenlose Wut widerzuspiegeln schien.
Und dieser Blick war es – das wurde dem Professor erst jetzt klar –, der nicht nur manchen Besucher des Ateliers zu dem Ausruf: „Gräßlich – davon könnte man träumen!“ veranlaßt, sondern auch Müllenheim selbst zuweilen etwas wie Furcht vor der ausgetrockneten Leiche hatte empfinden lassen.
Der Professor erinnerte sich jetzt auch an die Worte, die der indische Arzt Ungra ben Magore in der vergangenen Nacht vor diesem Glaskasten wie zu sich selbst redend, gesprochen hatte: „Ein freventliches Spiel, dich hier zur Schau zu stellen und eine arme Seele ruhelos umherflattern zu lassen!“ –
Auch Baron Wenden hatte die Worte gehört und lächelnd gefragt – der Professor besann sich noch so genau auf diesen Zwischenfall: „Nach Ihren religiösen Vorstellungen, Magore, kommt die menschliche Seele wohl erst in den Himmel, wenn die sterbliche Hülle zu Staub zerfallen ist?“ –
Worauf der Inder nur sehr ernst genickt und sich einem anderen Gegenstände zugewendet hatte. –
Müllenheim nahm jetzt plötzlich die Zigarre aus dem Munde. Ein Gedanke war ihm gekommen. Wenn er die Mumie verkaufte?! – Ihm lag nichts an diesem Stück. Im Gegenteil, er würde froh sein, wenn er sie nicht mehr im Atelier wußte.
Gleich darauf läutete er den Geheimrat Mandelsloh an. Der nahm jedoch gerade an einer Sitzung des Vorstandes irgend eines Aktienunternehmens teil und würde erst gegen fünf in seiner Grunewald-Villa zu sprechen sein. –
Mandelsloh, ein stattlicher Fünfziger, dem man die jüdische Abstammung kaum mehr ansah, obwohl noch sein Großvater in Kalisch in Russisch-Polen im Kaftan herumgelaufen war, empfing den Professor mit freundlicher Herablassung.
„Sehr erfreut. Bitte – nehmen Sie Platz. – Wie geht es Ihrer Frau Gemahlin? Meine Frau will in den nächsten Tagen bei Ihnen vorsprechen. Es handelt sich um ein Wohltätigkeitsfest, bei dem Ihre Gattin freundlichst mitwirken soll. Ohne Frau Agnes Müllenheim ist ja eine solche Veranstaltung nur etwas Halbes.“
Der Professor fühlte heute nicht zum ersten Mal, daß das ehemalige, unscheinbare Pfarrerstöchterlein weit berühmter geworden war als er selbst, ihr Gatte. Häßlicher Neid regte sich in ihm. Immer war es Agnes, die im Vordergrund stand. Manfred Müllenheim war ganz in die Rolle des „Mannes einer geistvollen Frau“ zurückgedrängt worden.
Daher erwiderte er denn auch jetzt ziemlich kühl:
„Meine Zeit ist knapp, Herr Geheimrat. Ich will mich daher kurz fassen. Sie haben mir vor einem Jahr etwa für die Mumie des Indianerhäuptlings neuntausend Mark geboten. Wenn Sie jetzt zehntausend geben, können Sie sie haben. Sie nimmt mir im Atelier zu viel Platz weg.“
Mandelsloh betrachtete seine tadellos gepflegten Fingernägel. Dann schaute er Müllenheim liebenswürdig lächelnd an und meinte:
„Bedaure sehr, Herr Professor. Ich habe an diesem Stück Ihrer Sammlung jetzt kein Interesse mehr.“
Müllenheim hatte diese glatte Ablehnung nie erwartet.
„Sie waren doch aber seinerzeit auf die Mumie geradezu erpicht, Herr Geheimrat,“ sagte er leicht verwirrt. „Erscheint Ihnen der Preis zu hoch?“
„Durchaus nicht. Ich habe vorgestern in Hamburg noch zweitau– send Mark mehr für eine ähnliche Mumie bezahlt, die jetzt als Frachtgut an mich unterwegs ist, – eine Mumie, die aus derselben Zeitepoche wie die Ihrige stammen dürfte und die gleichfalls einen Häuptling des Man– gi-Volkes darstellt.“
„Nicht möglich!“ entfuhr es dem Professor enttäuscht.
„Doch – es ist so. Ich bin eigentlich nur durch einen Zufall glücklicher Besitzer dieser Rarität geworden. Ich hatte in Hamburg geschäftlich zu tun und benutzte dann ein paar freie Stunden nach alter Gewohnheit dazu, im Hafenviertel die Trödlerläden zu durchstöbern, wo die Seeleute auf recht wertvolle Dinge aus fremden Ländern veräußern, wenn sie nach einer Reise ihr Geld schnell verpraßt und noch immer Durst haben. Vor einem dieser Läden traf ich zwei Matrosen, junge Burschen, die mich zögernd ansprachen und fragten, ob ich nicht wüßte, wo sie „was ganz Besonderes“ losschlagen könnten. Bei drei Trödlern waren sie schon zurückgewiesen worden, weil sie doch mit Recht ein anständiges Geld für ihre Mumie verlangt hätten. –
Ich horchte auf, ging mit den Maaten in die nächste Kneipe und ließ mir hier recht genau erzählen, wo sie die Mumie her hätten und so weiter. Die Leute waren jedoch sehr zurückhaltend, bis ihnen dann einige Gläser Grog die Zungen lösten. So erfuhr ich, daß sie die Mumie heimlich aus einem verfallenen Bauwerk in der Nähe von Orizaba herausgeholt und unter großen Schwierigkeiten an Bord ihres Dampfers geschmuggelt hätten. Meine Bitte, mir die Mumie zu zeigen, lehnten die Matrosen jedoch trotz ihrer animierten Stimmung ab. Mein Äußeres erschien ihnen wohl zu elegant, oder was sie sonst für Gründe gehabt haben mögen, mir zu mißtrauen. Erst als ich ihnen nachwies, wer ich war, und ihnen auch versicherte, ich würde die Mumie vielleicht kaufen, nahmen sie nicht nach der Seemannsherberge mit, führten mich in ihr Stübchen und öffneten die längliche Kiste, die sie mit Eisenbändern versehen und mit zwei Schlössern verwahrt hatten.
Der Anblick des Kisteninhalts begeisterte mich geradezu. Das war sehr unklug von mir, so offen zu zeigen, wie sehr mir die Mumie gefiel, denn als ich den Burschen nun dreitausend Mark bot, strahlten ihre Gesichter zwar, gleich darauf zogen sie sich aber in eine Ecke zurück und flüsterten dort sehr leise und sehr eifrig miteinander. Dann forderte der Ältere – stellen Sie sich diese unverfrorene Geschäftstüchtigkeit vor! – nicht weniger als das Fünffache meines ersten Gebots – das Fünffache! Hätte ich zuerst dreihundert Mark gesagt, wäre ich sicher mit fünfhundert der Besitzer der Mumie geworden! So aber war ich allein schuld daran, daß den Leuten das Verständnis für ihre zollfrei nach Hamburg eingeschmuggelte Mumie aufgegangen war. Und jetzt bewiesen sie in Matrosenpfiffigkeit ein hartnäckiges Festhalten an ihrem Preise, daß sie mich schließlich wirklich um zwölftausend Mark erleichterten, – mich, den gewiegten Börsenmann! –
Diese Geschichte ist also ganz interessant und auch recht lehrreich. Jedenfalls habe ich jetzt aber für meine Sammlung ein Stück, das Ihrer Mumie völlig gleichwertig ist, Herr Professor. Und deshalb müssen Sie schon zusehen, ob Sie nicht einen anderen Käufer finden, was gar nicht schwer halten dürfte. Wenden Sie sich doch zum Beispiel an Geheimrat Rieger, den Direktor des Völkermuseums. Soweit ich mich erinnere, wollte der Ihnen die Mumie doch auch damals abkaufen.“
„Allerdings,“ dachte Müllenheim, „kaufen schon, aber für nur fünftausend Mark. Und ich brauche zehntausend.“
Laut erklärte er jetzt, er würde sich die Sache mit Rieger noch überlegen.
Recht unzufrieden kehrte er heim. –
Was nun?! Mandelsloh wäre der einzige gewesen, der den Preis von zehntausend Mark hätte anlegen können. – Ja – was nun?! Übermorgen war der erste November, der Verfalltag des Wechsels! Woher nur das Geld nehmen, woher?! – Vielleicht mehrere Stücke seiner Sammlung veräußern? Niemals! Der Käufer würde hier sicher merken, daß den Veräußerer die Not zu diesem Schritt zwang, und natürlich die gute Gelegenheit ausnutzen und lächerlich wenig bieten! – Es war wirklich eine ganz verteufelte Lage! – Und daran war nur Agnes schuld. Der Pastor Terrmeelen hatte noch immer seine Börse geöffnet, wenn sein einziges Kind darum bat. Und jetzt, wo er doch vor einem halben Jahre von dem alten Grafen Blenkner den hübschen Batzen Geld geerbt hatte, würde er einen neuen Aderlaß noch leichter verschmerzt haben als sonst.
Manfred Müllenheim faßte einen neuen Entschluß und suchte seine Frau auf. Agnes mußte einen Eilbrief an Ihren Vater schreiben, – mußte, ob sie wollte oder nicht.
Er fand seine Gattin in dem kleinen Damensalon vor, wo sie an dem zierlichen Schreibtisch an einer Novelle arbeitete.
Frau Agnes schriftstellerte ein wenig – und mit gutem Erfolg. Meist schrieb sie kurze Sächelchen, Skizzen, Plaudereien, für die die Redaktionen der besten Zeitschriften stets Verwendung hatten. So verdiente Frau Agnes ebenfalls, und mehr, als ihr Mann ahnte.
Der Professor warf sich in einen Sessel, stöhnte auf und erzählte dann von dem Mißerfolg seines Besuches bei Mandelsloh.
„Du siehst, – ich will mich gern von einem Stück meiner Sammlung trennen. Aber – es soll nicht sein. Und wenn ich nun einen Händler etwas anbieten würde, wäre der Gauner im Stande, meine Zwangslage gehörig auszunutzen –“
Wohl fünf Minuten redete er und redete, spielte sich als den Einsichtsvollen auf, der ja gern alles seinerseits tun wolle, – alles, um das Geld aufzutreiben, aber –
Frau Agnes spielte mit ihrem Federhalter. Ihr Gesicht hatte wieder jenen müden, herben Ausdruck, den der Professor nun schon zur Genüge kannte und den er stets als einen stummen Vorwurf gegen seine kostspielige Liebhaberei auffaßte. –
Als Müllenheim seine Gattin jetzt genügsam vorbereitet zu haben glaubte, rückte er endlich mit seiner Bitte heraus: Eilbrief an Pfarrer Terrmeelen in Perlburg!
Doch er hatte sich verrechnet.
Frau Agnes schüttelt langsam den Kopf.
„Es bleibt bei meiner Entschließung von gestern,“ sagte sie einfach und wandte sich ihrer Arbeit wieder zu.
Der Professor schnellte empor. Das Blut war ihm vor jäh aufflackernder Wut in starker Welle ins Gesicht geschossen. Für einen Augenblick verlor er die Gewalt über sich.
Mit rohem Griff rüttelte er jetzt seine Frau, deren Schulter seine Rechte umkrallt hatte.
„Du wirst es tun – du wirst schreiben!“ keuchte er. „So fort – sofort! Verstehst du mich! – Oder – oder –“
Sie hatte sich aufgerichtet, sah ihm jetzt mit kalter Verachtung in das verzerrte Gesicht. Seine Hand glitt mit einem Male von ihrer Schulter wieder herab.
„Geh’!“ sagte sie laut. „Geh’! – Dir dürfte es schwer fallen, mir mit irgend etwas zu drohen. Du hast deinen mit „oder“ begonnenen Satz nicht beendet, weil du nicht weißt, was du diesem „oder“ hinzufügen solltest. Ich weiß es! – Geh’, – oder ich reise noch heute abend zu den Meinen! Und das wäre dann der Anfang vom endgültigen Ende –“
Müllenheim hatte längst eingesehen, daß er hier eine sehr klägliche Figur gespielt hatte. Er kannte seine Frau. Nichts war ihr verächtlicher als ein Mensch, der sich nicht zu beherrschen vermochte.
„Verzeih’, Agnes,“ bat er jetzt, indem er sich zu einer zerknirschten Miene zwang, die nicht ganz ehrlich war. Er wußte, sie würde ihre Drohung wahrmachen und abreisen. Und – „Der Anfang vom endgültigen Ende“ – damit konnte sie nur die Scheidung meinen. Also hieß es jetzt nachdenken. Nur keinen Skandal, nur kein öffentliches Getuschel, bei dem er doch nur schlecht weggekommen wäre.
„Geh’!“ wiederholte sie nur.
Und er, der blonde Riese, der schöne Müllenheim, den alle Backfische von Berlin W. anschwärmten, schlich davon wie ein begossener Pudel. –
Kaum zehn Minuten später ließ sich Felix Roeder bei Frau Agnes melden.
Sie hatte geweint. Es waren Tränen gewesen, die sie um ein verpfuschtes Leben vergossen hatte, verpfuscht, weil sie sich an einen Mann gekettet sah, den sie seit langem nicht mehr liebte, den sie kaum noch achten konnte. Damals, als Manfred Müllenheim um sie warb, hatte ihr weltkluger Vater, dieser feine Menschenkenner, sie immer aufs neue gewarnt. Sie hatte nicht auf ihn gehört, hatte gedacht, daß es bei ihm nur eine allgemeine Abneigung gegen alles wäre, was Künstler hieß. Und wenn sie jetzt vor den alten Mann hingetreten wäre, dann würde er ihr sicher erklärt haben: „Scheidung?! – Die Ehe, mein Kind, ist ein heiliges Band, das man nicht von sich wirft, wenn es einem lästig wird.“
Felix Roeder sah die Tränenspuren in Frau Agnes Augen.
„Sie sind nicht in der Stimmung, einen gleichgültigen Besuch zu empfangen, liebe gnädige Frau,“ sagte er mit einer Weichheit und Innigkeit, die niemand diesem losen Spötter zugetraut hätte. „Ich komme ein andermal wieder. Entschuldigen Sie bitte, daß –“
Doch sie deutete schon auf den niedrigen Hocker, auf dem er immer zu sitzen pflegte.
„Bleiben Sie, lieber Freund. Sie wissen ja, daß Sie mir stets angenehm sind –“
Und nur um sich selbst in eine andere Gemütsverfassung hineinzureden, begann sie ihm zu erzählen, wie Geheimrat Mandelsloh zu seiner indianischen Mumie gekommen war. Alles andere verschwieg sie natürlich, tat, als habe der Professor zufällig hiervon erfahren. Und eingeleitet hatte sie dieses Gespräch mit „Sie sind ja selbst Raritätensammler. Da wird Sie sicher eine Geschichte interessieren, die …“
Baron Wenden und Berd Holk hatten im Weinrestaurant „Traube“ sehr gut gespeist und saßen nun schon bei der dritten Flasche Sekt. Der junge Maler war zunächst wohl noch von leisen Gewissensbissen beunruhigt, weil er Ursula nicht abgeholt hatte, zumal sie bereits drei Tage nicht zusammengewesen waren. Aber der Wein, der lustige Baron und die Scheinentschuldigungsgründe, die Holk sich für sein Verhalten zusammensuchte, schläferten diese Selbstvorwürfe sehr bald wieder ein.
Gegen acht Uhr erschien dann auch der indische Arzt, mit dem Wenden sich hier verabredet hatte.
Magore erregte einiges Aufsehen. Sein Bild war in Berliner Blättern zusammen mit der Besprechung seines Vortrages veröffentlicht worden. Einige Herren erkannten ihn wieder, die Kellner sorgten, daß auch die anderen Gäste auf die braune Tagesberühmtheit aufmerksam wurden, und so wurde der eine Tisch schnell deren Mittelpunkt allgemeiner Beachtung.
Auch Siering und Hartock hatten die „Traube“ gewählt, um zusammen Abendbrot zu essen. Sie fanden noch Platz an einem Tische, den eben ein junges Ehepaar geräumt hatte. Keine drei Schritte entfernt saßen Kurländer, Magore und Holk.
Siering deutete unauffällig auf den Inder und berichtete dem Freunde von dem aufsehenerregenden Vortrag, dem er selbst ebenfalls beigewohnt hatte.
Hartock hatte seinen Platz so, daß der Baron ihm gerade gegenübersaß. Wenden erzählte eben ziemlich laut von einer gefährlichen Überwindung der Andenpässe in Südamerika. Der Perlburger Rechtsanwalt verstand ebenso wie Siering fast jedes Wort. Wenn dieser aber den Nebentisch nicht weiter beachtete, sondern sich der Durchsicht der Speisekarte widmete, schien Hartock nur noch Interesse für den Baron zu haben, so daß der Freund ihn erst zwei Mal anrufen mußte, ehe er ihm Rede und Antwort stand.
„Was zum Teufel hast du denn nur?!“ meinte Siering ärgerlich. „Laß doch den braunen Doktor braun und Doktor sein und sage mir lieber, ob du auch auf warmen Hummer als Eingangsgericht Gewicht legst.“
Doch Hartock blieb zerstreut, wenn er es jetzt auch vermied, sich um die Nachbarschaft allzu auffällig zu kümmern. Nach einer Weile beugte er sich dann zu Siering hinüber und flüsterte dem zu:
„Den älteren Herrn da drüben muß ich kennen, den, der von den beiden anderen Baron angeredet wird. Die Stimme mit der etwas harten Aussprache des Deutschen habe ich fraglos irgendwo mal recht oft gehört.“
„Vielleicht irrst du dich. Im übrigen ist die Sache ja auch sehr gleichgültig. – Prosit – dein Wohl.“
Abermals nach einigen Minuten sagte Hartock leise:
„Der Baron hat mit dem jüngeren Herrn den Stuhl gewechselt –“
„Zum Donner – so laß doch die drei dort in Ruhe! Was gehen Sie uns an!“ fuhr Siering auf.
„Hm – weißt du, ich habe beinahe den Eindruck gewonnen, als ob der Baron absichtlich mir jetzt den Rücken zudreht,“ flüsterte Hartock nachdenklich. „Ja, – als ob er nicht will, daß ich ihm weiter ins Gesicht sehen kann. Ich mag mich ja täuschen, aber es –“
Ein neuer Gast war an den Tisch der beiden Rechtsanwälte herangetreten und fragte, ob er an der noch freien Schmalseite Platz nehmen dürfe. Dadurch wurde das Gespräch unterbrochen.
Siering hatte den Herrn kurz gemustert, sich dann in einer Weise mit einem „Bitte sehr!“ verbeugt, die darauf schließen ließ, daß er ihn kenne, und flüsterte nun Hartock schnell zu, während der Kellner jenem aus dem Mantel half:
„Es ist Herr Felix Roeder, der Flurnachbar Balduins.“
„Eine Schönheit keineswegs,“ gab Hartock zurück. „Nein – ist der Mensch häßlich!“
Roeder setzte sich mit nochmaliger knapper Verbeugung, bestellte das von ihm Gewünschte und vertiefte sich dann in seine mitgebrachte Abendzeitung, ohne von Siering weiter Notiz zu nehmen, den er nur oberflächlich von Müllenheims her kannte, wo sich der berühmte Strafverteidiger zuweilen auch einfand.
Siering und Hartock begannen ein gleichgültiges Gespräch. – Erst nach guten fünf Minuten erblickte Roeder dann die drei Herren am Nebentisch, erhob sich, begrüßte Berd Holk und sprach auch einige Worte mit Wenden und Magore.
Der junge Maler dachte plötzlich an den Zwischenfall im „Tauentzien-Cafee“.
„Einen Augenblick, Herr Roeder,“ meinte er und trat ein paar Schritte von dem Tisch weg. „Ich möchte Sie etwas fragen,“ fügte er darauf mit vorsichtig gedämpfter Stimme hinzu. „Sie waren doch gestern abend im „Tauentzien-Cafee“ und haben mir da irgend etwas schnell zugeraunt. Was, habe ich leider vergessen.“
Der häßliche Privatgelehrte verzog den breiten Mund zu einem ironischen Lächeln.
„Ich hätte mir’s sparen sollen,“ erwiderte er. „Sie waren schon zu sehr unter Alkohol. Ich erlaubte mir, Sie daran zu erinnern, daß eine gewisse junge Dame doch mehr Rücksichten verlangt als die eben erst geschlossene Bekanntschaft mit Wenden und Magore, die offenbar weit mehr Burgunder vertragen als Sie –“
Berd Holk wurde rot.
„Ah, also das war’s,“ meinte er halb verlegen, halb mit kühler Zurückweisung. „Sie nehmen die Interessen Fräulein Palwners ja recht energisch wahr. – Im übrigen bin ich mündig, Herr Röder! Bitte, wollen Sie sich das gefälligst merken –“
Der Wein sprach aus ihm. Er war nicht mehr ganz nüchtern.
Felix Röder lachte kurz auf. „Also so danken Sie ein gutgemeintes Wort! Ich hätte Sie für einsichtsvoller gehalten!“ Und kaum den Kopf etwas zum Gruß neigend ging er auf seinen Platz zurück, wo er sich wieder in die Zeitung vertiefte.
Bald darauf brachen Siering und Hartock auf, dann auch die drei am Nebentisch. Holk schwankte schon bedenklich, als er die „Traube“ verließ. Röder beachtete er nicht mehr. Er hatte seinen neuen Freunden von der Auseinandersetzungen mit dem Privatgelehrten erzählt, indem er sich darauf beschränkt hatte, ganz allgemein von einer Bevormundung und von einem Eingriff in seine persönliche Freiheit zu sprechen, worauf der Baron geäußert hatte, eine solche Unverschämtheit dieses Herrn Röder verdiene eigentlich eine ganz scharfe Zurückweisung. Doch Holk hatte die Sache mit einer verachtungsvollen Handbewegung nach Röder hin für erledigt erklärt und gemeint, der Herr da würde seine gute Lehren wohl jetzt für sich behalten.
Die drei besuchten noch verschiedene Lokale, und um ein Uhr morgens war Holk wieder so weit, daß er im Auto nach Hause gebracht werden mußte, was nicht ohne Lärm abging.
Als Wenden und Magore den Trunkenen gerade in Kleidern auf das Bett legten, wobei Holk unentwegt den Refrain eines Couplets brüllte, erschien Frau Klara Mischke mit von Zöpfen umstarrtem Haupte in der Tür und „schlug Krach“, wie man diese Art von Aussprache zu nennen pflegt.
„Schon gestern nacht der Skandal – heute wieder! Habe ich Ihnen etwa dazu das Geld geborgt, daß Sie mein anständiges Haus durch eine solche Aufführung in Verruf bringen?!“ Und so ging’s weiter wie ein Wasserfall, bis Holk in plötzlicher Wut auffuhr:
„Raus, alte Schlumpe, – raus, geschminkte Vogelscheuche! Vor deinem Anblick graut mir – !“
Klara Mischke wurde leichenblaß. Ihre Lippen zitterten. – Schlumpe – Schlumpe – Vogelscheuche! Das sollte er büßen!
*
Am nächsten Nachmittag.
Berd Holk war soeben mit schwerem Kopf aufgestanden. Ganz ungläubig schaute er auf den Regulator[3] an der Wand. Schon drei Uhr. Solange hatte er also durchgeschlafen. Da mußte er ja wieder in recht übler Verfassung heimgekehrt sein! Dieser „Traube“– Abend hatte aber auch gleich recht scharf begonnen. Sekt! – Wo war er diesen Wein des Leichtsinns gewöhnt?! Und nachher noch all die Liköre in den verschiedenen Bars.
Dunkel besann er sich auch, daß es mit Frau Mischke einen Auftritt gegeben hatte.
Ah – da lagen ja auf dem Fußboden an der Tür zwei Briefe.
Einer von Ursula.
Berd Holk war plötzlich ganz nüchtern.
Lieber Berd !
Ich war heute morgen bei deiner Wirtin, um mich nach deinem Ergehen zu erkundigen. Einmal machte mir dein Ausbleiben gestern Sorge – ich fürchtete, du könntest krank sein, dann wollte ich feststellen, ob die beiden anonymen Schreiben, die ich gestern bzw. heute in aller Frühe erhielt, wirklich Tatsachen berichteten. –
Leider bestätigte mir Frau Mischke, daß du sowohl in der gestrigen als auch in der heutigen Nacht in einem Zustande nach Hause gekommen wärest, der – ich brauche wohl nichts weiter zu sagen! Die anonymen Briefe enthielten also die volle Wahrheit. Außerdem hat mir deine Wirtin noch manches von dir erzählt, was mich noch trauriger gemacht hat: von Pfandscheinen, von deinen Schulden bei ihr usw.
Ich muß Zeit haben, über all dies hinwegzukommen, bevor wir uns wiedersehen. Meine Pflegemutter holt mich jetzt täglich vom Bureau ab. Also unterlaß bitte alle Versuche, mich sprechen zu wollen. Ich schreibe dir, wenn ich wieder im Stande bin, ohne Groll an dich zu denken. Du hast mich sehr enttäuscht! Wie gering muß deine Liebe sein, wenn du mir das antun konntest!
Ursula
So hatte Ursel Palwer mit ihrer großen, energischen Schrift geschrieben.
Berd Holk stierte noch immer auf den Briefbogen.
Ah – man hatte ihn also bei Ursula angeschwärzt. Aber wer – wer konnte nur so gemein gewesen sein, hatte dies getan –
Plötzlich schnellte sein Kopf hoch. – Röder – Röder! – Jetzt ging ihm ein Licht auf! Dieser Mensch hatte also tatsächlich ein Auge auf Ursula geworfen, hatte sie ja als Schreibmaschinenfräulein annehmen wollen, hatte sich schon im „Tauentzien-Cafee“ um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen! Natürlich – Röder war dieser Anonymus gewesen – nur er! –
Dann der zweite Brief, von Frau Mischke:
„– in der Nacht grob beleidigt – Anzeige erstatten – sofortige Kündigung wegen ruhestörenden Lärms. Einbehaltung sämtlicher Sachen. – Schulden sofort begleichen –“
Berd Holk, in dem eben noch eine wilde Wut auf den häßlichen Privatgelehrten gekocht hatte, war mit einem Male wieder ganz klein geworden.
Da schien er ja etwas Nettes angerichtet zu haben! Beleidigung – Anzeige! – Nur nichts mit den Gerichten zu tun bekommen! – Der junge Maler sah sich schon im Gefängnis.
Hastig kleidete er sich an und ging dann zunächst mal zu seiner Wirtin. Doch Frau Mischke ließ sich auf nichts ein.
„Räumen Sie das Zimmer! Denken Sie, ich als anständige Frau lasse mich von Ihnen eine Schlumpe und Vogelscheuchen nennen! Ha, ha – da kennen Sie mich schlecht! Sie wohnen in einem anständigen Haus. Das haben Sie vergessen, Sie – Sie –“
Mit dem Wort „anständig“ warf die Mischke nur so herum. Es war so angenehm erhebend, sich selbst mit Weihrauch umgeben zu können.
Doch Berd Holk, dem jetzt die Angst vor einer Beleidigungsklage die Kehle förmlich zuschnürte, ließ nicht nach mit Bitten. Er demütigte sich, flehte winselnd um Verzeihung, bis die Mischke sagte:
„Na, wenn’s nicht Ihrer Braut wegen wäre, – Sie hätte ich nicht geschont! Aber das Mädchen tut mir leid! So’n nettes, freundliches Mädel! So was ist ja viel zu schade für Sie! – Aber raus müssen Sie hier, und vorher wird auf Heller und Pfennig geblecht. –“ –
Geld beschaffen! Das war jetzt Holks einzige Sorge. Aber woher? – Da fiel ihm der Baron Wenden ein! – Ja – das war ein Gedanke! Mit einhundertundfünfzig Mark war ihm ja geholfen.
Der Kurländer wohnte in einem Fremdenheim am Schiffbauerdamm. Holk machte den weiten Weg vergeblich. Wenden war nicht zu Hause. – Aber vielleicht Magore. Der war ja hier wohl ebenfalls abgestiegen, so weit Holk sich besann.
Er fragte das Stubenmädchen. – Jawohl, der Herr Doktor aus Indien hätte das Zimmer neben dem des Herrn Barons. – Wieder ein Fehlschlag! Auch Magore war nicht anwesend. Und dabei hatte Berd Holk jetzt einen Hunger, einen Hunger! – und noch neunzig Pfennig in der Tasche.
Bei Aschinger aß er zwei Erbsensuppen, nannte das Aktienunternehmen heute einen Wohltäter der Menschheit. Er war leidlich satt geworden. Und daher sah er die Welt schon wieder mit anderen Augen an.
Der Wunsch, mit diesem Röder abzurechnen, wurde immer lebendiger in ihm. – Doch – sollte er seinen letzten zehn Pfennig für eine Fahrt nach dem Lietzensee in Charlottenburg opfern?!
Nein – erst wollte er nochmals zusehen, ob er nicht Wenden oder den Inder in ihrer Pension antrat.
