Kriminalroman
von
Walther Kabel
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89
Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Vielleicht glaubte die Dame, daß ihr das große Emailleschild unten an der Haustür mit dem weithin sichtbaren „Vornehmes Familienheim“ die Verpflichtung auferlegte, diese Vornehmheit auch an ihrer Person in all und jedem recht stark zum Ausdruck zu bringen. Dies wurde der Frau Sanitätsrat Luise Spindel insofern leicht gemacht, als ihr imponierendes Äußeres – zwei Meter Größe bei gut verteilter Leibesfülle und dazu der von vollem grauen Scheitel gekrönte Kopf einer Heldenmutter – zumeist nur auf Leute zu wirken brauchte, die aus der Provinz kamen und in dem kleinen, entlegenen Bernburg die angeblich heilkräftigen Quellen und die stets und überall gesundheitsfördernde Höhenwaldluft für einige Sommerwochen genießen wollten.
Erwin Lenk kam aus Berlin. Und das ganze gekünstelte Gehabe der Sanitätsrätin entlockte ihm nur ein verstohlenes Lächeln. –
Sie saßen sich in zwei Polstersesseln im sogenannten Familiensalon im ersten Stock gegenüber und waren nun über Preis, Frühstück, Bedienung und so weiter einig geworden. Lenk hatte im zweiten Stock zwei Vorderzimmer gemietet, vorläufig für einen Monat. Unter ihm wohnten Badegäste, ein Herr Helgerow nebst Tochter, wie die Rätin soeben bemerkte, Herrschaften, die großen Wert darauf legten, das es über ihnen recht ruhig herginge.
„Ich bin ja so wenig daheim,“ meinte Lenk mit jenem liebenswürdigen Lächeln, dem erprobtermaßen selbst die schlimmste Xanthippe nicht widerstehen konnte.
Er erhob sich, um sich zu verabschieden. Er mußte aufs Gericht, wo ihn sein Vorgesetzter, Amtsgerichtsrat Nord, heute in die Dienstgeschäfte einführen wollte.
„Bitte bestellen Sie einen Gruß an den Herrn Rat,“ sagte Frau Spindel und glättete mit ihrem langstieligen Lorgnon eine Falte der Sammettischdecke. „Es war sehr liebenswürdig von Herrn Nord, daß er mich empfohlen hat. Mein verstorbener Mann war einer seiner besten Freunde.“
Lenk hatte bereits den Drücker der Salontür in der Hand, als jemand anklopfte.
Frau Spindel rief Herein. Es war der ruheliebende Herr Helgerow, der nach knapper Verbeugung nun sofort zu der Sanitätsrätin sagte:
„Ich höre soeben von dem Stubenmädchen, daß vielleicht die Zimmer über uns vermietet werden sollen. Sie wissen, wie nervös ich bin, verehrte Frau Spindel. Es wäre mir lieber, wenn die Räume leer blieben. Ich will gern den Preis mitbezahlen. Gerade jetzt nach diesem schmerzlichen Verlust bedarf ich mehr denn je –“
Eine bedauernde Handbewegung der Rätin ließ ihn den Satz nicht beenden.
„Wie – etwa bereits fest abgemacht?“ rief er mit einem Blick auf Lenk, der ans Fenster getreten war.
„Allerdings, Herr Helgerow. Der Herr Amtsrichter ist jedoch Junggeselle, wenig zu Hause und wird gern die größte Rücksicht nehmen.“
Lenk drehte sich den beiden zu und sagte mit einer Verneigung: „Gestatten – Amtsrichter Lenk. Sie werden mit mir als Überbewohner sehr zufrieden sein, Herr Helgerow.“
Dieser zuckte recht unhöflich die Achseln. „Wir werden sehen – – im übrigen, Frau Sanitätsrätin, – Sie hätten mich auch besser vorher davon verständigt, daß die Zimmer vermietet werden sollten. – Morgen!“ Damit verließ er den Salon.
Lenk lächelte und zog ein langes Gesicht. „Ein recht angenehmer Herr, scheint’s!“
„Oh – er leidet an den Folgen einer Malaria,“ sagte die Rätin hastig. –
Der Amtsrichter stieg die Treppe hinab. Sie war breit und hell. In diesem alten Hause herrschte überall eine große Raumverschwendung. Gerade auf dem Treppenabsatz begegnete Lenk dann einer Dame in Trauer, von der er trotz des dichten schwarzen Schleiers doch den Eindruck gewann, sie müsse sehr jung und sehr hübsch sein und dunkle, lebhafte Augen haben. Da der angenehme Herr Helgerow gleichfalls einen Trauerflor und eine schwarze Krawatte getragen hatte, reimte sich Lenk sofort zusammen, daß dies wahrscheinlich seine Tochter gewesen sei. – –
*
Die Gaslampe über dem runden, weißgescheuerten Stammtisch summte leise.
Drei Herren hatten sich heute eingefunden, darunter auch Lenk. Neben diesem saß der Amtsgerichtsrat Nord, allgemein – und mit gutem Recht! – Nordhäuser genannt.
Professor Röseke, der dritte, hatte Lenk soeben gefragt, wo er denn sein Heim aufgeschlagen habe.
„Hm – bei der Spindel, – – na ja!“ meinte er auf die Antwort Lenks hin mit eigentümlicher Betonung.
Nordhäuser trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte einen Marsch und brummte:
„Vergraulen Sie doch meinem Kollegen nicht gleich seine neue Wohnung, Röseke! Dieses – „Na ja!“ ging doch wohl auf den Tod des armen Mädels.“
Lenk wurde aufmerksam. Er dachte an Helgerow und die junge Dame in Trauer und fragte daher:
„Da ist wohl unlängst bei der Frau Sanitätsrat jemand –“
Nordhäuser fiel ihm ins Wort. „Ganz recht – ein junges Mädchen verstorben – das ist alles!“
Röseke lachte ärgerlich auf. „Das ist alles –!?“ meinte er ironisch. „Weshalb wollen Sie eigentlich nicht zugeben, Nord, daß dieser Todesfall gewisse Begleitumstände –“
Der Amtsgerichtsrat ließ ihn nicht ausreden.
„Gewäsch – nichts als Gewäsch!“ polterte er los. „Der Kreisarzt hat als Todesursache Herzschlag bescheinigt, und an dieser Feststellung änderte auch das müßige Gerede all der Leute nichts, die auf die Weisheit unseres Stadtwachtmeisters Haberland schwören.“
Lenks Interesse wurde reger. „Ich habe heute früh bei der Rätin flüchtig einen Herrn Helgerow kennengelernt und traf nachher auf der Treppe eine junge Dame in Trauer,“ begann er eifrig. „Sollten diese beiden –“
Röseke beeilte sich, Auskunft zu geben. „Der Todesfall liegt jetzt drei Wochen zurück,“ erklärte er. „Die Verstorbene war die Zwillingsschwester Ihrer jetzigen Hausgenossin, des Fräulein Hilde Helgerow, und hieß Margarete mit Vornamen. Eine traurige Erholungskur für den Vater, der ein sehr netter Gesellschafter ist.“
„So?!“ meinte Lenk gedehnten Tones.
„Haben Sie ihn von einer anderen Seite kennengelernt?“ fragte „Nordhäuser“ erstaunt. „Er verkehrt hier am Stammtisch. Wir schätzen ihn alle. – Der Mann hat die ganze Welt gesehen.“
„Er war zuletzt Plantagenbesitzer in Brasilien,“ ergänzte Röseke.
Lenk wollte gern Aufschluß darüber haben, inwiefern denn die Bernburger Fama den Todesfall als etwas eigenartig hinzustellen suche. Als er sich dieserhalb an den Rat wandte, hob Nord jedoch abwehrend beide Hände.
„Von mir erfahren Sie kein Wort über dieses Getratsch –! Wenn der Professor sich zum Sprachrohr Haberlandschen Unsinns machen will – meinetwegen!“
„Werde mich hüten!“ rief der. „Obwohl ich – na – ich schweige besser.“
Lenk brach sehr bald danach auf. Er war müde, war den ganzen Tag über auf den Beinen gewesen. Als er das Hotel zum Adler verließ, schlug es vom Rathaus gerade halb elf. Lenk stellte seine Uhr unter der nächsten Laterne. Wieder aufblickend und weitergehend bemerkte er, daß ein fahles, kurzes Leuchten über den nächtlichen Himmel flog. Nach einer Weile folgte ein dumpfes Grollen. Er beschleunigte seine Schritte. Vor der Haustür des Familienheims aber sprach ihn dann jemand an.
„Entschuldigen Sie, Herr Amtsrichter, ich bin der Stadtwachtmeister Haberland. Dürfte ich Sie um eine kurze Unterredung bitten?“
Erwin Lenk sah einen hageren, mittelgroßen Mann vor sich mit einem bartlosen, faltigen Gesicht.
„Eine Unterredung – um diese Stunde?“ meinte er überrascht. „Dürfte das nicht bis morgen Zeit haben?“
Der Wachtmeister, der einen leichten, dunklen Pelerinenmantel und eine große Reisemütze trug, flüsterte jetzt hastig.
„Es ist etwas halb Dienstliches, Herr Amtsrichter. Sie haben doch seit heute die Strafsachen von dem Herrn Rat übernommen. Bei diesem hätte ich nie Erfolg gehabt. – Aber wir sprechen besser drüben im Schatten der Kirche weiter. Ich habe meine Gründe dazu.“
Da erst dachte Lenk an die Bemerkung Nords von der Weisheit des Stadtwachtmeisters. Und diese Bemerkung war ja gefallen, als der Tod Margarete Helgerows besprochen wurde. – Kein Zweifel, Haberland hatte etwas auf dem Herzen, das mit dieser Angelegenheit zusammenhing.
„Gut – gehen wir!“ sagte Lenk lebhaft. – Der Wachtmeister war schon in dem finsteren Pfortenbogen wie ein grauer Schatten verschwunden. Dort standen sie dann dicht nebeneinander, diese beiden Männer, die sich noch vor wenigen Sekunden fremd gewesen, und verhandelten wie längst Vertraute, merkten kaum, daß das Gewitter näher und näher kam, daß auf die ersten schweren Tropfen für kurze Zeit ein förmlicher Wolkenbruch folgte und daß unausgesetzt heftige Windstöße heulend um das Türmchen des Gotteshauses fuhren.
Haberlands Anliegen bezog sich tatsächlich auf Margarete Helgerows plötzliches Hinscheiden. Lenk hatte sich nicht geirrt.
Der Wachtmeister hatte vorausgeschickt, daß er noch vor vier Jahren der Berliner Kriminalpolizei angehört habe, dann aber durch seine Frau, eine Bernburgerin, hierher verschlagene sei. – Er verstand, jemanden für seine Ansicht zu gewinnen. Das merkte auch der junge Amtsrichter bald.