Er hatte abermals kein Glück.
Dann dachte er an Ursula. Ob er nicht doch versuchte, sie zu sprechen? – Er sehnte sich nach ihr. Er hatte ja heute sich wieder zugeschworen, unter das alte Leben endgültig einen dicken Strich zu machen, und eine Unmenge guter Vorsätze gefaßt. – Lange schwankte er. Aber er war zu feige, Ursel unter die Augen zu treten. Erst wollte er ein großes moralisches Plus aufsammeln durch fleißige Arbeit und einen musterhaften Lebenswandel.
Doch er brauchte ja Geld, – er mußte sich wenigstens Einhundertundfünfzig besorgen! – Was tun?! – Mit einem Male begann er seinen Verdacht gegen Felix Röder sehr sorgfältig nachzuprüfen. Vielleicht tat er dem Herrn doch unrecht! – War es nicht am besten, er wanderte nach dem Lietzensee hinaus und besuchte Roeder, um diesen so etwas auf die Probe zu stellen?! Erwies sich sein Verdacht als hinfällig, dann – dann konnte er ja zusehen, ob er nicht von dem Privatgelehrten vielleicht ein Darlehen erhalten könnte.
Erst nach acht Uhr abends war er am Lietzenseeufer angelangt. Da – es war weniger Häuser vor seinem Ziel – überholte ihn der Baron von Wenden.
Holk war ziemlich kühl dem Kurländer gegenüber. Inzwischen hatte er auf dem weiten Spaziergänge Zeit genug gehabt, sich sowohl die Angelegenheit Röder als auch die Rolle, die der Baron und Magore bei all den Unannehmlichkeiten, in denen er jetzt steckte, gespielt hatten, reiflich zu überlegen. Immer mehr hatte sich da in ihm die Überzeugung befestigt, der Privatgelehrte könne doch nicht der anonyme Briefschreiber sein. –
Holk verehrte Frau Agnes Müllenheim wie ein höheres Wesen. Er wußte, daß Röder ihr bester Freund war, daß sie große Stücke auf ihn hielt. Konnte dieser Mann sich zu solchen Niedrigkeiten verstehen?! –
Nie und nimmer! –
Andererseits, waren nicht Wenden und Magore hauptsächlich aber erster, allein daran schuld, daß er jetzt mit Ursel sich entzweit hatte, in eine böse Patsche geraten war?! Wenn der Baron ihn nicht zu diesen Gelagen eingeladen hätte, wäre manches nicht passiert – ganz sicher!
Wenden merkte, daß Holk sich anders gab als bisher. Umsonst versuchte er auch heute, den jungen Maler zu überreden, mit ihm in ein Theater zu gehen.
Holk blieb fest. – Der Baron klopfte ihm jetzt vertraulich auf die Schulter.
„Lieber Freund, vielleicht sind Sie so kurz vor dem Ersten etwas knapp in der Kasse. Ich stehe Ihnen in jeder beliebigen Höhe zur Verfügung.“
Holk wurde schwankend. Aber ein unbestimmtes Gefühl des Mißtrauens, das plötzlich in ihm erwacht war, ließ ihn dann doch das verlockende Anerbieten ablehnen, wenn auch in vorsichtiger Form.
„Sehr liebenswürdig, Herr Baron. Sollte ich wirklich Geld brauchen, werde ich mich an Sie erinnern. – Bis wann sind Sie morgens in der Pension anzutreffen?“
„Bis zehn Uhr bestimmt. – Auf Wiedersehen denn also, lieber Freund. Und – sollten Sie noch einen Abendschoppen zu sich nehmen wollen, – ich bin bis Mitternacht in der „Traube“ zu finden.“
Dann trennten sie sich mit einem freundschaftlichen Händedruck.
Wenden begegnete merkwürdigerweise gleich darauf dem Inder, der ihn erwartet zu haben schien.
Eifrig miteinander flüsternd, schritten sie weiter der nächsten Haltestelle der Straßenbahn zu.
Der junge Maler hatte an Felix Röders Flurtür geläutet. Mit etwas Herzklopfen stand er nun auf dem Treppenabsatz und wartete.
Ein blondes, hübsches, wenn auch nicht mehr ganz jung aussehendes Mädchen öffnete ihm. – Er dachte sofort an die Sekretärin, die demnächst heiraten wollte.
Als Holk seinen Namen genannt und gefragt hatte, ob Herr Röder zu sprechen sei, verschwand das Mädchen mit einem freundlichen „Entschuldigen Sie einen Augenblick!“, kehrte aber sofort mit einem Brief in der Hand zurück.
„Dies hier hat Herr Röder für Sie hinterlassen,“ sagte sie. „Er ist verreist –“
Holk war arg enttäuscht. Es tat ihm jetzt schon leid, dem Baron einen Korb gegeben zu haben.
Auf dem Umschlag des Briefes stand mit Rotstift: „Sofort öffnen!“ Das war immerhin auffällig.
Der junge Maler las den Brief denn auch gleich auf der Treppe. Der Inhalt versetzte ihn in nicht geringes Erstaunen. –
Röder schrieb:
Lieber Herr Holk !
Trotz unseres gestrigen kleinen Renkontres[4] in der „Traube“ gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Sie im Notfälle doch an mich als einen wohlmeinenden Freund denken werden. Ihre Mißstimmung gegen mich dürfte sich bei ruhiger Überlegung bald verlieren. Da ich nun für unbestimmte Zeit verreisen muß, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an meinen Flurnachbar Balduin Kämpfer, der mich in jeder Beziehung zu ersetzen imstande ist. Scheuen Sie sich ja nicht, auch diesen Ihnen bisher wildfremden Herrn Ihre großen und kleinen Sorgen mitzuteilen. Kämpfer ist ein Mensch, der schon vielen geholfen hat.
Besten Gruß – Wiedersehen
Felix Röder
Berd Holk hatte schon vorhin das Porzellanschild an der Tür des Detektivs gelesen.
Es widerstrebte ihm jedoch trotz Röders warmer Empfehlung, sich in seiner Lage an Kämpfer zu wenden. Unschlüssig schaute er jetzt auf dessen Tür. – Sollte nun doch der Baron herhalten müssen?! Gern tat er auch das nicht. Das Mißtrauen gegen den Kurländer wollte nicht weichen, obwohl es so ganz unbestimmter Natur war. Als Wenden sich vorhin auf der Straße von ihm verabschiedet hatte, da war Holk mit einem Male die Frage eingefallen: „Wie kam der Baron gerade in diese Gegend?“ Weiter darüber nachdenkend, erschien es ihm auch sonderbar, daß Wenden ihn überholt, also hinter ihm hergekommen war. Ob der Kurländer ihn etwa gar verfolgt hatte? Fast schien es so!
Diese Erwägungen waren es gewesen, die Berd Holks leisem Argwohn gegen Wenden klare Umrisse gegeben hatten. – Nein, sagte er sich jetzt, diesem Manne willst du dich in keiner Weise verpflichten. Der ist auch was zu aufdringlich mit seinen fortwährenden Einladungen. Auch vorhin wieder: „Ich bin bis Mitternacht in der „Traube““. Vielleicht wollten Wenden und dieser Inder mit den unheimlich starren, dunklen Augen ihn wieder verführen, bis er von Alkohol benebelt all seine heute gefaßten guten Vorsätze vergaß! Nein – dann schon lieber zu Balduin Kämpfer, obgleich –
Weiter kam Berd Holk jedoch nicht in seinen Gedanken, die so wenig erfreulich waren.
Plötzlich wurde er angesprochen. In der offenen Flurtür stand jetzt ein Herr, der mit undeutlicher, näselnder Stimme sagte:
„Der Brief in Ihrer Hand und die Blicke, die Sie auf meine Tür richteten, läßt mich vermuten, daß ich Herrn Berd Holk vor mir habe, den mir Felix Röder – bildlich gesprochen – so warm ans Herz gelegt hat. – Habe ich recht?“
Der junge Maler hatte sich schnell gefaßt.
„Allerdings. Ich heiße Holk. Aber –“
„Kein „aber!“ – Bitte, treten Sie näher, ohne alle Umstände. – So, legen Sie ab. – Ich sitze gerade beim Abendbrot. Würden Sie mir ein wenig helfen, mit den Resten eines kalten Bratens aufzuräumen? – Keine falsche Scham! Als ich so alt war wie Sie, hatte ich immer Hunger.“
Gleich darauf saß Holk an einem appetitlich gedeckten Tische dem Detektiv gegenüber.
Die zwanglose Liebenswürdigkeit Balduin Kämpfers bewirkte sehr bald, daß Holk, der sich zunächst noch etwas zurückhaltend gegeben hatte, auftaute. Das Gespräch drehte sich um Tagesereignisse. Kämpfer fragte mit keiner Silbe, was den jungen Maler zu Felix Röder geführt hatte.
Erst als sie dann in seinem Arbeitszimmer saßen und die Rauchwölkchen ihrer Zigarren zur Decke empor schwebten, begann Balduin Kämpfer ganz unvermittelt:
„Mein Flurnachbar Röder – wir kennen uns seit langen Jahren – hat nicht mehr Zeit gehabt mich darüber aufzuklären, welcher Art Ihre Beziehungen zu ihm sind. Seine Abreise geschah sehr plötzlich. Jedenfalls bitte ich Sie aber, ganz zu vergessen, daß Sie einen Mann vor sich haben, der Ihnen bis vor kurzem ein Unbekannter war. Mein Beruf macht mich zum Vertrauten vieler Mühseligen und Beladenen. Mein Hirn vergißt sofort, was es vergessen soll. Also, volle Offenheit zwischen uns! – Vorher eine Frage. Wer war der Herr, der Sie soeben auf der Straße dicht an meinem Hause ansprach?“
Holk gab bereitwilligst Auskunft.
„So, ein kurländischer Baron,“ meinte Balduin. „Mein Diener Marx war zu derselben Zeit auf der Straße. Er beobachtet scharf. Ihm fällt alles auf. Der Baron ist ihnen, Herr Holk, heimlich gefolgt. Es war kein Zufall, daß er Sie hier traf. Und als er sich dann von Ihnen verabschiedet hatte, begegnete er an der nächsten Straßenkreuzung einem dunkelhäutigen Herrn, der dort auf ihn gewartet zu haben schien. Gemeinsam setzten die beiden ihren Weg fort.“
Holk saß einen Augenblick regungslos da. Er war so überrascht, daß er nicht gleich eine Entgegnung fand, auf die der Detektiv doch sicher rechnete.
„So habe ich doch richtig vermutet,“ sagte er dann überstürzt. „Mein Gott – was mag das nur alles zu bedeuten haben?! Die beiden Männer, der Baron und der indische Doktor, – es ist der berühmte Fakir Ungra ben Magore, Herr Kämpfer – haben doch fraglos mit mir etwas vor, heften sich zu einem bestimmten Zweck an meine Fersen. – Aber was wollen sie nur von mir unbedeutendem Menschen?! – Mir ist plötzlich ganz wirr im Kopf. Ich sehe mit einem Male die Ereignisse der letzten Tage unter einem ganz anderen Gesichtswinkel an –“
Kämpfer sog an seiner Zigarre und näselte:
„Erzählen Sie alles ganz genau, was mit den beiden zusammenhängt.“
Holk tat es, begann mit dem Teeabend bei Müllenheims, wo er Wenden und Magore erst kennengelernt hatte, erwähnte die Nachfeier im „Tauentzien-Cafee“ und rollte alle Geschehnisse sorgfältig nach rückwärts auf. Nichts verschwieg er, weder die Entzweiung mit seiner Braut infolge der anonymen Briefe noch seinen Verdacht, daß Felix Röder der Anonymus gewesen sein könne.
Balduin warf hin und wieder einige Zwischenfragen ein. Als Holk jetzt schwieg, sagte er mit kurzem Auflachen:
„Gut, daß Röder verreist ist und daß Sie daher mit Ihrer Angelegenheit hier bei mir vor die rechte Schmiede gekommen sind. Irgend etwas führen diese Beiden im Schilde, Herr Holk. Was es ist und ob sich dieses Etwas gegen Ihre Person richtet oder ob Sie nur Mittel zum Zweck sind, vermag ich jetzt natürlich noch nicht zu entscheiden. Immerhin liegt Ihr Fall ganz interessant und verdient größte Beachtung. – Ich will Ihnen nun folgenden Vorschlag machen. Der Baron und der Inder dürfen nicht argwöhnisch werden. Sonst entwickeln sie vielleicht so viel Vorsicht, daß uns unsere Aufklärungsarbeit sehr erschwert wird. Sie müssen daher, mein lieber Herr Holk, jetzt so ein wenig den Detektiv spielen. Sie werden heute noch in die „Traube“ gehen, um zum mindesten mit Wenden zusammen zu sein. Er wird Sie fraglos auszuhorchen suchen, was Sie hier in diesem Hause vorhatten. Sagen Sie die Wahrheit, das heißt, die halbe Wahrheit, nämlich, daß Sie Felix Röder um ein Darlehen bitten wollten. Tun Sie so, als ob Sie ihn angetroffen und auch das Geld erhalten hätten. Meine Person muß natürlich ganz ausscheiden. Immerhin wäre es gut, wenn Sie so nebenbei erwähnen würden, daß Röders Flurnachbar der Inhaber einer Auskunftei ist. Sonst erfahren die beiden dies womöglich auf anderem Wege und werden dadurch, daß sie annehmen, Sie hätten ihnen dies absichtlich verschwiegen, vielleicht mißtrauisch. Und wie gesagt, derartige Gedanken dürfen den beiden um keinen Preis kommen! – Sie haben mich doch richtig verstanden, Herr Holk?“
„Gewiß – vollständig!“ beeilte sich der junge Maler zu erwidern. „Ich soll eben ganz harmlos tun und doch die Augen gut offenhalten. – Soll geschehen, Herr Kämpfer. Mir wird dieses kleine Ränkespiel sogar Freude machen. Sie werden mit mir zufrieden sein, passen Sie nur auf!“
Balduin lachte krähend.
„Liebe zum Handwerk ist die Hauptsache! Und im Nebenberuf sind sie ja jetzt tatsächlich Detektiv in meinen Dienst! Weil sie aber nun mal sozusagen mein Angestellter sind, müssen Sie es sich auch gefallen lassen, daß ich Ihnen einen Gehaltsvorschuß zahle. –
Keine Widerrede! Hier sind dreihundert Mark! Nehmen Sie! Das Geld kommt mit auf die große Rechnung.“
„– große Rechnung?!“ fragte Holk erstaunt. „Was heißt das?“
„Vorläufig gar nicht. Das hören Sie später. Jetzt stecken Sie sich eine frische Zigarre an, und dann – bitte an die Arbeit in die „Traube“! Aber – sein Sie vorsichtig im Trinken! Verstanden?!“
„Keine Sorge! Noch einmal lasse ich mich nicht einseifen. Ich schütze einen kranken Magen vor. – Nur eine Frage noch, Herr Kämpfer. – Es könnte doch immerhin möglich sein, daß Wenden und Magore etwas von meiner heimlichen Verlobung wissen. Soll ich nun da ganz aufrichtig sein, falls sie etwa hören wollen, wie ich jetzt mit meiner Braut stehe?“
Balduin Kämpfer scheuerte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger die Kartoffelnase.
„Aufrichtig sein!“ entschied er dann. –
Noch mancherlei gab es zu besprechen. Um halb elf brach Holk wieder auf. Ihm war jetzt so leicht und frei zu Mute. Tatsächlich, er freute sich auf den versteckten Kampf mit diesen beiden Männern! Detektivspielen – das war doch mal etwas anderes als des Daseins sonstiges ewiges Einerlei. –
Wenden und Magore saßen in einer Nische des bekannten Weinrestaurants. Als Holk erschien, begrüßten sie ihn sehr liebenswürdig, taten so, als ob ihnen an seiner Gesellschaft sehr viel gelegen sei.
Der junge Maler benahm sich recht geschickt. Als der Baron ihn nach einer Weile fragte, ob am Lietzenseeufer ein Bekannter Holks wohne, brachte er die Geschichte von dem Darlehen vor.
„Den Herrn Röder kennen Sie ja beide von Müllenheims her. Es ist der häßliche Privatgelehrte, den die schöne Frau Agnes so sehr zu schätzen scheint.“
„Ah – der!“ meinte Wenden lächelnd. „Richtig – ich besinne mich. – Aber, lieber junger Freund, – das Geld hätten sie auch von mir bekommen können. Eigentlich bin ich sogar etwas verletzt, weil Sie nicht meine Hilfe in Anspruch genommen haben.“
„Ein andermal, Herr Baron, – ein andermal!“ erklärte Holk mit einer übertrieben höflichen Verneigung. „Bei meinem ständigen Dalles ist es beinahe leichtsinnig, mir ein solches Angebot zu machen,“ fügte er scherzend hinzu.
Und abermals nach einer geraumen Weile begann dann Magore – und was er sagte, klang sehr nach vorher sorgfältig überlegt:
„Als wir Sie gestern nacht nach Hause begleiteten und es dann mit Ihrer Wirtin zu der heftigen Auseinandersetzung kam, machte die erregte Frau eine Bemerkung, Herr Holk, aus der man schließen konnte, daß Ihr Herz nicht mehr ganz frei ist. – Sie sind wohl verlobt, nicht wahr?“
„Aha!“ dachte Holk. „Da haben wir’s ja. Wenden und der Inder arbeiten mit verteilten Rollen. Der Baron erledigte die Frage hinsichtlich meines Besuches am Lietzensee, und Magore soll wegen Ursula ein wenig auf den Strauch schlagen. Ich bin nur neugierig, was er eigentlich wissen will!“ –
Laut aber entgegnete er:
„Ihnen kann ich’s ja anvertrauen, meine Herren! Ja, ich bin heimlich verlobt.“ Und während er dies sagte, fiel ihm ein, daß der Inder ja soeben ganz grob gelogen hatte. Frau Klara Mischke hatte bisher gar nicht gewußt, daß ihr Mieter durch zarte Bande bereits gefesselt war. Erst durch den Besuch der besorgten Ursel bei ihr am Morgen hatte sie dies erfahren.
„Gratuliere!“ rief der Baron. „So ist’s recht! Jung gefreit hat noch nie gereut! – Wann soll denn geheiratet werden, lieber Freund?“
„Das hat noch gute Wege,“ meinte Holk achselzuckend.
„Hoffentlich ist Ihre Wirtin nicht so gehässig, Ihrer Braut von den letzten vergnügten Abenden Mitteilung zu machen,“ mischte sich der Inder wieder ein. „Junge Damen haben wenig Verständnis für so harmlose Gelage.“
Holk merkte, daß Magore das Gespräch nach einer bestimmten Richtung zu lenken suchte. Scheinbar trachtete der indische Arzt danach, sich darüber Aufschluß zu verschaffen, ob Ursula die „harmlosen Gelage“ ihrem Verlobten nicht weiter verübelt habe. –
Ganz klar sah Holk in diesem Punkte noch nicht. Aber er hoffte, daß Magore sich schon noch eine Blöße geben würde. Und deshalb legte er ihm jetzt einen Fallstrick, indem er erwiderte:
„Leider hat meine Braut nicht nur von meiner Wirtin, sondern auch von anderer Seite Kenntnis von den beiden Kneipereien erhalten, – ja, leider!“
„So? Auch von anderer Seite?“ warf der Baron ein. „Na – eine solche Gemeinheit! – Wer hat denn da den Judas Ischariot gespielt? Haben Sie eine Ahnung davon, Holk?“
Der schüttelte trübselig den Kopf. „Schriftlich ist diese Gemeinheit geschehen, meine Herren.“
„Natürlich anonym,“ sagte Magore, den Entrüsteten spielend.
„Anonym!“ bestätigte Holk. „Stimmt! Wer es aber gewesen, – ich habe darüber auch nicht die entfernteste Vermutung.“
„Und jetzt ist Ihre Braut wohl so ein wenig eingeschnappt?“ fragte Wenden, herzliche Teilnahme heuchelnd.
„Ja – leider! Sie will mich argen Sünder zunächst nicht sehen, – meine Strafe!“
Der Baron rückte näher an Holk heran und legte ihm die Hand vertraulich auf die Schulter.
„Lieber Freund, – ein Vorschlag! Eigentlich bin ich doch an dieser kleinen Entzweiung schuld. Da möchte ich wieder gutmachen, was ich gefehlt habe dadurch, daß ich Sie zu all den guten Sachen, als da waren Burgunder, Sekt und so weiter, einlud. Ich hätte nämlich eine sehr lohnende Arbeit für Sie, Holk! Denken Sie, wenn Sie dann nach deren Erledigung mit der Tasche voll Geld vor Ihre Braut hintreten könnten und sagen: „Sieh’, dies habe ich in einem halben Jahre verdient!“ Glauben Sie mir – alles wäre wieder gut! Nichts imponiert jungen Mädchen so sehr als klingende, schnelle Erfolge des Herzerkorenen. Das hebt den Geliebten in ihren Augen! Er hat eben bewiesen, daß er etwas leisten kann. – Also, wie gesagt, – ich hätte Arbeit für Sie. Ich wünsche mir seit langem für mein Gutshaus im Kurland eine Anzahl von Kopien alter holländischer Meister. In der Gemäldegalerie in Düsseldorf hängt davon eine ganze Menge. Wenn Sie sich hier nun für etwa ein halbes Jahr freimachen könnten, – ich würde Ihnen für jede Kopie tausend Mark zahlen. Bedingung wäre nur, daß Sie die Arbeit auch nicht einen Tag aussetzen, das heißt, nicht etwa so und so oft hier nach Berlin fahren, um Ihre Braut wiederzusehen. Eine derartige Ablenkung würde Ihre künstlerischen Leistungen schwer beeinträchtigen. Sie müßten mir Ihr Wort geben, in Düsseldorf sich ohne Unterbrechung lediglich meinem Auftrage zu widmen.“
Holk fiel es jetzt plötzlich wie Schuppen von den Augen. –
Keine Frage, er sollte aus Berlin entfernt werden! –
Und Wenden und Magore beabsichtigten irgend etwas, das die Person Ursulas anging! Damit sie dabei nicht durch ihn gestört würden, sollte er nach Düsseldorf verschwinden. – Mehr noch! Jetzt unterlag es für ihn keinem Zweifel mehr, daß Wenden und der Inder einzig und allein die Gemeinheit mit den anonymen Briefen begangen hatten, wie denn überhaupt ihr Bestreben von Anfang an darauf gerichtet gewesen war, ihn und Ursula auseinander zu bringen! Daher die wüsten Kneipereien, daher ihre Liebenswürdigkeit ihm gegenüber, daher all das andere. Es war eben ein vollständiges Intrigenspiel, in das sie ihn als Opfer verstrickt hatten. –
Und jetzt dieser Vorschlag noch! Tausend Mark für eine Kopie – ein Riesenhonorar, das ihn natürlich nur verlocken sollte, auf das Angebot einzugehen. –
Holk spielte sehr gut den Hochbeglückten. Er mußte so tun, als ob er begeistert zugriff. Nur dann konnte er weiter Klarheit über die Pläne dieser beiden heimtückischen Verbündeten gewinnen.
„Herr Baron – wie soll ich Ihnen danken! Natürlich nehme ich an – natürlich!“
Wenden entwarf dann einen richtigen, schriftlichen Vertrag. Er hatte sich vom Kellner Schreibzeug und Papier bringen lassen und setzte eine ganze Menge Paragraphen auf. Einer enthielt auch die Verpflichtung für Holk, gleich morgen mittag abzureisen, ohne sich von Ursula zu verabschieden.
Holk unterschrieb nachher den Vertrag und erhielt von Wenden gleich fünfhundert Mark Vorschuß.
Im stillen dachte er: „Müssen die mich nur für dumm halten! Sie haben’s wahrhaftig sehr eilig, mich aus Berlin abzuschieben!“ –
Auch heute begleiteten der Kurländer und Magore den jungen Maler nach Hause. Aber heute war Berd Holk vollkommen nüchtern.
„Wir bringen Sie morgen dann also auf die Bahn, lieber Freund! Auf Wiedersehen!“ sagte Wenden zum Abschied. Man trennte sich mit sehr herzlichen Händedrücken und Worten.
Holk schloß die Haustür von innen ab und blieb dann stehen. Er hörte, daß die beiden sich wirklich entfernten, öffnete die Tür wieder und schlich ihnen nach, bis er sicher war, daß sie nicht mehr umkehren würden, um etwa festzustellen, ob er auch daheim blieb.
Dann rief er das nächste leere Auto an und nannte dem Chauffeur Balduin Kämpfers Adresse. Bevor er aber eingestiegen war, tauchte neben ihm eine Gestalt auf, die gelassen sagte:
„Ich fahre mit. Wir haben ja den selben Weg.“
Der Herr war niemand anders als der Detektiv selbst.
Der Baron und der indische Arzt gingen gemächlich dem Zentrum der Riesenstadt zu, nachdem sie sich von Holk verabschiedet hatten.
Es war eine kühle, klare Herbstnacht. Die Straßen waren still und einsam. Absichtlich hatte Wenden einen Weg eingeschlagen, auf dem sie belebtere Gegenden mieden. Sie wollten sich in Ruhe unterhalten können.
„Der Vogel wäre also glücklich auf den Leim gegangen,“ hatte der Inder begonnen. „Nur etwas teuer ist die Geschichte geworden. Es wird Zeit, daß wir zum Hauptschlage ausholen. Unsere Kasse leert sich bedenklich!“
„Leider!“ meinte Wenden. „Wir müssen sparen, wo es irgend geht. Noch stehen uns größere Ausgaben bevor. Das dürfen wir nicht vergessen.“
„Wenn nur die Sache Müllenheim glücken wollte,“ sagte Magore wieder. „Dann brauchten wir uns nicht einzuschränken und könnten in aller Ruhe den „Onkel aus Indien“ vorbereiten. Die Übereilung kann uns schaden.“
„Sehr richtig! – Nun – der Professor hat ja bisher zu unserem Glück kein Geld auftreiben können. Sein Kredit ist miserabel. – Wir werden ihn schon in unsere Hand bekommen. Wenn es sich auch nur um eine Vorsichtsmaßregel handelt. Wir gehen sicher auf diese Weise.“
Der Inder zündete sich eine Zigarette an. „Du hältst die Papiersorte also für gut, so daß wir sofort beginnen könnten, wenn uns am Mittwoch der Coup gelingt?“
„Das Papier eignet sich vorzüglich. Auch alles andere ist von mir so gewählt, daß das Ergebnis uns vollauf befriedigen wird. – Ja – wenn die Sache klappt, dann könnten wir unser zweites Eisen noch im Feuer lassen, bis wir den richtigen Zeitpunkt für gekommen halten. Mittwoch ist also ein wichtiger Tag für uns. Alles hängt von dir ab, Magore! Du hast die Hauptarbeit zu leisten. Meine Rolle ist einfacher. Den Schlüssel zum Atelier, den ich nach dem Wachsabdruck gefertigt habe, hätte ich ja vorher gerne ausprobiert. Aber es wird sich nicht machen lassen. Ich kann nicht so ohne weiteres zu Müllenheims gehen.“
Sie waren eben in die Potsdamer Straße eingebogen.
„Wie wär’s noch mit einer Tasse Kaffee?“ meinte Magore. „Da drüben ist noch Licht –“
Das Lokal war nur mäßig besucht. Sie setzten sich in eine Ecke und bestellten zwei Tassen bei dem blassen, übermüdeten Kellner.
Der Zeitungsjunge drängte sich zwischen den Tischen durch und leierte von Zeit zu Zeit seinen Vers herunter: „Zeitungen gefällig! Acht-Uhr-Abendblatt – der Untergang des Elbdampfers „Altona“ – achtzig Tote, der Leichenraub in Blenknerhof – das Allerneueste!“
Plötzlich packte Magore des Barons Arm mit eisernem Griff.
„Da – hörst du – Leichenraub in Blenknerhof. – Was mag daran sein?!“
Wenden horchte hin. Der Junge sang soeben wieder seinen Vers. „Zeitungen gefällig –“
„Wahrhaftig – Leichenraub in Blenknerhof! – He, Junge, hierher!“ rief der Baron und kaufte dann das Acht-Uhr-Abendblatt.
Die Köpfe dicht beieinander über die Zeitung gebeugt, lasen sie nun den gesperrt gedruckten Artikel auf der ersten Seite.
Wie unser R.-Korrespondent ganz zuverlässig erfahren hat, sind aus dem Erbbegräbnis der gräflichen Familie Blenkner unlängst die Leichen des Grafen Roderich, verstorben im Mai dieses Jahres, und des Grafen –
Wenden stieß einen halblauten Fluch aus.
„Wenn der verd… Tintenkleckser recht hat, Magore, dann – dann –“ Ganz heiser war seine Stimme, und sein Gesicht hatte eine auffallende Blässe angenommen.
Der Inder vollendete den Satz. „– dann haben wir vielleicht umsonst alles so schön eingefädelt! Vielleicht! Denn, sollte sich diese Nachricht bewahrheiten, so müssen wir um jeden Preis des Grafen Roderich Leiche auffinden –“
Der Baron wischte die Schweißperlen von der Stirn.
„Die Zeitung kann sich eine solche Nachricht doch nicht aus den Fingern saugen!“ flüsterte er. „Ich fürchte – ich fürchte. – Aber wozu in aller Welt können die Diebe es gerade auf ausgetrocknete Leichen abgesehen gehabt haben?! Was wollten sie damit?! Frische Leichen kauft wohl die Anatomie oder ein eifriger medizinischer Forscher. Doch natürliche Mumien?! – Magore, wäre es nicht geradezu zum Wahnsinnigwerden, wenn unser ganzer Plan jetzt hieran scheitern würde?! – Jedenfalls müssen wir uns umgehend Gewißheit verschaffen! Ich weiß auch schon, wie. Heute früh gegen acht Uhr – es ist ja längst Mitternacht vorüber, läute ich die Polizeiverwaltung von Perleberg an, nenne den Namen eines recht bekannten Berliner Kriminalkommissars – davor ersterben die Kleinstädter nämlich gleich in scheuer Ehrfurcht! – und frage, was es mit dem Leichenraub auf sich hat. Dann werden wir ja sehen, ob ein mißgünstiges Geschick und die Frechheit einiger mir allerdings unverständlicher Gauner uns tatsächlich einen bösen Streich gespielt hat.“
Die Auskunft aus Perlburg war recht niederschmetternd. Die beiden Grafenmumien waren wirklich aus ihren Särgen spurlos verschwunden! Daran ließ sich nichts ändern.
Inzwischen hatte Magore, der vielleicht noch geriebener als sein Bundesgenosse war, bereits ein Mittel gefunden, dieses Pech vielleicht wieder wettzumachen. Freilich, es kostete ein Sündengeld! Aber es mußte sein. Nachdem die beiden mit einem Auto die Expedition verschiedener Zeitungen besucht hatten, begaben sie sich wie verabredet zu Berd Holk, der auch tatsächlich alles für seine Abreise nach Düsseldorf vorbereitet hatte.
Er erklärte, er habe an seine Braut nur ganz kurz geschrieben, ebenso an Professor Müllenheim und Felix Röder, ohne, wie Magore ihm dies ja vorgeschlagen hätte, den letzteren zu verraten, wohin er sich begebe.
Der Mittagszug entführte den jungen Maler dann nach der Rheinprovinz.
Wenden und der Inder atmeten auf, als Holk glücklich unterwegs war. Wenigstens hierbei hatte es weiter keine Schwierigkeiten gegeben, – so dachten sie.
*
An demselben Tage ereignete sich noch mancherlei, das nur einen mit den näheren Zusammenhängen all dieser scheinbar so bedeutungslosen Geschehnisse Vertrauten als besonders wichtig erscheinen mußte.
Und der einzige, der die Gesamtlage überschaute und bereits alle Fäden in der Hand hielt, um die verschiedenen Personen wie Marionetten zu lenken, war Balduin Kämpfer. –
Dieser mithin recht bedeutungsvolle Tag war der Beginn des neuen Monats, war der erste November.
Berd Holk hatte von Frau Klara Mischke – wohl für immer! – Abschied genommen. Das Auseinandergehen entbehrte von beiden Seiten nicht einer gewissen Freundlichkeit. Frau Mischke, die auf Heller und Pfennig von Holk bezahlt worden war, hatte ihren Groll gegen den Mieter bereits so ziemlich vergessen. Und Holk wieder befand sich in so glänzender Laune, daß er der „alten Schlumpe“ nichts mehr nachtrug. So wurde es denn ein ganz harmlose Scheiden, und die Mischke versprach aufs bestimmteste, Holk die ganze eingehende Post nach Düsseldorf postlagernd nachzusenden. Außerdem hatte der Maler bei dem zuständigen Postamt auch noch einen Nachsendeantrag gestellt.
Während die Beziehungen zwischen Holk und der liebebedürftigen Witwe sich also wieder gebessert hatten, herrschte in der kleinen, aus drei Zimmern bestehenden Wohnung Frau Arnheims noch immer eine gewisse Spannung zwischen Ursel und ihrer Pflegemutter.
Frau Arnheim, die Witwe eines Gerichtssekretärs, war eine ebenso stattliche wie tatkräftige Dame. Selbst kinderlos, hatte sie Ursula recht streng erzogen, ohne zu bedenken, daß ein Kinderherz auch Liebe und Zärtlichkeit braucht. So waren das Verhältnis zwischen den beiden Frauen stets ein kühles und förmliches geblieben.
Ursula, temperamentvoll und von Jugend an voller Sehnsucht nach erwärmender Herzlichkeit, litt nicht nur unter der sie umgebenden Kälte, sondern auch unter dem von Jahr zu Jahr sich steigernden Bewußtsein, ein armes, halb exotisches Pflänzlein ohne einen richtigen Heimatboden zu sein. Dann war Berd Holk in ihr Leben getreten und damit eine glückliche Zeit. Zuerst hatte sie ja mit so gläubigem Vertrauen zu dem heimlich Verlobten aufgestaut. Dann aber, als der erste Rausch der jungen, reinen Seligkeit vorüber war, merkte sie von Tag zu Tag mehr, ein wie schwacher Charakter Berd in Wirklichkeit war. Sie suchte ihn zu beeinflussen, erzielte auch wohl kleine Erfolge, doch nie für die Dauer. Jeder Verführung durch gute Freunde unterlag er, arbeitete dann oft tagelang nicht, fand aber stets allerlei Entschuldigungsgründe für seine Haltlosigkeit und Trägheit. „Wir Künstler sind keine Lohnsklaven,“ war sein beliebtester Ausspruch. –
Und jetzt noch diese ganz bösen Enttäuschungen, die er ihr bereitet hatte. Auf Ursels Rat war er ja in die Kupferstecherklasse Müllenheims eingetreten. Einige Wochen war er dann wirklich fleißig gewesen und mied seinen Freundeskreis, besonders den gefährlichen Stammtisch „Palette“, der eigentlich nur arbeitsscheue, verbummelte und dabei unleidlich großsprecherische Kunstjünger vereinigte. Ursel hatte schon zu hoffen gewagt, hatte eine ernste Einkehr bei ihrem Verlobten angenommen. Und nun?! Alles hatte er offenbar auf das Leihamt getragen, was er irgend entbehren konnte, hatte mit Zufallsbekanntschaften die Nächte durchgekneipt und im Trunk sich so weit vergessen, daß er nur mit genauer Not einer Beleidigungsklage entgangen war.
Ursels Stimmung war in diesen Tagen geradezu trostlos. Zum ersten Male dämmerte ihr jetzt die Erkenntnis auf, daß Berd doch nicht der Mann sei, der eines Weibes Leben völlig ausfüllen könne.
Frau Arnheim tat auch das ihrige, um Berd Holk in Ursels Augen noch mehr herabzusetzen. Bald kam sie der Pflegetochter mit ernsten, strengen Vorwürfen über diese „zwecklose Bekanntschaft mit einem Menschen, der nichts sei und nie etwas vorsichbringen werde“, bald schlug sie weinerliche, klagende Töne an, warf Ursel Undankbarkeit und Kurzsichtigkeit vor und beschwor das junge Mädchen, alle Beziehungen zu dem verbummelten Maler abzubrechen.
Auch an diesem ersten Novembermorgen gab es wieder eine erregte Aussprache. Ursel lief schließlich vom Kaffeetisch weg und fuhr ohne Abschied ins Bureau. Dort fand sie zwei Briefe für sich vor. Einen von Berd. Er schrieb ihr von dem lohnenden Auftrag, der ihn nach Düsseldorf führte, und versprach nebenbei wieder einmal hoch und heilig, daß das neue, bessere Leben nun wirklich begonnen habe.
Ursula wunderte sich selbst, wie gleichgültig diese Mitteilungen sie ließen. Dann nahm sie den zweiten Brief zur Hand. Dessen Inhalt überraschte sie sehr. Ein ihr ganz unbekannter Privatgelehrter Röder fragte unter Berufung auf seine Bekanntschaft mit Berd an, ob sie bei ihm als Sekretärin gegen ein Monatsgehalt von einhundertundfünfzig Mark sofort eintreten wolle. –
Noch vor wenigen Tagen hätte Ursel mit Freuden zugegriffen. Aber jetzt?! Der Herr war ein Bekannter Berds. Das war keine besonders gute Empfehlung! – Jedenfalls wollte das junge Mädchen diese Sache erst mit ihrer Pflegemutter durchsprechen.
Während Ursula dann eifrig, aber heute ganz mechanisch, arbeitete und ihre Finger von Taste zu Taste flogen, dachte sie hin und wieder an Berd. Aber wie an einen Wildfremden. Er war so plötzlich weit – weit von ihr abgerückt, nicht nur körperlich, auch seelisch. Eigentlich war sie froh, daß sie nun nicht mehr zu fürchten brauchte, ihm zu begegnen.
Das war also aus der großen, himmelstürmenden Liebe geworden! Aber – sie konnte es nicht ändern! Und die heimlichen Tropfen, die ihr jetzt über die Wangen rannen, waren wie der Herbstregen, der auf abgefallenes Laub träufelt und nichts mehr zu frischem, grünendem Leben zu erwecken vermag. –
Eines der beiden Vorderzimmer der kleinen Wohnung vermietete Frau Arnheim möbliert. Am liebsten nahm sie ältere Herren, von fünfzig Jahren aufwärts. Die waren schon leidlich solide. Damen als Mieterinnen schätzte sie nicht. Sie hatte zu böse Erfahrungen mit den Vertreterinnen ihres eigenen Geschlechts gemacht. Zur Not konnte es auch ein jüngerer Herr sein – zur Not! Dem hielt sie dann aber gleich beim Mieten eine lange Rede. Sie sei eine Dame, habe eine erwachsene Tochter usw., danach möge er sich richten!
Das Zimmer war zum ersten November freigeworden. Ein Referendar hatte darin gehaust, der sich angeblich zum Assessor vorbereitete. In Wahrheit kam er keinen Tag vor dem hellen Morgen und nie nüchtern nach Hause. Das konnte Frau Arnheim länger nicht mit ansehen. Er mußte fort.
Jetzt saß sie einem neuen Bewerber um das hübsch ausgestattete Zimmer in der Wohnstube gegenüber. Und das war ein Mann so ganz nach ihrem Geschmack. Alles solide – alles, – die Nickelbrille, der graue, weiche Filzhut, der Umlegekragen, die schwarze Schleife, die derben Stiefel, die ungebügelten Beinkleider mit den charaktervollen Kniebeuteln, der graue, dünne Vollbart und die bescheidene, fast etwas ängstliche Sprache.
Bureauvorsteher sei er bei einem Rechtsanwalt, hatte das altfränkische Männlein erklärt, und Krüger heiße er, Benno Krüger. Jetzt habe er gerade vierzehn Tage Urlaub.
Frau Arnheim frohlockte. Schnell war alles abgemacht. Am Nachmittag wollte Herr Krüger einziehen.
Wenn „Krüger“ bei Balduin Kämpfer als Diener fleißig schaltete und waltete, hieß er Karl Marx. Sein Herr hatte ihm tatsächlich vierzehn Tage Urlaub gegeben, – aber zu einem bestimmten Zweck. Marx hatte schon häufig derartige Aufträge zur größten Zufriedenheit des Detektivs erledigt. –
Um drei Uhr nachmittags erschien er mit einem Reisekorb und einem Koffer bei Frau Arnheim. Sie wollte ihm beim Einräumen der Sachen behilflich sein, und er nahm das gern an. Viel besaß er ja nicht. Aber alles war gediegen. Frau Arnheim hatte es nicht anders erwartet. Die polizeiliche Anmeldung wollte er selbst besorgen. Er war überhaupt sehr zuvorkommend und bescheiden.
Während die beiden noch im Herrn „Benno Krügers“ Zimmer beschäftigt waren, läutete die Flurglocke, und Frau Arnheim ging nachsehen, wer Einlaß begehrte. Die Stubentür blieb weit offen, und so erkannte Marx ganz gut den Baron von Wenden, den er schon einige Male hatte beobachten müssen und der sich hier als schlicht bürgerlicher Herr Wandel einführte mit der Bitte, gnädige Frau in einer persönlichen Angelegenheit sprechen zu dürfen.
Frau Arnheim hätte ihre gute Meinung über den Bureauvorsteher fraglos erheblich abgeändert, wenn sie gewußt hätte, daß er die Unverfrorenheit besaß, jetzt sehr angestrengt an der Tür des Wohnzimmers zu lauschen. –
Etwa zu derselben Stunde entdeckte Balduin Kämpfer in der Berliner Mittagszeitung eine Anzeige von auffälliger Form, bei deren Anblick er ein vielsagendes „Aha!“ ausstieß. Dieselbe Anzeige fand er nachher noch in den Abendausgaben von drei anderen Berliner Zeitungen. –
Sie lautete:
Liebhaber sucht Mumien
zu kaufen. Höchste Preise! Art der Mumie gleichgültig. Diskretion zugesichert! Angebote unter XYZ 100
an die Expedition des Blattes
„Schau schau!“ dachte Kämpfer. „Sollte das ein Zufall sein?! Ich glaube beinahe, da hat noch jemand außer Hartock ein Interesse an den ausgetrockneten Grafen Blenkner! Ich müßte mich doch sehr irren, wenn dem nicht so wäre! Mumien sind doch kein Artikel, den man durch eine Anzeige sucht wie zum Beispiel Kinderwagen, Eisschranke und ähnliche Gelegenheitskäufe. Außerdem – „Diskretion zugesichert!“ Das heißt in freier Übersetzung: „Die Herkunft der Mumien ist dem XYZ 100 recht gleichgültig, danach wird nicht gefragt.“
Diese Erwägungen stellte der Detektiv an, während er, bewaffnet mit einer köstlichen Havanna, langsam in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging.
„Jedenfalls will ich doch mal feststellen, wer diese Anzeige eingerückt hat,“ dachte er weiter. „Das hat ja keine Eile. Es ist doch besser, ich lasse erst zwei oder drei Tage vergehen. – Trifft meine Vermutung zu, so fällt vielleicht wieder ein kleiner Lichtstrahl auf diese dunkle, verzwickte Angelegenheit. Hm – der Fall Blenkner wird immer interessanter. Und übermorgen will ja doch dieser Doktor Magore bei Müllenheims seine Künste zeigen.“ Er lächelte so eigentümlich, als er jetzt halblaut fortfuhr: „Da muß Felix Roeder mit dabei sein, unbedingt! Seiner Reise wird er unterbrechen und zurückkehren müssen.“
Dichte Wolken vor sich hin paffend setzte er seine Promenade durch das Zimmer fort. Bisweilen blieb er stehen und stierte starr auf einen Fleck. Sein Geist arbeitete schärfer denn je. Und seine Lippen bewegten sich fortgesetzt in unhörbarem Selbstgespräch.
Justizrat Sternberg war von den Rechtsanwälten, die beim Berliner Kammergericht zugelassen waren, ohne Frage der nervöseste. Man nannte ihn in Kollegenkreisen nur den „Zappelstern“.
Trotzdem hatte Siering ihn Hartock empfohlen. – „Der Mann ist ein Genie – tatsächlich! Der hat schon Prozesse durchgemacht, die von vornherein richtiggehende „Leichen“ zu sein schienen. Er hauchte ihnen Leben ein. Wende dich also nur mit der Blenkner-Sache an ihn. Wenn er die zivilrechtliche und Balduin die strafrechtliche Seite befingert, wird’s ein Sieg auf der ganzen Linie!“
So war dem Hartock zu demselben Sternberg gekommen, bei dem auch Ursula Palwner die Schreibmaschine mit hurtigen Händen bediente. Und an demselben Nachmittag war’s, als bei Frau Arnheim der solide Herr Benno Krüger seinen Einzug gehalten hatte.
Sternberg breitete wie beschwörend die Arme gegen den Provinzkollegen aus.
„Tun Sie mir einen Gefallen und diktieren Sie meinem Tippfräulein die ganze Geschichte. Ich habe so wenig Zeit heute. Draußen sitzt der Vorstand einer Aktiengesellschaft. Große Besprechung – Millionensache! – Also haben Sie Erbarmen, Kollege! Ich bitte Sie herzlich! – Fräulein Palwner heißt die Tipperin. Drüben im kleinen Zimmer sitzt sie. Den Schreiber schmeißen Sie raus, damit Sie ungestört sind. – Nebenbei ein rarer Vogel, das Mädel drüben, sehr rar, – Mischblut! Ist ihr auch noch anzusehen. Leichter Bronzehauch auf den Wangen und Augen – Augen! Na – wiedersehen Kollege.“
Hartock ließ sich von dem Bureauvorsteher zu Fräulein Palwner führen.
Er war überrascht. Welch eigenartige Schönheit! Sternberg hatte nicht zu viel gesagt.
Über Ursulas Platz brannte eine rot verschleierte Glühbirne. Und dieses weiche Licht gab ihren Zügen noch besonderen Liebreiz.
Hartock brachte sein Anliegen vor.
„Bitte, ich bin hier mit dieser Abschrift sofort fertig. Dann stehe ich zur Verfügung,“ sagte sie mit einer so wohlklingenden Stimme, daß die Worte des Rechtsanwaltes Ohr geradezu zu umschmeicheln schienen.
Er setzte sich ihr gegenüber an den einfachen, tintenbeklecksten Holztisch und begann sich Notizen zu machen, um nachher mit dem Diktat nicht ins Stocken zu geraten.
Das kahle, nüchterne und unfreundliche Stübchen mit dem einen Fenster nach einem düsteren Hofe hinaus war angenehm warm. In dem grünen Kachelofen, dessen Tür halb offen stand, glühten knisternd Kohlen. Ein ganz eigener, unaufdringlicher Wohlgeruch durchzog den Raum. Sicher entströmte er des Tippfräuleins Kleidern.
Hartock schaute verstohlen hin und wieder zu Ursel hinüber. – Wahrhaftig – ein richtiges kleines Abenteuer war’s. Dies süße Geschöpf da, dem man die exotische Abstammung sehr wohl ansah, nahm bald des jungen Anwaltes Gedanken ganz gefangen. Wie schade, daß diese liebliche Blüte hier in dem Getriebe eines Bureaus verkümmern mußte! Und – wie schnell welkten diese armen Wesen in dem Einerlei der Fronarbeit dahin! –
Ursula klemmte einen neuen Bogen in der Maschine fest. Dann blickte sie auf. Ihre Augen begegneten denen Hartocks, die ihrer Schönheit huldigend auf dem schmalen Gesicht ruhten.
Jetzt erst betrachtete sie ihn genauer. Vorhin, als er eintrat, hatte sie absichtlich vermieden, länger von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Als Hartock vor vier Jahren sich in Perlburg niedergelassen hatte, war auf ihn von allen Müttern heiratsfähiger Töchter sofort eine lebhafte Jagd eröffnet worden. Doch das Wild war so leicht nicht zur Strecke zu bringen. Der damals Fünfundzwanzigjährige hatte nicht umsonst in Berlin als Referendar unzählige Gesellschaften mitgemacht. Er kannte all diese Fallstricke, wie sie so einem begehrten Heiratskandidaten gelegt werden. Der „schöne“ Hartock ließ sich nicht „einwickeln“, im Gegenteil, roch er in irgendeiner Familie Lunte, so erzählte er todsicher bei nächster Gelegenheit ganz harmlos, er beabsichtige nicht vor dem fünfunddreißigsten Jahre zu heiraten. Dann wurde er ebenso todsicher nicht mehr so häufig eingeladen, und der Ton wurde ihm gegenüber kühler und förmlicher.
Ursula kannte eine ganze Menge Berliner Anwälte vom Sehen. Und sie sagte sich jetzt, daß außer dem berühmten Siering nicht einer, was Äußeres anbetraf, an diesen Kollegen ihres Brotherrn heranreichte – nicht einer!
Sekunden hatten ihr genügt, um Hartock genau zu mustern. Und sekundenlang hatten die Augen der beiden jungen Menschenkinder fest sich ineinander versenkt, als wollten sie nicht nur die Züge des Antlitzes des anderen prüfen, sondern auch bis auf den Grund der Seele dringen.
Dann überzog eine leichte Röte Ursels Wangen. Und hastig sagte sie nun:
„Wir können beginnen, Herr Rechtsanwalt.“
Er erhob sich. Er war es gewöhnen, auf und ab zu gehen, wenn er daheim in Perlburg seinem Tippfräulein – das Fräulein war eine Frau, eine Witwe, und reichlich vierzig Jahre alt! – etwas diktierte.
Dann: „In Sachen der Nachlaßverwaltung der gräflich Blenknerschen Hinterlassenschaft –“
So weit kam er nur. Da wurde er inne, daß das Klappern der Schreibmaschine aufgehört hatte und wandte sich Ursula zu.
Der waren die Arme schlaff in den Schoß gesunken, und ihre großen, dunklen Augen, die so tief und geheimnisvoll schienen wie ein Weiher im Tannenhorst, starrten Hartock mit einem Ausdruck maßlosen Staunens und auch wieder ungläubig fragend an.
Der Anwalt wußte nicht, wie er sich dieses seltsame Benehmen deuten sollte.
„Fehlt Ihnen etwas?“ fragte er jetzt. Aber kaum hatte er den Satz beendet, da kam er ihm auch schon in seiner kalten Förmlichkeit und geringen Liebenswürdigkeit wie ein Unrecht diesem süßen Geschöpf gegenüber vor. Und schnell fügte er hinzu: „Sollten Sie sich nicht ganz wohl fühlen, Fräulein Palwner, so können wir ja –“
„Oh – entschuldigen Sie bitte,“ unterbrach sie ihn verwirrt. „Ich – ich war nur so erstaunt, als Sie –“ Sie begann zu stottern, wurde immer verlegener und beugte sich tief über das eingespannte Blatt, als gäbe es dort wunder was zu lesen. Und dabei stand doch erst in der blauen Druckschrift eine einzige Zeile da, deren letztem Worte „Blenkner“ sogar das „r“ noch fehlte, – eben weil Ursula hier schon die Kraft zum Weiterschreiben versagt hatte.
„Worüber waren Sie denn so erstaunt?“ meinte er gespannt. Ihr Verhalten wurde ihm immer rätselhafter.
Sie wandte ihm ihr Gesicht wieder zu. Dessen Ausdruck war jetzt ein anderer geworden. Leise Ablehnung stand darin deutlich zu lesen. Und die Augen blickten streng und kalt.
„Das dürfte Sie kaum interessieren, Herr Rechtsanwalt. – Bitte – fahren Sie fort,“ erwiderte sie ganz in dem Ton des kleinen Tippfräuleins, das sich schnell auf seine Pflicht besonnen hat.
Enttäuscht, auch etwas ärgerlich über sich selbst, begann Hartock abermals seine Promenade durch den winzigen Raum, fünf kurze Schritte hin, fünf kurze Schritte zurück. Ja, er war wirklich sehr unzufrieden mit sich. Er befand sich hier doch an einer Stätte der Arbeit und dazu einem Wesen gegenüber, das lediglich ein winziges Rädchen in der Sternbergschen Anwaltsmaschinerie war. Das hatte er einen Augenblick vergessen, – natürlich nur, weil dieses Fräulein Palwner jung und hübsch war. Hätte an ihrer Stelle eine verblühte ältere Jungfrau gesessen, so würde er sehr wahrscheinlich nicht so besorgt um deren Wohlbefinden gewesen sein.
„– gräflich Blenknerschen Hinterlassenschaft, vertreten durch –“, diktierte er weiter, reihte dann klar und übersichtlich Satz an Satz und vermied es, wieder zu Ursula hinüber zu sehen.
Die Maschine klapperte im Eiltempo, im Ofen knisterten die Kohlen, und auf dem Papier reihte sich Zeile an Zeile.
Dann mußte Hartock notwendig eine Pause eintreten lassen, um sich das Folgende erst zu überlegen.
„Lesen Sie bitte vor,“ sagte er kurz. „Ich habe den Faden verloren.“
Und sie las. Welcher Wohllaut in der Stimme war. Wie süß mußte es sein, wenn diese Stimme einmal Zärtlichkeiten flüsterte. – Hartock wußte kaum, daß er wie gebannt auf die frischen, roten Lippen schaute.
Wie eigenartig sie geformt waren. Und was für prächtige Zähne dahinter aufblinkten.
Ursula fühlte Hartocks bewundernde Blicke. Sie wurde beunruhigt, versprach sich und war froh, als das Geschriebene zu Ende war.
Er hatte nichts gehört. Wie das Geplätscher eines reizvollen Bächleins war Satz für Satz an seinem Ohr vorübergerauscht.
So trat er denn hinter ihren Stuhl und beugte sich vor, um einen Blick auf das eingespannte Papier zu werfen. Des Tippfräuleins Kopf mit der dunklen, in den Schattenstellen fast schwarzen, seidig glänzenden Haarfülle war dicht vor ihm. Deutlicher spürte er den Duft des Parfüms. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gefunden. Es war ein eigentümlich feiner, süßlicher Duft wie der Geruch zahlloser Blüten fremder Pflanzen.
Ursula saß ganz regungslos da. Ihr Atem ging schwer. Alles verschwamm ihr vor den Augen. Sie wußte diesen Mann, den sie bisher nie gesehen, dicht hinter sich. Er war ihr ein Fremder. Und doch war’s, als ginge von ihm eine seltene Macht aus wie ein unsichtbarer Strom, – wie ein Fluid, das sie überrieselte mit schmeichelnden Wellen. Etwas so Seltsames hatte Ursel noch nie empfunden. Wie gelähmt war sie. Eine wohlige, träumerische Erschlaffung umfing sie. Noch immer rührte sie sich nicht. Ihr kam es vor, als wiche vor ihr die graue Wand des Zimmers, als öffne sich ein Fernblick auf grüne, sonnenbeschienene Auen.
Hartock krampfte die Finger zu Fäusten zusammen. Soeben war es wie ein Schwindel über ihn gekommen, hatte das Verlangen, ihren Kopf in seine Hände zu nehmen und dann den wehrlosen, roten Mund zu küssen, wie ein Blitz ihn durchzuckt.
Schnell trat er zurück und fast heiser sagte er:
„Bitte nochmals den letzten Satz –“
Dann begann das Diktat erneut. –
Als Rechtsanwalt Sternberg nach einer Stunde eintrat, hatte der Kollege Hartock bereits den ersten Schriftsatz fertiggestellt außer der allgemeinen Übersicht über den Prozeßgegenstand.
„Hören Sie – das ist ja glänzend!“ rief Sternberg. „Zu liebenswürdig, daß Sie mir so die Arbeit erleichtern.“
„Der Schriftsatz ist zunächst nur Entwurf,“ meinte Hartock etwas befangen. „Ich werde hindurchsehen und ihn dem Fräulein morgen dann als Reinschrift diktieren.“
Gleich darauf verabschiedet Hartock sich. Das Tippfräulein erhielt eine tiefe Verbeugung und ein „Ich danke Ihnen sehr – auf Wiedersehen morgen“.
Wieder begegneten sich zwei Augenpaare.
Als Hartock die Straße betrat, blieb er stehen und sah nach der Uhr.
Viertel acht! – Wie die Zeit verflogen war.
Zwei kleine Schreiberjungen Sternbergs gingen an ihm vorüber und grüßten. Sie hatten es eilig. Der eine sagte etwas von „Kintopp“. –
Als Ursula das Haus verließ, stand unter der nahen Laterne der Mann, an den sie eben noch gedacht hatte. Den Kasten hatte sie oben in der kleinen Stube über die Schreibmaschine gedeckt, und dabei war in ihr der Gedanke, daß Hartock morgen ihre Fingerfertigkeit wieder in Anspruch nehmen würde, als etwas froh Erregendes aufgetaucht.
Hartock grüßte verbindlich, als sie an ihm vorüberging. Dann folgte er ihr in einiger Entfernung. –
Eine Straßenbahn polterte heran. An der Haltestelle stiegen nur wenige Menschen ein, darunter auch Ursula und der Perlburger Anwalt.
In dem Anhänger setzte er sich ihr gegenüber, zog den Hut, lächelte harmlos und meinte:
„Wir scheinen denselben Weg zu haben – “
Hier war sie nicht mehr das Tippfräulein, das dem Kollegen Sternbergs nachschreiben mußte, was er vorsprach.
„Möglich!“ sagte sie nur und schaute angestrengt zum Fenster hinaus. Doch umsonst versuchte sie, sich in eine gewisse Empörung über seine Zudringlichkeit hineinzureden, indem sie sich im Stillen sagte: „So schätzt er dich also ein, daß er es wagt, hier eine Anknüpfung zu suchen –“
Doch die Empörung wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil, wenn sie ganz ehrlich sein sollte, so mußte sie sich eingestehen, daß sie eine frohe Genugtuung darüber empfand, daß er ihr gegenüber nicht ganz gleichgültig geblieben war. – Wäre er ihr sonst gefolgt?!
Sie merkte wieder nur zu genau, daß er sie ansah. Und sie wurde nicht verwirrt. Nein, es wiederholte sich nur dasselbe seltsame Gefühl wohliger Schwäche, das sie bereits gespürt hatte, als er hinter ihrem Stuhl stand und sich über sie gebeugt hatte.