Jetzt sagte Haberland, als der Regen in ein feines Geriesel überging:
„Uns gerade gegenüber liegt das Haus der Frau Spindel. Die vier Fenster rechts im ersten Stock gehören zu den Räumen der beiden Helgerows, Vater und jetzt noch eine Tochter. Das zweite dieser Fenster von links gerechnet ist das vorhin erwähnte, Herr Amtsrichter. Und hier an derselben Stelle wie wir hat damals der Küster Piwalla gestanden und beobachtet und gehört, was ich Ihnen soeben erzählt habe. Der Piwalla ist nun zwar ein heimlicher Trunkenbold. Aber er schwört Stein und Bein, damals stocknüchtern gewesen zu sein. Jedenfalls hielt ich es daraufhin für meine Pflicht, der Sache in aller Stille nachzugehen. Leider –“
Er schwieg. Lenk hatte seinen Arm gepackt, rief jetzt leise: „Bei Gott – sehen Sie, Haberland, – dort oben –“
„Wahrhaftig – wahrhaftig –!“ Der Wachtmeister reckte den mageren Hals noch länger. „Und das Zimmer dort bewohnen Sie doch jetzt, Herr Amtsrichter – der Piwalla ist also wirklich nicht unter Alkohol gewesen –!“ Er keuchte förmlich vor Erregung.
Die beiden Männer stierten durch den feinen Regen wie durch einen Vorhang empor nach jenem Fenster, zu dem der Schein der Straßenlaternen – Bernburger war sehr stolz auf die elektrische Beleuchtung! – nur noch schwach hinaufdrang.
Und was sahen sie? – Es war seltsam genug. Dort lag im offenen Fenster eine menschliche Gestalt, ob Frau oder Mann, war schwer zu unterscheiden, und rang wie in stummer Verzweiflung die weit vorgestreckten Hände. Dann wieder war’s, als ob dieselben Hände in flehender Bitte gefaltet wurden, als ob unten vor dem Hause auf der Straße jemand durch diese Gesten inbrünstig um etwas angefleht wurde. –
Doch – die Straße war leer, weit und breit keine Seele zu sehen –
Erwin Lenk hatte vorzügliche Augen. Nachdem er den ersten Schreck – denn es war mehr als bloße Überraschung gewesen, die er bei diesem Anblick empfunden – überwunden hatte, strengte er sich an, möglichst viele Einzelheiten der Gestalt zu erkennen. Er wollte herausbekommen, ob Weib oder Mann. – Er glaubte zu bemerken, daß jenes geheimnisvolle Wesen dort den Kopf mit einem dunklen Schleier mehrfach umwunden hatte. Mehr unterschieden auch seine Augen nicht.
Jetzt beugte die Gestalt sich noch weiter zum Fenster hinaus, ließ dabei die gefalteten Hände herabhängen. Gleich darauf zog sie sich, offenbar ganz tief gebückt bleibend, vom Fenster zurück, dessen Flügel sodann geschlossen wurden.
Nun war nichts mehr zu sehen – nichts.
„Es fehlen nur noch die beiden lauten Schreie,“ meinte Haberland mit gepreßter Stimme. „Sonst war die Szene genau so, wie Piwalla sie mir beschrieben hat.“
Lenk mußte erst seine Gedanken sammeln, ehe er etwas antworten konnte. Die Tatsache, daß in einem der beiden Zimmer, die er heute mittag bezogen hatte, ein Fremder sich unerlaubterweise Zutritt verschafft und dann im offenen Fenster so eigentümliche Gesten vollführt hatte, konnte ihm selbst unter Ausschaltung der Angelegenheit Helgerow nicht gleichgültig sein.
Jetzt erwiderte er flüsternd auf Haberlands Bemerkung:
„Genau so, Wachtmeister? – Doch nicht ganz. Ich habe mir die Einzelheiten Ihrer Schilderung gut gemerkt. Es fehlte heute die Mädchengestalt an dem Fenster im ersten Stock, denke ich.“
„Das schon, Herr Amtsrichter. Aber diese Gestalt war ja da. Haben Sie denn nicht die verschwommenen Umrisse erkannt? Ich ganz deutlich. Es stand ohne Zweifel jemand an diesem ebenfalls geöffneten Fenster, das genau unter dem anderen, oberen liegt. Damals muß dieser Jemand Margarete Helgerow gewesen sein, die ja gleich darauf – Piwalla sagt, es handelte sich nur um Sekunden – erst den einen gellenden Schrei ausstieß, dann vom Fenster forteilte, abermals aufschrie und dann zusammenbrach – an Herzschlag – – hm ja!“
Lenk wurde es heiß, obwohl der Regen den lauen Juliabend merklich abgekühlt hatte.
Er schob den Hut ins Genick, fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn und dachte angestrengt nach. Seine Nerven begannen leicht zu vibrieren. Das feine Prickeln regte seinen Geist an. Die Sache Helgerow schien in der Tat nicht ganz ohne seltsame Begleitumstände zu sein; es war kein Todesfall mehr für den jungen Juristen, nein, – es war eine „Sache“ geworden, ein Ereignis mit vielleicht stark krimineller Seite, eine „Sache Helgerow“. –
„Die beiden Zimmer waren auch damals nicht erleuchtet?“ meinte er nun, eigentlich mehr, um nur etwas zu sagen, denn auch ihm kam keine Eingebung, wie man diese Tatsachen zerlegen könne, um zu einer logisch erscheinenden Deutung zu gelangen. Dann fügte er sofort hinzu, einem neuen Gedanken nachgebend: „Wäre es nicht möglich, daß Margarete Helgerow damals vielleicht durch einen besonders starken Donnerschlag so sehr erschreckt wurde, daß der plötzliche Tod die Folge war?“
„Daran habe auch ich gedacht,“ entgegnete Haberland eifrig. „Gewiß – auch an jenem Abend hatten wir ein Gewitter, aber nur ein ganz schwaches. Ich habe Piwalla gefragt, ob den beiden Angstschreien –“
„Halt. – Waren es Hilferufen?“ warf Lenk schnell ein.
„Nein. Piwalla erklärte: Gellende Aufschreie. – – Also, ob diesen Schreien ein heftiger Donner vorausging. Er sagte, dies sei nicht der Fall gewesen; stark gedonnert habe es damals überhaupt nicht. – Sie sehen, Herr Amtsrichter, so läßt sich die Sache nicht anpacken.“
Erwin Lenks Blicke hingen an den Fenstern des Hauses gegenüber, obwohl es dort nichts mehr zu beobachten gab. Erst nach einer Weile fragte er wieder:
„Und Doktor Heise hat Ihnen ganz bestimmt erklärt, daß eine Person, die an Herzschlag stirbt, nur noch einmal aufschreien kann?“
„Allerdings. Und diese Äußerung deckte sich mit dem, was mir als altem Kriminalbeamten über Todesursachen und Begleiterscheinungen geläufig ist. Ich bin nur zu Heise gegangen, um mir’s von einem Fachmann bestätigen zu lassen. Für meinen ersten Argwohn hatten die beiden Schreie genügt.“
„Wann erzählte der Küster das alles? Sie haben dies zu erwähnen vergessen.“
„Nicht vergessen. Ich wollte es in anderem Zusammenhang vorbringen. Ich habe ja noch verschiedenes andere zu berichten.“
„Ah – wirklich?“ Lenk schaute Haberland überrascht an.
Der lächelte ein wenig. „Meine Kollegen in Berlin nannten mich seiner Zeit im Scherz immer Michael Arabikum. Ich heiße Michael mit Vornamen. Und Arabikum stimmte insofern auch, als ich mit größter Zähigkeit an Sachen klebte, die andere als aussichtslos längst aufgegeben hatten. Wenn ich erst mal auf einen Fall scharf geworden war, ließ ich nicht so leicht locker. Ich hätte es in Berlin wohl auch zu etwas gebracht bei meiner Behörde – aber – da kam die Liebe – und ich so nach Bernburg. Ich habe es nicht bereut, nein, nur – ja, sehen Sie, Herr Amtsrichter, der Magistrat will hier am 1. Oktober einen Leiter für die gesamte Polizei mit dem Titel Kommissar anstellen, und – und – man ist doch ehrgeizig. Wenn ich nun hier diese Geschichte mit den beiden Fenstern und den beiden Schreien aufkläre, dann –“
„Ich verstehe, lieber Haberland. Ich werde Ihnen helfen, Kommissar zu werden.“
„Meinen Dank im voraus, Herr Amtsrichter. – Also – Michael Arabikum hat inzwischen überall recht eifrig herumgeschnüffelt. Zuerst kam wenig dabei heraus. Dann mußte meine Frau mir helfen. Auch in Bernburg gibt’s helle Köpfe. Meine Susi gehört mit dazu. Sie hat sich an die Minna, das Stubenmädchen der Frau Rat Spindel, herangemacht. Minna verkehrt jetzt bei uns. Und nur auf diese Weise erfuhr ich folgendes: Drei Tage vor Margarete Helgerows Tod ist bei der Rätin früh morgens ein Fremder abgestiegen, der angeblich auf der Durchreise erkrankt war. Der junge Mann nannte sich Karl Milwitz und trug sich als „Kaufmann aus Berlin“ in das Fremdenbuch mit sehr zittriger Hand ein. Er hat auch die zwei Tage, die er bei der Frau Spindel blieb, angeblich fest zu Bett gelegen, – in Ihrem jetzigen Schlafzimmer, Herr Amtsrichter. Er hatte damals also dieselben beiden Räume inne, die jetzt die Ihrigen sind. – Ich sagte: angeblich! Minna hat nämlich mit dem Vorrecht aller dienstbaren Geister so etwas dem Herrn Milwitz nachspioniert – Schlüssellochkundschaft! – Da er ihr zwar recht aufgeregt, aber keinesfalls so schwer krank vorkam, daß er hätte liegen müssen. – Und – er hat’s auch nicht getan, ist vielmehr nur ins Bett geschlüpft, wenn sich jemand der Tür zu seinen beiden Zimmern, also der in das Wohnzimmer führenden, näherte. Er hat am Schreibtisch gesessen, viel geschrieben und – nun geben Sie acht, Herr Amtsrichter! Spät abends viel im Fenster gelegen – in demselben Fenster, wo wir beide heute die händeringende Gestalt beobachteten, das heißt im rechten Fenster Ihres Wohnzimmers.“
„Donnerwetter!“ entfuhr es da Lenk. „Weiter, Haberland, weiter – ich merke etwas –!“
„Ja – im Fenster gelegen. Nur am ersten Abend, denn am zweiten reiste er plötzlich gegen halb zehn ab, – einen Tag vor dem – „Herzschlag“ –! – Die Rätin hat es nicht für notwendig erachtet, diesen Durchgangsgast polizeilich zu melden. So wäre er mir entgangen, wenn ich nicht meine Susi auf Minna Löbbecke gehetzt hätte, um näheres über die Helgerows zu hören. – Karl Milwitz also, Kaufmann aus Berlin, – und im Fenster liegend und – jetzt kommt die Hauptsache, und allen Schlüssellöchern sei Dank! – an einem Zwirnsfaden einen Brief oder dergleichen hinablassend –“
„Ah – natürlich zu Helgerows, wo es damals noch zwei hübsche Schwestern gab.“ Lenk war jetzt Feuer und Flamme für die Sache Helgerow.