Und jetzt zog eine geheimnisvolle Macht ihr den Kopf zur Seite, ließ ihren Blick den seinen suchen. –
Er schaute sie so bittend an. Und dann sagte er:
„Morgen werde ich mit dem Diktat pünktlich um sieben Uhr aufhören. Heute habe ich Ihnen eine Viertelstunde geraubt.“
„Bei uns gibt es öfters dringende Arbeit,“ erwiderte sie zwanglos. „Hin und wieder wird’s auch halb neun, bis ich fortkomme.“
So kamen sie ins Plaudern. Auf dem Potsdamer Platz mußte Ursula umsteigen. Er schloß sich ihr an.
„Könnten wir nicht ein Stück zu Fuß gehen?“ bat er.
Da sah sie ihm fest in das hübsche, männliche Gesicht, in dem die beiden Schmisse auf der Wange bei der Laternenbeleuchtung wie zwei tiefe Furchen erschienen.
„Wenn ich nun ja sagte,“ entgegnete sie mit besonderer Betonung, „– würden Sie dann nicht denken: „Oh – wirklich nur ein Tippfräulein, keine Dame“?!“
„Nein! Ich würde denken: Hier hat der Zufall zwei Menschen zusammengeführt, die sich gut zu verstehen scheinen und die unbekümmert um die Vorschriften der sogenannten Wohlanständigkeit getrost die Gelegenheit benutzen sollten, bei ungezwungenem Meinungsaustausch noch eine Weile diese köstlich erfrischende Herbstluft zu atmen.“
„Gut. Gehen wir,“ sagte sie schlicht und nickte ihm mit dankbarem Blick zu. Sie wußte jetzt, mit wem sie es zu tun hatte, mit einem Manne von feinem Herzenstakt.
Bald bogen sie in den Tiergarten ein, gingen die Siegesallee entlang, um dem Nordosten Berlins, dem alten Moabit, zuzusteuern.
Am Kriminalgericht verabschiedete Ursula sich. Sie wollte eine gerade daherkommende Elektrische benutzen, weil sie sonst zu spät daheim anlangte.
Sie reichten sich die Hände.
„Ich wünschte, wir hätten morgen Abend wieder so klares Wetter,“ meinte er vielsagend.
Doch Ursula schüttelte den Kopf.
„Das Wetter wird vielleicht schön bleiben, aber – begleiten dürfen Sie mich nicht nochmals, Herr Rechtsanwalt. Auf keinen Fall! – Leben Sie wohl!“
Die Straßenbahn rollte davon. Und Hartock kam sich mit einem Male so einsam, so verlassen vor. Vor ihm türmte sich der hohe Bau des Kriminalgerichtes auf. Unwillkürlich dachte er daran, welch traurige Dramen sich in dem Schwurgerichtssaal dort oben schon abgespielt, wie viele Verbrecher dort der Entscheidung über Leben und Tod entgegengebebt hatten.
Die Nachtseiten des Daseins! Und eben war noch die Sonne, die Jugend, die Reinheit neben ihm gewesen, – das Tippfräulein, das exotische Blümlein. –
Er nahm ein Auto und fuhr dem Zentrum wieder zu. Siering erwartete ihn in den „Hillerschen Weinstuben“. –
Das vornehme Lokal war stark besucht, viel Offiziere, viele Herren und Damen der ersten Gesellschaftskreise, aber auch Talmi dazwischen, wie überall in der Reichshauptstadt, nur für den Kundigen erkennbar freilich.
Siering hatte einen etwas abseits stehenden Tisch gewählt. Er war nicht allein. Balduin Kämpfer verzehrte eben mit Behagen einen halben Hummer, als Hartock hinzutrat.
Kaum zehn Minuten nach Hartock erschien in dem Raume, in dem die drei saßen, ein älterer, sehr spießbürgerlich gekleideter Herr, der sich suchend umschaute und dann wieder verschwand.
Frau Arnheim hätte diesen Herrn mit Recht mit „Herr Krüger“ angesprochen.
Kämpfer stand gleich darauf auf und ging für kurze Zeit in die Vorhalle hinaus.
Nachher nahm er ganz unbefangen am Tische wieder Platz. – Inzwischen hatte Siering dem Freunde mitgeteilt, daß der Detektiv ihn nachmittags angeläutet und eine gemeinsame Besprechung gewünscht hätte.
Als Kämpfer dann auch seinen Schmorbraten vertilgt und sich Kaffee bestellt hatte – bisher war die Unterhaltung ganz allgemein gehalten gewesen –, sagte er unvermittelt zu Hartock, indem er ihn etwas mißbilligend anschaute:
„Wissen Sie auch, daß Fräulein Palwner verlobt ist, Herr Rechtsanwalt?!“
Hartock fielen beinahe Messer und Gabel aus der Hand. Nicht so sehr, weil ihm diese Eröffnung gänzlich unerwartet kam, als vielmehr infolge ungläubigen Staunens darüber, daß Kämpfer das kleine Tippfräulein zu kennen schien und offenbar irgendwie von seinem gemeinsamen Spaziergang mit ihr bereits etwas erfahren hatte.
Auch Siering machte ein sehr verwundertes Gesicht.
„Palwner – Palwner?“ meinte er grübelnd. „Mir ist doch? – Halt, nun hab’ ich’s –“
„Ja, eine Angestellte des Rechtsanwalts Sternberg,“ ergänzte Kämpfer schnell. „Sehr richtig! – Und nebenbei die heimliche Verlobte eines jungen Malers namens Berd Holk, der auch bei Müllenheims verkehrt und der für uns eine recht wichtige Persönlichkeit ist, weil er nämlich mit in die Blenknersche Angelegenheit hineinverwickelt ist.“
Hartock war jetzt wieder im Stande, an dem Gespräch teilzunehmen.
„Sie lieben starke Überraschungen, Herr Kämpfer, – wirklich! Ich stürzte förmlich aus allen Wolken, als Sie so plötzlich mir mit dem Namen Palwner in die Parade fuhren.“
„Sie werden sehr bald sehen, daß ich noch mehr ähnliche Kanonenschläge bereit habe, deren Zünder schon brennen, – ja, sogar recht kräftig brennen. – Wir haben uns seit Ihrem Besuche bei mir nicht wiedergesehen, meine Herren. Inzwischen ist viel passiert, – recht merkwürdige Dinge, weiß Gott! Daher habe ich Sie auch herbestellt. Wir müssen Kriegsrat halten und einen Angriffsplan festlegen. – Doch – eins nach dem andern. Übersichtlichkeit ist bei meinem Geschäft die Hauptsache. Hören Sie also genau zu, bitte. Und wenn Sie irgend etwas, angeregt durch meine Aufzählung verschiedener und verschiedenartiger Ereignisse, zu bemerken haben, dann nur heraus damit. –
Zunächst zur allgemeinen Aufklärung folgendes: Mein Flurnachbar, der Privatgelehrte Felix Röder, ist mir schon so manches Mal hilfreich beigesprungen. Vor der Welt aber haben wir die engen freundschaftlichen Beziehungen stets geheim gehalten. Doch innerhalb unseres Hauses verkehren wir sehr rege miteinander. Röder hat mir denn auch jetzt seinen Beistand nicht versagt. Von ihm weiß ich so mancherlei, was ich sonst erst durch langwierige Beobachtungen einzelner Personen herausgebracht hätte. –
Im Vordergrund unseres Interesses steht die Person des Malers Berd Holk. Ein schwacher Charakter, der bei all seinen Fähigkeiten zu haltlos ist, um es in seinem Beruf vorwärts zu bringen. Seit einiger Zeit ist er mit Fräulein Ursula Palwner, die zusammen mit ihrer Pflegemutter Frau Arnheim in Moabit wohnt, heimlich verlobt. Bei Müllenheims lernte er dann zwei Herren kennen, die sich dort meiner Überzeugung nach mit zu dem Zweck einführen ließen, um mit Holk zusammenzukommen. Ich betone, mit zu dem Zweck! Sie verfolgen bei Müllenheims also noch ein anderes Ziel. –
Mein Freund Röder war an jenem Teeabend ebenfalls Gast bei Müllenheims. Er hat es miterlebt, daß jene beiden Herren – es sind dies der berühmte Inder Doktor Magore und ein kurländischer Baron namens Wenden – bei der Begegnung im Hause des Professors so taten, als seien sie einander wildfremd. Und dabei wohnen sie seit Monaten in der selben Pension Tür an Tür und haben auch sonst bewiesen, daß sie eng verbündet sind. Ihnen ist es nämlich auch zuzuschreiben, daß jetzt zwischen dem Brautpaare, Ursula Palwner und Holk, eine Entfremdung eingetreten ist. Sie haben in sehr raffinierter Weise geradezu darauf hingearbeitet, das Paar auseinander zu bringen.“
Hartock fiel dem Detektiv jetzt ins Wort.
„Einen Augenblick, Herr Kämpfer. Ich möchte bemerken, daß Siering und ich gestern Abend in der „Traube“ an einem Tische neben dem dieser beiden Herren saßen. Magore wurde von einigen Gästen erkannt, bildete eine Weile den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und nur deshalb achtete auch ich genauer auf den Nebentisch, an dem als dritter jener Maler saß. Die drei nannten sich häufiger beim Namen. Dann fiel mir die etwas harte Aussprache des Barons auf. Diese Stimme mußte ich kennen! Ich habe dann wohl ein wenig zu scharf hinübergeblickt, – jedenfalls wechselte dieser Baron Wenden mit einem Male den Platz, so daß ich ihm nicht mehr ins Gesicht sehen konnte.“
Der Detektiv ließ ein vielsagendes „Aha!“ hören und erklärte diese Mitteilung sei äußerst wichtig und „passe ganz in seinen Kram“, – eine Äußerung, die den beiden Anwälten vorläufig sehr rätselhafte blieb.
„Ich nehme den Faden also wieder auf,“ fuhr Kämpfer fort und schilderte kurz, wie Wenden und Magore den jungen Künstler zwei Mal betrunken gemacht hätten, erwähnte auch die anonymen Briefe, die fraglos ebenfalls das Werk der heimlichen Widersacher Holks gewesen wären, und berichtete schließlich von jenem Auftrag, der den Maler jetzt nach Düsseldorf geführt hätte, flocht auch noch ein, daß sichere Beweise dafür vorlägen, daß Holk von den beiden ständig überwacht worden sei, wofür die Begegnung zwischen dem jungen Künstler und dem Baron an jenem Abend am Lietzenseeufer genügend spräche. –
„Holk war nun schlau genug, mir noch in derselben Nacht, als Wenden ihm den Auftrag für Düsseldorf gab, diese Neuigkeit mitzuteilen, woraus Sie, meine Herren, ersehen, daß er zu mir, nachdem Röder ihn an mich empfohlen hatte, vollstes Vertrauen gefaßt hatte. Ich riet ihm, tatsächlich abzureisen, um Magore und den Kurländer vollständig in Sicherheit zu wiegen. Er hat denn auch heute Mittag Berlin verlassen.“
Der Detektiv stärkte sich durch einen Schluck Kaffee, wobei er so nebenbei bemerkte, sein Kaffee wäre das nicht – er meine den von dem Hamburger Senator geschenkt erhaltenen.
Diese Pause benutzte Siering, um mit zweifelndem Kopfschütteln zu bemerken:
„Kinder, ich bin doch auch kein Esel! Aber – wie all dies mit dem Falle Blenkner zusammenhängt, ist mir total schleierhaft.“
Balduin Kämpfer nickte ernst.
„Glaub’ ich Ihnen gern, verehrter Gönner! Und doch besteht eine Verbindung zwischen diesem gegen Holk geschmiedeten Komplott und der Angelegenheit Blenkner.“
„Dann ist Holk eben der Erbe, den wir suchen,“ platzte da Hartock heraus.
Auch Siering warf schnell hin: „Beinahe möchte ich’s auch annehmen!“
„Diese Lösung ist falsch,“ erklärte der Detektiv jedoch. „Wenn auch nicht so ganz,“ fügte er langsam hinzu. „Um die Blenknersche Nachlaßsache handelt es sich hier allerdings. – Ich will Ihnen dies nun näher auseinandersetzen und so verschiedenes nachholen, was ich bei unserer ersten Rücksprache in meiner Wohnung absichtlich verschwiegen habe. – Bei meiner Anwesenheit in Blenknerhof als Antiquitätenhändler bin ich nicht lediglich auf die Person jenes Wermig Marwitz aufmerksam geworden – durch die Fingerabdrücke, Sie besinnen sich! – sondern ich fand auch unter den Schriftstücken des Grafen Roderich so einiges, was mir bei meinen vielseitigen Erfahrungen aufstieß. Es lag da ein Päckchen Papiere in einer Schreibtischschublade, die sonst nur alte, nach Jahren geordnete Quittungen enthielt. Das Päckchen Papiere war in einem gesticktes Seidentuch eingeschlagen, in ein recht kostbares Tuch orientalischer Arbeit. Ich bin stets gründlich. Sie, Herr Hartock, werden dieses Päckchen wohl auch in die Finger bekommen, es aber nicht weiter beachtet haben. Ich gebe zu, selbst wenn Sie den Inhalt geprüft hätten, wäre in Ihnen kaum der Gedanke aufgetaucht, einen, wenn auch nur sehr geringen Hinweis auf die Person des Universalerben vor sich zu sehen. Sicherlich hat auch Graf Roderich angenommen, jene Papiere wären nicht geeignet dafür, sein sorgfältig gehütetes Geheimnis vorzeitig aufzudecken. Sonst hätte er sie sicherlich vernichtet.“
Hartock hob zum Zeichen, daß er etwas bemerken wollte, die Hand.
„Ich erinnere mich an das Seidentuch sehr gut,“ sagte er. „Der Oberinspektors und ich haben auch jene Papiere durchgeblättert. Es handelte sich um Reiseaufzeichnungen des Grafen Roderich und ein Heftchen auf dessen Deckel „Konto X“ stand.“
„Stimmt,“ meinte Balduin Kämpfer. „Haben Sie die Reiseaufzeichnungen gelesen?“
„Nein!“
„Schade. Nun, Sie können es ja nachholen. – Aus ihnen geht hervor, daß der Graf vor neunzehn Jahren eine Weltreise unternommen hat, die ihn in alle Herren Länder führte und über ein Jahr von der Heimat fernhielt. Er war damals also zweiundfünfzig Jahre alt, soll aber noch wie ein Dreißiger ausgesehen haben, wie mir Pastor Terrmeelen, übrigens der Vater der Frau Professor Müllenheim, zu erzählen wußte, – mir, dem Antiquitätenhändler. Graf Roderich hat sich auch drei Monate in Indien aufgehalten, und hier –“
„Halt!“ rief Siering dazwischen. „Jetzt geht mir ein Licht auf! Sternberg hat mir mal –“
„Dann löschen Sie das Licht nur wieder aus!“ unterbrach der Detektiv ihn kurz. „Sonst brennen Sie einen meiner Kanonenschläge zu früh ab. Ihr Kollege Hartock soll doch nicht um seine Überraschung kommen.“
Hartock blickte die beiden verständnislos an. Ehe er aber noch etwas fragen konnte, hatte Kämpfer schon wieder begonnen:
„In Indien verliebte der Graf sich, wie er in seinen Aufzeichnungen andeutet, in eine Eingeborene, ein Hindumädchen aus angesehener Familie. Man kann dann weiter zwischen den Zeilen lesen – unverfängliche Sätze über diesen Herzensroman finden sich hie und da eingestreut –, daß die Inderin die Gefühle des Grafen erwiderte und seinetwegen ihre Heimat verließ. Graf Roderich muß also trotz seines Alters noch immer eine Erscheinung gewesen sein, die ein Mädchenherz entflammen konnte. –
Auf der letzten Seite der Reiseaufzeichnungen stehen nun ein paar Sätze, die Aufschluß über den Ausgang dieser Liebesgeschichte geben, wenigstens dem, der etwas zu kombinieren weiß. Da steht unter „London, Mai 18…“ etwa folgendes: „Ich bin untröstlich. Mit dem Leben ein kurzes Glück bezahlen müssen, ist eine herbe Tragik.“ – Und weiter: „Ich glaube zu hassen, was ich doch lieben müßte. Ich werde nie den Gedanken los, so winzig nur, so hilflos, und doch nahmst du mir den Inhalt dieser meiner alten Tage –“, schließlich noch als allerletzter Satz: „X gut untergebracht. Die Abneigung bleibt. Frau A. wird meine Stelle vertreten –“ – Aus diesen geringen Andeutungen ergänzte ich mir folgendes: Die Inderin starb in London bei der Geburt eines Kindes, dem Graf Roderich keine Liebe entgegenzubringen vermochte, da das kleine Wesen der Mutter Tod verschuldet hatte, und das er dann einer Frau A. übergab.“
Nun war es Hartock, der halblaut nur einen Namen dem Detektiv zurief:
„Ursula Palwner!“
Balduin nickte. „Ja, Ursula Palwner ist die Tochter des Grafen. Das ist einwandfrei festgestellt. – Lassen Sie mich aber meinen Bericht jetzt erst vollenden, meine Herren. Ich glaube, sie werden dann nicht mehr viel zu fragen haben. – „X gut untergebracht“, hatte der Graf geschrieben. Und auf dem Heftchen stand „Konto X“. Darin fand ich nur Daten und Zahlen, fraglos also eine Buchung der Beträge, die der Graf für die Erziehung seines Kindes ausgegeben, besser, an Frau Arnheim selbst abgeschickt hatte. Er hat es also sogar vermieden, seinen Bankier ins Vertrauen zu ziehen. – Das, was ich jetzt wußte, genügte mir, um mir zu sagen, daß Graf Blenkner nur diese seine Tochter zur Universalerbin eingesetzt haben könne, genügte mir auch, um X aufzufinden. –
Ich will mich kurz fassen. Der Graf hat die Beträge an Frau Arnheim teilweise durch das Postamt in Perlburg, teilweise von Berlin abgeschickt. Dies herauszubekommen, war nicht schwer. In Berlin wohnte er stets im Hotel „Bristol“, und auf dem diesem zunächst liegenden Postbank fragte ich auch nach, ebenso wie in Perlburg. So gelangte ich sowohl in den Besitz des vollen Namens als auch der Adresse der Frau A., also Arnheim. Und diese Ermittlungen waren es, die mich wiederholt nach Perlburg führten, wo ich gleichzeitig vorsichtig Erkundigungen nach Wermig-Marwitz einzog, – ob er vielleicht dort eine Liebschaft oder gute Freunde gehabt hätte und so weiter. Ich hoffe, vielleicht auf diese Weise seine Spur wieder aufzufinden.“
Balduin nahm eine neue Zigarre, bestellte eine halbe Flasche Bruchsaler und fuhr fort:
„Die Erbin hätten wir, meine Herren. Doch, das nützt uns sehr wenig ohne das verschwundene Testament. – Daher habe ich auch, als ich erst Ursula Palwner aufgestöbert hatte, alles aufgeboten, um auch Wermigs habhaft zu werden. Er fraglos hatte das Testament gestohlen, er mußte wissen, wo es sich jetzt befand. Über die Gründe, die ihn zu diesem Diebstahl bewogen haben, bin ich noch heute Nachmittag im Unklaren gewesen. Wir wollen diese Frage jetzt jedoch nicht weiter erörtern. –
Ich behielt Ursula Palwner beständig im Auge, stellte so fest, daß sie mit Berd Holk heimlich verlobt war, tat aber nebenbei mein Möglichstes, um auf Wermigs Fährte zu kommen. Ich will Sie, meine Herren, nicht damit langweilen, all das aufzuzählen, was ich zu diesem Zweck unternahm. Ich hatte keinerlei Erfolg. Dann erschienen Sie bei mir, Herr Hartock, und brachten aus Perlburg die Nachricht von dem Diebstahl der beiden Leichen mit. Gleichzeitig aber auch begann das Intrigenspiel gegen Berd Holk, den Verlobten Ursula Palwners. Die, die an diesem Komplott beteiligt waren, der Baron und der Inder, sind von mir nun dauernd durch meine Hilfskräfte – ich verfüge nicht nur über Marx allein – „beschattet“ worden, wie man die ständige Beobachtung einer Person fachtechnisch bezeichnet. Ihre Absicht war klar. Sie wollten das Brautpaar auseinander bringen. –
Als ich dies erst mit Sicherheit annahm, wurde natürlich mein Interesse für die etwas dunklen Ehrenmänner Magore und Wenden noch reger. Ich unterhalte zur Polizei gute Beziehungen, habe oft mit den Beamten Hand in Hand gearbeitet und finde dort das weitgehendste Entgegenkommen. Mit Hilfe der Behörden ließ ich zunächst über den Baron in seiner Heimat Erkundigungen einziehen. Heute nachmittag gegen sechs Uhr erhielt ich die gewünschte Auskunft. – Hier habe ich das Schreiben. Ich will es Ihnen vorlesen. –
Baron Stanislaus von Wenden, Besitzer des stark verschuldeten Ritterschaftgutes Wendendorf, verstorben 18…, hatte zwei Söhne, von denen der Ältere jetzt Besitzer des Gutes ist, während der Jüngere mit Rufnamen Stanislaus für verschollen gilt. Dieser ist in Rußland mehrfach mit den Strafgesetzen in Konflikt geraten, bis er dann vor sechs Jahren eines Tages spurlos verschwand. Weiter ist über ihn oder die Familie nichts zu berichten. –
Ich glaube, meine Herren, auch Ihnen würde es beim Lesen dieser Auskunft ebenso ergangen sein wie mir, ich faßte sofort die Möglichkeit ins Auge, daß Stanislaus von Wenden, „unser“ Baron, und Wermig-Marwitz ein und dieselbe Person sein könnten. Wie sollte ich dies aber feststellen und im besonderen beweisen? Während ich noch Pläne schmiedete, um Sie, Herr Hartock, mit Wenden unauffällig zusammenzubringen, damit Sie ihn sich genauer ansehen sollten, kehrte Karl Marx zurück, den ich beauftragt hatte, sich bei Frau Arnheim als Mieter ihres möblierten Zimmers Eingang zu verschaffen. Dieser Schachzug meinerseits hatte einen wohlberechtigten Grund gehabt. Magore und der Baron waren nämlich mehrmals in Moabit gewesen und hatten sich das Haus angesehen, in dem Frau Arnheim wohnt. Sie planten also fraglos irgendetwas. Und da mußte ich vorbeugen. –
Marx hatte geradezu unverschämtes Glück. Kaum war er heute eingezogen, als der Baron bei Frau Arnheim erschien und sich dort als „Herr Wandel“ einführte. Marx besitzt vorzügliche Ohren. Wenn er auch nicht alles verstand, was in Frau Arnheims Wohnstube gesprochen wurde, – das Gehörte genügte mir, als er es mir möglichst wörtlich wiederholte; denn das Fehlende konnte ich mir unschwer ergänzen. Der Kurländer,“ fuhr der Detektiv fort, nachdem er mit einem Schluck Wein die Kehle angefeuchtet hatte, „hat Frau Arnheim erklärt, er könnte ihr oder doch ihrer Pflegetochter zu großem Vermögen verhelfen. Als Entgelt verlange er eine schriftliche Erklärung von beiden, daß Ursula Palwner ihren Reichtum mit ihrem Onkel mütterlicherseits teilen wolle. – Auf weitere Einzelheiten ließ er sich nicht ein, machte aber allerlei Andeutungen, aus denen Frau Arnheim ersah, daß er über Ursulas Herkunft zutreffend und offenbar weit besser unterrichtet war als sie – die Pflegemutter selbst. – Eine endgültige Abmachung kam zwischen den beiden jedoch nicht zustande. Der Baron wollte daher morgen sich wieder einfinden, damit Frau Arnheim sich erst mit Ursula besprechen könnte. Was dürfen wir nun für uns aus diesem Angebot Wendens und seinen Äußerungen schließen? – Sehr viel! –
Erstens, das Angebot wurde nicht zum Schein gemacht, sondern war völlig ernsthaft gemeint. Das ging aus den ganzen Unterhandlungen hervor. War es aber ernst gemeint, dann muß es sich auf die Blenknersche Erbschaftsangelegenheit bezogen haben, was auch aus der Tatsache hervorging, daß die Andeutungen Wendens genau auf diesen seltsamen Nachlaßfall paßten. Und aus dem Umstand, daß der Baron sich mit seinen Vorschlägen an die richtige Adresse, das heißt an Frau Arnheim und Ursula wandte, kann man wieder den Schluß ziehen – er muß Einsicht in das gestohlene Testament genommen, den Inhalt gekannt haben, also – der Dieb sein! Dem Diebstahl lag mithin von vornherein die Absicht zu Grunde, die entwendete Urkunde für einen lohnenden Fischzug auszunutzen. Wenden-Wermig wird den Baron einmal heimlich beobachtet haben, wie dieser das Geheimfach öffnete, und bei guter Gelegenheit stahl er das Testament, dessen Inhalt ihm eben die Grundlage für eine große Hochstapelei zu bieten schien.
Sie sehen, meine Herren, die ganze Sache klärt sich immer mehr. – Ich möchte an dieser Stelle noch einige Bemerkungen einflechten, die die Frage betreffen, ob Frau Arnheim den richtigen Namen des Vaters ihrer Pflegetochter kennt. Wäre dies der Fall, so hätte sie sich fraglos gemeldet, als Graf Roderich gestorben war und die Geschichte von dem verschwundenen Testament und dem deshalb unbekannt gebliebenen Universalerben tagelang in allen Zeitungen eingehend besprochen wurde. Doch sie meldete sich nicht. –
Außerdem habe ich ja auch auf den betreffenden Postämtern festgestellt, daß der Graf nie sich selbst als den Absender der Anweisungen nannte, sondern ganz verschiedene Namen angab, meist bürgerliche, – auch eine der vielen Vorsichtsmaßregeln, um sein Geheimnis zu behüten. Ich hätte auch niemals Frau Arnheims Namen und Adresse als die der Empfängerin der Beträge des Konto X ermitteln können, wenn ich mir nicht aus dem Heftchen die Daten der Beträge aus den letzten Jahren abgeschrieben haben würde, um auf den Postämtern die Eintragungen vergleichen zu lassen, wobei ich dann eben immer wieder auf den Namen Arnheim als den der Empfängerin stieß. – Alles spricht also dafür, daß weder Frau Arnheim noch Ursula den Namen Blenkner als den des Vaters des jungen Mädchens gekannt haben oder besser – kennen!“
Abermals hob da Rechtsanwalt Hartock die Hand. Und Balduin wartete, was jener wohl vorzubringen hätte.
„Ich glaube, Sie irren, lieber Kämpfer,“ meinte der Perlburger nachdenklich. „Soeben ist da so etwas wie ein kleiner Zwischenfall in meiner Erinnerung aufgetaucht, eine sonst belanglose Szene, die sich heute bei Sternberg abspielte, als ich Ursula Palwner den allgemeinen Überblick über die Rechtslage der Blenknerschen Nachlaßsache diktierte. Ganz plötzlich hörte sie nämlich auf zu schreiben. Die Hände sanken ihr in den Schoß, und sie saß wie versteinert da. Als ich sie fragte, ob es sich vielleicht um einen kleinen Schwächeanfall handele, erwiderte sie zögernd, sie wären nur so erstaunt darüber gewesen, daß – Hier brach sie plötzlich ab und äußerte sich auch nicht weiter, machte vielmehr ein Recht ablehnendes Gesicht. – Jetzt, wo ich mir diese Szene nochmals vergegenwärtige, bin ich nun überzeugt, daß es der in meinem Diktat vorkommende Name Blenkner gewesen ist, der sie so förmlich erstarren ließ. Gerade mit diesem Namen hörte nämlich die Maschinenschrift auf.“
Der Detektiv wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.
„Es ist undenkbar, daß die beiden Frauen die wahren Tatsachen der Abstammung Ursulas kennen,“ meinte er. „Wirklich undenkbar! Denn dann wäre wohl der Baron mit seinem Angebot von Frau Arnheim sofort abgeblitzt worden, wenn sie über Graf Blenkner und somit auch über die Erbschaftsangelegenheit unterrichtet gewesen wäre. Immerhin ist dies ein Punkt, der der Aufklärung dringend bedarf. Befassen wir uns jetzt jedoch nicht weiter damit. Es gibt noch genug anderes zu erörtern. – Ich habe Ihnen vorhin zu beweisen gesucht, daß der Kurländer und Wermig-Marwitz ein und dieselbe Person und, was mir schon früher als sicher erschien – auch der Dieb des Testamentes ist. Unterstützt wird erstere Annahme ja auch durch Ihre Beobachtung in der „Traube“, Herr Hartock, ich meine, durch den Platzwechsel, den der Baron vornahm, als Sie ihm eine Beachtung schenken, die ihm fraglos doch peinlich war. Weiter aber spricht noch für meine Behauptung, daß es, als Wermig in Blenknerhof als Diener tätig war, allgemein auffiel, wie gebildet er war und wie tadellose Umgangsformen er hatte. Dies wurde von Ihnen ja ebenfalls bestätigt, Herr Hartock.“
„Allerdings!“ warf der Rechtsanwalt ein.
„Ich glaube, wir können also wohl jeden weiteren Zweifel über Wenden-Wermigs Persönlichkeit bei Seite werfen. Wir wissen jetzt auch, welche Rolle dem Herrn Doktor Ungra ben Magore bei diesem Verbrechen zugedacht war. Er, der Inder, sollte als Onkel Ursulas auftreten! – Ein sehr feiner Gedanke. Magore ist ganz der Mann danach, sowohl Frau Arnheim als auch das junge Mädchen zu bestricken. In seiner Art des Auftretens liegt eine Überlegenheit, ein gewisser Zauber, dem sich ein harmloses Gemüt nicht leicht zu entziehen vermag. Außerdem wäre Ursula, in der doch noch so manches von ihrer exotischen Abstammung schlummert, sicher dem braunen Arzt gegenüber schnell bereit gewesen, ihn als einzigen leiblichen Verwandten, der ihr bis jetzt entgegentrat, aus einem gewissen Anlehnungsbedürfnis heraus anzuerkennen. Hierbei wäre nun Berd Holks Einfluß, den die beiden Verbündeten aber wohl sehr überschätzt haben, als der des Verlobten Ursulas vielleicht störend und hinderlich gewesen. Der Maler mußte also mit dem jungen Mädchen entzweit oder noch besser, wie es jetzt geschehen ist, aus Berlin entfernt werden. –
Der ganze Plan von Herrn Wenden und Magore liegt nun so ziemlich klar vor uns. Und man kann den Leuten eigentlich eine gewisse Anerkennung insofern nicht verweigern, als sie tatsächlich alles sehr fein durchdacht haben. Ich möchte auch dies etwas näher beleuchten. –
Woher der Baron den Inder kennt und seit wann, entzieht sich meiner Kenntnis. Wenden-Wermig hat das Testament jedenfalls bei Seite geschafft, um daraus für sich Kapital zu schlagen. Er selbst mußte sich jedoch mehr im Hintergrunde halten. Zu leicht hätte er sich selbst eine Grube graben können. Daher wird Magore als Onkel Ursulas ins Treffen geführt. Denken Sie nun nicht, meine Herren, daß Wenden der Frau Arnheim gegenüber sich die Blöße gegeben hat, die Sache so darzustellen, als wüßte „Ursulas Onkel“, dessen Namen er natürlich verschwieg, bereits Namen und Wohnung seiner Nichte. Im Gegenteil, der Kurländer hat Frau Arnheim erklärt, er bestehe nur deswegen auf einer urkundlichen Abtretung des halben Vermögens an den indischen Verwandten, weil dieser ihm für die Auffindung seiner Nichte eine größere Summe versprochen hätte und weil er fürchte, daß der Inder eine solche Summe gar nicht besitze. –
Durch diese Darstellung war es, wenn Magore dann bei Arnheims auftauchte, diesem leicht gemacht, unter dem Vorwand, – ohne also selbst eigennützig zu erscheinen, auf der Abtretung des Geldes zu bestehen, das er Wenden bezahlen müsse. Der Kurländer hätte, sobald die Abtretung unterzeichnet war, Magore dann einfach das Testament ausgehändigt und irgendwo in der Verborgenheit alles Weitere abgewartet. Mit dem Testament konnte Ursula ihre Ansprüche an den Nachlaß sofort geltend machen, wobei ihr natürlich der lieber Onkel behilflich gewesen wäre. –
Alles in allem ein feines Plänchen. Magore hätte mit dem Glorienschein der Selbstlosigkeit stolz dagestanden, hätte den Raub mit Wenden geteilt, – und niemand wäre im Stande gewesen, ihm etwas am Zeuge zu flicken, denn für die nötigen Papiere, die des Inders Verwandtschaft mit Ursulas Mutter dartun sollten, wird der geriebene Verbrecher Wenden-Wermig schon gesorgt haben.
Aus diesem Plane der beiden läßt sich nun auch mit zwingender Notwendigkeit so einiges über den Inhalt des gestohlenen Testamentes kombinieren. Es muß Angaben über die Liebesgeschichte des Grafen und über den Namen von Ursulas Mutter enthalten. Wie wäre sonst wohl der Kurländer darauf gekommen, gerade den Inder sich zum Verbündeten zu machen und diese Onkel-Geschichte zu ersinnen und genügend – ich denke an die nötigen Papiere für Magore! – vorzubereiten, so daß sie nachher auch klappte! Wenden kann nur durch das Testament von dem Herzensroman des Grafen Kenntnis erhalten haben, denn um aus den Reiseaufzeichnungen und dem Konto X diese Geschichte sich Stein für Stein aufzubauen wie ich es tat, dazu ist der Kurländer doch nicht klug genug, – vorausgesetzt, daß ihm das Päckchen in dem bestickten Seidentuche überhaupt zugänglich geworden ist. Nein – nicht klug genug! – Und mit dieser meiner Behauptung, die vielleicht etwas stark nach persönlicher Eitelkeit riecht, kommen wir zu einem Kapitel, das ich vorläufig nicht aufschlagen will. Alles zu seiner Zeit! Erst müssen wir uns noch mit den gestohlenen Leichen etwas befassen. Auch die Fäden, die Magore und Wenden mit dem Professor Müllenheim verbinden, werden sich schon noch entwirren.“
Balduin nahm sein Glas und trank den Anwälten zu.
„Prosit, meine Herren, – vergessen wir nicht, daß wir in einem Weinrestaurant sitzen. – Also nun der Leichendiebstahl. – Hängt er mit der Entwendung des Testamentes zusammen? – Ich antworte getrost mit Nein! – Und doch verspricht auch er sich zu einem sehr interessanten Kriminalfall auszuwachsen und zwar durch eine Annonce, die ich heute gleichlautend in verschiedenen Berliner Zeitungen entdeckte. – Sie sehen, da sucht jemand Mumien zu kaufen, bietet hohe Preise und sichert dem Verkäufer Diskretion zu, betont noch besonders „Art der Mumie gleichgültig“! –
Wissen Sie, meine Herren, welcher Gedanke mich durchzuckte, als ich diese Anzeige gelesen hatte, – ein Gedanke, der, wie ich zugebe, durch nichts begründet war und der doch in mir wie eine Vision zur Entstehung gelangte: „Diese Annonce hat der Kurländer eingerückt!“ – Nachher habe ich mich selbst ausgelacht. Wozu sollte Wenden sich eine Mumie zulegen?! –
Wie ich dann aber in der Straßenbahn saß und hierher fuhr, wie meine Hirnmaschine den Gesamtfall Blenkner abermals zergliederte, da tauchte aufs neue in der Reihe meiner Gedanken eine bloße, auch durch nichts begründete Vermutung auf, in welcher Weise man die Anzeige doch dem Baron zuschreiben könnte. Ich war auf folgenden Zusammenhang gekommen: Vielleicht enthält das verschwundene Testament eine Klausel, durch die es dem Universalerben, also Ursula Palwner, etwa zur Pflicht gemacht wird, die Leichen ihrer Eltern zusammen zu bestatten. Die Erfüllung dieser Bedingung wäre durch den Raub des toten Grafen unmöglich geworden, und mithin hätte Wenden das größte Interesse daran, die Leiche wieder herbeizuschaffen. Zu diesem Zweck rückte er die Annonce ein!? Er hofft, daß die Leichenräuber sich durch die Anzeige dazu bestimmen lassen werden, mit ihm in Unterhandlungen zu treten, da ja alle die gräflichen Toten aus dem Erbbegräbnis im Galgen-See natürliche Mumien sind. – Ich betone, dieser Zusammenhang ist gänzlich freie Erfindung von mir und ohne jede tatsächliche Unterlage, – ein reines Phantasieprodukt.“
„Und doch hat es manches für sich,“ meinte Siering eifrig. „Wer sucht wohl durch die Zeitung Mumien und betont dabei, auf die Art, das heißt also auf Ursprung und Beschaffenheit, käme es ihm nicht an, und wer deutet durch den Zusatz „Diskretion zugesichert“ an, daß die Mumien auch ruhig auf nicht ganz einwandfreie Weise in den Besitz der Verkäufer gelangt sein können! Jedenfalls läßt sich der eigenartige Text der Anzeige mit Ihrem Phantasieprodukt, lieber Kämpfer, sehr gut in Einklang bringen.“
Balduin nickte.
„Sehen Sie, werter Gönner, auch Sie beißen auf den Köder an – genauso wie ich! Doch alles Grübeln wird uns keine Klarheit bringen. Lassen wir es daher, wenden wir uns Dingen zu, die jetzt wichtiger sind, denn übermorgen werde ich ohnehin wissen, wer der Mumienliebhaber ist. Das herauszubringen ist kinderleicht. –
Nunmehr beginnt denn also unser Kriegsrat. Ich stelle folgendes zur Erwägung: Am besten ist, Frau Arnheim wird morgen Vormittag, noch bevor der Kurländer sich bei ihr wieder einfindet, in die Sachlage eingeweiht und gebeten, scheinbar auf den Vorschlag des Barons einzugehen. Sie, Herr Hartock, sollen mich begleiten. Sie sind Mitglied des Dreimännerrates, den der Graf zur Verwaltung seines Nachlasses eingesetzt hat. Sie haben, um hier den Prozeß mit dem Fiskus in die Wege leiten zu können, eine Menge Urkunden mit, die meine Mitteilungen Frau Arnheim gegenüber bekräftigen werden. Wir wollen der Dame auch weiter raten, Fräulein Ursula zunächst nichts von all diesen Dingen zu erzählen. Wozu in dem jungen Mädchen Hoffnungen auf einen völligen Umschwung ihrer bisherigen Lebensbedingungen erwecken, wenn wir noch nicht wissen, ob wir auch das Testament dem Diebe abjagen können! Und ohne das Testament bleibt Ursula Palwner arm. Daran läßt sich nichts ändern. – So, bitte um Ihr Einverständnis, meine Herren zu diesem Vorschlag.“
Hartock und Siering stimmten ohne weiteres zu.
„Gut. Nun zum nächsten Punkt. – Wie fangen wir es an, dem Diebe die richtige Urkunde abzujagen? – Ich denke, wir wählen den sichersten Weg, das heißt, wir lassen die beiden Schurken ruhig ihren Plan weiterverfolgen und auch zu Ende führen. Dann muß ja das Testament von selbst ans Licht kommen! Und wenn sich die Herren Magore und Wenden als Sieger dünken, treten wir in Erscheinung, decken das ganze Spiel auf, sorgen dafür, daß auch der Baron gefaßt wird und sichern den beiden Verbündeten Freiplätze in einem Gefängnis oder sogar Zuchthaus.“
„Einverstanden!“ meinten die Freunde wie aus einem Munde.
Balduin stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
„Das war mal geredet wie bei ‘ner Etatsberatung im Reichstag!“ sagte er lächelnd. „Jetzt habe ich mir’s verdient, eine ganze Stunde schweigen zu dürfen. Nun unterhalten Sie mich, meine Herren!“
Hartock reichte dem Detektiv die Hand über den Tisch hin.
„Ja, Sie haben’s wahrhaftig verdient, sich etwas auszuruhen!“ sagte er herzlich. „Die Geistesarbeit, die Sie eben geleistet haben, erregt meine ehrliche Bewunderung. Sie sind ein Genie, lieber Kämpfer, wirklich! Ich war bisher stets der Meinung, talentvolle Detektive gebe es nur in Romanen. Ich bin jetzt eines besseren belehrt worden! Allein schon die Art und Weise, wie Sie aus den Reiseaufzeichnungen und dem Heftchen „Konto X“ auf Ursula Palwners Spur gekommen sind, verdient einen Orden!“
Balduin nahm diesen Scherz mit dem Orden in einer komisch verzweifelten Miene hin.
„Das fehlte noch gerade! Daheim bei mir liegt schon eine Kollektion solcher blinkenden Knopflochvögel! Was soll ich damit?! Ziehe ich je einen Frack an?!“
„Na – vielleicht wird’s auch das Hauskreuz der Frau Venus – ein Eheorden,“ lachte Siering. „Warum heiraten Sie eigentlich nicht, bester Balduin?!“ fügte er ernster hinzu. „Sie haben doch ein Einkommen, das –“ Er schwieg plötzlich, denn des Detektivs Gesicht hatte mit einem Mal einen ganz besonderen, schmerzlich bewegten Ausdruck angenommen.
Und dann sagte Kämpfer auch noch – leiser als sonst, wobei seine unschöne Stimme leicht zu zittern schien:
„Lassen wir dieses Thema, Siering! Jeder Mensch hat seine verwundbare Stelle –“
Ein etwas peinliches Schweigen trat ein, bis Hartock dann absichtlich, nur um den beiden anderen schnell über diese unangenehme Situation hinwegzuhelfen, erklärte:
„Eigentlich ist es doch merkwürdig, daß Wenden-Wermig, falls er mich in der „Traube“ erkannt und deshalb den Platz gewechselt hat, mir als dem Perlburger Anwalt und Sachwalter des Grafen nicht so ein wenig nachspionierte tat, – nicht wahr?“
„Er hat es ja getan,“ erklärte der Detektiv einfach. „Als er aber festgestellt hatte, daß Sie des Prozesses wegen hier sind, kamen Sie ihm ganz ungefährlich vor. Ich weiß, er hat einen Schreiber Sternbergs bestochen, zu ergründen, was es damit auf sich hätte, als Sie zum ersten Mal bei dem Justizrat gewesen waren, ohne ihn anzutreffen.“
„Unglaublich – worüber Sie alles unterrichtet sind!“ meinte Hartock staunend.
„Mein Geschäft verlangt das,“ entgegnete Balduin achselzuckend.
Inzwischen war auch Siering etwas eingefallen, das er gern aufgeklärt haben wollte.
„Hören Sie, lieber Kämpfer, – damals in der „Traube“ setzte sich doch der Privatgelehrte Röder zu uns und begrüßte nachher die drei Leute am Nebentisch, den Inder, den Baron und den Maler. Hatten Sie etwa den Röder beauftragt, die dunklen Ehrenmänner an jenem Abend zu beobachten?“
Um Balduins Mund zuckte für einen Augenblick ein kaum merkliches Lächeln auf wie ein schnell erlöschendes Flämmchen.
„Ja, ich hatte ihn darum gebeten. Von meinen Hilfskräften war gerade niemand frei,“ sagte er und trank dann sein Glas leer. Nach einer Weile fügte er hinzu:
„Röders Äußeres ist nicht gerade bestrickend. Finden Sie nicht auch?“
„Allerdings!“ erwiderte Siering. „Eigentlich kann man sich kaum vorstellen, daß ein Mensch noch häßlicher sein könnte. Hinzu kommt bei dem Röder noch diese scharfe, erbarmungslose Zunge, diese beißende Ironie und Spottsucht. Das macht ihn mir auch so unangenehm.“
„Vielleicht leidet er unter seiner Häßlichkeit,“ meinte Kämpfer sinnend. „Es gibt so viele herzlose Menschen, die einen solchen von der Natur Gezeichneten noch verhöhnen. Vielleicht ist er dadurch so gallig geworden. Ich kenne ihn ja genauer. Ein schlechter Charakter ist er nicht. Er kann auch sehr weich, frauenhaft weich sein. Ich glaube, er sehnt sich nach einer Gefährtin, nach einer glücklichen Ehe. Aber – welches Weib würde ihn nehmen?!“
„Lieber Balduin, da denken Sie doch wohl zu gering von den Frauen,“ entgegnete Siering eifrig. „Gewiß, die überwiegende Mehrzahl ist zu oberflächlich, sieht nur auf eine gute Versorgung und auf die äußere Erscheinung. Dann gibt es wieder Geschöpfe, die die Natur selbst so stiefmütterlich behandelt hat, daß sie zugreifen, auch wenn es sich um einen menschlichen Pavian handelt. Die dritte Sorte Frauen, die sozusagen die Ehre ihres Geschlechts retten, sind die tiefer veranlagten Charaktere, meist feingebildete Wesen mit weichem Gemüt, und bei diesen spricht das Äußere gar nicht mit, sie blickten nur auf den inneren Gehalt. – Da fällt er eben ein, weil wir durch Röder auf dieses Thema gekommen sind, er soll ja wohl die schöne Frau Agnes Müllenheim schon als Mädchen gekannt und auch heimlich geliebt haben. Aus dieser Liebe ist nun eine Seelenfreundschaft geworden. So erzählt man sich in der Gesellschaft.“
„Möglich!“ sagte der Detektiv kurz. „Ich denke, wir zahlen. Es ist spät geworden.“
Frau Arnheim zeigte sich durch das Erscheinen der beiden ihr völlig fremden Herren leicht beunruhigt. Erst hatte sie sogar die Sicherheitskette der Flurtür durchaus nicht entfernen wollen, bis Balduin ihr dann seinen polizeilichen Ausweis als Privatdetektiv durch die Türspalte reichte.
Dann saßen die drei in dem mit altmodischen Möbeln ausgestatteten Wohnzimmer, und Kämpfer weihte Frau Arnheim in die ganze, so eigenartige Erbschaftsangelegenheit ein.
Die Witwe nahm die Mitteilungen mit weit größerer Fassung hin, als man es hätte vermuten können.
„Das Ursulas Vater eine hochgestellte Persönlichkeit sein müsse,“ sagte sie, nachdem Balduin mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, „habe ich immer vermutet. Ich gebe auch zu, daß ich heimlich so ein wenig nachgeforscht habe, um herauszubringen, wer mir eigentlich Ursula anvertraut hatte. Aber ich erreichte nichts, wagte auch nicht, eine dritte Person mit Ermittlungen zu beauftragen, da mir dies aufs strengste verboten worden war. –
Ich soll Ihnen nun erzählen, wie Ursula zu mir kam. Die Geschichte ist sehr einfach. Durch eine Zeitungsanzeige, in der für ein Mädchen von drei Monaten eine gebildete, alleinstehende Frau als Pflegemutter gesucht wurde. Mein Mann war damals gerade vor kurzem gestorben. Sein langes Krankenlager hatte uns in Schulden gestürzt. Deshalb suchte ich einen Nebenerwerb. Ich meldete mich also auf die Anzeige hin, und am nächsten Abend erschien dann ein Herr bei mir, der sich Palwner nannte und sagte, er käme des Kindes wegen. Der Herr war sehr ärmlich gekleidet, hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und eine große Hornbrille auf. Jedenfalls dachte ich sofort: „Viel wird er nicht bezahlen wollen,“ ließ ihn aber doch sein Anliegen vortragen. Erst erkundigte er sich etwas nach meiner Familie. Daß ich ganz allein dastand, schien ihm lieb zu sein. Dann sagte er, er hätte über mich nur Gutes erfahren. Er wollte mir das Kind überlassen. Die Bedingungen waren so verlockend, daß ich sofort einwilligte. Ich sollte alle Vierteljahr vierhundert Mark erhalten. Für zwei volle Jahre bezahlte er nachher gleich im voraus. Auch händigte er mir ein Sparkassenbuch über zehntausend Mark aus. Diese Summa sollte ich jedoch nur im äußersten Notfall angreifen. –
Alles wickelte sich sehr rasch ab. Am nächsten Mittag wollte er mir das Kind bringen. Als er fort war, erschien mir das eben Erlebte wie ein Traum. Zur Vorsicht ging ich aber doch morgens dann auf die Städtische Sparkasse und erkundigte mich, ob es mit dem auf den Namen Ursula Palwner ausgestellten Buche seine Richtigkeit habe. Der Bescheid beruhigte mich. Die zehntausend Mark waren schon vor drei Tagen eingezahlt worden. Mittags kam der Herr und brachte das kleine Mädelchen, gab mir einen in London ausgestellten Geburtsschein, in dem Ursula als Kind des Palwnerschen Ehepaares bezeichnet war. Der Herr untersagte mir dann noch aufs strengste, je nach seinem Wohnort und so weiter zu forschen, sonst würden mir das Kind sofort wieder genommen werden. Er versprach noch, wegen der polizeilichen Anmeldung und wegen meiner Bestellung als Vormund Ursulas alles in die Wege zu leiten und mich nach ein paar Tagen zu besuchen. Er ist aber ausgeblieben, und ich habe ihn nie wiedergesehen. So mußte ich dann allein bei der Polizei und auf dem Gericht ordnen, was zu ordnen war. Und es gab wahrhaftig genug Scherereien! –
Die kleine Ursel hatte sehr einfache Wäsche. Nur um den Hals trug sie an einem Goldkettchen ein ziemlich großes Medaillon. Es war so eins zum Aufklappen. Darin lag eine Locke dunklen Haares und eine winzige Photografie, die eine Dame von dunkler Hautfarbe mit Federhut darstellte. Ich habe das Medaillon, das mit Brillanten besetzt ist, einmal abschätzen lassen. Der Juwelier sagte, es wäre indische Arbeit. Er bot mir dreitausend Mark dafür. Aber ich habe es natürlich nicht verkauft. –
Ich möchte noch erwähnen, daß der Herr sich von dem Kinde gar nicht weiter verabschiedete, als er ging. Er sah überhaupt sehr traurig aus und war ausgesprochen wortkarg. – Ich habe Ursel dann – so hatte er es bestimmt – einfach erzogen, die Schule durchmachen und sie dann auf ihren Wunsch Schreibmaschine lernen lassen. – So, das wäre alles.“
„Könnte ich das Medaillon einmal sehen?“ bat Kämpfer.
Frau Arnheim holte es bereitwilligst. Es war ein sehr kostbares Schmuckstück. Das mußte selbst ein Laie erkennen.
Der Detektiv öffnete es. Das Bildchen lag unter Glas. Als er das Glas mit der Messerklinge vorsichtig hochhob und dann auch die kleine Photografie herausnahm, sagte Frau Arnheim ängstlich:
„Beschädigen Sie das Medaillon nur nicht. Es ist Ursulas Heiligtum. Erst bei ihrer Konfirmation gab ich es ihr und klärte sie dann auch über ihre etwas rätselhafte Herkunft auf. Bis dahin hatte ich sie bei dem Glauben belassen, sie sei eine Waise.“
Kämpfer ging jetzt mit dem Medaillon ans Fenster, hielt es hier im hellen Lichte des Vormittags dicht an die Augen und pfiff dann leise durch die Zähne.
„Woher Ursula den Namen Blenkner kennt und somit guten Grund hatte, gestern beim Hören desselben Namens vor Überraschung nicht weiterschreiben zu können, ist schon aufgeklärt,“ sagte er, sich Hartock zuwendend. „Hier unter dem Bildchen ist in das glatte Gold anscheinend mit einer Nadel ganz fein „Blenkner“ eingekratzt.
Frau Arnheim schüttelte unwillig den Kopf.
„Ursula hat mir dies verschwiegen,“ meinte sie. „Ich finde das wenig offen von ihr.“
„Kränken Sie sich nicht, liebe Frau Arnheim,“ begütigte Balduin. „Jungen Mädchen wollen auch mal ein kleines Geheimnis für sich allein haben.“
Dann fragte er, ob er die beiden anonymen Briefe, die Berd Holk des liederlichen Lebenswandels beschuldigten, bekommen und mitnehmen dürfe. Frau Arnheim hatte sie aufbewahrt, gab sie ihm und bemerkte dazu:
„Denken Sie, heute morgen hat Ursula mir ganz unvermittelt erklärt, sie würde die Verlobung mit Holk lösen. Sie hätte jetzt eingesehen, daß ihr Vertrauen zu ihm für immer zerstört wäre und daß sie ihn nicht mehr liebe. – Ich war sehr froh, zumal diese törichte Liebelei uns ein wenig entfremdet hatte, da ich sie nicht gutheißen konnte.“
Hartock hatte es sehr eilig zu fragen: „Ob Fräulein Ursula sich nicht wieder anders besinnen wird? Junge Mädchen sind in dieser Beziehung etwas wankelmütig.“
„Ursel nicht. Die weiß, was sie will,“ meinte Frau Arnheim überzeugten Tones.
Balduin Kämpfer gab der stattlichen Dame dann nochmals genaue Anweisungen, wie sie sich Wenden gegenüber verhalten solle. Vorher hatte sie ihm schon mitgeteilt, daß Ursula, was den Vorschlag des angeblichen Herrn Wandel anbetraf, ihr ganz nach ihrem Gutdünken zu handeln überlassen und geäußert hätte, sie glaube an diesen Onkel aus Indien nicht eher, als bis sie ihn sehe. Der Herr Wandel wäre vielleicht nur einer jener Schwindler, die versuchten, dummen Leuten mit Versprechungen einen Vorschuß zu entlocken.
Gleich darauf verabschiedeten die beiden Herren sich. Balduin fuhr in einem Auto nach Hause. Hartock hatte ihn zwar zu einem Spaziergang durch den Tiergarten aufgefordert, der Detektiv lehnte jedoch mit den Worten ab:
„Keine Zeit, lieber Freund! Ich will daheim die beiden anonymen Briefe vornehmen und versuchen, ob ich nicht darauf noch die Spuren der Fingerspitzen dessen, der sie geschrieben hat, sichtbar machen kann. Ich denke, die Fingerabdrücke werden dann mit denen Wermigs übereinstimmen.“
So wanderte Hartock denn allein durch den herbstlichen Tiergarten. Es war ihm ganz lieb, daß er heute keinen Begleiter hatte, – gerade heute, wo er mit sich ins Klare kommen wollte, ob es wirklich möglich war, daß es eine Liebe auf den ersten Blick gebe und daß diese Liebe jetzt schon mit seltener Macht sein Herz beunruhigte.
Vorhin hatte er aufjubeln mögen, als Frau Arnheim von Ursels Entschluß erzählte, die Verlobung mit Holk zu lösen. Doch dieses Glücksgefühl eines jungen Weibes wegen, das er erst seit gestern kannte?!
Wahrhaftig – er wurde ganz irre an sich! Er hatte stets geglaubt, er würde sehr lange prüfen und wägen, ehe er sich einmal ernstlich verliebte. Und nun? Wie ein Dieb in der Nacht war die Liebe gekommen und hatte sich seiner bemächtigt. Ja, er sehnte sich nach Ursula, nach ihrer weichen Stimme, den ausdrucksvollen Augen, – nach dem ganzen wunderbaren Zauber, der sie umgab, er freute sich auf den Nachmittag. Dann würde er sie wiedersehen. Und er würde sie schon zu bereden wissen, daß sie später seine Begleitung annahm. –
In gehobener Stimmung erschien Hartock mittags bei „Kempinski“, wo Siering schon auf ihn wartete.
„Junge, – du siehst ja so strahlend wie ein Maitag aus, und heute ist doch der zweite November,“ meinte der Verteidiger verwundert. „Hast du das große Los gewonnen?!“
„Vielleicht!“
Siering hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie es um Hartocks Herz stand. Wie sollte er auch?!
Und daher meinte er jetzt lachend:
„Sicherer als Lotterie ist die Jagd auf Ursula Palwner! Nur schade, daß sie schon vergeben ist. Wäre das nicht der Fall, wäre nicht dieser Holk schon der Erkorene, so würde sie sich, wenn sie erst Herrin der Blenknerschen Güter ist, von Mitgiftjägern kaum retten können.“
Auf Hartock wirken diese Sätze wie ein eisiger Wasserstrahl, besonders das eine Wort: Mitgiftjäger!
Wie durfte er, der doch Ursulas Aussichten auf das reiche Erbe kannte, sich ihr als Bewerber nähern, wie dies seine Absicht gewesen war?! Würde sie nicht später vermuten, er habe nicht ihr, sondern nur den Blenknerschen Millionen den Hof gemacht?!
Ganz still saß er auf seinem Polsterstuhl und stierte vor sich hin auf die Wand des Majolika-Saales mit den bunten Kacheln.
„Du siehst wohl plötzlich Gespenster, schöner Maitag,“ neckte Siering.
Und Hartock erwiderte gepreßt:
„Leider! Und es sind Gespenster, die sich nicht so leicht verscheuchen lassen – “
*
Ursula hatte noch nie beim Schreiben so viel „daneben gehauen“ wie heute. Und es wurde noch immer schlimmer damit.
Sie arbeitete eben wie ein Automat. Ihre Gedanken waren nicht bei der Sache. Sie hörte Hartocks Stimme Worte formen, die sich zu Sätzen zusammenfanden. Der Sinn alles dessen blieb ihr fremd.
Nur eine einzige Frage schien, von ihrer gepeinigten Seele geschrien, fortwährend in ihren Ohren zu gellen, daß sie alles andere übertönte:
Weshalb war er so kühl und förmlich zu ihr?! Was hatte sie ihm getan, daß er nicht einmal bei der Begrüßung ein freundlicheres Wort fand?!
Hin und wieder wallte auch die Empörung in ihr auf. Wollte er ihr klar machen, daß sie eben nur das kleine Tippmädel war, die ihm gestern gerade recht kam, um sich eine Stunde zu zerstreuen, um eine Begleitung bei einem Abendspaziergang zu haben?! –
Doch diese häßlichen Gedanken, die ihn so tief herabsetzten, gingen stets schnell wie eine Welle vorüber, die ein das Wasser durchfurchender Kiel erzeugt. Sie waren nicht von Bestand. Die Empörung blieb nur auf der Oberfläche ihrer Seele, drang nicht bis in die Tiefen hinab.