„Zu Helgerows, – das meine ich auch, – eine Etage tiefer! Besser: „meinte“ ich auch –! Und deshalb schickte ich an meinen Freund und Kollegen Wichmann nach Berlin eine Depesche – wegen Karl Milwitz. Zwei Tage drauf die Antwort: „Hier nicht wohnhaft. Sogar Name nicht vertreten.“ – Zweite Depesche an Wichmann, diesmal chiffriert aus Vorsicht: „Bitte in Potsdam Erkundigungen über Töchter des Rentiers Bernhard Helgerow einziehen, besonders über Beziehungen zu Herren, ferner ob dort Milwitz vorhanden.“ – Die Antwort kam brieflich: „Helgerow seit zwei Jahren in Potsdam ansässig; Tochter Margarete unterhält Beziehungen zu Kaufmann Karl Karstenberg gegen Willen des Vaters. Die heimliche Verlobung soll kurz vor Abreise nach dort von ihrer Seite gelöst worden sein. Grund: Untreue. – Milwitz in Potsdam unbekannt.“ – Dritte Depesche, wieder chiffriert: „Bitte feststellen, ob Karstenberg in der Zeit vom 17. bis 20. Juni d. J. von Potsdam abwesend war. Wenn ja – wo?“ – Antwort: „War abwesend; angeblich in Thüringen, Fußtour vom 16. bis 21. Juni.“ Daraufhin mußte Freund Wichmann mir ein Bild des Karstenberg besorgen. Dieses zeigte ich unter einem Vorwand Minna Löbbecke. Meine Vermutung traf zu: Minna erklärte sehr erstaunt: „Das ist ja der kranke Herr Milwitz!“ – So, Herr Amtsrichter, – mehr habe ich bisher nicht ausrichten können. Hätte Piwalla mir seine Beobachtungen sofort mitgeteilt und nicht erst zwei Tage nach dem Begräbnis des jungen Mädchens, wäre ich vielleicht schon weiter.“
Lenk hatte sich an die Kirchentür gelehnt. Er überdachte nochmals das soeben Gehörten, suchte es einzureihen in das andere, das man dem Küster verdankte.
Haberland wartete eine Weile. Als Lenk schweigsam blieb, fuhr er fort: „Leider hat Piwalla diesem und jenem anvertraut, daß er mir so manches Besondere über den Tod Margarete Helgerows mitgeteilt und daß ich seinem Bericht das größte Interesse entgegengebracht habe. Er ist ein Schwätzer, hat sich nur wichtigtun wollen. So ist es gekommen, daß die Geschichte von den zwei Schreien und der Gestalt oben im Fenster jetzt in Bernburg breitgeklatscht wird, noch dazu mit der Ergänzung, ich vermute hinter diesem Todesfall einen Mord oder Selbstmord. Jedenfalls trifft mich keinerlei Schuld an all dem Gerede. Da tut mir der Herr Amtsgerichtsrat Nord sehr unrecht. Er mag mich überhaupt nicht leiden. Er behauptet, ich sei vorlaut und wolle mich als was Besonderes aufspielen. – Mir liegt im Gegenteil sehr viel daran, daß niemand merkt, was ich vorhabe. Ein Kriminalfall wie dieser verlangt die allergrößte Vorsicht.“
Lenk legte dem Wachtmeister die Hand leicht auf die Schulter.
„Lieber Haberland – Kriminalfall?! – Es handelt sich doch wohl nur um einen Selbstmord –, vielleicht aus enttäuschter Liebe – gelöste Verlobung – Untreue – – Sie verstehen –“
Haberland schüttelte langsam den Kopf. „Ich bin auch diesmal Michael Arabikum, Herr Amtsrichter. – – Doch, jetzt klärt sich der Himmel wieder auf. Wir trennen uns daher besser, damit man uns nicht zusammen sieht –“
Gleich darauf schieden die beiden Männer mit festem Händedruck, nachdem Lenk dem Wachtmeister versprochen hatte, bei Frau Spindel Augen und Ohren offen zu halten. Außerdem hatten sie noch für den zweitnächsten Tag eine Besprechung in Lenks Dienstzimmer verabredet.
Erwin Lenk schloß etwas zögernd seine Zimmertür auf und betrat ebenso zögernd sein Wohnzimmer. Vor kaum zehn Minuten – nein, es konnten höchstens fünf sein – hatte hier noch ein Unbekannter oder eine Unbekannte geweilt und die merkwürdige Szene im offenen Fenster gespielt. Dies war für Lenks leicht erregbare Nerven Grund genug, sich heute an diesem ersten Abend in seinem neuen Heim keineswegs sehr behaglich zu fühlen. Nachdem er auch im Schlafzimmer nebenan das Licht eingeschaltet hatte, schaute er in jeden Schrank, unter den Diwan und das Bett, – sogar in seinen großen Rohrplattenkoffer! Er lächelte selbst über diese Ängstlichkeit, entschuldigte sich aber auch vor sich selbst: „Jeder in meiner Lage hätte es wohl so gemacht. Unter diesen besonderen Umständen ist’s kaum eine Feigheit –!“
Seine Müdigkeit war verflogen. Er entkorkte eine mitgebrachte Flasche Kognak, trank zwei Gläschen, zündete sich eine Zigarre an und setzte sich in einen der Plüschsessel ins Wohnzimmer. Vorhin in Haberlands Gegenwart hatte er diese ganze seltsame Geschichte den einzelnen Ereignissen nach doch nicht genügend logisch sich zurechtlegen können. Das wollte er nun nachholen. –
Die Sache begann mit Karl Milwitz, der eigentlich Karl Karstenberg hieß und hier bei der Spindel ohne Zweifel nur unter einem Vorwand und lediglich zu dem Zweck abgestiegen war, sich heimlich ohne Herrn Helgerows Wissen mit seiner einstigen Braut ins Einvernehmen zu setzen. Am 18. Juni abends war er dann wieder abgereist, und etwa vierundzwanzig Stunden später, am 19. Juni gegen halb elf Uhr abends, hatte das junge Mädchen der Tod ganz plötzlich ereilt, – Herzschlag, wie der Kreisarzt bescheinigt hatte.
Was war nun an diesem Todesfall das merkwürdige? – Am 19. abends hatte es leicht gewittert. Margarete hatte im ersten Stock im dunklen Zimmer am offenen Fenster gestanden. Und genau über ihr im zweiten Stock hatte wieder in dem gleichfalls offenen Fenster eine menschliche Gestalt gelegen und mit Armen und Händen verzweifelte, flehende Bewegungen gemacht. Dann war Margarete plötzlich unten zurückgetreten, hatte gellend aufgeschrien, gleich darauf nochmals, und auf diese Schreie hin war Minna Löbbecke, die gerade im Flur an der Tür des betreffenden Zimmers vorüberging, eilends hineingestürmt, hatte das Licht eingeschaltet und sofort auch die dicht an der Tür bewußtlos daliegende Margarete erblickt. In höchster Bestürzung war das Stubenmädchen nun in das Wohnzimmer der Rätin gelaufen, wo Hilde Helgerow mit Frau Spindel zusammen am Tische bei einer Handarbeit saß. Herr Helgerow selbst hatte sich an jenem Abend ein Bad bestellt gehabt und mußte erst aus der Badestube herbeigerufen werden. Er schickte zum Kreisarzt, der auch unverzüglich erschien, aber nur den bereits eingetretenen Tod feststellen konnte, im Totenschein Herzschlag bescheinigt hatte und dann wieder gegangen war. Schon am nächsten Vormittag war die Leiche nach der Friedhofshalle überführt worden. Das Begräbnis hatte dann, obwohl Helgerow hier fremd, unter großer Beteiligung der Bernburger am dritten Tage stattgefunden.
Das waren nun also kurz die Tatsachen, deren Kenntnis Haberland zum Teil dem Küster Piwalla, zum Teil dem Stubenmädchen und auch seinen eigenen vorsichtigen Nachforschungen verdankte. –
Erwin Lenk schüttelte jetzt recht unzufrieden mit sich selbst den Kopf. Er begriff nicht, wie er sich vorhin unten in der Kirchentür durch die auf Effekthascherei berechnete Schilderung des Wachtmeisters sofort derart hatte in Bann schlagen lassen, daß er ebenfalls hinter all diesen Geschehnissen, die doch im Grunde gar nicht so viel Merkwürdiges enthielten, wie er jetzt erkannt hatte, mehr vermutete als lediglich etwas eigentümliche Begleitumstände eines plötzlichen Todesfalles. Nein – er hatte Haberland gegenüber, den nur der Ehrgeiz hier ein Verbrechen wittern ließ, zurückhaltender sein sollen. Es war ja, jetzt in Ruhe betrachtet, der reinste Unsinn, in Margarete Helgerow das Opfer eines Mordanschlages zu sehen, – denn darauf liefen ja Haberlands überargwöhnische Gedanken letzten Endes hinaus. Gewiß: seltsam war es, daß damals hier genau wie heute eine Gestalt im Fenster gelehnt und die ebenso seltsamen Gesten vollführt hatte. Aber – wie sollte man wohl zwischen dieser Gestalt und dem Tode Margaretes eine einleuchtende Verbindung, einen Zusammenhang herstellen?! Konnte nicht dieser unbekannte Jemand zu Margarete in keinerlei Beziehung stehen, konnte die offenbare Verzweiflung dieser Person nicht ganz anderem gelten als dem jungen Mädchen? Jedenfalls stand ja das eine fest: dieser Jemand war nicht etwa Karl Karstenberg gewesen. Dieser hatte damals das Haus der Rätin bereits wieder verlassen gehabt. Und dann: heute abend war dieselbe Gestalt hier oben abermals sichtbar gewesen –! Also konnte Karstenberg nicht in Frage kommen.