Nein – so konnte Hartock nicht sein, nicht so gemütsroh, so launenhaft – niemals! Ein Mann mit so gütigen Augen, der ihr gestern noch zuweilen unabsichtlich den Ausblick in sein reiches Innenleben eröffnet hatte durch manchen Satz, manche weltkluge Bemerkung, konnte keine rohe Herrennatur sein, nie und nimmermehr. –
Dann ebbte die Welle wieder ab, und das traurige Grübeln begann abermals:
„Warum nur diese Kälte, warum nur?!“ Und ihre Seele seufzte auf vor Qual. So nahe ging ihr diese Veränderung, so schwer traf sie sie. Und all das eines Mannes wegen, den sie doch erst genau seit vierundzwanzig Stunden kannte. Nein – unmöglich! – Unmöglich! Vierundzwanzig Stunden nur?! – Sie mußte ihm schon früher einmal begegnet sein, irgendwann, irgendwo. Denn wie ließ es sich sonst wohl erklären, daß sie ihm gegenüber das Empfinden hatte, einen alten, lieben, vertrauten Freund vor sich zu haben, daß sie schon gestern Abend so viel an ihn gedacht, daß er sich in die unruhigen Träume der vergangenen Nacht und in die ersten Gedanken des neuen Tages eingedrängt und sie dies wie etwas Selbstverständliches hingenommen, nur gefühlt hatte, wie wohlig es war, um ihn die Gedanken wie grüßende Falter flattern zu lassen, um ihn, den ersten Mann, der ganz dem Bilde entsprach, das ihr als Idealgestalt vorschwebte, der zielbewußte, heiter, klug, ernst, voller Gemüt, – alles war, und jedes zu seiner Zeit.
Ihre Hände arbeiteten, ihre Augen verfolgten die zur Entstehung kommenden Worte und Zeilen.
Fehler an Fehler. Sie las auch mit, sie hörte nicht nur, und doch begriff sie nichts von alledem, obwohl doch so oft darin der eine Name vorkam, der sie hätte wachrütteln müssen, der Name aus dem Medaillon – Blenkner – Blenkner!
Es ging nicht mehr. Heiße Tropfen verdunkelten ihre Augen, rannen warm über ihre Wangen hinab. Wie ein Schwächeanfall packte es sie. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück, die Finger schlossen sich im Schoße zusammen, und tief sank ihr der Kopf auf die Brust.
Hartock machte in dem unruhigen Auf und Ab halt, schaute nach ihr hin. Gerade rannen wieder zwei große Tropfen abwärts aus den halb geschlossenen Augen.
Er stutzte. Was bedeutete das?! – Sein erster Gedanke war: „Berd Holk. Es ist ihr leid geworden, was sie der Pflegemutter versprochen hat – “
Aber ebenso schnell verwarf er diese Annahme wieder. Da lag ja auf dem Fensterbrett der fertige Brief mit des Malers Adresse, und „Einschreiben“ stand auf dem Umschlag, und die Tinte sah aus, als sei sie eben erst trocken geworden.
Nein – nicht Berd Holk. –
Aber was sonst?!
Daß es Ursula ebenso ergehen könnte wie ihm, daß eine Stunde des Beisammenseins auch bei ihr genügt hatte, ihr Herz auszufüllen nur mit einem einzigen Namen, einem einzigen Sehnen, – wie sollte er darauf wohl kommen?!
Aber eine Stimme in seinem Innern rief ihm nun den bitteren Vorwurf zu: Barbar – es war ein Zuviel in deiner Zurückhaltung, etwas das kränken mußte, eine Übertreibung, die dieses Mädchen treffen mußte wie herrische Geringschätzung.
Alles das, was er sich vorgenommen hatte, war plötzlich vergessen. Er trat neben sie, beugte sich hinab zu ihr.
„Warum weinen Sie?“ fragte er leise. „Wenn Ihnen das Herz schwer ist, dann nehmen Sie an, ich sei Ihr guter, Ihr bester Freund, und reden Sie sich alles von der Seele, was Sie bedrückt –“
Wie gestern umwehte ihn der seltsame Wohlgeruch, wie gestern knisterte das Feuer im Ofen. – Und sie waren allein in dem kleinen, nüchternen Raum.
Ursula hatte aufgehorcht. „Warum weinen Sie?“ Ah – das war wieder die Stimme, die in ihrem Gehör so lange nachgeklungen hatte, das war nicht mehr die, die ihr lediglich kurz und scharf Worte und Sätze hinwarf.
Und leise tat sie nun die Gegenfrage, ganz leise, und spürte wieder, wie die geheimnisvolle Macht von ihm zu ihr hinüberzuströmen schien, fühlte ihr Herz förmlich auftauen im heißen Wallen des Blutes, als sei es vorhin erstarrt gewesen vor Kälte.
„Warum sind Sie so anders zu mir?“ fragte sie nur. –
Nur ein Satz. – Und doch – was lag alles darin.
Ernst Hartock war’s, als risse man ihm eine Binde von den Augen, als dringe plötzlich eine glänzende Lichtfülle auf ihn ein. Unwillkürlich schloß er für einen Moment die Lider.
Dann griff er nach ihren Händen, umspannte sie mit den seinen.
„Ursula – Ursula,“ sagte er – nichts weiter.
Sie hob schnell den Kopf, schaute ihn an. Eine Welt von Liebe strahlte ihr aus seinen Augen entgegen.
Da glitt ein Lächeln wie Sonnenschein über ihr liebes Antlitz hin.
Sie machte ihre Hände sanft von den seinen frei. Sie dachte an Berd Holk. Noch hatte er den Brief nicht empfangen, noch fühlte sie sich gebunden.
Sie wandte den Kopf nach dem Fensterbrett hin, ließ ihre Augen auf dem Schreiben ruhen.
Hartock verstand sie.
Sacht, so sacht und zärtlich strich er über ihr Haar hin, flüsterte nochmals: „Ursula – liebe Ursula –“
Dann trat er zurück.
Und wie in heiterem Übermut sagte sie:
„Wir werden die ganze Arbeit nochmals von vorn beginnen müssen. Es sind zu viele – Mißverständnisse darin –“
Hartock begriff dieses „Mißverständnisse“ sofort.
Und als es sieben Uhr abends war, gingen sie nebeneinander durch die Straßen, durch den Tiergarten – wie gestern, – gingen aber am düsteren Kriminalgericht vorüber bis vor Ursulas Haustür. Dort erst nahmen sie Abschied.
„Gute Nacht, Ursula –“
„Gute Nacht – auf Wiedersehen –“
Heiße Hände trennten sich.
Am folgenden Abend gegen ein halb acht Uhr.
Felix Röder läutete bei Müllenheims. Das Stubenmädchen half ihm dann aus dem Mantel.
„Der Herr Professor ist noch nicht im Atelier,“ sagte sie.
„Melden Sie mich nur bei der gnädigen Frau.“
Röder schritt auf dem weichen Smyrna im Salon auf und ab. Er schien unruhig, gedankenvoll. Seine Stirn zog sich zuweilen über der Nase zu zwei tiefen Falten zusammen.
Frau Agnes trat hastig ein. Froh begrüßte sie ihn.
„Da sind Sie Ausreißer ja wieder! Sie verreisen ja jetzt so oft, als gefiele es Ihnen hier im alten Berlin nicht mehr.“
Sie hatte ihm mit liebem Lächeln nach alter Gewohnheit beide Hände hingestreckt.
„Vielleicht zu sehr,“ sagte er leise, um schnell in anderem Tone fortzufahren:
„Ich bin absichtlich eine halbe Stunde zu früh gekommen, Gnädigste. Ich wollte gern von Ihnen hören, ob sich inzwischen hier Neues zugetragen hat.“
„Nichts von Bedeutung,“ meinte sie. Dabei flog aber doch ein dunkler Schatten über ihr Gesicht.
„Und – wie steht es mit heute Abend? Werden wir den Inder bewundern können?“
„Ja, lieber Freund.“ Sie wurde lebhaft. „Gestern Nachmittag war Magore bei uns, traf aber niemand an und wartete eine gute Stunde, bis ich heimkehrte. Er trug mir dann so verschiedenen Bitten vor, was seine Vorführung anbetrifft, – schon mehr Bedingungen, manche davon recht seltsamer Art.“
„Erzählen Sie bitte. Ich bin gespannt.“
Sie standen noch immer mitten im Salon unter dem Kronleuchter.
„Gut. Ich muß mich aber beeilen, lieber Freund,“ erwiderte Frau Agnes. „Ich bin mit meinem Anzuge noch nicht ganz fertig. – Magore wünscht, daß das Speisezimmer für seine Zwecke hergerichtet wurde, weil es nach dem Hofe heraus liegt. Der Straßenlärm würde ihn stören. Dann sollten die Dienstboten von acht Uhr ab beurlaubt werden, Grund: der Gedanke, daß vielleicht die Minna oder die Anna an der Tür lauschen oder aus Unachtsamkeit Lärm verüben könnten – durch Türen zuwerfen oder dergleichen –, nehme ihm die Ruhe und hindern ihn, all seine Gedanken auf das, was er vorhatte, zu vereinigen. – Dann kamen noch so allerlei Einzelheiten über Beleuchtung des Speisezimmers, Anordnung der Stühle für die Gäste und Ähnliches. – Was sollte ich wohl anders, lieber Freund, als zu allem ja sagen?! Es ist ja auch recht schwer, Magore etwas abzuschlagen. – Doch jetzt entschuldigen Sie mich noch für zehn Minuten. Bis gleich!“
Sie reichte ihm die Hand und verließ den Salon, wie immer mit ihren ausgeglichenen, harmonischen Bewegungen, in denen nichts Gesuchtes, nichts Eingelerntes war.
Der Privatgelehrte blickte ihr mit eigentümlichem Blick nach. Ein ganz klein wenig Spott lag darin.
Er dachte ‚Ihr Frauen, ihre weißen Frauen, habt doch so eine kleine Schwäche für farbige Männer. Ob auch du vielleicht weniger Ungra ben Magores seltsame Fähigkeiten als nicht vielmehr seine Gesamterscheinung auf dich wirken läßt?!“
Schnell wurde der Ausdruck von Röders dunklen Augen jedoch ernst, – mit einem Schimmer von weicher Zärtlichkeit. Er begann wieder sein rastloses Auf und Ab.
Woran dachte er jetzt, dieser Mann, den viele haßten, den die meisten auswichen, – weil die ätzende Lauge seines Witzes alle gleichmäßig in ihren Schwächen traf. Woran?! An Frau Agnes, die eben dort über die Schwelle gegangen war, deren weiche Hand er noch in der seinen zu spüren glaubte, – an die Vergangenheit, den Pfarrgarten in Perlburg, die Fliederlaube, an köstliche Stunden in der Nähe derjenigen, – der einen, die er so über alles geliebt hatte.
Felix Röder war sich nie recht darüber klar geworden, ob er damals nicht feige gewesen, als er dem Anderen so schnell das Feld geräumt hatte, der plötzlich in dem stillen Pfarrhause aufgetaucht war und alsbald begonnen hatte, Agnes Terrmeelen den Hof zu machen. Ja – feige und ängstlich – und dies nur im Bewußtsein seiner grotesken Häßlichkeit, die ihm so lange er zurückdenken konnte, stets das Leben verbittert, manchmal sogar zur Qual gemacht hatte. Vielleicht hätte er sich doch nicht scheu zurückziehen sollen vor Manfred Müllenheims sieghafter, kraftvoller Schönheit, vielleicht hatte er verzichtet ohne Kampf, wo ihm ein Sieg beschieden gewesen wäre. Wenn er damals schon so menschenkundig gewesen wie heute, – er hätte wohl besser zu deuten gewußt, was Agnes an kleinen Aufmunterungen für ihn bereit hatte in der ersten Zeit in Gegenwart des Anderen. Doch – er war blind und taub gewesen. Wildeste Eifersucht hatte seine Urteilsfähigkeit noch mehr getrübt. Er begann das Pfarrhaus zu meiden, verließ dann sogar das Städtchen, in dessen uraltem Rathaussaal er ebenso uralte Folianten durchstöbert hatte, um Stoff für seine Geschichte des Raubritterunwesens in der Mark zu sammeln.
Ohne Abschied war er abgereist, Verzweiflung im Herzen. –
Ja, sieben Jahre lag das alles nun zurück. Aber jene Zeit stand noch mit quälenden Einzelheiten vor ihm wie ein einziger Tag, der erst gestern vergangenen. –
Haß gegen die ganze Menschheit, Verachtung für alles, was Weib hieß, Stunden rastloser Vereinsamung und heißer Sehnsucht zermürbten in jenen Wochen seine Seele. Er fühlte, daß er einem Abgrunde entgegentrieb: dem Selbstmorde! Die Liebhabereien, mit denen er sich bis dahin beschäftigt hatte, seine rege Vielseitigkeit, sein umfassendes Wissen, – alles erschienen ihm lächerlicher Tand, ein Nichts! –
Dann kam der seltsame Abend, der für seine Zukunft entscheiden geworden war.
Ein Herbstgewitter über Berlin. Prasselnder Regen, Hagelschauer, zuckende Blitze, rollender Donner, vor dem die Scheiben klirrten. Er hatte vor wenigen Tagen die Wohnung bezogen, die er noch heute innehatte. Die Fenster des Schlafzimmers gingen auf den Lietzensee hinaus. Er hatte eins geöffnet, stand davor, lauschte dem Toben der Elemente, sah den Spiegel des Wassers aufschimmern, wenn wieder ein Flammenstrahl das dunkle Firmament zerriß. Er hoffte, daß das Gewitter sich vielleicht eines armseligen Menschleins erbarmen würde. Es wäre ein so schneller, schmerzloser Tod gewesen.
Abermals ein Blitz. Und unten auf dem Wasser ein Kahn, in dem ein einzelner Mensch saß, der in wilder Hast die Ruder bewegte.
Dicht unter dem Fenster, wo der See zwischen Wasser und Hausfundament nur einen schmalen Landstreifen freiließ, trieb der Mann das Boot ans Ufer, stieg aus.
Gerade jetzt schien der Himmel in ein Flammenmeer verwandelt zu sein. Und Felix Röder erkannte, daß der Mensch dort unten die gestreifte Leinentracht der Untersuchungsgefangenen trug.
Auch einer vielleicht, der wie du selbst ein vom Schicksal Verfolgter ist, einer, den jetzt die Menschen hetzen, der hinaus in die Freiheit will. So dachte er, gab einer augenblicklichen Eingebung nach, beugte sich zum Fenster hinaus und rief den Mann an.
Der versetzte gleich darauf dem Nachen einen Stoß, daß das kleine Boot weit in den See hinausschoß, ergriff die ihm zugeworfen Leine und kletterte daran empor, schwang sich in das Schlafzimmer und folgte, triefend vor Nässe und zitternd vor Kälte, seinem Retter in das behaglich durchwärmten Arbeitszimmer.
Die Geschichte, die der Flüchtling erzählte, kannte Röder zum Teil schon aus den Zeitungen. Einen, dem man einen Mord vorwarf, hatte er Unterkunft gewährt.
Dem Mann rannen Tränen über die Wangen. „Ich bin unschuldig, obwohl alles gegen mich spricht –“ –
Er wurde nicht verurteilt.
Und Felix Röder hatte durch ihn sich selbst wieder gefunden, – einen neuen Lebensinhalt, einen neuen Lebenszweck, – etwas, das seine Gedanken wohltätig ablenkte von Haß, Verachtung, Sehnen und Einsamkeitsgefühl.
Sieben Jahre! – Und vor drei Jahren war er Agnes dann wieder begegnet – als der Frau dessen, vor dem er in Feigheit geflohen.
Sein Herz war still geworden. So glaubte er wenigstens. Und Frau Agnes wurde seine Freundin.
Es war ein gefährliches Spiel, diese Freundschaft. Zu spät erkannte er es. Alte Wunden begannen wieder zu bluten, wurden noch tiefer und schwerer als einst.
Agnes war nicht glücklich in dieser Ehe, konnte es auch nicht sein an der Seite dieses hohlen, charakterloses, eitlen Menschen, der nebenbei noch ein kalter Egoist war.
„Servus, Röder!“
Der Privatgelehrte zuckte zusammen. Die Vergangenheit sank in ihr Grab zurück.
Müllenheim streckte ihm die Hand hin. Er war in glänzender Laune, scherzte, neckte Röder, weil dieser so „finster dreinschaute, wie Franz Moor aus den Räubern“. –
Die Laune sollte nicht lange anhalten.
Plötzlich erschien Frau Agnes in der Tür – bleich, mit großen Augen, in denen es vor Erregung schillerte.
Sie blieb dicht vor ihrem Gatten stehen und fragte mit vibrierender Stimme:
„Weißt du vielleicht, wo der Inhalt meiner Schmuckkassette geblieben ist? Soeben wollte ich meine Brillantenbrosche vorstecken, das alte Erbstück aus meiner Mutter Familie, – und da wurde ich gewahr, daß gerade die wertvollsten Stücke aus der Stahlkassette fehlen –“
Der blonde Hüne lächelte. Es war ein Versuch, den Überlegenen, Spöttischen zu spielen. Und doch merkte man ihm die Befangenheit an, die er mühsam zu verbergen suchte.
Er wandte sich an Röder.
„Entschuldigen Sie uns einen Moment, bitte. Ich will Agnes suchen helfen. Ich glaube, ich habe die Schmuckstücke verlegt –“
Felix Röder schaute den Professor so durchdringend an, daß dieser errötete und zur Seite blickte.
Draußen im Flur hörte man die Türglocke schrillen.
Müllenheim zuckte jetzt die Achseln, deutete mit lässiger Bewegung nach dorthin, wo jetzt die Stimmen einiger Besucher gedämpft vernehmbar wurden, und sagte:
„Zum Suchen ist es jetzt zu spät. Du wirst heute wohl auch ohne die Brosche auskommen, liebe Agnes.“
„Heute muß ich’s,“ erwiderte sie schneidend. „Aber morgen werde ich keine Gäste zu empfangen haben, und dann –“
Das Stubenmädchen meldete in diesem Augenblick:
„Herr Baron von Wenden und Herr Doktor Magore –“ –
Eine halbe Stunde später.
Im Speisezimmer standen der Tür nach dem Flur gegenüber an der Wand im Halbkreise vierzehn Stühle, davor in vielleicht zwei Meter Abstand drei lange Efeukästen mit an Stäben hochgerankt Pflanzen, die von der Loggia weggenommen waren, um heute etwas wie eine kleine Bühne für den Inder abzugrenzen.
Von der elektrischen Krone des Speisezimmers brannte nur die unterste Flamme in ihrer aus buntem Glase zusammengesetzten Schale. Das gab ein mattes, unsicheres Licht ab. Und so hatte es Magore gewünscht.
Weiter waren vor der kleinen Bühne zu beiden Seiten je ein niedriger, geschnitzter Hocker aufgestellt, darauf je eine kleine, irdene Schüssel.
Ungra ben Magore und Frau Agnes waren soeben eingetreten. Der Inder überzeugte sich, daß seine Wünsche hinsichtlich der äußeren Aufmachung des Raumes genau befolgt waren, erklärte nun, er wäre durchaus zufrieden und bat die Hausfrau, die Gäste nunmehr hereinzurufen.
Das geschah. Schweigend nahm man Platz. Eine gewisse Feierlichkeit lag über den Anwesenden.
Daß ein Stuhl leer blieb, bemerkte nur Frau Agnes. Aber Felix Röder hatte sie kurz vorher gebeten, seine Abwesenheit auf keinen Fall zu beachten.
„Später erkläre ich Ihnen alles, verehrte Freundin,“ hatte er hinzu– gefügt.
Frau Agnes, ohnehin infolge des Verschwindens ihres Schmuckes in trüber Stimmung, war durch Röders merkwürdiges Verhalten in eine Unruhe versetzt worden, die sie vergebens zu unterdrücken suchte. Sie ahnte irgend etwas Besonderes voraus, vermochte aber in keiner Weise trotz eifrigen Grübelns herauszufinden, was sich hier neben Magores Vorführungen noch außergewöhnliches ereignen könnte.
Der Baron saß am rechten Flügel der Seitenreihe. Unauffällig hatte er seinen Stuhl noch ein Stück von dem seines Nachbarn, eines bekannten Chirurgen, abgerückt, so daß er fast hinter der einen Efeukulisse verschwand.
Magore, gekleidet in einen schwarzen Gehrock, holte jetzt aus der Tasche eine längliche Büchse hervor, deren Inhalt, dunkle Kristalle, er in die irdenen Schalen auf dem Hocker schüttete.
Dann trat er hinter die Efeurückwand, wo neben der Tür der Lichtschalter sich befand. Ein leises Knacken, und auch die einzelne Flamme des Kronleuchters erloschen.
Und doch war es nicht völlig dunkel in dem großen Zimmer. Scheinbar von selbst hatten die Kristalle in den Schalen zu glühen begonnen. Ein ganz feines Knistern war jetzt hörbar. Die Kristalle schwelten stärker, verbreiteten ein fahles grünliches Licht. Und gleichzeitig füllte sich der Raum mit einem schweren, süßlichen Dunst, nur für die Geruchsnerven wahrnehmbar.
Magore, undeutlich vor dem dunklen Hintergrunde des Efeus zu erkennen, begann zu sprechen.
Seine einleitenden Worte behandelten die jahrhundertealten Geheimnisse der indischen Fakirs, der Yogis, einer streng in sich abgeschlossenen Kaste, in der sich stets vom Vater auf den ältesten Sohn alles das vererbt, was dem gewöhnlichen Sterblichen ein Rätsel bleiben sollte.
Magore sprach so leise, daß die Zuhörer gezwungen waren, ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn allein zu richten. Seine Stimme hatte dabei etwas seltsam Einschläferndes. Und der schwere Duft der glühenden Kristalle wirkte nicht viel anders.
Frau Agnes kämpfte mit aller Macht gegen diese eigentümliche Mattigkeit an, die immer mehr zunahm und auch ihr Denken in Bann schlug. Wie ein noch nie gespürter Zustand eines träumerischen Halbschlafes, eines willenlosen Hindämmerns lag es über ihr. Aus endloser Ferne schien Magores Stimme zu kommen. Jedes Raumgefühl war erstorben. Das Zimmer dünkte ihr plötzlich ein riesiger Saal zu sein.
„Was ich vor einem Auditorium von Gelehrten damals in der Universität gezeigt habe,“ sagte der Inder jetzt, „will ich hier nicht wiederholen. Es eignete sich mehr für Männer der Wissenschaft. Anderes sollen Sie sehen, nicht minder Wunderbares. Zunächst will ich Ihnen den Beweis liefern, daß unser Körper nur scheinbar aus einer festen Materie besteht. Geben Sie genau acht. Ich werde mich jetzt langsam in Fluid auflösen, wallende Nebel werden meinen Platz einnehmen. Richten Sie jetzt Ihre Augen ganz fest auf mich – ganz fest, denken Sie nur daran, daß mein Körper die Umrisse verliert, undeutlich wird, daß –“
Frau Agnes saß wie in einer Erstarrung da. Genau so erging es den übrigen Zuschauern.
Magores Stimme war immer leiser geworden, zuletzt nur noch ein Hauch. Dann vernahm man lediglich das Knistern der glühenden Kristalle. Und der Inder löste sich wirklich in graue, dichte Nebelgebilde auf, die zuerst noch die Form einer menschlichen Gestalt hatten, bald aber sich ausdehnten, durchsichtiger wurden und dann ganz entschwebten. Der Platz, wo Magore gestanden, war jetzt leer.
So blieb es wohl eine Minute lang, bis abermals zarte Schleier an jener Stelle auftauchten, sich verdichteten, langsam, sehr langsam, – immer mehr eine bestimmte Form bekamen und schließlich der Inder wieder auf derselben Stelle vor dem Efeu stand.
*
Auch der Professor war von Felix Röder kurz vor Beginn der Vorführungen unauffällig bei Seite genommen worden.
„Was gibt’s denn?“ hatte Müllenheim ziemlich unfreundlich gefragt. Er hatte den Blick nicht vergessen, mit dem Röder ihn vorhin im Salon gemustert hatte, als Frau Agnes Auskunft über ihren Schmuck verlangte, und sich vorgenommen, diesem häßlichen Kobold von Privatgelehrten bei nächster Gelegenheit klarzumachen, daß ihm dessen Verkehr in seinem Hause nicht mehr erwünscht wäre.
„Überlassen Sie mir bitte den Schlüssel zu Ihrem Atelier für den heutigen Abend,“ hatte Röder erwidert. „Ein Bekannter von mir, ein Privatdetektiv, hat in Erfahrung gebracht, daß Sie bestohlen werden sollen. Ich möchte den Dieb beobachten, ohne ihn jedoch bei der Ausübung der Tat selbst zu stören. Es handelt sich darum, ihn bei dem Glauben zu belassen, unbemerkt seinen Zweck erreicht zu haben. – Genauen Aufschluß erhalten Sie später.“
Müllenheim wollte jedoch so ohne weiteres sich mit diesen Andeutungen nicht zufrieden geben. Doch Röder wurde so dringend, daß er schließlich den Schlüssel mit einem wenig höflichen „Wird wohl alles Unsinn sein!“ dem Privatgelehrten aushändigte.
Zunächst bemerkte der Professor dann die Abwesenheit Röders im Speisezimmer in keiner Weise. Dann aber sah er, daß der Baron Wenden plötzlich lautlos sich von seinem Stuhl erhob und hinter die Efeuwand schlüpfte. Dies geschah, als Magores Gestalt sich im Nebel aufzulösen schien. Hätte er den Kurländer nicht zufällig am linken Ende der Stuhlreihe gegenübergesessen, so wäre ihm dessen Verschwinden kaum aufgefallen. Mit einem Male wurde Müllenheim nun, obwohl auch ihm das Denken merkwürdig schwer wurde, die vorherige Unterredung mit Röder wieder bewußt. Sollten dessen Andeutungen etwa auf den Baron gemünzt gewesen sein, sollte dieser tatsächlich irgend etwas im Schilde führen. –
Röder war ja gleichfalls nicht im Zimmer.
Müllenheim schüttelte diesen halben Traumzustand, in dem auch er sich befand, gewaltsam von sich ab. Es kostete ihn geradezu eine Anstrengung, leise aufzustehen und mit einem schnellen Schritt gleichfalls hinter den nahen Efeukasten zu treten, ebenso leise bis zur Tür sich zu tasten und in den Flur zu treten.
Die Tür war nur angelehnt gewesen! Und dieser Umstand verstärkte nun den Argwohn Müllenheims. Hatte doch Magore ausdrücklich gewünscht, die Tür solle von innen verschlossen werden!
Der dicke Läufer dämpfte seine Schritte, und obwohl im Flur kein Licht brannte, gelangte Müllenheim geräuschlos bis an die Ateliertür.
Auch diese nur angelehnt! – Den Professor beschlich plötzlich ein Gefühl von Angst. Mut war nicht seine stärkste Seite. Und – konnte man wissen, ob der Dieb nicht vielleicht gegen jeden, der ihn störte, rücksichtslos vorging?! –
Dann aber fiel ihm ein, daß Röder sich doch offenbar im Atelier versteckt hatte, um den Spitzbuben zu belauschen. Also standen zwei einem Einzelnen gegenüber. Man durfte es also schon wagen, der Sache ganz auf den Grund zu gehen.
Vorsichtig drückte er nun die Ateliertür auf. Sofort bemerkte er den weißen Lichtkegel einer elektrischen Taschenlampe, der das altertümliche Ebenholzschränkchen beleuchtete, das rechts an der Wand stand und in dem wichtige Papiere und auch fertige Kupferdruckplatten aufbewahrt wurden.
Der, der die Lampe in der Hand hielt, war der kurländische Baron. Soeben hatte er eine Kupferplatte aus ihrer Umhüllung genommen, betrachtete sie sehr genau, wickelte sie wieder ein und schob sie unter den Rock.
Müllenheim dachte jetzt auch nicht im entferntesten mehr daran, daß Röder gesagt hatte, der Dieb solle nur beobachtet werden.
Auch hier im Atelier machten die Teppiche des Professors Bewegungen unhörbar. So konnte er bis dicht hinter den Kurländer treten, der ahnungslos die Schranktür, die ein Geheimschloß hatte, jetzt wieder einschnappen ließ. Dann eine Stimme:
„Was tun Sie hier, Baron?“
Der fuhr wie der Blitz herum. Die Kupferplatte polterte zu Boden. Und Felix Röder, der, hinter dem Glaskasten der mexikanischen Mumie verborgen, sehr ungehalten über das Erscheinen Müllenheims bisher den Zuschauer gespielt hatte, stieß zu spät einen Warnungsruf aus:
„Zurück, Müllenheim, – er will –“
Wenden hatte ein Dolchmesser aus der Tasche gerissen, stieß auch schon zu, und mit gellendem Schrei stürzte der Professor hintenüber, riß ein Rauchtischchen mit, dessen Messinggarnitur hierhin und dorthin rollte.
Bei dem Warnungsruf Röders war der Kurländer mit einem Satz in bewundernswerter Geistesgegenwart auf den Glaskasten zugesprungen, um auch den dort verborgenen Zeugen stumm zu machen. In der Linken die Taschenlampe, in der Rechten den Dolch, drang er nun auf den Zurückweichenden ein.
Da hob auch dieser den Arm. In seiner Hand blinkte ein Revolver. Und gleichzeitig sagte er laut und drohend:
„Keinen Schritt mehr, oder ich –“
Weiter kam er nicht. Der Baron hatte ihn überrumpeln wollen, hatte sich vorwärts geschnellt.
Der Knall eines Schusses dröhnte durch das Atelier. Wenden taumelte, sank langsam zur Seite.
Am Nachmittag dieses Mittwochs, der so tragisch ausgehen sollte, hatte Siering von Balduin einen Rohrpostbrief erhalten mit der Aufforderung, der Rechtsanwalt solle zusammen mit Hartock den Detektiv gegen Mitternacht im neuen „Pschorrbräu“ an der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche erwarten. Felix Röder sei noch rechtzeitig zurückgekehrt, um heute Abend an dem Vortrage teilzunehmen, den Magore bei Müllenheims zu halten versprochen hätte. Es wäre nun wahrscheinlich, daß dort Dinge sich ereigneten, die schnellsten zu erfahren auch für die beiden Anwälte von Interesse sein dürfte.
Siering und Hartock, erst für Mitternacht nach dem „Pschorr“ bestellt, hatten vorher das nahe Theater des Westens besucht, waren aber nicht zusammen dorthin gegangen. Der Perlburger erschien vielmehr mit erheblicher Verspätung in dem der leichtgeschürzten Muse geweihten Tempel in der Kantstraße, entschuldigte sich etwas verlegen mit einer Prozeßbesprechung bei Sternberg, eine Ausrede, die jedoch insofern oberfaul war, als Sternberg in der Nebenloge schon seit einer halben Stunde saß, was Siering zu der Bemerkung veranlaßte, die Prozeßbesprechung hätte wohl nur mit einer Angestellten des Zappelsterns stattgefunden. Hartock schwieg schuldbewußt. Er hatte ja sein exotisches Blümlein wieder heimbegleitet. –
Als die Freunde dann nach Schluß der Vorstellung das „Pschorrbräu“ betraten, war Balduin zu ihrem Erstaunen bereits mit dem Vertilgen des Spezialgerichtes der heutigen Speisekarte beschäftigt.
Sein stets recht ernstes Gesicht sah heute geradezu düster aus, so daß Siering halb scherzend fragte, ob Magore etwa bei Müllenheims die schöne Frau Agnes zum Entsetzen Felix Röders in eine Schlange verwandelt habe.
Balduin erwiderte darauf etwas rätselhaft für seine beiden Tischgenossen, es seien noch weit schlimmere Dinge passiert.
Als Hartock nun wissen wollte, weshalb denn Herr Röder, den er gern kennengelernt hätte, nicht mitgekommen wäre, erhielt er die Antwort, jener sei von den tragischen Ereignissen des Abends so stark aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht, daß er sich habe zu Bett legen müssen, nachdem er Balduin ganz eingehend den Verlauf der Vorführungen des Inders geschildert hätte.
Hierdurch wurde die Neugier der beiden Anwälte nur noch mehr gesteigert. Sie mußten aber warten, bis Balduin seine Mahlzeit beendet hatte.
Dann begann er: „Hätte ich auch nur im entferntesten voraussehen können, daß dieser Abend bei Müllenheims einen solchen Ausgang nehmen würde, dann wäre Röder von mir niemals gebeten worden, dort handelnd an meiner Stelle aufzutreten. Ich trage an diesem Ausgang insofern selbst einen Teil der Schuld, als ich Röder genauere Anweisungen hätte geben müssen, ja recht vorsichtig zu sein. Doch – an Geschehenem läßt sich nichts mehr ändern! –
Ich will Ihnen nun zunächst erklären, welches Interesse ich überhaupt an diesem Abend besaß. Röder hatte damals, als er bei Müllenheims den Baron und den Inder kennenlernte, gleich nach seiner Begrüßung der Hausfrau von dieser erfahren, daß der Professor mit dem Kurländer und Magore soeben in das Atelier hinübergegangen wäre, wo der Inder gern einmal seine Kenntnisse über den Kupferdruck durch Besichtigung einiger druckfertiger Platten hätte erweitern wollen, wie er Müllenheim gegenüber geäußert hätte. – Der Anstoß zu diesem Besuche des Ateliers war also von Magore erfolgt. Röder folgte nun den drei Herren, um den Professor gleichfalls zu begrüßen und sich die beiden neuen Gäste vorstellen zu lassen. –
Das Atelier liegt am Ende des Korridors im Seitenflügel ziemlich weit ab. Röder fand die Gesellschaft gerade bei der Besichtigung einer gestochenen Platte vor, die nichts anderes war als ein erster, nicht ganz geglückter Entwurf einer Druckplatte für Papiergeld. Ein fremder Staat hatte Müllenheim beauftragt, nach einer Zeichnung eine Druckplatte zu stechen. Die erste war für die hohen Ansprüche des Künstlers an seine Arbeit nicht völlig tadellos ausgefallen, aber doch so, wie Müllenheim jetzt gerade in Anwesenheit Röders erklärte, daß man damit Papiergeld herstellen könnte, das sich kaum von den Abzügen der später besprochenen zweiten Platte, die jener Staat vorgestern zugesandt erhalten hätte, unterscheiden würde. –
Die Beachtung, die Wenden und der Inder der ein wenig mißglückten Platte schenkten, kam Röder etwas verdächtig vor, zumal der Baron sich dann auch das Geheimschloß des Schränkchens erklären ließ, in dem Müllenheim die Kupferplatte aufbewahrte. Röder hat von mir so manches gelernt, was mit dem Detektivberuf zusammenhängt. Er hielt die Augen gut offen und konnte daher beobachten, wie Wenden in einem unbewachten Augenblick einen Wachsabdruck vom Schlüsselloch der Ateliertür nahm. –
Als er mir dies alles erzählte und auch noch zu berichten wußte, daß Magore sich bereit gefunden habe, ohne von jemandem hierzu aufgefordert zu sein, bei Müllenheims einen Vortrag zu halten, lagen die Pläne der beiden Gauner bereits offen vor mir. Falsches Papiergeld wollten sie herstellen. Darauf lief alles hinaus. Auf diesen Gedanken zu kommen war wirklich nicht schwer, da der Wermig-Marwitz wegen Falschmünzerei im Zuchthaus in Mewe gesessen hatte, was ich Ihnen bisher absichtlich verschwieg.
Besinnen Sie sich, meine Herren, daß ich Ihnen einmal sagte, daß der Baron für einen wirklich großen Verbrecher doch nicht klug genug sei? – Nun, mit dieser Bemerkung spielte ich auf diesen bei Müllenheims geplanten Diebstahl an. – Eine Zersplitterung der Kräfte ist nie gut. Wenn man etwas so Großangelegtes wie den Schwindel mit dem gestohlenen Testament vorhat, soll man nicht noch die Hände nach einem zweiten Objekt ausstrecken und dadurch die Gefahr vergrößern, sich irgendwie verdächtig zu machen. Hierin liegt die Unzulänglichkeit des verbrecherischen Talentes sowohl Wendens als auch des Inders. Der Verlauf der Dinge zeigt, daß diese meine Bemängelung ihrer Fähigkeiten durchaus berechtigt gewesen ist.“
Balduin schilderte dann, was sich heute bei Müllenheims abgespielt hatte. Indem er besonders hervorhob, daß die beiden Gauner durch Entfernung der Dienstboten und durch die Herrichtung des Speisezimmers dafür gesorgt hatten, daß der Baron kaum bei Begehung des Diebstahls hätte abgefaßt werden können, wenn Röder eben nicht vorher schon mißtrauisch geworden wäre.
„Röder handelte in der Notwehr, als er den Baron niederschoß,“ fuhr Balduin fort. „Die Kugel hatte dem Angreifer nur die Schulter zerschmettern sollen, traf ihn aber mitten in die Stirn. Wenden war daher sofort tot. Leider war auch der Professor nicht mehr zu retten. Er hat noch mit der schweren Herzwunde eine halbe Stunde gelebt und seiner Frau gestehen können, daß er deren Schmucksachen versetzt habe, um eine sehr dringende Wechselschuld zu begleichen. Die Geldklemme, in der sich der Professor befand, spielt bei dieser Diebstahlsache eine gewisse, sehr bezeichnende Rolle. Es steht jetzt schon meines Erachtens fest, daß Magore und Wenden sich bei Müllenheims nur zu dem Zweck haben einführen lassen, um die Kupferplatte zu Herstellung falscher Banknoten an sich zu bringen. Sie müssen irgendwie von deren Vorhandensein Kenntnis erhalten und dann ihren Plan entworfen haben. Ebenso muß ihnen aber auch bekannt gewesen sein, daß Müllenheims pekuniäre Bedrängnis recht groß war, denn – und dies ist das vielsagende bei der Sache! – in dem Ebenholzschranke ist an der Stelle wo die Platte gelegen hatte, ein Päckchen Banknoten gefunden worden, gerade zehntausend Mark, – die Summe eben, die der Professor brauchte, ferner ein Zettel mit den Worten: „Schweigen Sie!“ –
Die Erklärung für diesen merkwürdigen Austausch der Kupferplatte gegen die Banknoten ist sehr einfach. Man soll ja von Toten nur Gutes reden! Aber die Umstände machen es notwendig, zu betonen, daß Müllenheim ein sehr schlechter Rechner war, der aus Sammelwut so viel Geld ausgab, wie sich dies nur ein sehr reicher Mann hätte leisten können. So hat er auch seinen wohlhabenden Schwiegervater gehörig ausgenutzt und sich schließlich nicht gescheut, ohne Wissen seiner Frau deren Brillanten zu versetzen. Über Müllenheims Charakter müssen sich die beiden Gauner recht gut im Klaren gewesen sein. Sonst hätten sie nicht gewagt, die zehntausend Mark als Schweigegeld in der Annahme hinzulegen, daß der Professor sich mit der Tatsache, dem Verschwinden der Kupferplatte, besänftigt durch das Geld abfinden werde. Anderseits zeigt aber dieser Bestechungsversuch auch, daß die Gauner nichts von der Beleihung der Schmuckstücke, die allerdings erst am Nachmittag erfolgt war, gewußt haben.
Nun zu dem Ausgang des Dramas zurück.
Im Speisezimmer, wo gerade Magore aus einer silbernen Bowle eine große Kobra hervorzauberte, war sowohl der laute Aufschrei des Professors als auch kurz darauf der Schuß undeutlich gehört worden. Der Inder merkte, daß die Dinge im Atelier eine böse Wendung genommen hatten, sah auch, daß seine Zuhörer unruhig wurden und – verschwand plötzlich. Die Haustür war noch offen – es war eben erst neun Uhr vorbei, – und so entkam er. In die aufgeschreckte Gesellschaft im Speisezimmer, die sich in halber Betäubung befand, platzte dann Röder hinein. Er kann um Sekunden zu spät. Eben war die Flurtür hinter Magore ins Schloß gefallen. Bald darauf war die Polizei, die Röder telephonisch verständigt hatte, in der Wohnung. –
Ganz im Vertrauen will ich Ihnen mitteilen, meine Herren, daß mein Freund Roeder vorher schon die Banknoten und auch den Zettel aus dem Ebenholzschranke zu sich gesteckt hatte und diesen Nebenumstand dann vor der Polizei geheim hielt, lediglich in der Absicht, den guten Ruf eines Toten im Interesse von dessen Witwe zu retten. Das Geld soll später diskret einer Wohltätigkeitsanstalt überwiesen werden. –
Zur Zeit ist die Polizei nun auf der Jagd nach dem Inder. Hoffentlich wird er gefaßt. Geschieht dies nicht, meine Herren, so sind unsere Aussichten, das gestohlenen Testament herbeizuschaffen, gleich null, da ja der Baron, der es sicher sehr gut irgendwo versteckt hat, tot ist und nur noch Magore Aufschluß über den Ort geben kann, wo es zu finden ist. Mithin hat dieser Abend uns, die wir für Ursula Palmer tätig sind, abgesehen von allem anderen ebenfalls schwer geschädigt. Gelingt es dem Inder zu entkommen, so dürfte die Erbschaft für Ursula verloren sein. Wird er ergriffen, dann besteht die Aussicht, ihn durch die Zusicherung einer milden Bestrafung dazu zu bewegen, das Versteck des Testamentes anzugeben. Meine düstere Stimmung hat also ihre guten Gründe. Ich sehe meine Pläne durchkreuzt. Die ganze Arbeit droht ein schwerer Fehlschlag zu werden. Zwei Tote hat dieser Abend gekostet, – alles Tatsachen, die mich nur zu sehr niederdrücken.“
Balduin Kämpfer trank schweigend seine Blume ab.
Hartock und Siering hatten noch eine ganze Menge zu fragen. So bat der Perlburger Anwalt den Detektiv auch, ihm wenn möglich zu erklären, wie Magore wohl seine doch immerhin recht rätselhaften Künste, – sein Verschwinden und Wiedererscheinen und das Auftauchen der Kobra, in Szene gesetzt habe.
Balduin erwiderte: „Die Wissenschaft hat sich mit diesen Dingen bereits sehr eingehend beschäftigt. Es gibt ein sehr lesenswertes Buch eines englischen Arztes mit dem anspruchslosen Titel „Yogikünste“. Ich besitze es selbst. Darin ist ausgeführt, daß es sich bei den meisten dieser Kunststücke um eine Art Massensuggestion handelt, das heißt, der Fakir verstehe die Zuschauer entweder durch scharfe, betäubende Gerüche und die Macht seiner Persönlichkeit oder aber lediglich durch Letztere in einen Zustand von Willensschwäche zu versetzen, in dem sie das zu sehen glauben, was er ihnen zu zeigen verspricht. Gewiß – es bleibt noch ein Rest von Unaufgeklärtem, Unerklärlichem, der die Yogis fraglos über die gewöhnlichen Taschenspieler hoch hinaushebt. Wir sehen dies ja auch an Magore, dessen Beeinflussung der eigenen Herztätigkeit und dessen Fähigkeit, Hautbilder hervorzurufen, wissenschaftlich nicht erklärt werden können.“
Die drei schwiegen jetzt wieder eine Weile. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Balduin verstand es nicht recht, daß Hartock so gar kein Wort des Bedauerns dafür fand, daß Ursula nun vielleicht bleiben müßte, was sie war: ein kleines Tippfräulein!
Und diesem gelinden Staunen gab er nun auch in vorsichtiger Weise Ausdruck.
Hartock errötete sehr auffällig.
„Oh – da sind Sie doch sehr im Irrtum, lieber Kämpfer,“ meinte er verwirrt. „Ich gönne als Sachwalter des verstorbenen Grafen Fräulein Palwner das Erbe von ganzem Herzen.“
Er hatte sich sehr vorsichtig ausgedrückt. „Als Sachwalter“ hatte er gesagt, – denn als Mensch wäre es ihm lieber gewesen, Ursula würde nie diese Millionen besitzen, – sonst könnte dieser oder jener ihm doch vielleicht den Vorwurf machen, nach dem Goldfischlein sofort geangelt zu haben, nachdem er eben erkannt hätte, daß es sich um ein echtes Goldfischlein handele. –
Als die drei sich dann eine Stunde später trennten, sagte Siering nochmals:
„Wenn die Polizei nur den Inder noch abfassen würde! – Na – ein brauner Bursche wie er kann sich ja zum Glück nicht so leicht verkriechen wie ein weißer Verbrecher.“
Drei Wochen später, – in der Wohnung Frau Agnes Müllenheims, nachmittags gegen fünf Uhr.
Das Mädchen half Felix Röder aus dem leicht beschneiten Wintermantel. – Dann standen sie sich in dem kleinen Damenzimmer gegenüber, dieses schöne, geistvolle Weib, dessen feines Antlitz die dunkle Witwentracht nur noch edler, durchgeistigter erscheinen ließ, und der schlanke, kräftige Mann mit dem fast abstoßenden Koboldkopf.
Sie reichte ihm nicht wie sonst die Hand, neigte nur wenig das Haupt zur Begrüßung.
„Ich bin Ihnen wirklich böse, Herr Röder, – wirklich! Also erst schreiben mußte ich, ehe Sie den Weg wieder zu mir fanden?! – Weshalb weichen Sie mir aus? Habe ich Sie verletzt? – Ich kann es mir nicht denken.“
Er war bis unter die Stirnhaare errötet. Sein trauriger, flehender Blick schnitt ihr ins Herz. Mit einem Male lächelte sie dann ganz wenige, und nun streckte sie ihm nach alter Gewohnheit beide Hände hin.
„Sie törichter, lieber Freund, – eine kleine Strafe mußte sein! – Nein, nein, – ich bin Ihnen nicht gram, nur – Sie hätten mich nicht so sehr vernachlässigen sollen! Da – setzen Sie sich. – Ihr Stammplatz, der Hocker steht bereit. – Warum aber haben Sie dann Balduin Kämpfer nicht mitgebracht? Ich bat noch in meinem Briefe darum. Ich möchte ihn so gern kennenlernen. In den Zeitungen hat die ganze Geschichte des seltsamen Erbschaftfalles gestanden, damit sich Personen melden sollten, die vielleicht gegen hohe Belohnung zweckdienliche Angaben zur Herbeischaffung des Testamentes machen könnten. Und in diesen Berichten wurde Kämpfer wie ein Held gefeiert, der nur das Pech gehabt hat, daß etwas wie eine höhere Fügung ihm den halben Sieg wieder entriß – eben der Tod des Barons und die glückliche Flucht des Inders. Schade nur, daß man den Namen der Universalerbin verschwiegen hat. Auch das hätte ich so gern gewußt, wer diese exotische Blume ist, diese Tochter des Grafen Roderich.“
„Balduin ist für längere Zeit verreist,“ erwiderte Röder etwas zögernd, um dann eifrig hinzuzufügen: „Aber die Erbin – ja, die habe ich hier gedruckt bei mir.“ Um seinen Mund spielte ein Lächeln. Er holte eine Anzeige aus Büttenpapier aus der Tasche hervor, entfaltete sie und reichte sie dann Frau Agnes. –
Ihre Verlobung geben bekannt
Dr. jur. Ernst Hartock
Rechtsanwalt, Perlburg
Ursula Palwner
z. Z. Berlin, November 19…
Frau Agnes schaute dem Freunde erst etwas verständnislos an. Dann aber kam ihr die Erleuchtung.
„Ah – also Ursula Palwner heißt die Erbin, die doch nicht erben kann, weil eben das Testament fehlt. Die Ärmste! Wie bedaure ich sie!“
Röder schüttelte wie mißbilligend den Kopf.
„Aber Frau Agnes – die Ärmste sagen Sie! Das können Sie doch nur so hingesprochen haben. Macht Geld denn glücklich?! Hat es mir –“ Er unterbrach sich, hüstelte und fuhr schnell fort: „Ursula ist glücklich, wie nur ein Weib sein kann, das den Mann gefunden hat, der die volle Ergänzung ihres eigenen Ichs ist. – Und dann, ja – dann ist ja auch noch gar nicht gesagt, daß nicht doch ein Zufall die vielbegehrte Urkunde an das Tageslicht befördert. Vielleicht kann man diesem Zufall auch so ein wenig nachhelfen – vielleicht!“
Die junge Witwe beugte sich in ihrem Sessel weit vor.
„Das klingt ganz so, lieber Freund, als ob etwa –“
„Ja, als ob mein guter Balduin das Rennen noch lange nicht aufgegeben hat – stimmt!“ fiel er ihr ins Wort. „Die Artikel in den Zeitungen sind zum Beispiel auch auf seine Anregung hin erschienen. Nachher hat er freilich förmlich getobt, weil Hartock als Verfasser ihm so viel Lorbeer ums Haupt gewunden hatte. Aber diese Berichte haben doch etwas genützt, wenn auch nicht gerade so viel, daß nun schon alles gewonnen wäre. Wenn es Sie nicht langweilt, Frau Agnes, will ich Ihnen gern so einiges mitteilen, was Sie noch nicht wissen können, einmal deswegen, weil bisher kein Mensch auf diese Einzelheiten Wert gelegt hat, dann aber auch, weil ein Teil derselben jüngsten Datums ist.“
„Oh – bitte, erzählen Sie. Aber vorher soll Minna uns ein Tässchen Tee bringen. Und sie zünden sich hübsch eine Zigarre an. Sonst sieht mir Ihr Besuch denn doch zu förmlich aus.“
Als Minna wieder gegangen war, und die Rauchwolken der Zigarre in dünnen Schwaden durch den kleinen, behaglichen Raum schwebten, begann Felix Röder mit seiner Schilderung.
„Balduin Kämpfer hat mir gegenüber unlängst zugegeben, daß es von ihm als Detektiv ein grober Fehler gewesen ist, sich nicht damals sofort über die näheren Umstände des Todes des Grafen Roderich unterrichtet zu haben, als Hartock ihn mit den Ermittlungen nach dem Verbleib der beiden gräflichen Leichen betraut hatte, eine Aufgabe, die dann ja von selbst sich erweiterte und auch die Suche nach der Erbin und dem Testament mit einschloß. – Der alte Graf starb an einem Herzschlag. Man fand ihn abends gegen elf Uhr in seinem Arbeitszimmer friedlich wie einen Schlafenden auf dem Diwan liegen. Bisher nahm man nun an, daß als erster der alte Hausmeister Tobias Werner von dem Hinscheiden seines Herrn Kenntnis erhalten hätte. Er war es, der sich an jenem Abend sehr wunderte, daß im Arbeitszimmer noch immer Licht brannte, der Graf also noch nicht schlafen gegangen war, obwohl sonst mit dem Schlage zehn auf Schloß Blenknerhof alles in den Federn liegen mußte, betrat den erleuchteten Raum und entdeckte den Toten auf dem Ruhebett. – Tobias Werner ist nun aber doch nicht der erste gewesen, der wußte, daß Roderich von Blenkner für immer hinübergeschlummert war. Dies ist jetzt erst, und zwar heute morgen, bekannt oder genauer ausgedrückt Balduin Kämpfer schriftlich mitgeteilt worden.“
„Ich denke, der ist verreist,“ warf Frau Agnes ein.
Felix Röder wurde ein wenig verwirrt. „Gewiß – aber erst heute mittag – ja, hm – auf eine Depesche von auswärts hin. – Jedenfalls erhielt er morgens mit der ersten Post einen in schlechtem Deutsch abgefaßten anonymen Brief, den er mir überlassen hat, damit ich die Angelegenheit – hm, ja – während seiner Abwesenheit weiter verfolge. Der Brief hat etwa folgenden Inhalt. – Doch halt – ich habe ihn ja bei mir und kann ihn vorlesen, will aber das miserable Deutsch gleich ein wenig verbessern: –
Herrn Kämpfer, Detektiv, Charlottenburg-Berlin, Lietzenseeufer Nummer 30. Der Umschlag trägt den Stempel eines Postamtes in Pankow. –
Geehrter Herr!
Ich habe in der Zeitung alles gelesen, was da von der Erbschaft des Grafen Blenkner gestanden hat. Fühle nun schon lange Gewissensbisse, daß ich mich damals von dem Wermig habe überreden lassen, ihn nicht zu verraten, und weil ich doch auch von ihm dreihundert Mark bekommen habe, damit ich still war. Aber meine Mutter war gerade sehr krank, und ich mußte immer Geld schicken für den Arzt und den Apotheker. Ich bin sonst kein schlechtes Mädchen, das können Sie mir ruhig glauben. Also die Sache damals am Todestage war so: Die Frau, bei der meine Mutter wohnte, hatte mir morgens geschrieben, ich sollte wieder fünfzig Mark für einen Masseur – das Mädchen sagt „Massierer“ – senden. Anders würde Mutter nicht gesund werden. Ich hatte kein Geld, und da wollte ich den Grafen um Vorschuß bitten. Er war ja wohl ein komischer Herr, aber sonst herzensgut. Trotzdem zögerte ich bis zum Abend. Gegen acht Uhr faßte ich mir ein Herz und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers, trat auch gleich ein, da der Graf es nicht liebte, wenn er erst Herbeirufen mußte. Mitten im Zimmer stand der Diener Herwig. Er war leichenblaß wie vor Schreck und stierte mich ganz wild an. In der Hand hatte er einen Schlüsselbund – den des Grafen. – Wie ich mich nun nach dem gnädigen Herrn umsah, bemerkte ich ihn auf dem Ruhebett in der Ecke. Er lag so still, daß ich mir gleich dachte, er müsse tot sein. Ich wollte aufschreien, aber da hatte mich Wermig schon bei der Hand gepackt, die Tür hinter mir ins Schloß gedrückt und mir zugeflüstert:
„Still – Sie bekommen dreihundert Mark, wenn Sie nicht verraten, daß Sie mich hier gesehen haben und daß Graf Roderich gestorben ist. Er ist nämlich wirklich tot. Vor wenigen Minuten kam ich her, um ihn zu bitten, mir meine Papiere herauszugeben, da ich mich um eine bessere Stelle bewerben will. Er hauchte eben seinen letzten Seufzer aus, und ich habe ihn dann von dem Teppich aufgehoben und auf den Diwan getragen, ihm den Schlüsselbund aus der Tasche genommen und aus seinem Schreibtisch meine Papiere hervorgesucht. Wenn Sie nun der übrigen Dienerschaft jetzt erzählen, wir beide seien allein hier im Sterbezimmer gewesen, könnte der Verdacht auf uns fallen, uns vielleicht etwas angeeignet zu haben – ich meine aus dem Geldschranke dort. Man weiß hier ja, daß Sie Geld brauchen für Ihre Mutter, und böse Zungen gibt es überall.“
So ähnlich redete Wermig auf mich ein, und in meiner Aufregung merkte ich gar nicht, daß er mir nur Angst machen wollte. Ich nahm das Geld und verließ mit dem Diener zusammen das Zimmer. Wir gingen durch den Seiteneingang in den Park, machten einen Spaziergang, waren noch in den Ställen und erst um zehn wieder im Schloß. Um elf, als alle übrigen schon längst zu Bett gegangen war, schlug dann der Hausmeister Werner Lärm: der Graf ist tot! – Und zwei Stunden später kam von der Frau, bei deren meine Mutter wohnte, eine Depesche, daß Mutter gestorben wäre und ich sofort abfahren sollte. Der Hausmeister ließ denn auch für mich einen Wagen anspannen, gab mir noch etwas Geld, und ich erreichte gerade noch den Morgenzug in Perlburg. Seitdem bin ich nicht mehr in Blenknerhof gewesen. –
Jetzt habe ich mir mein Gewissen erleichtert. Ich bitte Sie nun, mir nicht weiter Unannehmlichkeiten zu bereiten. Allerdings würden Sie mich auch kaum finden. Wenn Sie mir für diese Nachricht etwas von der zugesicherten Belohnung zukommen lassen wollen, so schicken Sie als postlagernd Pankow für Anna Maria Müller. Ich heiße aber nicht so. –
Eine Unbekannte
Felix Röder steckte den Brief wieder ein und meinte: „Naive Seele! Eine Unbekannte! Ein Kinderspiel war’s, ihren Namen zu erfahren, Kämpfer telephonierte nach Schloß Blenknerhof, und der alte Hausmeister erinnerte sich sofort an eines der Mädchen der Leuteküche, das damals telegraphisch nach Berlin berufen wurde. Sie hieß Anna Mallon. –
Nun, sie soll auch wirklich eine Belohnung erhalten, denn ihre Beichte ist immerhin ganz interessant. Geht doch aus ihr mit Sicherheit hervor, daß Wermig das Testament an jenem Abend sofort nach dem Tode des Grafen stahl, weiter aber auch, daß er fraglos gleichzeitig einen Griff in den Bargeldbestand des Tresors getan hat. Geld besaß er nämlich nie, solange er Diener im Schloße war. Er spielte leidenschaftlich Karten, stets im Dorfkrug, wo er meist verlor. Woher also die dreihundert Mark Schweigegeld für die Anna Mallon?! Wichtiger aber ist, daß man sich nun auch folgende Frage vorlegen muß: Wenn Wermig damals das Testament gestohlen und zu sich gesteckt hat, wird er dann so ruhig mit dem Mädchen noch zwei Stunden zusammengeblieben sein, wo er doch ein so wichtiges Dokument in der Tasche trug, das er schleunigst schon seiner eigenen Sicherheit wegen anderswo hätte verbergen müssen?! –
Hierauf hat mich Kämpfer aufmerksam gemacht und hinzugefügt: „Es ist undenkbar, daß Wermig so unvorsichtig gewesen sein sollte, das Testament die zwei Stunden lang mit sich herumzuschleppen. Ein Zufall hätte ihn zwingen können, sich es gefallen zu lassen, daß der Inhalt seiner Taschen in unrechte Hände geriet. Ich denke dabei an einen Unfall zum Beispiel oder Ähnliches. – Nein, ein so gewiegter Verbrecher wie Wermig-Marwitz-Wenden tut so etwas nicht! Ich behaupte, er hat das Testament zunächst, also noch vor Erscheinen des Mädchens, irgendwo im Zimmer verborgen und es erst später wieder an sich genommen.’ – Dies sagte mir Balduin Kämpfer. Und ich gab ihm recht.“
Felix Röder nahm einen Schluck Tee und fuhr dann fort: „Noch etwas außer diesem Briefe wirft auf den ganzen Kriminalfall einen neuen, rätselhaften Lichtstrahl. In dem Zimmer des Kurländers – denn das der erschossene Verbrecher Stanislaus von Wenden war, steht ja jetzt ganz zweifelsfrei fest – in dem Pensionat am Schiffbauerdamm hat die Polizei auch den Entwurf jener Anzeige gefunden, in der ein Liebhaber Mumien zu kaufen suchte. Der Baron und Magore haben also tatsächlich diese Annonce eingerückt und gleich in solchem Format und in so zahlreichen Zeitungen, daß man mit aller Bestimmtheit daraus den Schluß ziehen kann, sie hofften auf diese Weise wirklich mit den Leichendieben, den Leuten eben, die das Erbbegräbnis beraubt haben, in Verbindung treten zu können, das heißt, ihnen lag sehr viel daran, die beiden Toten in ihren Besitz zu bringen. – Wozu dies nun – welches Interesse haben sie an den mumifizierten Körpern? – Es ist dies eine Frage, die Balduin Kämpfer bereits aufgeworfen hat, bevor er noch die Gewissheit hatte, daß die beiden Gauner jene Anzeige eingesetzt hatten, – eine Frage von vielleicht entscheidender Bedeutung!“
Der Privatgelehrte schaute nachdenklich vor sich hin. Sein Gesicht hatte einen geistesabwesenden, grüblerischen Ausdruck angenommen. Daß seine Gedanken jetzt diesem Problem nachspüren, das er da eben erwähnt hatte, merkte auch Frau Agnes und verhielt sich daher ganz still, beobachtete ihn nur, sah, wie seine Lippen sich zuweilen bewegten, wie er das breite, energische Kinn mit den Fingern gedankenverloren streichelte, und seine Stirn sich in Falten legte und wieder glättete.