So weit war der junge Amtsrichter bei seinem kritischen Nach–prüfen des Tatbestandes gekommen, als sich ihm mit besonderer Hartnäckigkeit die Frage aufdrängte – und sie lag ja so nahe! –
Wer denn überhaupt diese Person sein mochte, die heute in ein fremdes Zimmer lediglich zu dem Zweck eingedrungen war, um sich am offenen Fenster den Ausbrüchen einer wilden Verzweiflung hinzugeben. –
Wer konnte es nur sein – wer?! Doch nur jemand, der im Hause wohnte –! – Nun – Lenk würde ja sehr bald alle Insassen des Fremdenheims und auch die dienstbaren Geister kennenlernen. Vielleicht ließ sich aus dem Benehmen des Betreffenden herausmerken, daß dieser und kein anderer es sein mußte – vielleicht! – Dann die Verzweiflung dieser Person – aus welchem Grunde in aller Welt suchte sich wohl dieser Jemand ausgerechnet jenes Fenster dort aus, um so wild die Hände zu ringen und sie so flehend zu falten und auszustrecken –?! Warum gerade dieses Fenster –?! Warum nicht anderswo – im stillen Zimmer, unbeobachtet, ungestört, – warum ausgerechnet an einem Orte, der von der Straße aus zu überschauen war –?!
Lenk sagte sich, daß dies Verhalten doch beinahe das eines Geisteskranken sei. Immer von neuem suchte er nach einer Erklärung für dieses widersinnige Benehmen. Er fand keine. Nur eins wurde ihm immer klarer. Wenn diese Person nicht geistesgestört, vielmehr bei gesundem Verstande war, dann hatte diese so offen am Fenster zur Schau gestellte Verzweiflung ganz fraglos einen bestimmten Zweck. –
Doch – welchen? – Dem Spindelschen Hause gegenüber lag die Kirche. Diese hatte rechts und links noch gärtnerische Anlagen, so daß also auch die Vermutung, durch diese verzweifelten Gesten sollte jemand gegenüber gerührt werden, nicht in Betracht kam. Und dann: die Straße war ja heute auch völlig menschenleer gewesen, als die Person hier oben im Fenster lag! – –
Lenk merkte, daß seine Gedanken sich immer im Kreise drehten. Er kam nicht vorwärts; es hatte keinen Zweck, sich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen.
Die Zigarre war aufgeraucht. Er gähnte herzhaft und lächelte etwas ironisch. Der brave Haberland wollte Kommissar werden – Ehrgeiz treibt zuweilen zu recht bedenklichen Schritten – –
Er ging in sein Schlafzimmer und begann sich zu entkleiden. Da, gerade als er seine Uhr aufzog und auf den Nachttisch legte, fiel ihm etwas anderes ein: die beiden Schreie! – Hm – Doktor Heise hatte erklärt, ein einzelner Aufschrei sei bei Herzschlag möglich, aber niemals zwei –
Lenk starrte vor sich hin. Er wurde wieder schwankend. Dann, bereits im Bett liegend, nahm er sich vor, mit Doktor Heise persönlich die Sache zu besprechen. Er wollte zwar alle Gedanken an Margarete Helgerow jetzt ausschalten, doch es gelang ihm nicht. Er blieb noch eine lange Zeit munter, fluchte dem ehrgeizigen Wachtmeister, weil dieser allein an dieser Unruhe schuld war, und – merkte trotzdem, daß er jetzt wieder mehr der Ansicht zuneigte, vielleicht könnte Haberland doch mit seinem Argwohn auf richtiger Fährte sein – – –
Am folgenden Tage lernte der Amtsrichter beim Mittagessen, das auf der nach dem Garten hinausgehenden Veranda eingenommen wurde, die sämtlichen Gäste des Fremdenheims kennen. Dieses war jetzt vollbesetzt, und Frau Spindel blickte zufrieden auf die Tafel mit den neunzehn Personen, eine Zahl, die sie bisher noch nie erreicht hatte.
Lenk, gesellschaftlich sehr gewandt und dabei ein geradezu graziöser Plauderer, verstand es jedem einzelnen der Anwesenden so ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Er war ein guter Menschenkenner, und so hatte er bald heraus, daß die Mitglieder der Tafelrunde bis auf eine einzige Ausnahme recht harmlose Gemüter waren. Die Ausnahme aber bildete Hilde Helgerow.
Die Rätin hatte ihren neuen Mieter den Helgerows gegenüber gesetzt. Helgerow war ein übernervöser Mensch mit bartlosem, faltigem und krankhaft gelbem Gesicht. Er litt offenbar noch sehr unter dem Verlust seines Kindes, war sehr wortkarg, taute aber schließlich doch auf, als Lenk sich die größte Mühe gab, ihm näher zu kommen.
Hilde, die Zwillingsschwester der Verstorbenen, wäre ohne Zweifel als reizvolle Schönheit zu bezeichnen gewesen, wenn sie nicht eine so durchsichtig blasse Gesichtsfarbe und um den Mund einen Ausdruck geradezu trostlosen Grames gehabt hätte. Mit müder, leiser Stimme gab sie Antwort, sobald Lenk an sie das Wort richtete, schaute dabei kaum auf. Sie aß wenig, und selbst das inständige Bitten ihres Vaters, den wirklich sehr schmackhaften Speisen stärker zuzusprechen, beachtete sie kaum. Mehr noch, sie wurde sogar ungehalten, als Helgerow immer wieder in sie drang, und mit einem beinahe bösen Blick ihrer dunklen, großen Augen fertigte sie ihn mit den Worten ab: „So quäle mich doch nicht! Wo soll ich wohl den Appetit herbekommen –!“
Daß Hildes Seele unter schwerem, stetem Druck stand, daß ihr jeder jugendliche Frohsinn fehlte und übergroße Bitterkeit ihr Herz erfüllte, mußte jeder sofort erkennen. Sie gab sich auch nur wenig Mühe, diese ihre innere Zerrissenheit zu verbergen. Die anderen Gäste schienen für sie nicht vorhanden. Es kümmerte sich auch niemand um sie. Daß Lenk sie wiederholt mit in die Unterhaltung zu ziehen suchte, war ihr ohne Zweifel überaus lästig.
Nach Tisch ging Lenk nach oben, holte sich eine Zigarre und ein Buch und gedachte an einem stillen Plätzchen des großen Gartens die warme Sonne dieses strahlend schönen Julitages zu genießen. Er mußte auf dem Rückwege von seinem Zimmer über die Veranda, und traf hier mit Helgerow zusammen, der ihn ansprach und sich nachträglich entschuldigte, weil er gestern früh im Salon der Rätin so unliebenswürdig gewesen.
„Sie müssen wir das nachsehen, Herr Amtsrichter,“ meinte er traurig. „Ich habe Schweres, sehr Schweres durchgemacht. Und – wer weiß, was das Schicksal mir noch an großem Leid zugedacht hat.“
Lenk fand ein paar mitfühlende, warme Worte über Margaretes plötzliches Ende, worauf Helgerow nach tiefem Seufzer leise sagte:
„Ja – ja, – so jung, so jung –! Neunzehn Jahre – und – und – nun bin ich dazu verdammt, wieder in noch größerer Angst um Hildes Leben dahin zu vegetieren – auch sie leidet ja an demselben Herzfehler, der Margarete dahingerafft hat. Zum Glück ahnt sie es nicht. Ich bin ja nur meiner Kinder wegen hierher gekommen – ganz im Vertrauen gesagt. Ich spiele den Kranken, nur damit Hilde nicht argwöhnisch wird, wie vordem weiter.“
Lenk fühlte aufrichtiges Mitleid mit dem schwer geprüften Manne. Er suchte ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen. Doch Helgerow schüttelte müde den Kopf.
„Alles wohl sehr gut gemeint, Herr Amtsrichter. Aber – Sie haben ja selbst heute bei Tisch bemerkt, wie es um mein Kind steht. Die Zwillinge hingen mit zärtlicher Liebe aneinander. Hilde nimmt sich den Verlust Margaretes zu sehr zu Herzen. Sie schwindet förmlich dahin. Und ich – ich darf ihr nicht einmal sagen: „Schone dich, dir droht ja sonst dasselbe Verhängnis!“ Wüßte sie, daß sie krank, daß ihr Herz nicht in Ordnung, – sie würde in ihrer jetzigen Stimmung vielleicht irgend einen voreiligen Schritt begehen. – Ja, ja, Herr Amtsrichter, Gedanken dieser Art hat sie schon geäußert – „Wenn ich nur sterben könnte – ohne Margarete gilt mir das Leben nichts –“ und – all dem stehe ich machtlos gegenüber –“ Wieder seufzte er qualvoll auf und ging dann mit kurzem Gruß langsam, tiefgebeugt davon.
Lenk, noch ganz erfüllt von der Tragik, die das Leben dieses Vaters verdüsterte, schlug einen Seitenweg ein, der auf eine auf einem kleinen Hügel stehende Laube zulief. Um ein Fliedergebüsch herumbiegend, sah er sich ganz unverwandt Hilde Helgerow gegenüber, die hier in einem Liegestuhl saß und las.
Hilde hatte müde den Blick gehoben, als Lenk vor ihr aufgetaucht war. Dieser erwartete eigentlich, daß sie von ihm keine Notiz nehmen würde. Er hatte sich getäuscht. Sie ließ die großen Augen voll auf ihm ruhen, sagte dann, ihr Buch zuklappend: „Wollen Sie mir Gesellschaft leisten, Herr Amtsrichter? – Bitte, dort steht noch ein zweiter Liegestuhl.“
Alles andere hatte Lenk erwartet, nur nicht diese Anrede, die in so schroffem Widerspruch zu dem Benehmen Hildes bei Tisch stand. Einen Moment war er auch geradezu aus der Fassung gebracht, beeilte sich dann aber, den freien Liegestuhl neben den des jungen Mädchens zu ziehen, indem er sagte: „Mit tausend Freuden, gnädiges Fräulein. Ich bin hier ja Neuling, ganz fremd. Desto angenehmer berührt es mich, wenn Sie in mir den Hausgenossen sehen und mir gestatten, Sie etwas zu zerstreuen.“
Er setzte sich. Die Unterhaltung blieb zunächst gezwungen. Lenk hatte sehr bald das Empfinden, daß Hilde in ganz besonderer Absicht ihn angesprochen habe. Sie begann denn auch ziemlich unvermittelt nach einer Weile über die Tote zu reden, und meinte darauf wieder nach einigen Minuten recht zögernd und unsicher:
„Sie erwähnten bei Tisch, Herr Amtsrichter, daß Sie zuletzt in Berlin einen Untersuchungsrichter vertreten hätten. Müssen Sie eigentlich als Jurist für diesen Posten ganz besondere Vorkenntnisse besitzen?“
Lenk wurde aufmerksam. Er ahnte, daß er jetzt vielleicht herausbekommen würde, weshalb Hilde ihn vorhin in so zwangloser Art neben sich gebeten hatte.
„Vorkenntnisse? – Das wohl nicht. Nur gehört zum Untersuchungsrichter eine besondere Begabung, kann man sagen, ähnlich der, die die Kriminalbeamten besitzen müssen.“
„Ah – das dachte ich mir.“ Sie wurde merklich lebhafter. „Begabung – sehr einleuchtend! Nicht jeder dürfte sich dazu eignen. Jeder Untersuchungsrichter wird doch wohl auch von Medizin so einiges verstehen müssen, nicht wahr?“
„Die gerichtliche Medizin ist ein Spezialfach. Jeder junge Student der Jurisprudenz muß ein Kolleg darüber hören.“
„Das muß sehr interessant sein –“ Sie blickte unschlüssig vor sich hin, sagte dann schnell, als wolle sie nicht, daß die Worte sie wieder gereuten:
„Margarete hat vor dem Herzschlag zweimal laut aufgeschrien. Das Stubenmädchen Minna hörte dies ganz deutlich. – Ob meine Schwester sich vielleicht erschreckt hat und aus Schreck gestorben ist?“
Lenk saß regungslos da, die Augen auf das blasse, holde Gesichtchen Hilde Helgerows gerichtet. Ganz regungslos. Ihn beherrschte nur ein Gedanke: Sollte etwa Hilde den Argwohn Haberlands teilen, sollte auch sie nicht an eine natürliche Todesursache glauben?
Eine Weile Schweigen. Dann fragte er: „Wie kommen Sie auf diese Vermutung, gnädiges Fräulein?“
Sie beugte sich etwas vor, sprach jetzt leise.
„Auch meine Mutter ist an Herzschlag gestorben. Ich war damals im Zimmer nebenan. Auch sie schrie furchtbar auf, – auch zweimal. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Erst nach Minuten lief ich zu ihr. Sie war in einen Sessel gesunken. Noch nie habe ich ein menschliches Gesicht gesehen, das vor Schreck so entstellt war wie das ihre. Sie lebte nur noch Sekunden –“
Hildes Stimme war klanglos und mehr wie ein Hauch. Und ihre Augen blickten an Lenk vorüber ins Leere, als ob sie als Vision jene Sterbeszene nochmals vor sich sehe.
Lenk beobachtete sie voller Interesse. Immer deutlicher wurde es ihm, daß das junge Mädchen genau wie Haberland diesen Todesfall nicht für harmlos halte. Sie wagte nur nicht, diesen Verdacht dem ihr so wenig bekannten Herrn gegenüber unumwunden einzugestehen. Lenk suchte ihr daher dieses Eingeständnis irgendwie zu entlocken. Er hoffte am ehesten ans Ziel zu gelangen, wenn er selbst zugab, daß die beiden Schreie bei Herzschlag recht ungewöhnlich seien. Als er dies nun geäußert hatte, entfuhr Hildes Lippen ein halb befriedigtes: „Ah – also doch!“ Dann errötete sie, wurde sehr verlegen und murmelte: „Die Frau Sanitätsrat besitzt noch von ihrem verstorbenen Gatten ein Werk über Herzkrankheiten. Ich habe es gelesen –“
Lenk wollte volle Klarheit haben. „Gnädiges Fräulein,“ sagte er vertraulich, „nehmen Sie an, Sie säßen mir hier als Beamten, als Untersuchungsrichter gegenüber. – Hegen Sie den Argwohn, daß Ihrer Schwester Tod nicht auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist?“
Ihre Augen wurden ganz weit. Ihre Lippen preßten sich einen Moment fest zusammen wie unter einem körperlichen Schmerz. Dann holte sie tief Atem und – nickte, nickte mehrmals – und nun schaute sie Lenk in einer Weise an, als wolle sie feststellen, welch einen Eindruck diese stumme Bejahung seiner Frage auf ihn gemacht habe. Vielleicht hatte sie erwartet, daß er sehr überrascht sein würde oder aber daß seine Mienen den Ausdruck ungläubiger Ablehnung dieses ihres Verdachts zeigen könnten. Als sie nichts von alledem bemerkte, vielmehr nur nachdenklichen Ernst und äußerste Gespanntheit in seinem Gesicht wahrnahm, richtete sie sich langsam ganz zu sitzender Stellung auf und sagte nach einem scheuen, vorsichtigen Blick ringsum:
„Sie scheinen nicht im geringsten erstaunt darüber zu sein, daß ich als junges Mädchen, dem doch derlei Dinge ganz fern liegen, einen solchen Argwohn geschöpft habe.“ Eine kurze Pause, in der sie sichtlich mit sich kämpfte, ob sie zu Lenk ganz offen sein sollte. Dann hastiger, zielbewußter: „Herr Amtsrichter, ich habe hier niemand – niemand, dem ich mich anvertrauen kann. Ich ertrage es nicht länger, diese Gedanken nur für mich allein stets aufs neue zu verarbeiten. Es ist eine qualvolle, aufreibende Geistesarbeit. Sie drängt sich mir fast gegen meinen Willen auf. Ich – ich fürchte bereits oft für meinen Verstand, wenn ich nachts wach daliege und mir das Hirn zermartere, wenn ich gleichsam in einem Labyrinth umherwandle, halb verzweifelt, und doch immer weiter nach dem Ausweg suche, obwohl ich überzeugt bin, daß ich ihn nicht finden kann. Wie eine fixe Idee verfolgt mich dieser Verdacht, schwebt dauernd wie ein greifbarer Schemen vor mir her. – Oh, ich bitte Sie, ich flehe Sie an: Helfen Sie mir! Ich muß mir Gewißheit verschaffen – ich muß! Sie können es – nur Sie! Sie sind ja Beamter, verfügen über die Kenntnisse, die nötig sind, so traurige Geschehnisse aufzuklären.“
Je länger sie sprach, desto bleicher wurde sie, desto größer wurden ihre Augen, die jetzt einen Ausdruck quälendster Herzensangst hatten.
Erwin Lenk dachte an Michael Haberland. Auch der hatte ihn gebeten, ihm beizustehen bei der Nachprüfung des Falles Helgerow. Das war gestern abend gewesen. Und heute – heute stellte die Schwester der Toten dasselbe Ansinnen an ihn, nur aus anderen Beweggründen. Bei Haberland war Ehrgeiz die Triebfeder, hier doch wohl lediglich das verwandtschaftliche Gefühl.
Als Hilde kaum das letzte Wort ausgesprochen hatte, streckte Lenk ihr auch schon die Hand hin und sagte mit warmer Freundlichkeit: „Ich werde Ihnen helfen, gnädiges Fräulein. Nur müssen Sie mir dann auch gestatten, verschiedene Fragen an Sie zu richten.“
„Bitte – ich werde rückhaltlos offen sein.“ Sie sagte es freudig und offenbar seelisch sehr erleichtert, einen Menschen gefunden zu haben, vor dem sie alle Scheu ablegen konnte. Lenk war für Hilde eben nur der Beamte, – den Menschen schaltete sie vorläufig ganz aus.
Und Lenk fragte. Er sprach das, was er wissen wollte, zusammenhängend in mehreren Sätzen aus, ohne dabei Haberland oder die Tatsache, daß er selbst sich bereits mit dieser Sache beschäftigt habe, zu erwähnen.
„Mein Verdacht gründet sich lediglich auf die beiden Schreie,“ begann Hilde ohne Zaudern mit ihrer Antwort. „Margarete ist stets kerngesund gewesen, genau wie ich. Seit fünf Jahren haben wir allerlei Sport getrieben; wir waren abgehärtet, kräftig und lebensfroh. Woher also unter diesen Umständen ein Herzschlag? Nein, nein, – ich kann nicht daran glauben! – Dann – ob ich Verdacht gegen eine bestimmte Person hege? – Nein – Verdacht nicht, aber – es kann meines Erachtens nur ein einziger Mensch in Frage kommen, falls eben an meiner Schwester ein Verbrechen verübt ist.“
„Karstenberg?“ meinte Lenk leise.
Sie zuckte so stark zusammen, daß es schien, als müßte ein Nervenanfall folgen. – Da sprach Lenk schon weiter.
„Sie sind bestürzt, weil ich diesen Namen kenne. – Offenheit gegen Offenheit. – Wissen Sie etwas von dem Gerede, das hier in der Stadt von Mund zu Mund geht?“
Als sie den Kopf schüttelte, begann Lenk ihr nun alles zu erzählen, was er gestern über den Fall Helgerow von dem Wachtmeister erfahren hatte.
Hilde starrte ihn an, als sehe sie einen Geist.
„Oh – wer hätte das gedacht,“ entfuhr es ihr dann. „Also auch andere argwöhnen dasselben wie ich. Und – die Gestalt oben im Fenster, – von der wußte ich ja bisher nichts –“ Sie versank in Nachdenken, hielt den Kopf gesenkt. Ihre Finger schlangen sich in ihrem Schoß in nervösem Spiel ineinander. Dann kam es leise über ihre Lippen:
„Ja – Karstenberg würde ich es vielleicht zutrauen, hier die Hand im Spiele gehabt zu haben. Margarete lernte ihn im vorigen Herbst zufällig kennen. Er gehört nun zu jenen Männern, die durch ein hübsches Gesicht und Frechheit auf Frauen wirken. Meine Schwester war bereits nach vierzehn Tagen so leidenschaftlich in ihn verliebt, daß sich bei ihr eine fast krankhafte Eifersucht auf all und jeden einstellte – auch auf mich. Wir Zwillinge bildeten nun von Jugend an eine Ausnahme von der Regel, daß Zwillinge mehr als andere Geschwister aneinander hängen. Margaretes leichte Reizbarkeit, ihr übertemperamentvolles Aufbrausen bei der geringsten Kleinigkeit und eine etwas zu stark bei ihr entwickelte Selbstvergötterung brachten zwischen uns mit den Jahren eine Entfremdung zustande, die sie wohl kaum empfunden, die mich aber stets sehr traurig gestimmt hat. Diese Entfremdung wurde noch stärker, als Karstenberg sich um sie zu bemühen begann. Sie machte mir Vorwürfe, ich dränge mich zu sehr vor, um dieses – mir in Wahrheit recht unsympathischen – Menschen Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Kurz: hatte es schon vordem keine übergroße Herzlichkeit zwischen uns gegeben, so war unser gegenseitiges Verhältnis nunmehr geradezu ein eisig kühles. Dann aber in diesem Frühjahr änderte sich das ein wenig, als Margarete mir eines Tages in größter Erregung mitteilte, sie habe die heimliche Verlobung, von der ich bisher nichts wußte, gelöst, weil sie festgestellt habe, daß Karstenberg sie betrüge. Diese Beichte erstattete sie nun so laut und so ganz sinnlos vor Empörung, daß unser Vater durch Margaretes wildes Weinen herbeigelockt wurde. Da erfuhren wir dann, daß er von den Beziehungen Margaretes zu Karstenberg sehr gut unterrichtet war, daß er diesen sogar aufgesucht und ihm erklärt hatte, er würde nie seine Einwilligung zu einer Heirat geben. – Ich will nicht zu ausführlich werden. Herr Amtsrichter – Sie wissen ja auch, was dann geschah. Wir reisten hierher, Karstenberg kam uns nach, um sich mit Margarete auszusöhnen, fand aber kein Gehör bei meiner Schwester und versuchte, ihr eine schriftliche Rechtfertigung halb und halb aufzuzwingen, indem er hier bei der Rätin abstieg und einen Brief an einem Faden zum Fenster unseres gemeinsamen Schlafzimmers hinabließ. Vielleicht hoffte er, die romantische Art dieser Briefzustellung würde auf Margarete wirken. Er täuschte sich. Wir bemerkten den Brief, nahmen ihn aber nicht an. Vielmehr lehnte sich Margarete zum Fenster hinaus und sagte recht laut, sie würde doch mal den Papa auf den Obermieter aufmerksam machen. Und vor unserem Vater hatte Karstenberg jetzt geradezu Angst, nachdem er beinahe mit dessen Nilpferdpeitsche Bekanntschaft gemacht hatte. Karstenberg verschwand dann wieder von hier – ohne jeden Erfolg also.“
Lenk hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt. Er sagte jetzt, zweifelnd den Kopf wiegend: „Gnädiges Fräulein, Sie haben ja so oft schon über die Möglichkeit eines hier vorliegenden Verbrechens nachgedacht. Wie stellen Sie sich denn dessen Ausführung vor? Wie soll Karstenberg, selbst wenn er es war, der an jenem Abend im oberen Fenster lag, so auf Ihre Schwester eingewirkt haben, daß –“
Eine erregte Handbewegung Hildes ließ ihn schweigen.
„Wie ich es mir vorstelle, dieses Verbrechen?“ rief sie mit leicht bebender Stimme. „Halten Sie mich meinetwegen für eine Phantastin, Herr Amtsrichter. Wäre es nicht möglich, daß Margarete durch Gift den Tod fand? Könnte man nicht von oben meine Schwester mit einer vergifteten Waffe verletzt haben, als sie zum Fenster hinausblickte?“
Lenk überlegte. So ganz von der Hand zu weisen war das, was Hilde soeben vorgebracht hatte, durchaus nicht. Dann fiel ihm, als er ihre bisherigen Angaben nochmals prüfend überschaute, die Frage wieder ein, die er an sie hatte richten wollen.
„Gnädiges Fräulein, aus welchem Grunde teilen Sie eigentlich nicht Ihrem Herrn Vater Ihren Verdacht mit? Er steht Ihnen doch am nächsten –“
Die Erwiderung hierauf war eine neue Überraschung für Lenk.
„Zunächst ist er nur mein Stiefvater. Mein rechter Vater und er sind Brüder. Und dann: Er würde an meinem Verstande zweifeln, würde ich ihm von diesem Argwohn erzählen. Nein – für eine solche Vermutung, die bei mir ja mehr eine innere Eingebung ist, hat er kein Verständnis, auch – kein Interesse.“
„Tun Sie ihm da nicht Unrecht,“ meinte Lenk eifrig. „Ich habe vorhin mit ihm gesprochen. Er ist so völlig gebrochen infolge des Todes Ihrer Schwester, daß er –“
Wieder eine schnelle, abweisende Handbewegung, dazu ein rätselvolles, bitteres Lächeln.
„Mag sein, Herr Amtsrichter. – Wir wollen jedenfalls meinen Stiefvater ganz außer Betracht lassen.“ Hilde sagte es in scharfem, fast feindseligem Ton. Und Lenk merkte, daß hier etwas nicht in Ordnung war – irgend etwas. Ganz plötzlich erinnerte er sich nun auch an das, was Helgerow über die Kränklichkeit seiner Töchter gesagt hatte. Und seine nächste Frage bezog sich denn auch hierauf.
„Sie haben Sport getrieben, gnädiges Fräulein? Hat der Arzt es Ihnen denn gestattet – Ihnen und Ihrer Schwester?“
„Der Arzt? Welcher?! – Seit unserem zehnten Lebensjahr, als wir Scharlach hatten, haben Margarete und ich nie einen Arzt gebraucht – nie!“
Lenk schaute sie ungläubig an.
„Wie kommen Sie zu dieser Frage?“
Lenk zögerte unschlüssig. „Sind Sie beide denn nie auf innere Krankheiten untersucht worden,“ meinte er dann.
„Mein Gott – was soll das, Herr Amtsrichter? Ich begreife Sie nicht. Weshalb fragen Sie dies alles?! – Nein – nein, weder Margarete noch ich haben seit neun Jahren einem Arzte Gelegenheit gegeben, an uns etwas zu verdienen.“
Lenk fuhr sich plötzlich mit der Hand über die Stirn.
„Woran denken Sie jetzt, Herr Amtsrichter,“ forschte Hilde.
Er blickte auf und begann dann leise auf sie einzureden. Sie war zuerst wie versteinert. Dann aber rief sie hastig, ihm ins Wort fallend:
„Er hat Sie belogen. Es ist nicht wahr, daß Margarete und ich uns übermäßig geliebt haben. Er weiß es sehr wohl. Und – wir herzkrank –? Woher will er das wissen?! Woher?! – Hätten wir wohl so eifrig Tennis spielen dürfen und rudern, wenn – oh – ich verstehe all das nicht! Aus welchem Grunde nur hat er Ihnen dieses weisgemacht – –?“
„Ja, ja – Liebespost!“ Michael Haberland reckte die Worte über Gebühr.
Amtsrichter Lenk, der vor seinem breiten, hell gestrichenen Arbeitstisch zwischen Bündeln von Akten saß, schaute ihn prüfend an.
„Haberland, – schien es mir nur so, oder steckt wirklich etwas dahinter. Sie haben soeben dieses „Liebespost“ so merkwürdig betont –“
Der dürre Wachtmeister mit dem ausgesprochenen Schauspielerkopf rückte auf seinem Stuhl nervös hin und her. Die Mittagssonne fiel durch einen breiten Spalt in den Vorhängen in das strenge Dienstzimmer wie die Strahlenbahn eines Scheinwerfers hinein und traf gerade des ehrgeizigen Haberlands von vielen Falten durchfurchtes Gesicht.
„Hm ja – betont,“ meinte er nun, seinen Stuhl vorwärtsrückend, um in den Schatten zu kommen. „Gewiß habe ich das getan. Hm ja –“ Er wollte nicht recht mit der Sprache heraus. „Jedenfalls hat doch der Karstenberg versucht, sich mit Margarete auf eine recht eigentümliche Art wieder ins Einvernehmen zu setzen. Der Gedanke, ein Zimmer über dem der Angebeteten zu mieten und ihr ein Schreiben an einem Bindfaden hinabzulassen, ist gewiß nicht ganz alltäglich, zumal er dabei recht viel Verstellungskunst – seine Krankheit – entwickeln mußte. – Liebespost. Es trifft zu, selbst wenn man berücksichtigt, daß es sich nicht mehr um ein Liebespaar streng genommen handelte –“
Lenk wurde ungeduldig. „Lieber Haberland, ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie um den Kern der Sache herumreden. Ich bin Ihnen gegenüber vorhin ganz offen gewesen, habe Ihnen keine Einzelheit jener Unterredung verschwiegen, die ich vorgestern mit Hilde Helgerow gehabt habe und die in mir das unbestimmte Empfinden zurückließ, daß der Schwiegervater der Zwillinge ein Mensch sei, den man sehr mit Vorsicht genießen müsse. Offenheit gegen Offenheit, Haberland. Was geht hinter Ihrer Denkerstirn vor, welche besonderen Vermutungen kreisen dort? – Reden Sie, Mann! Also – was meinten Sie noch weiter, als Sie die „Liebespost“ so hervorhoben?“
Der Wachtmeister senkte den Kopf und schien seine Schnürstiefel zu bewundern. Dann sagte er zögernd:
„Die Unterredung ließ bei Ihnen ohne Zweifel das richtige Empfinden zurück, Herr Amtsrichter. Ich habe heute von Freund Wichmann aus Berlin Antwort auf den längeren Brief erhalten. Diese Antwort enthielt auch Angaben über Helgerow, die zum Teil meine hiesigen Beobachtungen bestätigten. Helgerow ist vor zwei Jahren aus Brasilien zurückgekehrt, nachdem er dort lediglich infolge seiner Spielleidenschaft seine wertvolle Plantage völlig heruntergewirtschaftet hatte. Er ließ sich in Potsdam nieder, fuhr viel nach Berlin, wo er in Spielerkreisen zweiter Güte unter dem Namen „Treff-Sieben“ bekannt und berüchtigt ist. Weshalb man ihn gerade „Treff-Sieben“ nennt, entzieht sich meiner Kenntnis. Hier im soliden, spießbürgerlichen Bernburg hat er es in kurzem verstanden, Anschluß an die wenigen „besseren Herren“ zu finden, die wie er das Hasard mehr als der Seele Seligkeit lieben. Kurz: er jeut auch hier! Seine schmerzgefüllte Würde ist also Maske. Er ist ein leichtsinniger, dazu noch verlogener Mensch. Für die letztere Charakterschwäche haben Sie ja selbst genügend Beweise erhalten, Herr Amtsrichter. Er hat Ihnen verschiedene Bären aufgebunden: Krankheit der Töchter, übergroße Liebe der Zwillinge zueinander und seinen Schmerz über Margaretes Tod!“
Haberland machte eine Pause, fuhr dann leiser, aber mit gewissem Nachdruck fort: „Sie werden sich selbst sagen, Herr Amtsrichter, daß Helgerow nicht etwa aus reiner Lust am Lügen Ihnen dies alles aufgetischt hat. Lügner aus Leidenschaft oder Gewohnheit suchen sich andere Gegenstände für ihre Münchhausiaden aus. Nein – der Mann hatte einen bestimmten Zweck im Auge, als er Sie so zum besten hielt. – Zweck. Welchen nun?“ Abermals eine Pause.
„Ja – welchen,“ meinte Lenk gespannt.
„Nun – was die Herzkrankheit der Zwillinge anbetrifft, so – so kann man vielleicht behaupten, er habe es Ihnen so recht nachdrücklich zeigen wollen, daß Margaretes plötzliches Ende eine sehr natürliche Ursache – eben die Krankheit – gehabt habe. – Dann die große Liebe der Schwestern füreinander. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich behaupte, er wollte Ihnen Hildes elendes Aussehen durch diese Liebe erklären und bei Ihnen den Gedanken gar nicht aufkommen lassen, ihr schlechtes Aussehen könnte andere Ursachen haben. Wenn Sie dieser meiner Ansicht beipflichten, werden Sie mir auch darin recht geben, daß sich aus dieser Unwahrheit Nummer zwei zwanglos der Schluß ziehen läßt, er ahne, weshalb Hilde so krankhaft blaß und eben so widerspruchsvoller Stimmung ist, – eben weil sie unausgesetzt über den Tod der Schwester nachgrübelt, was sie ihm vielleicht doch nicht vollständig hat verheimlichen können. – Lüge Nummer drei: Seine Trauer über den Verlust der Stieftochter. – Ich denke, wir können auch hier recht gut von einer bewußten Unwahrheit sprechen. Hilde hat Ihnen gegenüber genügend angedeutet, daß es mit seiner väterlichen Fürsorge nicht weit her ist, mehr noch, sie hat geradezu erklärt, er habe kaum ein Interesse daran, die wahre Todesursache festzustellen.“
„Na – ganz so drückte Hilde sich nicht aus,“ warf der junge Amtsrichter schnell ein. „Aber – halb und halb kam’s darauf hinaus.“ Er wollte noch mehr hinzufügen. Doch Haberland begann schon wieder:
„Das Bild, das wir bisher von diesem Herrn gewonnen haben, ist mithin kein sehr günstiges – mit Recht. Es ist sogar noch schlechter als der Eindruck, den Sie durch jene Aussprache gewonnen hatten. Wenn man mir schrieb, die beiden Töchter seien sehr vermögend – im Gegensatz zu Helgerow selbst, der den von seiner zweiten Frau ererbten Pflichtteil längst verjeut – dann – dann –“
Erwin Lenk sprang auf, streckte die Arme wie abwehrend gegen den Wachtmeister aus, rief:
„Wirklich – Sie denken, daß –“ Er zwang sich zur Ruhe, schüttelte den Kopf, ließ sich in den Schreibsessel zurückfallen und sagte wie zu sich selbst:
„Ruhe, Erwin Lenk, Ruhe! Der Haberland wird schon wissen, was er redet, wird nicht leichtfertig solchen Verdacht andeuten –“ Dann zu Michael „Arabikum“ gewendet: „Was Sie bisher an Belastungsmaterial bereit haben, bester Wachtmeister, genügt zu einem Argwohn. Ich betone: Argwohn! Mehr nicht! – Ich gebe zu, daß er begründet ist. Setzen wir uns näher darüber auseinander.“
Haberland lächelte pfiffig. Und daraufhin schwieg der Amtsrichter. Der Wachtmeister aber fragte:
„Argwohn? Nur Argwohn? Ist das nicht zu schwach ausgedrückt? Ist Ihnen denn nicht bei der Aussprache mit Hilde Helgerow noch etwas Besonderes aufgefallen?“
Lenk dachte nach. „Ich wüßte nicht –“
„Und der Tod der zweiten Frau, der Mutter der Zwillinge? Die beiden Schreie, die auch diese angeblich an Herzschlag Verschiedene ausgestoßen hat?“
Der Amtsrichter saß ganz regungslos. Dann schlug er sich leicht mit der Hand gegen die Stirn.
„In der Tat, Haberland, – ein merkwürdiger Zufall, daß auch diese Frau –“ Er hatte sich beim Sprechen weit über den Tisch gebeugt. Und der Wachtmeister auf der anderen Seite tat dasselbe, setzte jetzt Lenks begonnenen Satz fort: „– daß diese Frau starb, als Helgerow das Messer an der Kehle saß, daß auch sie in einem kleinen Badeort vor anderthalb Jahren verschied und zwar unter ähnlichen Umständen wie hier jetzt Margarete, daß auch damals zum Beispiel der „Sauberkeitsfanatiker“ Helgerow in der Badewanne saß, als seine Gattin der Tod ereilte –“ Haberland verzog sein Gesicht jetzt beinahe zur Fratze, aus deren halb entstellten Zügen drohender Hohn hervorleuchtete.
„Er saß also nicht in der Wanne,“ fragte Lenk schnell.
Der Wachtmeister nickte. „Nein – oder doch sehr sehr wahrscheinlich nicht! Die Löbbecke hat meiner Frau gelegentlich erzählt, der Herr Helgerow sei doch ein „komischer“ Mann. So und so oft bestelle er sich ein warmes Bad, schließe sich dann auch in die im zweiten Stock gelegene Badestube ein, benutzte aber die Wanne gar nicht, da die Matte davor stets ganz trocken sei. Er lasse also das Wasser ablaufen, ohne überhaupt hineinzusteigen. Ihr sei das nicht entgangen, weil das doch schon mehrere Male passiert sei und im Sommer doch alle Leute auch im nahen Kapellensee baden – so weit die Löbbecke.“
Lenk war aufgestanden und begann hastig auf und ab zu gehen. Dann blieb er dicht vor Haberland stehen.
„Wachtmeister, – er hat das Bad als Alibibeweis gebraucht, nicht wahr,“ meinte er flüsternd. Er war erregt. Die Sache Helgerow hatte heute ein ganz anderes Aussehen angenommen. Der Untersuchungsrichter war in ihm lebendig geworden.
Haberland blickte zu ihm auf, sagte ernst: „Ja – Alibibeweis, natürlich! Und die Badestube im Spindelschen Hause liegt Ihren Räumen gegenüber. Er konnte also ganz unbemerkt zu Ihnen hinein.“
Erwin Lenk schlug Haberland auf die Schulter.
„Wachtmeister, von jetzt an sprechen Sie mit dem Amtsrichter Lenk, der hier die Strafsachen bearbeitet. Die Geschichte hat ein streng dienstliches Aussehen angenommen. Ich bitte um knappe Antworten. – Sie halten Karstenberg jetzt für harmlos und glauben, daß Helgerow seine zweite Frau und seine Stieftochter beseitigt hat?“
„Ja.“
„Und auf welche Weise?“
„Durch ein sehr schnell, nein, durch ein ganz plötzlich wirkendes Gift.“
„Wie hat er es ihnen beigebracht?“
„Das weiß ich bis jetzt nicht bestimmt, vermute es vielmehr nur.“
„Und diese Vermutung?“
„Möchte ich für das erste für mich behalten. Sie kann falsch sein. Ich will mich nicht blamieren – zum Schluß.“
Lenk griff das letzte Wort auf.
„Zum Schluß? Was heißt das?“
„Nichts anderes, als daß ich hoffe, Helgerow sehr bald zu überführen.“
„Ah so! – Trotzdem bitte ich, daß Sie sich über diese Vermutung äußern.“
„Ich tue es ungern. Aber wenn es befohlen wird –“ und Haberland äußerte sich sehr eingehend wie und wann ihm dieser Gedanke gekommen sei.
Lenk hatte sich an die Barriere gelehnt, die sein Dienstzimmer der Länge nach teilte. Wortlos hörte er zu, bewegte nur selten den Kopf, – bald bejahend, bald verneinend, bei wieder zweifelnd.
Ganz zuletzt sagte Haberland: „Sie sehen also, Herr Amtsrichter, die Liebespost spielt ihre große Rolle dabei. Erst dadurch kam mir der Gedanke –“
Lenk blieb eine Weile stumm. Dann murmelte er halblaut: „Zu phantastisch, was ich da eben hörte. Und doch –“
„Ja – und doch die einzige Erklärung, die zu all den sonderbaren Tatsachen paßt.“
„Zugegeben. – Dann würde es ja am einfachsten sein, bei Helgerow eine Haussuchung vorzunehmen. Er muß das Nötige ja wohl in seinem Zimmer verborgen haben.“ Lenk schüttelte plötzlich ärgerlich den Kopf. „Nein – nein, – das alles ist ja unmöglich. Derartiges kommt im Leben nicht vor, nur in Romanen –“
„Wir müssen abwarten, Herr Amtsrichter. Die Kirchentür ist ja kein allzu zugiger Standort –“
„Sie wollen also die Fenster beobachten?“
„Gewiß. Jeden Abend jetzt.“
Es war nach dem Abendbrot. Lenk hatte nach Tisch eigentlich sofort zu Haberland gehen wollen, da er ihm etwas Neues mitzuteilen hatte.
Zwei Tage waren inzwischen wieder seit jener Rücksprache verflossen, die Lenk mit dem Wachtmeister in seinem Dienstzimmer gehabt hatte. In diesen zwei Tagen war nichts geschehen, was den Fall Helgerow nach dieser oder jener Richtung hin klären konnte. Der Amtsrichter hatte nach reiflicher Überlegung davon Abstand genommen, die Angelegenheit schnell und kurz durch einen Gewaltstreich zu erledigen. Als solcher kam eben eine Haussuchung in Betracht. So einleuchtend die Schlußfolgerungen des Wachtmeisters auch gewesen waren, – Lenk war es jetzt wieder wie schon vordem ergangen: Als er allein war und Haberlands halb suggestive Beredsamkeit nicht mehr voll nachwirkte, hatte er sich gesagt, die fein ausgeklügelten Ideen des Anwärters für das Bernburger Polizeikommissariat könnten nicht zutreffend sein, eben weil sie zu romantisch wären. Nur deshalb auch hatte Lenk für sich selbst die Parole ausgegeben: Abwarten!
Dies wurde ihm nicht leicht gemacht – durch Hilde. Er war sehr häufig mit ihr zusammen gewesen, zum offenbaren Mißvergnügen Helgerows, der stets recht gereizter Stimmung war.
Hilde hatte Lenk jeden Tag gefragt, was er denn nun in der bewußten Angelegenheit zu unternehmen gedenke. Er hatte dasselbe erwidert: „Oh – die Sache ist in Fluß! Im übrigen – Dienstgeheimnis.“
Aber selbst das Dienstgeheimnis hatte nichts genützt. Am nächsten Tage fragte Hilde abermals.
Und heute abend nun vor Tisch hatte sie auf Lenks stets gleichlautende Erwiderung hin mit einem trüben Lächeln gesagt: „Sie wollen mir nicht verraten, was für Schritte Sie eingeleitet haben. Ich weiß nicht, ob sie zweckdienlich sind. Da werde ich also doch wohl in meinem eigenen Interesse etwas unternehmen müssen.“
Und als Lenk hierauf erstaunt gefragt hatte:
„In Ihrem eigenen Interesse? Was meinen Sie damit?“ hatte sie gesagt:
„Oh, – besser – zu meiner eigenen Sicherheit, – das trifft mehr zu.“
„Ja – fühlen Sie sich denn irgendwie bedroht?“ entfuhr es ihm ganz fassungslos und ungläubig.
Worauf dann nur ein Kopfnicken folgte. Da schlug das Gong als Zeichen zur gemeinsamen Abendtafel an.
Und nach Beendigung der Tafel war Helgerow zu Lenk herangetreten und hatte gefragt, ob man nicht gemeinsam an den Stammtisch in das Hotel zum Adler gehen wolle. „Ich brauche Zerstreuung,“ hatte er dazu wie entschuldigend geäußert. „Ich kann doch nicht ebenso trübsinnig werden wie Hilde. Ich brauche meine geistige Spannkraft noch, muß bald wieder etwas beginnen, irgend ein Unternehmen anfangen – großzügig, gewinnbringend. In meinen Jahren ist man noch zu jung zum Rentier.“
Aus der weiteren Unterhaltung hatte der mißtrauische Amtsrichter dann den Eindruck gewonnen, daß es Helgerow mit seiner ersten Aufforderung hinsichtlich des Stammtisches gar nicht ernst gewesen sei, jener vielmehr nur habe heraushören wollen, ob Lenk daheim bleiben oder wie lange er heute von Hause fern sein würde.
Da hatte Lenk dann absichtlich nach Ablehnung der Aufforderung besonders betont, er müsse heute noch in seinem Dienstzimmer eine Menge Akten abarbeiten und komme vor Mitternacht kaum heim.
So geschah es, daß er den Gang zu Haberland aufschob und dann nur zum Schein für wenige Minuten das Haus verließ, um sich nachher möglichst unbemerkt wieder nach oben in seine Zimmer zu schleichen.
Dort, wo das Stubenmädchen bereits alles zur Nacht hergerichtet hatte, setzte er sich in sein Schlafzimmer hinter die weit zurückgelegte Tür und wartete der Dinge, die nun vielleicht sich ereignen würden.
Zehn Minuten waren kaum verstrichen, als es draußen zu regnen begann. Bald goß es wie mit Eimern. Und bald auch durchdrang dieses andauernde Rauschen ein schüchternes Klopfen an Lenks Arbeitszimmertür. Es wiederholte sich, wurde stärker und stärker.
Lenk wollte sich nicht melden. Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: Vielleicht ist es Hilde. – Er wußte selbst nicht, wie ihm diese Vermutung kam.
Er erhob sich, öffnete.
Sie war’s, schlüpfte zu ihm hinein, schaltete sofort das Licht wieder aus. Und doch hatte Lenk bereits bemerkt, daß sie geisterbleich war.
„Was ist geschehen?“ fragte er stockend.
Seltsam genug war ihre Antwort. „Noch nichts. Aber es wird etwas geschehen.“
Sie standen im Dunkeln in der Mitte des Zimmers.
„Was denn? – Gnädiges Fräulein, Sie sind ja ganz erregt – sie stottern förmlich –“
Da stieß sie leidenschaftlich hervor: „Ahnen Sie denn noch immer nicht das richtige? Muß ich wirklich zum Ankläger dessen werden, der meinen Namen führt – denselben Namen, – den ich Vater nennen muß, obwohl er – ach, all das ist ja so entsetzlich! Ich hatte gehofft, Sie würden dadurch, daß ich Ihnen Karl Karstenberg als verdächtig hinstellte, auf den wahren Schuldigen kommen! Ich wollte Ihnen ja nur die Richtung weisen, den rechten Weg sollten Sie selbst finden. Nun muß ich doch sprechen. Ich sah Sie die Treppe vorhin wieder leise emporhasten, und da bin ich in meiner Angst um mein Leben zu Ihnen geeilt. Sie müssen eingreifen, müssen! Sie sind Beamter. So wissen Sie denn: Nur mein Stiefvater kann der Mörder sein, nur er! Er hält mich für harmloser, als ich’s bin. Ich habe lange genug über meiner Mutter und Margaretes Tod nachgedacht, habe endlich die Lösung zu finden geglaubt. Wie er es angestellt hat, weiß ich bis heute zwar nicht, aber – vergiftet hat er sie beide. Und jetzt soll auch ich als Opfer fallen, damit nach dem Testament meiner Mutter auch mein Vermögen dann sein wird –“
Lenk führte die Zitternde zum nächsten Sessel.
„Nehmen Sie Platz und – beruhigen Sie sich! Ich bitte Sie! Vor Gift kann man sich doch schützen, gnädiges Fräulein. Und wie kommen Sie denn darauf, daß gerade heute –“
„Heute – heute?!“ unterbrach sie ihn aufstöhnend. „Weil er sich vorhin von Frau Spindel den Bodenschlüssel geben ließ und – sich ein Bad bestellt hat. Und genau so war’s auch vor Margaretes Tod an jenem Abend. Auf dem Boden hat er das Gift verborgen, und –“
Der Regen hatte soeben urplötzlich wieder nachgelassen. So kam es, daß die beiden sehr wohl hörten, wie unruhig es im Flur mit einem Male wurde. Lenk glaubte Haberlands laute Stimme zu erkennen, eilte daraufhin mit einem „Einen Augenblick“ zur Tür, öffnete leise und lugte hinaus.
Vor der Haupttreppe standen in dem hell erleuchteten Flur mehrere Menschen, darunter auch Frau Spindel und Helgerow, der jetzt gerade wütend rief:
„Sie sind verrückt, Herr! Ich werde mich über Sie beschweren! Was ich in diesem Kasten habe, geht Sie den Teufel was an! Deswegen verhaftet man doch keinen Ehrenmann, weil er sich vom Boden aus seinem eigenen Koffer –“
Da war Lenk schon mit einigen schnellen Schritten bei der Gruppe.
„Haberland – was gibt’s,“ fragte er kurz, Helgerow ins Wort fallend.
„Ah – Herr Amtsrichter! Sie kommen wie gerufen. Sie sind also doch daheim. – Können wir auf Ihr Zimmer gehen? – Sie, Herr Helgerow gehen voran! Vorwärts! Ich lasse nicht mit mir spaßen!“
Als die drei Lenks Wohnzimmer betraten, war Hilde verschwunden.
Helgerow trug unter dem Arm einen kleinen Holzkasten von Zigarrenkistengröße. Haberland winkte ihm, als Lenk das Licht eingeschaltet hatte, herrisch zu, sich zu setzen.
„Herr Amtsrichter,“ begann der Wachtmeister dann, „ich habe Ihnen bereits erklärt, daß ich annahm, die beiden Personen seien durch Schlangenbisse getötet, auch erläutert, daß dieser Mensch dort, dem jetzt das schlechte Gewissen an der Stirn geschrieben steht, seine Stieftochter Margarete auf die Weise ermordet hat, daß er die Schlange an einem Bindfaden von jenem Fenster dort hinabgelassen hat, – des öfteren, bis dann eines Abends die unglückliche Margarete, die am Fenster unten stand, von dem in pendelnde Bewegungen gesetzten, hängenden Reptil gebissen wurde. Sie wollten an diese Erklärung der Art der Verbrechensausführung nicht glauben, obwohl doch die Bewegungen der vermummten Gestalt hier oben an Ihrem Fenster – das scheinbar flehende Ausstrecken der Hände und so weiter nichts anderes gewesen sein konnten als die zum Dirigieren des Bindfadens nötigen Bewegungen. Und jener Anschlag damals, dessen Zeuge wir waren, galt eben Fräulein Hilde – niemand anders! In der Dunkelheit des Gewitters hätte sie nicht erkannt, was vor ihr an dem Bindfaden hängend schwebte, hätte vielleicht danach gegriffen und – ein neuer Mord wäre geschehen gewesen. – Nein – Sie glaubten mir nicht recht. – Da bin ich dann heute, nachdem mir die Löbbecke anvertraut hatte, daß Helgerow sehr häufig oben auf dem Boden an seinem Koffer sich zu tun machte, heimlich dort eingedrungen. Und – der Zufall wollte es, daß Helgerow sehr bald selbst erschien. Ich faßte ihn ab, als er den kleinen Kasten dort mitnehmen wollte. – So, – öffnen Sie selbst den Kasten, Herr Helgerow! Dann werden Sie sehen, Herr Amtsrichter, daß –“
Mit einem Satz war er bei Helgerow.
Zu spät! Der hatte schon in den Kasten hineingegriffen, hielt in der ausgestreckten Rechten eine kaum fünfunddreißig Zentimeter lange, rot gesprenkelte Schlange, die ihm nun, gereizt durch den Druck der Finger, mehrmals biß, zumeist in den Handrücken.
Haberland war zurückgeschreckt. Und Lenk rief nun: „Mann – das ist ja Ihr –“
„Ja – mein Tod,“ fuhr Helgerow mit schrillem Auflachen fort. „Ich will es so. Das Spiel ist aus. Ich habe es verloren. – Ich gebe zu, meine Frau und Tochter durch das Schlangenpendel ums Leben gebracht zu haben. Das Bad sollte den Beweis für alle Fälle liefern, daß ich nicht in dem Todeszimmer gewesen zu der kritischen Zeit –“
Da – in Lenks Schlafzimmer ein gellender Schrei.
Hilde war in Ohnmacht gefallen. Der Amtsrichter sprang ihr bei, hob die auf dem Boden Liegende auf, bettete sie auf dem Diwan.
Aus dem Wohnzimmer ein anderer Schrei – der Todesschrei eines Verbrechers.
Lenk stürmte zurück. Helgerow saß mit verzerrtem Lächeln im Sessel – das Reptil lag am Boden mit zertretenem Kopf.
„Ich habe – sie – selbst getötet,“ stieß der Sterbende mühsam hervor. – „Eine Seltenheit – aus Brasilien – eine Chiuwa – das schlimmste Gift – drei Menschen jetzt – erledigt, mein – Pflegling, – mich mit –“
Dann ein schrilles Röcheln wie ein zweiter Schrei. – Und Helgerow war tot. –
Michael Haberland ist jetzt Polizeikommissar in Bernburg. Aber sein Licht als Kriminalist leuchten zu lassen hat er kaum mehr Gelegenheit. In Bernburg hütet sich jeder, vom rechten Wege abzuweichen – aus Angst vor der Schlauheit des Kommissars mit dem faltigen Schauspielergesicht.
Hilde und Erwin Lenk sind seit langem ein glückliches Paar. Menschen, die so ernste Erinnerungen gemeinsam haben, finden sich leichter als andere fürs Leben zusammen.