So vergingen reichlich zehn Minuten. Noch nie hatte Frau Agnes den Freund von dieser Seite kennen gelernt, noch nie hatte er so, der Umwelt völlig entrückt, dagesessen.
Und dann sprach er plötzlich halblaut vor sich hin:
„Ja – das wird am besten sein – und gleich!“
Frau Agnes tippte ihm mit dem Finger gegen die Schulter.
„Kommen Sie zu sich, lieber Freund! Was haben Sie denn nur?“
Er wurde verlegen, stammelte eine Entschuldigung und erhob sich.
„Ich muß fort, Gnädigste. Soeben ist mir eingefallen, daß ich noch etwas Wichtiges zu erledigen habe.“
Sie ließ ihn sehr ungern gehen. Er mußte versprechen, morgen wieder zu kommen.
Und als sie ihm nun zum Abschied beide Hände wieder hinstreckte, als sie ihn dabei mit einem so seltsamen leuchtenden, warmen Blick ansah, da rannte er mit einem Male förmlich hinaus, als flüchte er vor ihr.
Frau Agnes stand da und lächelte eigen.
„Lieber, törichter Mensch,“ sagte sie ganz leise.
*
Anna Mallon war jetzt Fabrikarbeiterin und wohnte bei ihrer Tante in der Dessauer Straße in Pankow.
Soeben kehrte sie aus der Fabrik heim, schloß die Flurtür auf und hängte dann Hut und Jacke an den Kleiderständer, indem sie ihrer in der Küche herumwirtschaftenden Verwandten zurief: „Schnell was zu essen, Tante! In einer halben Stunde kommt mich der Max abholen.“
In der halb offenen Küchentür erschien eine dicke Frau mit speckig glänzendem Gesicht.
„Pst, Anna, – da is ein Herr in der Stube, der dich sprechen will. Erst vor’n paar Minuten is er gekommen. Ob’s wohl wejen den Brief is, wo du an den Detektiv jeschrieben hast?! Mächen, Mächen, wenn de die man bloß nischt damit injebrockt hast! Ich hätte nich auf den Max jehört! Der hat dir doch nur alleene so lange jedrängt, bis de das Schreiben fertigmachtest! Iberhaupt, – weeßt de, – dein Bräutijam – mit den is die Jeschichte nich janz richtig. Reell arbeeten tut er nich. Wat treibt ‘r eijentlich? Jeld hat er immer. Und die Kiste bei uns uf ‘n Boden, die er damals brachte und die drei Schlösser hat, als wär’s reene Jold drin, die laß er man wieder wejholen. Det is mir zu jefährlich. Ick bin ‘ne anständje Frau, und – na mein Verlobter is er ja nich! Aber die Kiste muß wej!“
Anna, eine üppige, gar nicht üble Blondine, hatte vergebens versucht, der Tante ins Wort zu fallen. Jetzt fragte sie ängstlich:
„Ein Herr is da? Was hat er denn jesagt, was er von mir will?“
„Eijentlich nischt. Fragen will er wat. Aber er meente jleich, du brauchst keene Angst nich zu haben. Es würde wohl noch Jeld dabei abfallen for dir.“
Die beiden Frauen ahnten nicht, daß der Besucher dicht hinter der nur angelehnten Tür der Stube stand.
Anna schritt jetzt einen „Na, dann ist’s ja gut,“ auf die Türe zu, die nun lautlos zugezogen wurde.
„Ich bin der Detektiv Kämpfer,“ stellte sich der Herr dem Mädchen mit näselnder Stimme vor. „Setzen Sie sich, Fräulein. Ich habe mit Ihnen zu reden. Aber – keine Furcht – es passiert Ihnen nichts! Nur ehrlich müssen Sie sein. Sonst! – Ich habe heute morgen Ihren Brief erhalten. Ihren Namen erfuhr ich in Blenknerhof, und Ihre Adresse hier auf dem Einwohnermeldeamt. – Nun einige Fragen. – Wermig gab Ihnen also dreihundert Mark. Nahm er das Geld aus der Tasche heraus? Waren es Scheine?“
Das Mädchen, offenbar keine von der „gerissenen“ Sorte, wurde sehr rot und verlegen.
„Er – er –“ Sie schwieg und schaute hilflos um sich.
„Fräulein, wenn Ihre Antworten für mich von Wert sind, erhalten Sie noch dreihundert Mark. Und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie keine Ungelegenheiten haben sollen. Nur lügen dürfen Sie nicht. Das würde ich sofort merken.“
Anna Mallon wurde zuversichtlicher. Der Herr mit dem blonden Bart sah auch gar nicht so böse aus. Und – dreihundert Mark! Die gaben den Ausschlag.
„Nein, aus der Tasche nahm er’s nicht,“ sagte sie eifrig. „Das war überhaupt ‘ne gruselige Sache. Denken Sie, er hatte seine Papiere und das Geld – es war ‘ne ganze Menge! – dem toten gnädigen Herrn in den – linken Stiefelschaft gesteckt. Der Herr Graf trug nämlich hohe Filzstiefel wegen der Gicht. – Also er holte das Bündel Scheine aus dem Stiefelschaft hervor, und gleichzeitig auch seine Papiere, die in einem großen Umschlag steckten, den er zusammengeknifft hatte. Er gab mir drei Hundertmarkscheine. Das andere verwahrte er wieder im Stiefelschaft.“
Balduin Kämpfer war für einen Augenblick zur Salzsäule erstarrt. – Ein großes, weißes Kuvert! Darin sollten Wermig-Wendens Papiere gewesen sein?! Das stimmte nicht. Er wußte ja von seinen Nachforschungen in Blenknerhof her, daß die Papiere der sämtlichen Bedienten der Oberinspektor in Verwahrung gehabt hatte. Der weiße Umschlag war – das Testament gewesen! Ohne Frage – das gestohlenen Testament!
Kämpfer nahm sich zusammen. Aus dieser Anna Mallon ließ sich sicher noch mehr herausholen.
„Erklärte Wermig Ihnen denn gar nicht, weshalb er dieses seltsame Versteck für das Geld und die Papiere gewählt hatte? Und haben Sie nicht daran gedacht, daß das Geld gestohlen sein könnte?“ fragte er.
Das Mädchen zuckte die Achseln. „Gewiß hat er mir’s erklärt. Der Herr Graf hatte doch für den Fall seines Todes schon sehr genaue Befehle gegeben, so auch, daß er so begraben sein wollte, wie er mal sterben würde, gleichgültig, ob angezogen oder nur im – im Hemd. Nichts sollte an seiner Leiche gerührt werden, nichts, auch rasieren sollte man ihn nicht etwa noch! Er war ja überhaup ein komischer Herr! – Wir alle wußten in Blenknerhof von diesen seinen Anordnungen. Auch Wermig natürlich. Und wie er die Sachen aus dem Stiefelschaft nahm, sagte er: „Hier sind mein Geld – ich habe es vorgestern im Kartenspiel gewonnen – und meine Papiere vorläufig am sichersten. Niemand wird dem Toten die Stiefel ausziehen. Das wagt keiner, weil der Graf doch so in den Sarg will, wie er gestorben ist.“ – ja, so sagte er.“
Kämpfer besann sich recht gut darauf, daß Graf Roderich tatsächlich in einer Hausjoppe, alten Beinkleidern und Filzstiefeln beigesetzt worden war.
„Haben Sie Wermig später noch wiedergesehen, nachdem Sie nach Berlin gefahren waren?“ forschte er weiter.
„Nein,“ erwiderte sie bestimmt.
Nach kurzem Nachdenken eine neue Frage des Detektivs:
„Sie sind doch verlobt, nicht wahr? – Mit dem Max – Max – nun habe ich wirklich den Vatersnamen vergessen.“
Anna Mallon traute ihren Ohren nicht. „Sie wissen das? Ja – woher denn?“
„Ich weiß noch mehr. – Also mit Max – “
„Berger,“ fügte sie hinzu.
„Richtig, Max Berger. – Wie kam man eigentlich dazu, Sie zu überreden, daß Sie an mich den Brief schreiben sollten?“
Abermals errötete sie, wurde jetzt aber ganz verstört und fing plötzlich zu weinen an.
„Ich sage nichts mehr!“ heulte sie förmlich auf. „Ich sage nichts, und wenn –“
Kämpfer dachte: „Diese Angst muß einen besonderen Grund haben, einen sehr ernsten!“ Und begann nun recht eindringlich auf das Mädchen einzureden.
„Weigern Sie sich zu sprechen, so verhafte ich Sie und auch den Max Berger! Andernfalls wird Ihnen beiden nichts geschehen, selbst wenn Sie etwas getan haben, das gegen das Gesetz verstößt.“
Sie beruhige sich langsam. Dann sagte sie zögernd: „Ich hatte Max, mit dem ich seit drei Monaten verlobt bin, mal die Geschichte von Wermig mit den dreihundert Mark erzählt. Es ist schon lange her. Er hat dann jetzt durch die Zeitung von der Erbschaftssache Blenkner erfahren, und da meinte er, es ließe sich vielleicht Geld herausschlagen, wenn ich an Sie schreiben würde.“
Kämpfer wurde stutzig. – Lag denn in dieser Antwort etwas, das die Mallon oder dem Berger hätte bloßstellen können? – Nein! Wozu also vorher die Tränen und die auffällige Verstörtheit?! – Sie verschwieg ihm sicherlich gerade das, was ihr und ihrem Verlobten hätte gefährlich wer– den können! Hier galt es also so lange zu bohren, bis die volle Wahrheit vor ihm lag.
Kämpfer versuchte es nun damit, einmal aufs Geratewohl auf den Strauch zu schlagen, lächelte das Mädchen an und meinte:
„Sehen Sie, Fräulein, – Sie sollen jetzt erkennen, daß ich wirklich nur Ihr Bestes will.“ Er beugte sich dicht zu ihr hin und flüsterte: „Die Polizei sucht die Kiste, – Sie wissen, die oben auf dem Boden steht. Berger mag sie schnell anderswo unterbringen.“
Anna wurde ganz blaß. „Ist das wahr?“ stotterte sie. „Mein Gott nur nicht die Polizei! Dann komme ich ja selbst ins Gefängnis. Ich habe Max gleich gesagt, er solle sie lieber in die Spree werfen oder wo vergraben aber er und der Apotheker haben doch für den Andern so viel Geld bekommen. Und da meinte Max, wenn die Kiste noch ein Jahr steht, kann man nochmals ein feines Geschäft machen. –
Hätte er nur auf mich gehört! Es ist ja auch so unheimlich! Ich mag gar nicht mehr auf den Boden gehen!“
Da war’s, als zerteile sich vor Kämpfers Augen einen Nebelschicht. Das Dunkel lichtete sich. –
„Für den Andern so viel Geld bekommen – die Kiste noch ein Jahr steht – unheimlich – nicht auf den Boden gehen!“ Das konnte sich nur auf die gestohlenen Leichen beziehen!
„Ja, ja,“ meinte Kämpfer, der sich schnell wieder gesetzt hatte. „Glaub’ ich Ihnen gern, Fräulein Anna. Der Inhalt der Kiste ist auch nichts für Frauennerven.“
Sie stöhnte leise. „Der Max lacht mich immer aus. Aber Leiche bleibt doch Leiche, wenn sie auch schon halb vertrocknet ist.“
Balduin Kämpfer triumphierte, blieb aber äußerlich ganz ruhig.
„Wann haben Sie eigentlich dem Max oder dem Apotheker erzählt, daß die Leichen im Erbbegräbnisses in Blenknerhof zu Mumien werden?“ fragte er vertraulich.
„Beiden, – eines Sonntags in Tegel, im September. Und da horchte der Apotheker gleich sehr auf. Er weiß mit so was Bescheid.“
„Und nachher hatten sie dann in der Eile den Grafen Roderich aus dem Erbbegräbnis mitgenommen, der noch nicht als Mumie zu verkaufen war,“ meinte er leise auflachend.
Sie nickte. „Deshalb wollen sie ja auch noch ein Jahr warten, bis er auch so herzurichten ist wie der Andere. Der Apotheker hat das allein besorgt.“
Balduin hatte schon vorhin an die Mumie gedacht, die Geheimrat Mandelsloh in Hamburg gekauft hatte, auch daran, daß Wenden und Magore unter so erheblichen Kosten für die Anzeigen sich mit den Leichenräubern ins Einvernehmen hatten setzen wollen. Und für dieses eifrige Bemühen der beiden glaubte er nun die einzige wahrscheinliche Erklärung gefunden zu haben. Das Testament steckte noch in dem Stiefelschaft, – falls nicht gerade Berger und seine Genossen die Urkunde dort entdeckt hatten! Das erschien ihm aber wieder so gut wie ausgeschlossen. Sonst hätten diese geriebenen Mumienfabrikanten doch fraglos auf die Artikel in den Zeitungen hin sich sofort gemeldet, da sie wissen mußten, daß man ihnen für das Testament eine große Summe zahlen würde.
„Da war doch noch ein dritter daran beteiligt,“ meinte er jetzt, um auch dies noch festzustellen. „Schade, daß das Geld, das der Geheimrat bezahlt hat, in drei Teile ging.“
Anna Mallon schüttelte den Kopf. „Der Masurke ist ja von dem Schlosser Menke schon vorher bei dem Streit in der Budike von Mutter Ratzmer erstochen worden. Haben Sie das nicht in der Zeitung gelesen. Menke sitzt jetzt und wird wohl ein paar Jahre kriegen.“
Draußen schrillte die Flurglocke.
„Das wird Max sein,“ rief Anna.
Kämpfer erhob sich schnell, griff in die Tasche, riß die Tür auf und schaute in den Flur hinaus.
Dort stand ein schlanker, junger Mensch, – sehr anständig gekleidet, ebenso wie auch das Gesicht nicht das eines Verbrechers war.
„Treten Sie näher, Herr Berger,“ sagte Kämpfer freundlich. „Ich möchte gern auf die Kiste bieten.“
In der Müllenheimschen Wohnung hing das Telephon im Flur gerade gegenüber der Tür zum Damensalon.
Frau Agnes war nicht wenig erstaunt, als die Telephonglocke noch kurz vor neun Uhr abends anschlug.
Sie legte das Buch bei Seite, erhob sich und ging in den Flur.
„Hier Müllenheim,“ meldete sie sich.
„Grüße Sie, verehrte Freundin! Felix Röder! – Darf ich Sie noch besuchen, – nur für Minuten. Ich bringe etwas mit, daß Sie interessieren dürfte.“ –
Kurz später saß der Privatgelehrte auf dem Hocker, seinem Stammplatz. Neben ihm Frau Agnes im Sessel.
„Ich habe viel zu erzählen,“ begann er. „Sehr viel, sehr wichtiges.“ Sein Gesicht strahlt förmlich. „Ja, denken Sie, Gnädigste, Kämpfer war nur bis Pankow gereist – ein Katzensprung, eine Fahrt im Auto von einer halben Stunde. Und wissen Sie, bei wem er war? – Bei der Anna Mallon, – der, die ihm heute morgen den Brief geschickt hatte!“
Frau Agnes lächelte verstohlen und musterte Röder mit gutmütigem Spott.
„So, also Kämpfer war gar nicht verreist?! – Das habe ich gewußt!“
„Wie? – Woher denn?!“ Er war leicht zusammengezuckt.
„Das sage ich Ihnen nachher. Erzählen Sie erst.“
Und Felix Röder berichtete nun getreulich, was sich bis zum Erscheinen Max Bergers in der Stube bei Anna Mallons Tante abgespielt hatte.
Frau Agnes hatte ihn dabei mehrfach durch Ausrufe der Überraschung unterbrochen. –
„Weiter – weiter!“ bat sie nun. Sie fieberte vor Spannung.
„Berger entpuppte sich als ein Mensch, der lediglich als Verführter anzusehen und daher etwas zu entschuldigen ist,“ fuhr Röder fort. „Der frühere Apotheker Brand, ein mehrfach vorbestrafter Hochstapler, war sein böser Geist. Gewiß – Berger wollte zunächst Balduin Kämpfer gegenüber eine drohende Haltung annehmen. Aber nur für einen Augenblick. Ein Revolverlauf brachte ihn schnell zur besseren Einsicht. – Kämpfer versprach Berger, die Polizei ganz aus dem Spiele zu lassen, wenn dieser hübsch verständig sei. Beide begaben sich dann auf den Boden, nahmen ein Brecheisen mit. Denn die Schlüssel zu der länglichen Kiste hatte Brandt in Verwahrung. – Der Körper des Grafen Roderich lag in Holzwolle verpackt und war tadellos erhalten. Kämpfer griff begierig in den Stiefelschaft hinein, fühlte ein hartes Papier. Es war der zusammengeklebte Umschlag, und darauf stand: Mein letzter Wille! – Das Testament war gefunden!“
Felix Röder hatte die letzten Worte ganz feierlich gesprochen.
„Haben Sie es gelesen?“ fragte Frau Agnes schnell.
„Ja. Und – hier ist es!“ Er hatte es in der Innentasche seines Rockes stecken, zog es jetzt heraus. „Bitte, verehrte Freundin, – lesen Sie es selbst durch!“
Es waren drei großen Bogen, bedeckt mit der steilen Schrift des Grafen Roderich.
Alles, was Balduin Kämpfer über den Liebesroman des Grafen durch Kombinationen festgestellt hatte, fand sich hier bestätigt. Blenkner hatte damals, um sich freier und ungezwungener bewegen zu können, sich Ausweispapiere für die Reise besorgt, die auf den Namen Palwner lauteten. Dafür, daß er Ursula so einfach hatte erziehen lassen, gab er keinen Grund an. Nur zum Schluß fand sich eine Bemerkung, aus der hervorging, daß Ursula ihm tatsächlich zuerst beinahe verhaßt gewesen war und daß sich seine Gefühle für das Kind erst später geändert hatten. Aus dieser anfänglichen Abneigung heraus mochte er sie wohl in so bescheidenen Verhältnissen haben aufwachsen lassen. Er sah eben zunächst in ihr nur die, die ihm das heißgeliebte braune Hinduweib geraubt hatte. –
Ebensowenig gab dieses Testament Aufschluß darüber, weswegen es erst ein Jahr nach des Grafen Tod eröffnet werden sollte. Welche Absichten ihn hierbei geleitet hatten, blieb unklar. –
Die letzten Sätze lauteten:
„Indem ich Ursula Palwner als meine Tochter anerkenne, bestimme ich sie zu meiner Universalerbin mit Ausnahme der im Vortestamente angegebenen Legate, die ja auch inzwischen längst ausgezahlt sein müssen. Dir, mein Kind, mag der Reichtum Glück bringen. Gehe weise damit um. Ich segne dich!“
In Frau Agnes Augen schimmerte es feucht.
„Wie seltsam das alles ist,“ sagte sie leise und reichte Röder das Testament zurück. „Und was für ein widerspruchsvoller Charakter der Graf gewesen sein muß! Daß er nie den Wunsch gehabt hat, sein Kind zu sehen?!“
„Wissen wir das so genau? Kann er Ursula nicht heimlich oft genug beobachtet haben?!“ meinte Röder weich. „Im Grunde war Blenkner doch ein edler, vornehmer Charakter.“
Frau Agnes nickte nur.
Eine Weile Schweigen. Dann fragte sie:
„Haben Sie Ursula schon benachrichtigt, und auch Hartock?“
„Ja. Telegraphisch. Das Brautpaar weilt zur Zeit bei Hartocks Mutter in Stettin. Der alte Herr Hartock ist schon vor Jahren gestorben.“
„So haben Sie also diese Depesche abgesandt?“ meinte Frau Agnes mit besonderer Betonung und fixierte ihn fast durchdringend. „Warum tat es Kämpfer nicht?“
Röder schaute zu Boden. „Weil – weil er –“
„Halt!“ unterbrach sie ihn schnell. „Lassen Sie mich Ihren Satz beenden. – – Weil – es gar keinen Balduin Kämpfer gibt, weil er und Sie ein und dieselbe Person sind!“
Röder fuhr von seinem Hocker hoch.
„Bleiben Sie sitzen,“ bat die schöne Frau leise. „Erst heute Nachmittag stieg in mir die Vermutung auf, daß Sie ein Doppelleben führen, – und zwar als Sie wohl eine Viertelstunde so nachdenklich dasaßen, dann plötzlich halblaut einige Worte sprachen und sich so eilig gleich darauf verabschiedeten. Als Sie fort waren, läutete ich Siering an. Durch unverfängliche Fragen stellte ich fest, daß auch er Felix Röder und Balduin Kämpfer gleichzeitig nie gesehen hatte. Der eine von beiden war stets „verreist“, wenn der andere in Erscheinung trat. – Das genügte mir. – Wie aber haben Sie sich nur so gut äußerlich verwandeln können, daß niemand, der beide Masken kannte, das Spiel durchschaute?“
„Perücke, falscher Bart, etwas Schminke und – die Hauptsache: hohle Stöpsel in den Nasenlöchern. Daher sprach „Kämpfer“ auch stets so näselnd,“ erwiderte Röder schon wieder mit feinem Lächeln.
„Und wie kamen Sie darauf, Detektiv zu werden?“
Er zögerte erst mit der Antwort, wich ihren Blicken aus und sagte dann zögernd: „Ich habe einmal in meinem Leben eine Enttäuschung durchgemacht, die ich nicht verwinden zu können glaubte. Das Dasein war mir nur noch eine Qual. Der Fluch der Häßlichkeit lastete auf mir wie Zentnergewichte. Dann kam ein Unglücklicher zu mir in einer Gewitternacht, einer, dem man einen Mord vorwarf. Es ist mein Diener und Vertrauter Karl Marx, und meine Sekretärin ist – seine Frau. Sonst kennt nur noch der Kriminalkommissaren Klingsporn, ein Schulfreund von mir, mein Geheimnis. – Ich habe Marx damals das Leben gerettet, indem ich ihn bei mir verbarg und Beweise für seine Schuldlosigkeit zu sammeln begann, bis ich dann auch den wahren Mörder entdeckte. Ich fand Geschmack an dieser Tätigkeit, die bald mein Leben ausfüllte und mich jene Enttäuschung leidlich vergessen ließ. Klingsporn half mir dabei, als Balduin Kämpfer in der Nebenwohnung auftauchen zu können. Einen Teil meiner Erfolge verdanke ich lediglich dieser Doppelrolle. – Sie, liebe Freundin, muß ich jetzt inständig bitten, mein Geheimnis fest in Ihrem Herzen zu verschließen. Versprechen Sie mir das?“
„Ja, – aber nur, wenn Sie mir eine Frage wahrheitsgetreu beantworten.“
„Wenn ich überhaupt die Antwort weiß – gern!“
Er ahnte nicht, was kommen würde.
Frau Agnes beugte sich vor.
„Geben Sie mir Ihre Hände, – so! – Und nun, Felix Röder: Worin bestand jene große Enttäuschung?“
Er wollte wieder aufspringen. Aber sie hielt seine Hände ganz fest in den ihrigen.
„Sprechen Sie,“ bat sie leise. „Sie heißen Felix – der Glückliche. Vielleicht kommt das Glück wirklich zu Ihnen –“
Da begriff er endlich.
„Agnes – Agnes – das ist ja nicht möglich,“ flüsterte er ganz heiser. „Mich – mich soll ein Weib –“
Jetzt erhob Frau Agnes sich, zog ihn mit sich empor.
„Du lieber Tor! Ein so feiner Menschenkenner bist du und hast doch nicht gemerkt, daß –“
Er ließ sie nicht aussprechen, nahm sie in seine Arme, und wie ein Jubelschrei kam es über seine Lippen:
„Endlich – endlich das Glück!“
*
Karl Marx und seine Gattin saßen im Eßzimmer der Röderschen Wohnung am Mitteltisch und besprachen die Auffindung des Testamentes.
Dann hörten sie Röder nach Hause kommen, und gleich darauf stand er, noch in Hut und Mantel, vor ihnen.
„Meine treuen Gefährten,“ begann er mit strahlenden Augen, „Ihr könnt mir gratulieren. Ich habe mich soeben verlobt. Mit wem, brauche ich euch beiden nicht zu sagen. Vorläufig muß dies Ereignis ja noch geheim bleiben, für ein halbes Jahr. Dann will Agnes die Trauer, die sie ja nur der lieben Mitmenschen wegen trägt, ablegen. – Heute geschieht aber noch etwas anderes: Karl Marx übernimmt das Detektivinstitut Balduin Kämpfers, da dieser – für immer verschwindet, ins Ausland reist. So hat es Agnes gewünscht.“
*
Die Berliner Zeitungen brachten in den nächsten Tagen allerlei Sensationsnachrichten, die mit dem Falle Blenkner zusammenhingen.
Erstens: das Testament war gefunden. – Wo und wie, wußte niemand. Der, der darüber hätte Aufschluß geben können, Balduin Kämpfer, war ganz plötzlich ins Ausland gegangen, – nach Südamerika, hieß es, um dort Plantagenbesitzer zu werden.
Zweitens: die beiden gestohlenen Mumien aus dem Blenknerschen Erbbegräbnis waren in einer Kiste, die Unbekannte auf dem Potsdamer Güterbahnhof abgeladen hatten, entdeckt worden. –
Hierüber hätte Geheimrat Mandelsloh so manches aussagen können. Aber da er Professor Müllenheims echte Mumie für die gefälschte Mumie erhalten hatte, schwieg er.
Drittens: Karl Marx, „die rechte Hand“ Balduin Kämpfers, hatte das berühmte Detektivinstitut übernommen. – Er sorgte auch später dafür, daß dessen guter Ruf erhalten blieb.
*
Ursula, Hartock, Felix Röder, kurz alle, von denen die Reporter der Berliner Blätter etwas über den inneren Zusammenhang der oben erwähnten Ereignisse zu erfahren hofften, wurden andauernd von diesen Leuten belästigt, ohne daß auch nur ein einziger dabei einen Erfolg aufzuweisen hatte. Schließlich gab die Reporterzunft das Rennen auf. Immerhin hatte aber doch einer ein wenig Glück gehabt, der schließlich auf den Gedanken gekommen war, den Maler Berd Holk auszuforschen, um dann berichten zu können, daß Holk durch den Verlust Ursulas endlich ein anderer geworden war, ein ernster, strebsamen Künstler, dem man eine Zukunft mit Recht voraussagen konnte und der unter Nahrungssorgen jetzt nicht mehr zu leiden hatte, da Ursula Palwner nicht eher geruht hatte, bis er von ihr eine Summe annahm, die es ihm ermöglichte, sorgenfrei seinen Studien zu leben.
Menschen, mit allerlei Schwächen behaftet, Menschen mit großen Seelen und stille Durchschnittscharaktere mischte das Schicksal der Erbschaft Roderich Blenkners wegen durcheinander. In Harmonie löste sich alles. Es ist leider nicht immer so im Leben der Erdenpilger.
Anmerkungen: