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Die Stimme des Blutes

 

 

Die Stimme des Blutes

 

Kriminalroman

von

Walther Kabel

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89

 

Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Am Hochzeitsmorgen.

Klarissa Rhoden war gerade mit dem Morgenanzug fertig geworden, als die Mutter leise die Tür des kleinen Stübchens öffnete und hineinlugte.

„Darf ich eintreten, Kind?“ fragte Frau Rhoden mit einem feinen, gütigen Lächeln. „Ich ahnte schon, daß du an diesem Tage nicht gerade zu den Langschläfern gehören würdest. – Ja, ja, ich besinne mich noch so genau. Auch ich war an meinem Hochzeitstage früh munter. Das ist nun schon so lange, so lange her.“

Klarissa, in dem hellen, duftigen Morgenanzug doppelt reizend, war der Mutter entgegengeeilt und hatte sie in das Zimmer gezogen. Nun hielten die beiden Frauen sich eine Weile fest umschlungen, beseelt von demselben Gedanken: daß es heute Abschied voneinander zu nehmen galt, daß die Jahre treulichen, harmonischen Zusammenlebens nun vorüber waren.

Dann machte das junge Mädchen sich sanft los, ging zu dem einzigen Fenster und zog die Vorhänge zurück.

Strahlender Sonnenschein lag draußen auf den in erster Frühlingspracht blühenden und grünenden Gärten jenseits der breiten, asphaltierten Straße, freundliche Sonnenstrahlen stahlen sich auch in breiter Bahn in das Stübchen mit den hellen Möbeln hinein, aus dem eine geschmackvolle Hand einen kleinen Tempel holder Mädchenträume mit Gegenständen aller Art, Bildern, Schleifen, Postkarten, zierlichen Nippes und anderem, geschaffen hatte, an die sich die Erinnerungen einer bescheidenen, aber sorgenfreien Jugend knüpften.

„Sonne am Hochzeitstag,“ sagte Klarissa verträumt und ließ ihre Blicke auf dem hell beschienenen Bilde ihres Verlobten ruhen, das in dunklem Holzrahmen mit goldenen Zierstreifen auf dem Damenschreibtisch am Fenster stand.

Dann drängte sich ein leiser Seufzer halb unbewußt über ihre Lippen.

Frau Marie Rhoden lächelte nicht mehr. Etwas wie Sorge und Unruhe zeigte sich auf dem noch rosigen Gesicht der alternden Dame, deren schneeweißes, gescheiteltes Haar sie älter erscheinen ließ als sie es in Wirklichkeit war.

Mit prüfendem Blick umfing sie Klarissas scharf gegen das helle Fenster sich abhebende schlanke und doch volle Gestalt und das Gesicht mit dem edlen, feinen Profil, das so sehr an die kunstvoll geschnittenen Gemmenköpfe vornehmer Römerinnen erinnerte.

„Ein Seufzer, Kind? Und heute?!“ meinte sie mit einem Versuch zu scherzen. „Der lachende Sonnenschein draußen kündet dir eine glückliche Zukunft an. Sieh – keine Wolke am Himmel – Frühling in der Natur, überall neues Leben. Als ich einst Hochzeit machte, stürmte es den ganzen Tag. Das Trommeln von Hagelkörnern gegen die Fenster weckte mich. Ja – und mein Glück währte auch nur fünf kurze Jahre –!“

Es schien, als ob das junge Mädchen nichts von diesen Worten gehört hatte. Noch immer schaute sie auf Horst Rickelts Bild. Ihre Mienen hatten einen unsicheren, grüblerischen Ausdruck angenommen.

„Wenn ich wüßte, – wenn ich wüßte –“ sagte sie kaum vernehmlich, als spreche sie zu sich selbst. „Noch ist es nicht zu spät – noch nicht –“

Frau Rhoden trat schnell neben sie, legte ihr den Arm um die Schultern und fragte eindringlich:

„Kind, was sollte das eben? – Was weißt du nicht, – wozu ist es noch nicht zu spät –?“

Klarissa drehte den Kopf mit dem dunklen, nur lose aufgesteckten Haar der Mutter zu und blickte ihr ohne Scheu in die Augen.

„Wir beide haben keine Geheimnisse voreinander, keine,“ meinte sie tastend, als suchte sie sorgfältig nach dem rechten Ausdruck für das, was sie an Empfindungen jetzt beseelte. „Laß mich daher ganz ehrlich sein, Mutter. – Ich vermag mir ja selbst keine Rechenschaft darüber zu geben, wie diese Zweifel gerade in den letzten Tagen immer stärker in mir geworden sind. Aber, liebe ich Horst wirklich so, wie es für ein langes, gemeinsames Leben nötig ist?! Und – ist auch seine Liebe so heiß, so innig, um vorzuhalten für viele, viele Jahre?! – Sieh, Mutter, ich habe uns beide, Horst und mich, in der letzten Zeit geradezu kritisch geprüft, – unser gegenseitiges Verhalten, unsere Zärtlichkeiten, – kurz, unsere ganzen Beziehungen zueinander. Da bin ich oft recht mutlos geworden. Ich habe eben immer stärker den Eindruck gewonnen, daß unsere bräutliche Liebe langsam in das ruhigere Gefühl inniger Freundschaft und guter Kameradschaft hinübergeglitten ist. – Sage selbst, Mutter, aber sei ehrlich, findest du nicht auch, daß Horst und ich weit mehr wie vertraute Freunde miteinander stehen als wie Brautleute kurz vor der Hochzeit? Ich wandle nicht blind durch das Leben. Ich habe stets der Umwelt die Achtung geschenkt. Andere Brautpaare kenne ich, habe Szenen gesehen, die mich mit ihren Ausbrüchen mühsam unterdrückter Leidenschaft eigentlich hätten neidisch machen sollen. Eigentlich! Ich habe nie Neid empfunden.“

Frau Marie Rhoden blickte an ihrem Kinde vorbei in das Grün der Gärten.

So hatte sie also doch das Richtige vermutet, so hatten ihre sorgenden Mutteraugen sich doch nicht getäuscht. Das, was Klarissa ihr soeben anvertraut hatte, war ihr längst zur halben Gewißheit geworden. Und ihr Herz krampfte sich nun in Angst um das Glück dieser jungen Mädchenblühte fast schmerzlich zusammen. –

Was sollte werden, was, – was?! Gerade jetzt alle diese schweren Bedenken, gerade heute, wo es doch fast schon zu spät zur Umkehr war.

Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit überkam sie. Durfte sie dulden, daß diese beiden Menschen für immer heute die Hände ineinanderlegten? Nahm sie nicht eine schwere Verantwortung auf sich, wenn sie hier nicht ohne Scheu vor dem Gerede der Menschen eingriff und etwas verhütete, das nur zum Unheil ausschlagen konnte?!

Klarissa las diese Gedanken von der Mutter Gesicht nur zu gut wie aus einem ihr wohlvertrauten Buche ab. Und wieder bat sie:

„Sei ehrlich, Mammi! Du kennst das Leben besser als ich. Ist es nicht Sünde, mit solchen Zweifeln, wie ich sie hege, einem Manne mich fürs Leben zu verpflichten?!“

Unwillkürlich hatte des jungen Mädchens Lippen wieder das alte, liebe Zärtlichkeitswort von einst gefunden. – Mammi, – Mammi! – Wie weich, wie innig hatte es immer aus der kleinen Klarissa Mund geklungen, und wie freute sich Frau Rhoden, wenn auch die große Klarissa es hin und wieder gebrauchte.

Eine Weile war es ganz still in dem hellen Stübchen. Vom Vorgarten drang das Zwitschern und Schiepen unzähliger Sperlinge herein, die in der Dornenhecke ihre Frühlingsversammlung abhielten. Dann stob die ganze Gesellschaft der geflügelten Gassenbuben urplötzlich aus unbekannter Veranlassung surrend davon.

Frau Rhoden fuhr sich mit der Hand über die Augen. In den Kreis ihrer betrübten Gedanken hatte sich soeben noch etwas Neues hineingedrängt. Sie fühlte, wie ihr vor innerer Aufregung die Wangen zu brennen begannen. Ganz heiß überlief es sie. Und jetzt tastete sie sich in einer Anwandlung von Schwäche nach dem nächsten Stuhl hin, ließ sie schwer darauf niedersinken und strich ganz mechanisch die Falten ihres blauen Kleiderrockes glatt.

Neben Horst Rickelts Bild stand auf dem Schreibtisch eine Stutzuhr mit weißem Marmorfuß. Die begann jetzt zu schlagen, rein und silbern der Klang, – acht Schläge.

Und Frau Rhoden zählte mit, Angst und Sorge im Herzen.

Schon acht Uhr! Noch zwei Stunden, dann kam Horst Rickelt, um Klarissa zum Standesamt abzuholen.

*

In demselben Augenblick als die Stutzuhr schlug, öffnete Horst Rickelt in seiner bescheidenen Junggesellenwohnung, die nur aus einem möblierten Zimmer nebst Alkoven bestand, einen Brief, den ihm soeben seine Wirtin hereingereicht.

Es war ein Rohrpostbrief. Rechtsanwalt Hartung schrieb darin:

„Lieber Alter! Muß soeben zu einer Testamentserrichtung nach Wannsee hinaus. Muß! Es ist also nicht ausgeschlossen, daß ich mich auf dem Standesamt etwas verspäte. Allzu lange werdet Ihr aber auf Euren Trauzeugen nicht zu warten brauchen. Wenn nötig, rase ich im Auto nach Berlin zurück. – Herzlichst – Werner.“

Horst Rickelt legte den Brief nachdenklich auf die grünbespannte, tintenfleckbesäte Schreibtischplatte zurück. Dabei holte er tief Atem, so als ob ihm etwas die Brust einenge.

Standesamt – Trauzeuge! – Wie Geisterhände waren diese beiden Worte, legten sich um Horst Rickelts Herz und preßten es brutal, grausam zusammen.

Was half’s, daß er bisher an diesem Morgen stets die Gedanken an das, was ihm bevorstand, ängstlich zurückgewiesen hatte! Selbst als er langsam Stück für Stück den Gehrockanzug, die Lackschuhe, den neuen Kragen und die neue schwarzseidene Schleife angelegt hatte, zwang er sein Denken in eine andere Richtung. Es war genau so, als ob ein Verurteilter zum letzten Gange sich rüstete, zu dem Wege, an dessen Ziel es keine Umkehr mehr gibt, – ein Verurteilter, der auch dachte: „Noch ist dir kurze Frist gegeben.“

Horst Rickelt riß jetzt die Fenster weit auf. Die Luft in dem großen Raume mit der für ein möbliertes Zimmer recht geschmackvollen Einrichtung erschien ihm schwer und drückend.

Der Lärm der Großstadt drang zu ihm herauf, – Wagenrattern, Hufgeklapper, helles Schrillen von Radfahrerglocken, dumpfes Tuten von vorbeijagenden Autos. Er liebte diesen Lärm, war mit Leib und Seele Berliner. Er brauchte die Unruhe, das Hasten und geschäftige Treiben der Weltstadt, die ganze Summe von Eindrücken, die den Provinzler stört, ängstigt, aber den in diesem Getriebe Großgewordenen anregt wie ein aufreizender Trunk.

Mit tausend Armen zog’s ihn plötzlich hinaus ins Freie. Wozu hockte er auch hier zwischen diesen vier Wänden, die doch nicht mehr sein Heim waren, in die schon morgen ein Fremder einziehen würde, – einer, der nicht ahnen würde, daß dieses Zimmer im Verlaufe von zwei Jahren den Aufstieg eines strebsamen Schriftstellers miterlebt hatte. Nicht ahnen?! Nein – dafür würde schon die brave Frau Meinke sorgen, daß sein Nachfolger erfuhr, wer solange hier gewohnt hatte, „Horst Rickelt. – Sie wissen doch, der für sein Drama „Der Stein der Weisen“ letztens den Schillerpreis erhalten hat.“ So würde Frau Meinke etwas prahlen, und der neue Mieter würde sofort Bescheid wissen, selbst wenn er auch nur ein halbgebildeter Mensch war.

Der junge Schriftsteller trat ins Zimmer zurück und schaute sich um. Nein – hier gehörte ihm so gut wie nichts mehr. Alle seine Sachen waren bereits in die neue Wohnung geschafft, in das Heim, das Klarissa und ihn schon heute abend aufnehmen sollte. Das wenige, was noch hier blieb, wollte Frau Meinke hinüberbringen.

Er zog den dunklen, leichten Mantel über, setzte den spiegelblanken Zylinder auf, steckte noch einige Kleinigkeiten zu sich und – ging schnell auf den Flur hinaus, ohne sich nochmals umzusehen. Es wurde ihm schwer, loszukommen von dieser Stätte. Da machte man’s am besten kurz.

Dann der Abschied von der Meinke. Sie weinte ehrliche Tränen.

„Acht Jahre – die Zeit – die Zeit, lieber Herr Doktor! Da ist man doch miteinander verwachsen. Alles Gute – alles Gute in der jungen Ehe –!“

Sie weinte nicht mehr, die brave Alte, sie heulte.

Da stürzte Horst Rickelt davon.

*

In der Augsburger Straße standen an einer Anschlagsäule unweit des Hauses, in dem Horst Rickelt bisher gewohnt hatte, zwei Männer.

Ein harmloser Sterblicher hätte die beiden für das gehalten, was man so „bessere Herren“ nennt. Nur ein kundiges Auge wäre wohl eine Weile mit leisem Mißtrauen auf ihnen haften geblieben. Es war so der Typ der herausgeputzten Besucher der Kellerlokale in Berlin N., wo in verborgenen Hinterstuben oft der Sekt in Strömen fließt, dem Glücksspiel gehuldigt wird und das Gold leicht durch dieselben Finger rollt, die vielleicht in der verflossenen Nacht den Geldschrank bei „Meyer, Müller und Co“ geleert oder sonst ein „fettes Ding gedreht“ haben.

Der eine der beiden, ein schlanker junger Mensch mit einem regelmäßigen, nur leider krankhaft verlebten Gesicht, tat jetzt, als ob er seinen Begleiter einen Namen auf einem Theaterzettel der Anschlagsäule zeigte, sagte jedoch dabei flüsternden:

„Wenn du dich nicht so dumm angestellt hättest, brauchten wir uns hier nicht die Beine in den Leib zu stehen! Ich begreife nicht, – man kann sich doch wohl das Haus merken, in dem einer verschwindet! – Na, die beste Bescherung wäre es noch, wenn du dich überhaupt in der Person geirrt hättest und –“

„Halt’s Maul, Wieselchen!“ unterbrach ihn der andere, ein wahrer Athlet an Gestalt, groben Tones. „Da kommt unser Mann. Nun kannst de ihn dir ja selber besehn! Ist er’s oder ist er’s nicht, – he?!“

„Wahrhaftig – er ist’s!“ Heller Triumph klang durch Wieselchens Stimme.

Auf der anderen Seite der Straße ging Horst Rickelt vorüber, langsam, etwas vornübergebeugt wie immer und heute noch grüblerischer als sonst. Er achtete nicht auf seine Umgebung, auf nichts. Der Straßenlärm glitt an seinen Ohren ungehört vorbei. Der Abschied von seinem alten Heim hatte alle Gespenster aus den Tiefen seiner Seele wieder hervorgelockt.

Sein Hochzeitstag! Dabei noch so wundervoller Maiensonnenschein! Und doch – in seinem Herzen wohnte keine Freude, keine Sehnsucht nach der Braut. Schwer und träge floß sein Blut. Keine heiße Erwartung süßer Stunden jagte es schneller durch die Adern. –

Wenn er doch nur den Mut gefunden hätte, offen mit Klarissa zu sprechen, wenn er einmal ihre Hände in die seinen genommen und gesagt hätte: „Sieh, du bist mir der beste, trauteste Freund, den ich auf Erden habe, – aber du bist nicht die, zu der mich eine unbezwingliche Leidenschaft hinreißt!“ Ja, wenn er so gesprochen haben würde, dann – dann –

Er lächelte bitter. – Wenn – wenn –! Er hatte es eben nicht getan, – aus Furcht, sie zu betrüben, aus einer Rücksichtnahme heraus, die in diesem Falle fast ein Verbrechen war. Und nun – zu spät – zu spät!

In Frau Rhodens gemütlicher Wohnung war ja alles für die kleine Hochzeitsfeier vorbereitet, stand schon inmitten von blühenden Bäumen der Altar, vor dem der Geistliche der jungen Ehe auch den Segen der Kirche spenden wollte, warteten schon in Küche und Keller allerhand leckere Speisen der wenigen Gäste, die am Nachmittag an der im Salon gedeckten Tafel sich vereinen würden.

Horst Rickelt stöhnte auf wie in namenloser Qual. Und dann tauchte plötzlich vor seinem Geiste das Bild eines jungen Weibes auf, – nicht das seiner Braut, eines blonden, zierlichen Geschöpfes mit schwermütigen, verträumten Augen.

Wie es gekommen, wußte er selbst nicht. Mit einem Male stand er vor dem Hause, in das er noch heute Klarissa als sein Weib geleiten sollte.

Weit draußen hinter der Ringbahn auf Schmargendorfer Gebiet lag der neue, moderne Häuserblock mit den hübschen Vorgärten, einem Schmuck- und einem Kinderspielplatz. Dort in der Warmbrunnerstraße im zweiten Stock des Eckgebäudes hatte Mutter Rhoden das Nest für das junge Paar ausgesucht. Von den Fenstern der beiden Vorderzimmer und von der hellen Loggia aus hatte man einen weiten Blick über den nahen Grunewald. Hier atmete man frische, freie Luft und hatte doch die Ringbahn als bequeme Verbindung nach Berlin hinein so nahe.

Der Schriftsteller sah zu den Fenstern empor. Weshalb er dann durch die weit offene Haustür, der Hauswart war gerade mit den Läufern nach dem Hofe zu verschwunden, von niemandem bemerkt die Treppe emporstieg und seine neue Wohnung betrat, – darüber konnte er sich selbst keine Rechenschaft geben.

Die Flurtür ließ er offen, lehnte sie nur an, – auch ganz gedankenlos. –

Frau Wilke, die dicke Frau des mageren, kleinen Hauswartes von Warmbrunnerstraße Nr. 1, erschien gerade im Flur, als Wieselchen sehr würdig durch den Vorgarten daherkam.

Wieselchen hatte Lebensart, lüftete leicht den hellen Filzhut mit dem schwarzen Seidenband und fragte die Hausbesorgerin:

„Sagen Sie, liebe Frau, hier wohnt doch in der zweiten Etage rechts der Herr – Herr – wahrhaftig, nun ist mir der Name entfallen. Helfen Sie mir doch aus, bitte!“ Dabei ließ er ein Markstück geschickt in Frau Wilkes Schürzentasche gleiten.

„Doktor Rickelt,“ meinte die Hausbesorgerin sehr freundlich. „Schriftsteller Doktor Rickelt. Der zieht aber heute erst ein –“

„Weiß ich, weiß ich,“ unterbrach Wieselchen den drohenden weiteren Redefluß. „Ich, kommen von einer Firma. – Besten Dank – Wiedersehen!“

„Sie, Herr, – in der Wohnung ist jetzt aber niemand,“ rief die dicke Wilke ihm nach.

Wieselchen war noch nie in seinem Leben um eine Ausrede verlegen gewesen.

„Schadet nichts. Ich habe ja die Schlüssel,“ erwiderte er vom ersten Treppenabsatz her. Und dann ging er weiter die Stufen nach oben mit der ruhigen Sicherheit des anständigen Bruders. –

Eine halbe Stunde später betrat er wieder, aus der zweiten Etage kommend, die Portierloge, wo Frau Wilke gerade ein paar Kragen ihres Mannes plättete.

„Hören Sie mal, liebe Frau, Sie könnten mir einen Gefallen tun,“ meinte er, indem er sich eine Zigarette anzündete. „Ich bin von der Firma Gellert und Hanke, die für den Doktor das Geschirr geliefert hat. Uns ist nun ein Irrtum unterlaufen. Wir haben eine falsche Kiste Porzellan hergeschafft. Würde Ihr Mann nicht mitanfassen helfen, damit wir die Kiste in ein Auto schaffen, das ich gleich holen werde? – Hier ist auch eine Visitenkarte Doktor Rickelts, die mir als Ausweis dient. Außerdem habe ich ja auch die Wohnungsschlüssel, wie Sie wissen. Meiner Firma liegt daran, die Verwechslung schleunigst wieder gut zu machen.“

Die Hausbesorgerin war sofort bereit, selbst mit zuzugreifen. „Mit meine Muskeln ist’s besser bestellt als mit die von mein’ Ollen,“ sagte sie etwas geringschätzig.

Wieselchen verließ das Haus, traf an der Ecke mit seinem athletischen Bekannten zusammen, winkte ein in der Nebenstraße wartendes Auto herbei und ließ dann die Kiste, die schon im Flur der Wohnung dicht an der Tür stand, in den Kraftwagen tragen, wo sie mit Mühe und Not auf dem Vordersitz Platz fand, von Wieselchen und seinem Freunde aber noch gestützt werden mußte.

Frau Wilke hatte die „Porzellankiste“ drei bare Märker eingebracht. Sie strahlte daher. Aber auch Wieselchen war heilfroh und sagte zu dem Athleten, während das Auto die Richtung nach Berlin weiterverfolgte.

„Donnerwetter, Bomben-Otto, – das heißt Schweine haben! Verfl… nochmal, – kitzlich war die Geschichte. Aber – wer nicht wagt, der nicht gewinnt, und wer –“ Der zweite Teil des vom Wieselchen ergänzten Sprichwortes läßt sich nicht wiedergeben.

 

2. Kapitel.

Am Hochzeitsabend.

„Haben der Herr Direktor noch Befehle?“

„Nein, Kludius, Sie können gehen. – Guten Abend.“

Der Kassenbote verschwand. Karl Thomas hörte ein paar Türen klappen, dann auch die schwere Haustür ins Schloß fallen.

In dem Arbeitszimmer des Direktors der Potsdamer Handelsbank brannten sowohl der große Kronleuchter als auch die Schreibtischlampe. Und vor dem Schreibtisch in dem schweren Polsterstuhl saß zurückgelehnt Karl Thomas und sog nachdenklich an seiner längst erloschenen Zigarre, während seine Blicke starr auf das bunte, feinabgetönte Muster des großen Perserteppichs gerichtet waren.

Wohl eine Viertelstunde verging so. Der Bankdirektor saß regungslos da, den Kopf in die linke Hand gestützt, die Zigarre in einem Mundwinkel. Dann hob er den Blick und schaute sich in dem kostbar eingerichteten Raume um wie jemand, der sich erst wieder in die Wirklichkeit zurückfinden muß.

Jetzt flog der Zigarrenrest achtlos beiseite auf den Teppich. Mit einem Ruck stand der Bankdirektor auf. Ein Mann über Mittelgröße mit einem wie aus Stein gemeißelten, bartlosen Charakterkopf, war Karl Thomas ohne Zweifel eine achtunggebietende Erscheinung. Er trug sich stets sehr elegant, aber nie zu jugendlich. Sein Haar war noch dicht und nur an den Schläfen leicht ergraut, das Gesicht eines von jenen, die man schwer vergißt. Unter buschigen Brauen lagen zwei graue, harte Augen, die nur zu gut zu dem Munde mit den vollen Lippen und der breiten energieverratenden Kinnpartie paßten. Dagegen schien die Nase fast zu edel geformt. Und sie war es wohl hauptsächlich, die das Brutale, Kraftvolle dieses Männerantlitzes angenehm milderte.

Karl Thomas ging langsam, lautlos in dem großen Zimmer auf und ab. Hin und wieder blieb er vor seinem Schreibtisch stehen und blickte in einen Papierbogen hinein, den er vor einer Stunde über und über mit Zahlen bedeckt hatte. Schließlich zerriß er ihn in kleine Fetzen, die er dann sorgfältig in ein Stück Papier wickelte und zu sich steckte.

Er sah nach der Uhr. – Sieben! Da schlug ja auch draußen die Turmuhr der Stadtkirche. In deren letzten dröhnenden Schlag mischte sich das Schrillen des Tischtelephons.

Der Bankdirektor nahm den Hörer von den Schützen.

„Hier! – Ah, du bist’s, Thekla! Nun –? – So, der Mama geht es wieder sehr schlecht. Um zehn bin ich bestimmt bei euch. Ich habe noch eine geschäftliche Besprechung. – So – ? Die arme Mama! Laß also nur den Sanitätsrat holen. Wenn die Schmerzen zu groß sind, mag er Morphium verschreiben. – Schädlich? – Aber Kind, – hier kommt es doch nur noch darauf an, der Kranken Linderung zu verschaffen. – Gut. – Schluß. Wiedersehen.“

Mit einem gequälten Gesichtsausdruck begann Karl Thomas seine Wanderung aufs neue.

Das Zimmer hatte zwei Türen. Die eine führte in die Geschäftsräume der Bank, die zweite zu einer Wendeltreppe, die vor einem Nebenausgang des Hauses mündete. Über dieser zweiten Tür hing eine elektrische Glocke, verborgen hinter einem Kupferrelief in breitem Eichenrahmen, das einen Fuchskopf darstellte.

Diese Glocke schlug jetzt an, so leise, daß ein Uneingeweihter vermuten konnte, das Läuten käme aus einem Nebenraum.

Der Bankdirektor eilte die Wendeltreppe hinab und öffnete die niedrige, aber sehr feste eiserne Pforte, um eine dicht verschleierte Dame einzulassen, die schnell an ihm vorüberhuschte.

Als Thomas das Zimmer oben betrat, hatte die Dame bereits Schleier und Hut abgelegt und öffnete eben den leichten, seidenen Mantel, unter dem ein helles, sehr kostbares Spitzenkleid mit klarem, tiefem Einsatz zum Vorschein kam.

Karl Thomas war ein anderer geworden. Hatte es vorhin wie düstere Gewitterstimmung auf seinem Antlitz gelegen, so war jetzt nichts mehr davon zu merken. Seine Augen strahlten dem jungen, schönen Weibe in heißer Sehnsucht und Wiedersehensfreude entgegen.

„Luzie – endlich – endlich!“

Er umschlang sie, küßte sie. Und sie schmiegte sich an ihn mit einem halb scheuen, halb verschämten Lächeln.

Eine halbe Stunde später flammte das Licht des Kronleuchters wieder auf.

Luzie Molla stand in der Ecke vor dem Spiegel und ordnete ihr reiches, aschblondes Haar.

„Wie du mich zerzaust hast! Nie wieder komme ich her!“ sagte sie schmollend.

Gleich darauf aber küßte sie ihn, setzte sich dann in einen der Klubsessel und nippte an einem Glase Wein, das er ihr eingeschenkt hatte.

Er lehnte ihr gegenüber an dem mit Zeitschriften und Broschüren bedeckten Mitteltisch und verschlang sie noch immer mit hungrigen Blicken.

„Nun wollen wir aber ganz verständig sein, Charlie,“ begann sie, indem sie nach seiner Hand haschte. „Ich bin doch auch so ein wenig dein guter Kamerad, nicht wahr! Denke ja nicht, daß du mir deine kleinen Sorgen zu verbergen brauchst. Ich nehme Anteil an allem, was dich angeht. Brauche ich das denn überhaupt noch zu betonen?! Hast du mir nicht letztens selbst gesagt, daß ich die einzige bin, der du frei und offen dein Herz ausschüttetest?! Wenn ich auch wohl stets ein kleines Dummerle bleiben werde und dich nur trösten und dir Mut zusprechen kann – auch das tut wohl. – Habe ich recht?“

Er lächelte ganz freundlich.

„Recht hast du, Luzie. Ja – wenn ich dich nicht hätte! Du unterschätzt dich wirklich noch immer zu sehr – tatsächlich, Liebling! Du bist kein Dummerle. Du hast mir, dir selbst wohl unbewußt, schon manche wertvolle Anregung gegeben. Und –“

Sie lachte leise auf, hielt sich die Ohren zu und schüttelte sehr energisch den Kopf.

„Kein Wort glaube ich davon, kein Wort!“ meinte sie schelmisch. „Du willst mir nur schmeicheln.“ Sie ließ die Hände wieder sinken und fuhr fort:

„Also deine größte Sorge. Ist Artur gefunden? Wir haben uns ja vier Tage nicht gesehen, und inzwischen kann sich viel ereignet haben.“

Er seufzte tief auf. Seine Lippen preßten sich dann zu einer schmalen Linie zusammen.

„Nichts – nichts,“ erwiderte er nach einer Weile. „Alle Nachforschungen waren umsonst. Ich glaube kaum, daß wir sein Verschwinden länger geheimhalten können. Ich muß die Polizei benachrichtigen. Auch Thekla riet mir dazu. Den Behörden stehen doch andere Hilfsmittel zu Gebote als den Privatdetektivinstituten. Das Märchen von der Reise nach der Schweiz können wir nicht länger aufrecht erhalten.“

„Weshalb nicht? – Vielleicht kommt Artur inzwischen zurück. Dann wäre euer Name umsonst an die Öffentlichkeit gezerrt. Denn die Polizei wird sicherlich zu Aufrufen in den Zeitungen raten.“

„Du vergißt, in welcher Lage ich mich befinde, Luzie,“ sagte Thomas zögernd. „Man könnte mir nur zu leicht aus diesem bloßen Inanspruchnehmen der Detektivinstitute den Vorwurf der Gleichgültigkeit meinem Stiefsohne gegenüber machen, mehr noch, mich womöglich irgendwie – verdächtigen. Wäre der Geschäftsgang der Bank jetzt ein besserer, hätte ich dies nicht zu fürchten. Aber, du weißt ja, – es ist eine schwere Krise, mit der ich seit Monaten schon kämpfe.“

Luzie Molla, der jüngste Kabarettstern Berlins, betrachtete eingehend ihre rosigen, lackierten Fingernägel. Ihre Hände waren bis auf zwei allerdings sehr kostbare Brillantringe ohne jeden Schmuck. Nicht einmal Armbänder trug sie. Auch ihr Anzug war von ganz unauffälliger Eleganz. Niemand hätte in ihr eine Brettelkünstlerin vermutet. Und darauf war sie stolz.

„Trotzdem, Charlie, – ich würde mit der Benachrichtigung der Polizei noch warten,“ meinte sie im Tone eines Kindes, das hartnäckig eine Ansicht zu verteidigen sucht. „Aber – natürlich tust du, was du für richtig hältst. Ich denke jedoch, hast du vier Wochen damit gezögert, so kommt es auf die fünfte auch nicht an.“

Er nickte gedankenvoll.

„Vielleicht ist’s wirklich besser, die Meldung an die Polizei noch etwas hinauszuschieben. Nun – ich werde mir’s überlegen.“

Luzie trank wieder einen Schluck des schweren Burgunders.

„Darf eigentlich jemand der wegen Geistesschwäche entmündigt ist, heiraten?“ fragte sie dann unvermittelt.

Der Bankdirektor schaute überrascht auf.

„Denkst du etwa an mein Schreibmaschinenfräulein, Luzie?“

„Ach – mir fiel das nur eben so ein,“ sagte sie leichthin. „Wie heißt sie doch – Bremer, Grete Bremer, nicht wahr?“

„Stimmt. Und da Fräulein Bremer nach wie vor ihren Dienst bei mir versieht, ist es ausgeschlossen, daß eine derartige Vermutung zutreffen könnte, – ganz abgesehen davon, daß Artur keinerlei Papiere mithat, um sich zu legitimieren, was zu einer Eheschließung doch nottut, und daß er als Entmündigter überhaupt nicht ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters, und das bin ich, heiraten darf. – Nein, Liebling, – die Angst brauchen wir nicht zu haben. Im übrigen ist dieser Flirt mit der Bremer wohl stets ganz harmloser Natur geblieben.“

Luzie Molla erhob sich.

„Ich muß fort, Charlie, sonst versäume ich den 9 Uhr 10 Minuten–Zug nach Berlin.“

Während sie Hut und Schleier vor dem Spiegel feststeckte, schob er ihr unauffällig in das Goldene Handtäschchen einen Fünfhundertmarkschein hinein.

Sie tat, als bemerkte sie nichts. Erst als er das Schloß des Täschchens zudrückte, drehte sie sich um, kam an den Tisch geeilt und sah nach, was er ihr auf diese Weise hatte spenden wollen.

Beim Anblick der Banknote wurde sie ganz ärgerlich.

„Du sollst das nicht tun, Charlie. Du verletzt mich damit. Es ist schon übergenug, daß du die Kosten der Wohnung und des Haushaltes für mich trägst. Denke an deine Zukunft. Wie soll ich wohl später als dein Weib vor dir dastehen, wenn ich wie eine Dirne so etwas von dir annehme.“

Sie hatte den Schein auf den Tisch mitten zwischen die Bücher geworfen. Thomas aber bat und schmeichelte jetzt so lange, bis sie gestattete, daß die fünfhundert Mark erneut in die kostbare Tasche wanderten.

Luzie stand wieder vor dem Spiegel, streifte den dichten Schleier herab und – verzog hinter dieser zarten Schutzmauer ihr Gesicht zu einem Lächeln, das spöttische Überlegenheit, Geringschätzung und Triumph ausdrückte.

Dann geleitete der Bankdirektor sie wieder über die Wendeltreppe zu dem Nebenausgang.

*

Rechtsanwalt Werner Hartung kam von Rhodens. Ihm war der Kopf noch ganz wirr von alle dem, was dieser Unglückstag gebracht hatte.

Die beiden Damen taten ihm unendlich leid. Wer hätte einen solchen Hochzeitsabend wohl voraussehen können! Eine Hochzeit ohne Bräutigam! Arme Klarissa! – Nun – Sie hatte sich eigentlich recht gefaßt gezeigt, ganz im Gegensatz zu Frau Rhoden, die aus dem Jammern und Weinen gar nicht herauskam, was man ihr ja auch nicht verdenken konnte, wenn man in Betracht zog, daß alles für die Feier vorbereitet gewesen, daß die Gäste und der Pfarrer hatten heimgeschickt werden müssen, daß die lieben Miteinwohner auf den Fluren zischelnd umherstanden und auf die alte Anna, das Rhodensche Mädchen lauerten, um diese aushorchen zu können.

Hartung fühlte das Bedürfnis, sich mit irgend jemandem auszusprechen. Hierfür kam aber nur einer in Frage. Und dieser Eine saß jetzt um acht Uhr abends sicherlich in seiner Stammkneipe beim Nachtmahl.

Der Rechtsanwalt nahm ein Auto und ließ sich nach der Potsdamer Straße bringen. Dort, ganz in der Nähe der Brücke, gab es eine von außen recht bescheidene „Bürgerstube“, die doch stets einen fast zu zahlreichen Zuspruch hatte. Und das lag lediglich an den gut gepflegten Bieren und an Mutter Dieballs tadelloser Kochkunst.

Im letzten Zimmer stand, halb hinter den riesigen Kachelofen geklemmt, ein kleiner Tisch. Das war August Lehnerts Stammplatz. Und dort saß er auch jetzt, als Hartung eintrat, saß da in seinem blank gescheuerten blauen Jackettanzug, den billigen, knallgelben Schnürschuhen und in seiner ganzen unliebenswürdigen Verbissenheit, die nur dann einer schmeichelnden Höflichkeit Platz machte, wenn das Geschäft es verlangte.

August Lehnert war Reporter. Er nährte sich also von dem Unglück anderer, von Morden, Diebstählen, Straßenbahnzusammenstößen, Feuersbrünsten, gefallenen Droschkengäulen, überfahrenen Menschen und ähnlichen Ereignissen des Tages, die in den Zeitungen Berlins stets zu finden sind.

Aber August Lehnert war ein fauler Reporter, obwohl er eine unzweifelhafte Begabung für diesen Beruf besaß. Er hätte das Zehnfache an Zeilenhonorar verdienen können, wenn er eben nicht so unglaublich träge und – vielseitig gewesen wäre. Alle Vierteljahr ritt er ein anderes Steckenpferd. Und dieser Sport kostete zumeist außer Zeit noch Geld. Augenblicklich sammelte er völlig wertlos gewordene Aktien verkrachter Aktienunternehmungen. Er wollte sich damit seine Dachstube tapezieren, die nur Ölfarbenanstrich hatte.

Hartung und er waren Studienfreunde, sogar Verbindungsbrüder gewesen. Aber der stud. phil. August Lehnert hatte es nie bis zu einem Examen gebracht. Es gab Leute, die behaupteten, er sei in der Großstadt verkommen. Das waren die kurzsichtigen Streber. Andere entschuldigten ihn. Er sei ein Sonderling. Ganz wenige liebten ihn als den grundehrlichsten, bravsten Menschen, den es nur geben konnte. Und zu diesen wenigen gehörten Werner Hartung und Horst Rickelt.

Lehnert hatte gerade an einem Bericht über einen Autounfall des chinesischen Gesandten geschrieben, als Hartung ihn begrüßte.

„Noch fünf Minuten, dann habe ich acht Mark verdient, und dann stehe ich zu deiner Verfügung,“ sagte er und ließ den Bleistifte doppelt eilig über das Papier fliegen. Nachdem ein telephonisch zu Mutter Dieball bestellter Redaktionsbote diesen Bericht und einen zweiten über eine Zigeunerschlacht im Norden Berlins abgeholt hatte, war August Lehnert frei.

Der Rechtsanwalt begann zu erzählen. Wie er sich beeilt hätte, um aus Wannsee schnellstens nach dem Standesamt zu kommen, wie man da zwei Stunden gewartet hätte, – kurz, er schilderte recht eingehend die Ereignisse des Tages, des verunglückten Hochzeitstages.

Der ehemalige Philologe, der Horst Rickelt sehr in sein widerspruchsvolles Herz eingeschlossen hatte, streichelte sich nervös die glattrasierten Wangen, zupfte an dem dünnen blonden Schnurrbärtchen und sagte schließlich, als Hartung nichts mehr hinzuzufügen wußte:

„Ihr hättet die Polizei gleich benachrichtigen sollen, nicht erst vier Uhr nachmittags. Daß Rickelt etwas Ernstes passiert sein mußte, war doch klar. Er ist nicht der Mensch, der die Braut warten läßt, wenn ihn eben nicht Umstände zurückhalten, die außerhalb seiner Verantwortung liegen. Das Letzte, was ihr von ihm erfahren habt, ist also, daß er etwa um acht Uhr zehn Minuten morgens sein bisheriges Junggesellenheim verlassen hat, nicht wahr? – Hm, eine sehr unangenehme Geschichte, dieses Verschwinden. Die armen Rhodens! Kann mir vorstellen, wie die bedauernswerte Braut völlig fassungslos gewesen ist und wie schwer es dir geworden sein mag, die Damen etwas zu beruhigen.“

„Bei Klarissa war das kaum nötig,“ meinte Hartung. „Sie zeigte sich beinahe zu gefaßt. Ich bin dir gegenüber ganz ehrlich Lehnert. Ja – es kommt mir jetzt sogar fast so vor, wo ich mir alles in Ruhe überdenke, als ob sie diese Verzögerung der Hochzeitsfeier wie etwas Befreiendes empfand.“

Der Reporter schaute Hartung über den kleinen Tisch weg scharf an.

„Du dürftest diese Beobachtung wohl mit parteiischen Augen gemacht haben,“ meinte er mit einer Offenheit, die ihm schon manchen Feind eingebracht hatte. „Gib nur acht, du schwärmst doch selbst ein wenig um Klarissa Rhoden. Das habe ich längst gemerkt. Und deshalb paßt dir alles in deinen Kram, was Grund zu der Vermutung gibt, daß das jungen Mädchen den Verlobten nicht übermäßig heiß geliebt hat.“

Hartung war rot geworden. Sein frisches, von Schmißnarben durchfurchtes Gesicht, in dem diese lebhaften dunklen Augen reges Geistesleben verrieten, nahm außerdem jetzt plötzlich einen fast schmerzlichen Ausdruck an.

„Ich leugne nicht, daß es sich bei mir sogar um mehr als nur eine bloße Schwärmerei für Klarissa gehandelt hat,“ sagte er leise. „Vor einem Jahre lernten wir, Rickelt und ich, Rhodens gleichzeitig kennen, wie du weißt. Er hatte weit mehr freie Zeit als ich, sich den Damen zu widmen, und daher – lief er mir den Rang ab. Unsere Freundschaft hat das nicht gestört, obwohl – doch, das ist ja jetzt alles so nebensächlich. Ich bin wirklich in ernster Sorge um Horst. Wir befinden uns in Berlin, wo die unglaublichsten Dinge geschehen.“

August Lehnerts nickte. Und nach einer Weile erklärte er dann:

„Ich werde gleich morgen vormittag zu Rhodens gehen. Sollte man noch keine Nachricht über Rickelts Verbleib haben, so gedenke ich auch auf eigene Faust Nachforschungen nach ihm anzustellen.“

Hartung beugte sich vor Eifer weiter über den Tisch.

„Darum wollte ich dich eigentlich bitten, Alterchen. Du hast ja genügend Zeit. Die Polizei kann diesen Fall bei ihrer Überlastung mit Arbeit doch nur ganz nach Schema F behandeln. Ich selbst aber?! Du weißt ja – mein Beruf ist die reine Hetzjagd!“

 

3. Kapitel.

Die Frau mit der Maske.

Auf dem Fichtentisch mit dem Glanzleinenüberzug stand eine brennende Küchenlampe, deren Metallscheinwerfer das rötliche Licht so verteilte, daß ein Drittel des kleinen Raumes im Halbdunkel blieb.

Dieser Raum war ein fensterloser, niedriger Keller mit zementiertem Fußboden, trockener, muffiger Luft, geweißten Wänden mit vielen Spinngeweben daran und einer festen Holztür, in die oben mit einer Stichsäge ein kleines viereckiges Loch eingeschnitten war. Die Ränder dieses Loches waren noch so frisch, daß es erst vor kurzem zu besonderem Zwecke hier hergestellt sein konnte.

Außer dem einfachen Tisch besaß dieses Gelaß noch als Einrichtungsgegenstände einen Holzstuhl, der einmal hellgrau gestrichen gewesen war, ferner einen eisernen, dreibeinigen Waschständer und schließlich ein niedriges, hölzernes Rahmenbett mit einem Strohsack darauf und zwei bunten Pferdedecken.

Das Bett stand an der Wand gegenüber der Tür im Halbschatten. Ein Schläfer lag darauf, – ein jüngerer Mann in Hemdsärmeln und Lackschuhen. Der schwarze Gehrock, den der Bewohner dieses muffigen Raumes ausgezogen haben mochte, um ihn nicht zu knüllen, war über die Stuhllehne gehängt, so daß die Schöße wie eine Schleppe sich nach hinten auf dem Zementfußboden ausbreiteten.

Der Mann schlief fest und ruhig, atmete tief und setzte zuweilen sogar zu ein paar Schnarchtönen an.

Vorsichtig wurde jetzt die schwarze Holztür geöffnet. Die Angeln waren gut geölt. Ganz geräuschlos trat ein großes, starkknochiges Weib ein, daß in der Linken ein Teebrett aus emailliertem Blech, in der Rechten aber einen sogenannten Totschläger hielt.

Der Schläfer rührte sich nicht. Das Weib, das einen langen, einstmals sauber und wohl auch elegant gewesenen Morgenrock von rotem Stoff mit breiten Seidenaufschlägen anhatte, stellte das Teebrett leise auf den Tisch und drehte dann die Lampe so, daß der helle Schein das Gesicht des Mannes auf dem Bett grell beschien.

Der Erfolg, den das Weib gewünscht hatte, trat ein. Der Lichtschein machte dem Schläfer unruhig, ließ ihn sich erst ein paar Mal hin und herwerfen und dann mit einem Ruck sich aufrichten.

Inzwischen hatte die Frau Zeit gefunden, eine Seidenmaske vor ihrem Gesicht zu befestigen.

Der Mann in Hemdsärmeln rieb sich schlaftrunken die Augen, gähnte mehrmals und musterte dann das Weib eine Weile ohne besonderes Interesse.

„Ah – da sind Sie ja wieder,“ meinte er, abermals gähnend. „Anscheinend haben Sie mir mein Abendessen gebracht. Sehr freundlich von Ihnen – sehr! – Wie spät haben wir’s eigentlich?“ Er tastete an der Weste herum nach seiner Uhr.

„So – ich vergaß! Meine Taschen sind geleert!“ fuhr er dann fort und erhob sich langsam, reckte sich und schaute nach dem Tische hin, als ob er feststellen wollte, was man ihm als Nachtmahl bewilligt hatte.

Das große, kräftige Weib war bis zur Tür zurückgewichen. Von dort aus sagte sie jetzt mit rauher Stimme:

„Ich möchte Sie etwas fragen. Ich warne Sie aber, mich zu belügen.“

„Bitte – fragen Sie nur! Und was das Lügen anbetrifft, ich erklärte Ihnen ja schon kurz nach meiner Einlieferung hier, daß ich gar keinen Grund habe, irgend etwas zu verschweigen oder die Unwahrheit zu sagen.“

Das klang sehr gelassen. Und ebenso gelassen legte der Mann in Hemdsärmeln nun seinen Rock auf das Bett, setzte sich auf den Stuhl an den Tisch, indem er nochmals den Teller mit den belegten Broten und die entkorkte Flasche Bier musterte, die auf dem Teebrett standen.

„Sie behaupten also nach wie vor, der Schriftsteller Doktor Horst Rickelt zu sein?“ begann das Weib wieder.

„Ja – ich behaupte es und ich bin es auch. Ich denke, die Papiere in meiner Brieftasche bezeugen das ebenfalls. – Also – was wollten Sie nun eigentlich fragen?“

Er hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und den Kopf nach der Frau hingedreht. Diese spielte jetzt mit dem lederumflochtenen Totschläger, klopfte damit gegen den lose herabhängenden roten Morgenrock und schaute wie unschlüssig zu Boden. Nicht allein aus der Art, wie sie sprach, nein, auch aus Haltung und Gebärden trat eine gewisse Unsicherheit zu Tage, die Horst Rickelt nicht entging.

„Ich wollte fragen, ob sie nicht ein Doppelleben geführt haben,“ sagte sie darauf zögernd. „Es muß so sein. Wir haben die Beweise dafür in den Händen. Sie waren sowohl Horst Rickelt, der Schriftsteller, als auch ein anderer. Ist dem nicht so?“

Der Gefangene schüttelte den Kopf. Wenn ihn bisher eine Art Galgenhumor, ein gleichgültiges sich Abfinden mit all diesen seltsamen Geschehnissen beherrscht hatte, das wohl hauptsächlich einer gewissen Erleichterung über die vorläufige Verhinderung der Eheschließung mit Klarissa zuzuschreiben war, so packte ihn jetzt plötzlich der Wunsch, sich Klarheit darüber zu verschaffen, weshalb man ihn hier eingesperrt hielt.

Das Weib an der Tür hatte des jungen Schriftstellers Kopfbewegung als Verneinung aufgefaßt.

„Also Sie sind nur Horst Rickelt?“ fragte sie jetzt unzufrieden. „Ich glaube Ihnen das nicht. Ich sagte ja schon bei unserer ersten Begegnung hier in diesem Raume, daß die Dauer Ihrer – Ihrer Haft ganz davon abhängen wird, ob Sie sich verständig zeigen oder nicht.“

Horst Rickelt zuckte die Achseln, griff nach der Bierflasche, hob das dicke, plumpe Glas erst, es auf Sauberkeit prüfend, gegen das Licht und schenkte sich dann ein.

„Nun gut, ich habe ein Doppelleben geführt,“ erklärte er mürrischen Tones. – „Sind Sie nun zufrieden?“

„Ah – also doch!“ entfuhr es der starkknochigen Frau mit sichtlicher Genugtuung. „Dies Zugeständnis genügt vorläufig. – Wollen Sie etwas zu rauchen haben?“

„Etwas? Hm – „etwas“ können auch Sechspfennigzigarren sein oder billige Zigaretten. Und ich bin nur an prima Ware gewöhnt. Im übrigen, haben Sie meinen Wunsch erfüllt und den von mir mit Ihrer freundlichen Erlaubnis geschriebenen Zettel Fräulein Rhoden zugehen lassen?“

„Gewiß, natürlich! Warum auch nicht?“ beeilte sich das Weib zu versichern. Es klang wie die volle Wahrheit und war doch gelogen.

Horst Rickelt war beruhigt. Dann wußte Klarissa wenigstens, daß „ganz besondere Umstände ihn zurückhielten“, wie er auf dem Zettel sich auf Befehl seiner Gefangenenwärterin hatte ausdrücken müssen. –

Er gedachte diese Unterredung mit der Riesendame vorläufig noch nicht zu beenden. Und daher fragte er, um das Gespräch in Fluß zu halten und zu erproben, ob sich nicht noch mehr aus der Maskierten herausholen ließ:

„Wie denken Sie sich eigentlich das Ende dieses meines Abenteuers, Verehrteste?“ Der Galgenhumor war schon wieder da, und es erschien dem jungen Schriftsteller auch ganz angebracht, wenigstens äußerlich so zu tun, als fürchte er für seine persönliche Sicherheit selbst in diesem Kellergelaß nicht das allergeringste.

Die Frau ließ den Totschläger, mit dessen Bleikugel sie sich eben das fette Doppelkinn spielend massiert hatte, sinken.

„Haben Sie wirklich gar keine Angst?“ meinte sie zweifelnd. „Sie sind ein ulkiger Herr. Und eigentlich ist’s schade um Sie!“

Diese letzte Bemerkung erregte in Horst Rickelt gerade keine angenehmen Gedanken. „Eigentlich ist’s schade um Sie!“ – Das klang ja ganz so, als ob er alle Ursache hätte, für sein Leben ernstlich zu fürchten.

Hastig griff er nach dem Bierglase und trank es leer. Flaschenbier haßte er geradezu. Aber jetzt schmeckte es ihm, – merkwürdig genug! Vielleicht nur deshalb, weil es ihm Zeit gab, sich zu fassen und eine recht gleichmütige Antwort zu finden.

„Angst?! – Danach habe ich mich wohl bisher kaum benommen,“ meinte er, sich mit seinem tadellos sauberen Taschentuch die Lippen trocknend. „Ich weiß ja genau, daß ich frei sein werde, sobald ich es will.“ Ihm war soeben etwas eingefallen, eine ganz besondere Idee, und deshalb hatte er diesen letzten Satz hinzugefügt.

Das Weib an der Tür stand einen Augenblick regungslos. Dieses „sobald ich es will“ hatte sie stutzig gemacht. Das hatte so wenig nach leerer Prahlerei geklungen.

Dann sagte sie: „Ah, Sie hoffen, hier gewaltsam fortzukommen?!“ Sie lachte etwas höhnisch auf. „Die Gedanken schlagen Sie sich nur aus dem Kopf! Wir sind denn doch vorsichtiger, als Sie vielleicht meinen.“

„Auch Vorsicht hilft nichts gegen überlegenen Zwang,“ erklärte er kühl. „Verstehen Sie etwas von Gedankenfernbeeinflussung, ja?“

Sie lachte wieder kurz auf. „Das Witzemachen wird Ihnen schon vergehen!“ meinte sie drohend. Dann drehte sie sich um, pochte mit dem Zeigefinger dreimal gegen die Tür, worauf diese sich gerade so weit öffnete, daß das Weib hinausschlüpfen konnte.

Horst Rickelt hörte das Schnappen eines Schlosses. Dann war alles still. Kein Laut drang von draußen zu ihm herein. Unheimliches Schweigen lastete um ihn her.

Und jetzt zum ersten Mal beschlich den jungen Schriftsteller in der Tat ein unangenehmes Empfinden. Es war Angst – blasse Angst. Ihm fielen Fälle ein, wo Menschen spurlos in Berlin verschwunden waren, – spurlos, als habe der Wind einen Grashalm weggeweht.

Mit einem Ruck stand er auf und begann in dem kleinen Gelaß auf und ab zu gehen. Abermals grübelte er darüber nach, weshalb man ihn in aller Welt auf diese Weise hierhergebracht habe, wer die Menschen sein mochten, die diesen Streich veranlaßt hatten, und wo er sich eigentlich befand.

Doch all dieses Kopfzerbrechen war jetzt genau so umsonst wie vorher – genau so! Aber gerade aus dieser Ungewißheit wuchs nun immer stärker die Furcht wie ein drohendes Gespenst hervor, die Furcht, daß die Leute, deren Schlauheit er heute zum Opfer gefallen war, sich vielleicht auch nicht scheuen würden, die Zahl der in Groß-Berlin spurlos Verschwundenen um einen weiteren Fall zu vermehren.

Seine bisherige Gelassenheit brach wie ein Kartenhaus zusammen. Er begriff sich plötzlich selbst nicht, daß er bis vor kurzem noch diesem mehr als seltsamen Abenteuer fast wie ein Unbeteiligter gegenübergestanden hatte. Oder – war dieses Unbeteiligtsein lediglich das befreiende Bewußtsein gewesen, sich heute nicht an Klarissa Rhoden fürs ganze Leben binden zu müssen, war die Angst vor dieser Ehe bei ihm doch so groß gewesen, daß er den Zwischenfall vom Vormittag mit seinen Folgen, deren letzte seine Einkerkerung war, wie eine halbe Erlösung betrachtet hatte?!

Klarissa! – Ohne jede Sehnsucht dachte er an sie. Auch jetzt wieder. Dachte an sie wie ein Freund an seine beste Freundin, von der er weiß, daß sie seinetwegen in Sorge sein wird, auch daran, daß die Lästerzungen der lieben Nächsten nun diese Hochzeit ohne Bräutigam nach allen Seiten hin durchhecheln würden. Und das war ihm am schmerzlichsten. Besonders auch um Frau Rhodens willen.

Ein Seufzer stahl sich über seine Lippen. Mitten in dem dumpfen Kellerraum stand er und starrte vor sich hin.

Das Ende dieses Abenteuers – ja, wie würde es ausfallen?! Selbst wenn die, die ihn hier gefangen hielten, ihm nicht ans Leben wollten, – zum mindesten mußte er sich auf eine längere Haft gefaßt machen. Hätten seine Feinde es eilig gehabt, irgend etwas von ihm vielleicht zu erpressen, – irgend etwas, dann hätten sie doch schon angedeutet, was sie von ihm verlangten. Nichts davon – nichts! Nur das schlampige Riesenweib hatte er bis jetzt hier zu Gesicht bekommen, nur Fragen hatte die Frau ihm vorgelegte, aus denen er nicht klug wurde.

Doppelleben?! – Was sollte das nur wieder?! – Gewiß – er schrieb wohl Romane! Aber für abenteuerliche Dinge hatte er nie Sinn gehabt. Seine Phantasie schuf die seltsamsten Geschehnisse, seine Feder hielt sie fest, der Drucker vermittelte sie dem Publikum, – aber er selbst?! Er konnte sich kaum noch besinnen, je etwas Absonderliches durchgemacht zu haben – nein, nie!

Halt – doch etwas! Und das war damals vor drei Wochen gewesen, nachdem er sich auf Klarissas Drängen den schönen Dichterspitzbart hatte abnehmen lassen und sein Gesicht dadurch um Jahre verjüngt erschien, – damals als auch die goldene Brille beiseite gelegt wurde und er die etwas kurzsichtigen Augen langsam wieder an das Sehen ohne künstliche Hilfsmittel gewöhnt hatte.

Damals – damals in der Stadtbahn – ja, das war seltsam, unerklärlich gewesen. Und damals hatte er das blonde, zierliche Geschöpf mit den verträumten Augen und dem traurigen Zug um den süßen, vollen Mund kennen gelernt.

Der Hunger war es, der Horst Rickelt schließlich nach langem Auf und Ab an den Tisch zurücktrieb. Die belegten Brote sahen ganz appetitlich aus. Und er ließ nichts davon übrig.

Dann brannte die Lampe trüber und trüber. Das Petroleum in dem Glasbassin reichte an den Docht nicht mehr ganz heran.

Da zog er die Lackschuhe aus, stellte den Stuhl an das Kopfende des Bettes und die Lampe darauf, legte sich nieder und löschte das Licht.

Aber er lag noch lange wach und grübelte, lauschte in die Finsternis hinein und – dachte kurz vor dem Einschlafen daran, daß das maskierte Weib ihm nun doch weder Zigarren noch Zigaretten gebracht hatte – vielleicht, weil er „prima Ware“ verlangte.

*

Die Frau im roten Morgenrock hatte Horst Rickelts Zelle verlassen. Draußen hinter der Tür war Bomben-Otto postiert gewesen und hatte durch das kleine Guckloch beobachtet, was in dem Gelaß geschah. Jetzt drehte er den Schlüssel um, schob noch die beiden gutgehölten Riegel vor und musterte mit zufriedenem Blick den grauschwarzen Eisenblechbeschlag der Tür. Dann folgte er dem Weibe, das inzwischen den Totschläger auf eine Kiste gelegt und dafür eine ebensolche billige Küchenlampe zur Hand genommen hatte, wie sie dem jungen Schriftsteller in seinem Gefängnis überlassen worden war.

Dieser Vorraum der Zelle war sehr schmal. Gegenüber der Zellentür gab es in der Mauer eine niedrige, enge Pforte aus Ziegelsteinen, die in einen eisernen Rahmen so eingefügt waren, daß, wenn die Pforte geschlossen war, ein Uneingeweihter sie für einen Teil der getünchten Mauer halten mußte.

Bomben-Otto mußte sich bücken, um durch diesen geheimen Zugang hindurchzukommen, der in einen großen Keller mündete, in dem an der Decke eine Gaslampe mit gelblichem Licht brannte und der mit einer merkwürdigen Auswahl von allerlei Dingen geradezu vollgestopft war. An langen Ständern hingen da Kleidungsstücke, an den Wänden lehnten Fahrräder, standen Kinderwagen und kleinere Möbel, während in der Mitte Schränke, Kommoden, Tische und anderer Hausrat aufgestapelt waren. Die Zwischenräume wieder füllten ganze Stöße von Büchern, Wanduhren, Truhen, Bildern und Bündel von Federbetten aus.

Ein Geruch von Armut lag über alledem. Und zumeist waren es die Ärmsten der Armen gewesen, die mit ihren Pfandleihestücken diesen Raum bedacht hatten. Auf „bessere“ Kundschaft rechnete Gottfried Edelmann auch kaum. Nur selten verirrte sich mal in seinem Kellergeschäft ein lockerer Bruder Studio und versetzte Uhr und Ringe, oder eine seiderauschende, geschminkte Dame, die dann Herrn Edelmann gegenüber alle Vornehmheit vergaß und ohne Scheu in der Sprache mit ihm verhandelte, wie sie in den Nachtkafees von Berlin N. unter den weiblichen Stammgästen üblich ist.

Das Weib im roten Morgenrock löschte hier die Lampe aus und stellte sie auf einen Stuhl bei Seite. Dann wandte sie sich Bomben-Otto zu, der eben einer Zigarre die Spitze abbiß und nun sein Feuerzeug hervorholte.

Die Frau, deren schwammige Züge noch die Spuren einstiger Schönheit verrieten, schaute den athletisch gebauten Freund des schlanken Wieselchen mit einem koketten Lächeln an:

„Sie bleiben also die Nacht hier, Herr Rulicke, nicht wahr? Ich werde Ihnen dort im Vorraum ein Lager herrichten. ‘n Wächter muß sein. Man kann nie wissen, ob „Er“ nicht doch Dummheiten macht. Da gebe ich meinem Manne ganz recht.“

Bomben-Otto zuckte geringschätzig die Schultern.

„Der und Dummheiten! So ‘n Tintenhengst! Und bei so ‘ne Isolierzelle! – Blech! – Aber, wenn’s davor Münze jibt – meineswejen!“

Frau Julia Edelmann lächelte noch immer. Aber innerlich ärgerte sie sich nicht wenig über diesen ungalanten Menschen, dessen Bekanntschaft man vor vierzehn Tagen durch Wieselchens Vermittlung gemacht hatte und in dessen Person das rüstige Weib nun all ihre reife Maiensehnsucht vereinigte – vorläufig leider erfolglos, da dieser Otto Rulicke in manchen Dingen harmlos wie ein Kind schien.

„Natürlich erhalten Sie dafür bezahlt, das lassen Sie nur meine Sorge sein,“ erklärte sie eifrig, wollte da noch etwas hinzufügen, das ihre persönlichen Wünsche stärker beleuchtete, wurde aber von Gottfried Edelmann unterbrochen, der mit seinen zweihundertundvierzig Pfund mühsam herbeigekeucht kam und heiser und nach Luft schnappen sagte:

„Komm’ nach vorne, Julia. „Sie“ ist wieder da. Und „Sie“ will dich sprechen.“

Bomben-Otto spitzte die Ohren.

„Da könnt’ ich mich „Ihr“ ja auch gleich präsentier’n,“ meinte er. „Vielleicht läßt sich da noch was Besonderes lockermachen, weil alles so fein jeglückt is.“

Edelmann erhob abwehrend die Hände.

„Herr Rulicke, wer weiß, ob „Sie“ überhaupt Ihre Bekanntschaft machen will. Jedenfalls muß ich erst fragen. Warten Sie nur bitte hier.“

Bomben-Otto stieß ein ärgerliches Brummen aus.

„Die Jeschichte wär’ richtig! Von uns viere, die in diesen oberfaulen Zauber einjeweiht sind, bin ick der eenzije, der „Sie“ noch nich zu Jesicht jekriejt hat. Bin ick schlechter als die anderen?! Ick valange, daß –“

„Ja, ja – soll ja auch jeschehen!“ unterbrach Edelmann den gereizten Athleten. „Nu – vorwärts, Julia. Sie sagt’, sie hat’s eilig –“

 

4. Kapitel.

Der Tote im Auto.

Bis gegen Mitternacht saßen Hartung und Lehnert noch bei Mutter Dieball. Dann brachen sie auf. Sie hatten noch eine ganzes Stück des Nachhauseweges gemeinsam zurückzulegen und schlenderten nun langsam am Potsdamer Ufer entlang dem Lützowplatz zu.

Die Nacht war wunderbar mild. August Lehnert hatte poetische Anwandlungen. Auch das kam bei ihm vor. Dann dichtete er aus dem Stegreif.

Der Rechtsanwalt hörte schweigend zu, wie der Freund den Zauber der Maiennacht in Versen pries. Wahrhaftig, dieser Mensch konnte einfach alles! Und war mit dieser Intelligenz doch im Zigeunertum des Berichterstatterdaseins stecken geblieben. Schade um ihn! – Und noch mehr dachte Hartung. Soeben hatte der Freund halblaut deklamiert:

Maiennacht, Nacht der Erfüllung,
Zeit der Sehnsuchtsstillung,
sanft und weich wie Frauenhände –

Und da hatte der Rechtsanwalt sich wieder an Horst Rickelt erinnert, an die leere Wohnung da draußen in Schmargendorf, die der Schriftsteller heute mit seinem jungen Weibe hatte beziehen wollen.

Was nur Rickelt zugestoßen sein mochte?! Am sonderbarsten bei der ganzen Sache war doch jedenfalls, daß er Rhodens keinerlei Nachricht hatte zugehen lassen. Falls er – und Hartung hielt an diese Ansicht hartnäckig fest – noch im letzten Augenblick anderen Sinnes geworden war, dann hätte er doch fraglos auch den Mut gefunden, die beiden Rhodenschen Damen über seine Gründe für den Rücktritt von diesem Eheplane sofort zu verständigen. Aber nichts war bei Rhodens eingegangen – keine Zeile, nichts, nichts –!

Der Rechtsanwalt sah jetzt wieder Klarissa vor sich – Klarissa in dem neuen, für das Standesamt gearbeitetem Kostüm, dem hellen Sommerhut und – den ganzen sinnbetörenden Liebreiz, der dieses junge, rassige Weib umgab. Sein Herz schlug schneller. Lehnert hatte ja nur zu sehr recht damit, wenn er behauptete, daß ein Mann schon ganz schwerwiegende Gründe haben müsse, um eine Klarissa Rhoden aufzugeben.

Hartung fuhr jetzt leicht zusammen, als er und Lehnert von der anderen Seite der Straße plötzlich angerufen wurden.

Sie waren gerade in den Lützowplatz eingebogen. Drüben an der Bordschwelle des Bürgersteiges stand ein Auto, dessen Chauffeur nun zum zweiten Male rief:

„He, meine Herren, – einen Augenblick!“

Der Mann in der Lederjacke kam jetzt auch auf sie zu.

„Meine Herren, – eine Bitte,“ sagte er aufgeregt. „Suchen Sie mir doch einen Schutzmann. Da ist mir eine sehr unangenehme Geschichte passiert. Ich habe nämlich einen toten Fahrgast im Wagen.“

August Lehnert vergaß alle Maienpoesie. Jetzt wurde er wieder Sensationsreporter. So träge er auch sonst war, tote Fahrgäste gab es selbst in Berlin selten. Die Sache roch nach bequemem Verdienst. Und daher schritt er sehr eilig auf den Kraftwagen zu und schaute hinein.

Nur das Vorderdeck war aufgeklappt. Und auf dem Sitz lehnte mit gesenktem Kopf ein Mensch in einem langen Gummimantel, dem ein weicher, heller Filzhut tief ins Gesicht gedrückt war.

Keine drei Meter hinter dem Auto stand eine Straßenlaterne. Deren Lichtschein genügte vollauf, um alles im Innern des offenen Wagens zu erkennen. So sah Lehnert denn auch sofort, daß der Tote mit einer starken, um die Brust gehenden Schnur in der Ecke in dieser halb aufrechten Stellung angebunden war. Sonst wäre die Leiche eben nach vorne heruntergerutscht.

Der Chauffeur und Hartung waren hinter Lehnert getreten, und Ersterer erzählte jetzt, ebenso ärgerlich über den entgangenen Verdienst wie erregt über dieses Abenteuer, das ihm viele Scherereien mit der Polizei einbringen würde:

„Ja, denken Sie, meine Herren, ich komme da vor einer Viertelstunde von einer Tour nach Westend zurück und fahre durch den Tiergarten. Da ruft mich ein Mann an, ein Kerl im leichten dunklen Havelock[1], wie ihn jetzt kein Mensch mehr trägt, – wenigstens nicht gerade viele. Und der Mensch sagt, seinem Freunde wäre eben schlecht geworden. Ich solle ihm doch helfen, den Ohnmächtigen in das Auto zu schaffen. Nun – warum nicht? Ich faßte also mit an. Der Kranke lag lang auf einer Bank am Wege. Wir hatten ihn denn auch schnell verstaut. Der Kerl im Havelock nahm ihn auf dem Rücksitz in die Arme und hielt ihn fest. – Nach Lützowplatz 14 solle ich fahren, befahl er und fügte noch hinzu: „Die Frau meines Freundes wird einen schönen Schreck bekommen. Hoffentlich erwachte er inzwischen wieder aus seiner Ohnmacht.“ – Also ich fahre los, und wie ich nun hier vor Lützowplatz 14 halte, da – ist der Kerl im Havelock verschwunden, – während der Fahrt heimlich abgesprungen, denn die rechte Tür stand noch auf. Und dann – das war ein schöner Schreck für mich! – merkte ich, daß der angeblich Ohnmächtige auf dem Sitz festgebunden war und daß ich – eine Leiche hierhergebracht hatte.“

Lehnert griff jetzt in den Wagen hinein und nahm dem Toten den das Gesicht beschattenden und es halb verdeckenden Filzhut ab.

Er prallte zurück, und auch Hartung stieß einen leisen Schrei der Überraschung, mehr noch, des Entsetzens aus.

Der Reporter hatte sich schnell gefaßt, trat auf das Trittbrett, beugte sich weit vor und sagte dann halblaut:

„Es ist Rickelt – kein Zweifel!“–

Zehn Minuten später saßen Lehnert und der Anwalt auf der nächsten Polizeiwache einem Kriminalkommissar gegenüber. Soeben war der Chauffeur der Autotaxe Nr. 2224 vernommen worden.

Jetzt wandte sich der Beamte den beiden Freunden zu.

„Sie sind sich Ihrer Sache also ganz sicher, meine Herren, daß der Tote der Schriftsteller Doktor Horst Rickelt ist, nicht wahr?“

Hartung antwortete, da Lehnert sehr eifrig in seinem Notizbuch schrieb:

„Die Identität steht fest. Außer der Ähnlichkeit mit Rickelt kommt ja noch das kleine, längliche Muttermal an der linken Schläfe in Betracht. Gerade dieses schließt jeden Zweifel aus.“

Ein Kriminalschutzmann in Zivil betrat das Zimmer und meldete:

„Doktor Mersing hat den Toten untersucht, Herr Kommissar. Es liegt Mord vor, – Messerstich ins Herz mit ganz geringem Blutverlust nach außen.“

Hartung fuhr von seinem Stuhle hoch.

„Mord – Mord?“ stotterte er.

Da sagte August Lehnert leise, indem er ihm traurig zunickte:

„Ich habe das geahnt. Die ganzen Umstände, wie der Mann im Havelock sich der Leiche entledigt hat, ließen schon darauf schließen, obwohl zunächst ja von einer äußeren Verletzung nichts zu bemerken war.“ –

Diese erste Vernehmung der beiden Freunde zog sich nicht allzu lange hin. Bereits nach zehn Minuten wurden sie entlassen.

Als sie die nächtlich stille Straße vor der Polizeiwache betraten, blieb Hartung eine Weile stehen und fächelte sich mit dem Hute Luft zu.

„Ich muß erst wieder richtig zu mir kommen!“ sagte er ganz tonlos. „Dieses Entsetzliche hat meine ganze Denkmaschinerie in Unordnung gebracht. Horst Rickelt ist noch an seinem Hochzeitstag ermordet worden, – wie furchtbar ist das!“

Dann gingen sie weiter. Auch Lehnert hatte der Tod des jungen Schriftstellers etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, doch lange nicht so sehr wie den Anwalt, da er durch seinen Beruf mehr an traurige und auch furchtbare Vorfälle gewöhnt war.

„Wie wär’s noch mit einer Tasse Kaffee?“ meinte der Reporter nach einer Weile. „Schlafen werden wir beide vorläufig doch nicht können.“

Auf dem Lützowplatz trafen sie gerade noch eine Elektrische, die durch die Tauentzienstraße und über den Kurfürstendamm fuhr und die sie benutzten, um schneller nach dem Cafee des Westens zu kommen, das Lehnert stets bevorzugte, weil das Nachtleben des reichen Berlin W. dort mit seinem seltsamen Gemisch von wahrer Vornehmheit, Emporkömmlingstum, internationaler Abenteuerwelt und einem meist ebenso seiderauschenden wie fragwürdigen Damenflor am deutlichsten in die Erscheinung trat.

Die beiden Freunde fanden noch einen freien Tisch vor einer der Seitennischen. Die kostbare Ausstattung, das feinabgetönte Licht, die gedämpfte Musik und das ganze Leben und Treiben ringsum lenkte die Gedanken der neuen Gäste wohltätig von den grausigen Erinnerungen dieser letzten Stunde ab, – denn das Bild des in dem Auto festgebundenen Toten war wirklich grausig gewesen, und es war nicht weiter verwunderlich, wenn der Anwalt vorhin erklärt hatte, er würde diesen zusammengesunkenen Leichnam in dem langen Gummimantel mit der starken Schnur über der Brust so leicht nicht aus seiner Erinnerung fortwischen können.

Einsilbig, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, saßen sie da.

Hartung dachte ein Klarissa Rhoden. Der Tod Rickelts hatte die längst zu Grabe getragenen Herzenswünsche des jungen Rechtsanwaltes wieder erwachen lassen. Er wehrte sich gegen diese frisch aufkeimende Hoffnung, fand sie verwerflich, da sie sich auf dem Unglück eines Anderen aufbaute. Aber er war nur ein Mensch, und ganz unwillkürlich glitten seine Gedanken doch immer wieder auf die verbotene Bahn.

August Lehnert beschäftigte sich lediglich mit seiner Umgebung. Er fand hier genug bekannte Gesichter. Sein Beruf brachte es mit sich, daß er mit Berlin aus- und inwendig vertraut sein mußte, auch mit all den Personen, die einmal in der Reichshauptstadt eine Rolle – sei es in gutem oder schlechtem Sinne – gespielt hatten oder noch spielten. Kaum einer in Berlin wußte in der Skandalchronik so gut Bescheid wie er. Dabei kam ihm sein verblüffend sicheres Personengedächtnis und seine Fähigkeit, selbst unbedeutende Vorgänge mit allen Einzelheiten noch lange nachher auseinanderzuhalten, sehr zu statten.

In der Nische hinter dem Tisch der beiden Freunde saß ein jüngerer, sehr elegant gekleideter, aber auch sehr verlebt aussehender Herr. Als Lehnert ihn flüchtig gemustert hatte, bevor er sich mit dem Rücken nach der Nische hin auf den Polsterstuhl setzte, war dem Reporter dieses blasse Gesicht mit den welken Zügen sofort aufgefallen. Nach einer Weile hatte er in dem Buche seiner Erinnerungen dann die richtige Seite gefunden: Ernst Forbach, Spitzname „Wieselchen“, – Buchmacher, Hochstapler und – großes Sorgenkind der Polizei, die sich bisher vergeblich bemüht hatte, diesen geriebenen Burschen hinter Schloß und Riegel zu bringen. Wieselchen war zu schlau und hatte sich nie abfassen lassen, obwohl er bereits mehrfach in recht unsaubere Geschichten hinein verwickelt gewesen war.

Dieser Ernst Forbach wurde von dem Geschäftsführer und den Kellnern als alter, gut zahlender und viel verzehrender Stammgast mit größter Aufmerksamkeit behandelt. Die drei unbesetzten Stühle seines Tisches waren hochgekippt als Zeichen, daß hier noch weitere Gäste erwartet wurden. Und Wieselchen hatte recht oft höfliche Fragen neuer Ankömmlinge, ob man Platz nehmen dürfe, mit einem mürrischen „bestellter Tisch!“ beantworten müssen.

Jetzt rauschte eine schlanke, tief verschleierte Dame, die einen seidenen Mantel über einem ausgeschnittenen Gesellschaftskleide trug, mit lässiger Sicherheit durch die Tischreihen hindurch und steuerte auf Wieselchens Nische zu.

Die Dame erregte wohl nur infolge des dichten, gestickten Schleiers einiges Aufsehen. Ernst Forbach begrüßte sie höflich, aber doch mit einer gewissen Vertraulichkeit.

Lehnert hörte, wie sie zu Wieselchen als Begrüßung sagte: „Es ist spät geworden – die dummen Zugaben,“ worauf Wieselchen meinte, „Diese ganze Nachtarbeit soll der Deubel holen!“ Dann sprachen die beiden in so leisem Flüsterton, daß der Reporter nur hin und wieder ein paar Worte verstand, zwischen denen sich jedoch kein Zusammenhang herstellen ließ.

Lehnert schloß aus den „dummen Zugaben“ und der „Nachtarbeit“, daß die Verschleierte nur eine Kabarettkünstlerin sein könne. Die Vorstellungen in den Theatern und Varietees waren ja längst vorüber.

Plötzlich nahmen des Reporters Züge einen gespannten Ausdruck an, der aber ebenso schnell wieder verschwand. Als Hartung jetzt das Wort an ihn richtete, sagte Lehner hastig: „Nicht sprechen – bestelle ein paar Zeitschriften.“

Der Anwalt ahnte sofort, daß Lehnert nicht gestört sein wollte und etwas Besonderes vorhaben müsse. Er richtete sich also danach, ohne seine Überraschung und Neugier sich irgendwie anmerken zu lassen, und vertiefte sich scheinbar in eine Zeitung, während sein Gegenüber in der „Jugend“ blätterte.

So verging eine gute Viertelstunde. Selten hatte Lehnert sich so sehr bemüht, von der Unterhaltung ihm im allgemeinen gleichgültigen Personen ein paar Worte aufzufangen wie heute. Aber er hatte kein Glück mehr. Das Gespräch der Verschleierten und Wieselchens hatte jetzt einen völlig harmlosen Inhalt.

Dann – die Musik hatte eben einen neuesten Walzer mit viel Schwung und wenig Takt vorgetragen – bog er unwillkürlich den Kopf mehr nach rückwärts, indem er so tat, als wolle er die Fernwirkung eines Bildes aus der „Jugend“ prüfen. Er hörte, wie die Verschleierte mit Nachdruck sagte:

„Auf jeden Fall fährst du gleich heute morgen. Du darfst nicht hier bleiben –“ Die Zwischenworte verstand Lehner nicht, dafür aber den Schluß des Satzes „gerade dich zu leicht nach einer auch nur oberflächliche Beschreibung erkennen.“

Des Reporters Entschluß war gefaßt.

„Hartung, wir wollen bezahlen. Ich bin müde,“ sagte er ziemlich laut. – „He – Ober, – bitte hier –“

Die Rechnung war bald beglichen. Dann verließen die Freunde das Cafee. Lehnert warf auch nicht einen Blick nach der Nische hin. Trotzdem stellte er fest, daß Wieselchen ebenfalls die Zeche erledigte, die nicht gering zu sein schien.

Als sie kaum auf dem breiten Bürgersteig des Kurfürstendammes, dieser gerade im ersten Frühlingsgrün so prachtvollen Schmuckstraße mit ihren alten Bäumen und stilvollen, modernen Bauten hinausgetreten waren, fragte der Anwalt neugierig:

„Was hattest du nur vorhin? Suchtest du etwa das Pärchen hinter uns in der Nische zu belauschen?“

„Deine Vermutung trifft zu. Ich will dich auch gleich schnell darüber aufklären, weshalb ich auf die beiden aufmerksam wurde. Den Mann kenne ich von Ansehen. Ein übelberüchtigtes Subjekt, der in seinen Kreisen Wieselchen genannt wird. Die verschleierte wieder muß nach ein paar von mir aufgefangenen Bemerkungen eine Kabarettkünstlerin sein. Wieselchen redete sie nur einmal mit „Luz“ an, was doch nur eine Abkürzung von Luzie sein konnte.

„Ah – Luzie Molla!“ warf Hartung eifrig ein.

„Stimmt – es wird die schöne Luzie gewesen sein, so unwahrscheinlich das auch ist, daß sie ja stets die überaus solide, ehrbare spielt und Wieselchen daher für sie nicht gerade die geeignete Bekanntschaft ist. Jedenfalls sprechen auch Figur und Stimme für den neuen Brettlstar. – Doch das hätte mich alles ziemlich kalt gelassen, wenn in der Nische nicht plötzlich, als die Musik eben noch von einer Fortissimo-Stelle zum Pianissimo überging, Horst Rickelts Name genannt worden wäre. – Ja, denke dir, Horst Rickelts! Und die schöne Luzie sprach ihn aus. – Dann nach einer Weile kam derselbe Name nochmals über Wieselchens Lippen. Und deshalb hatte ich alle Ursache, sehr genau hinzuhorchen, ob ich nicht vielleicht noch mehr erlauschen könnte. Ich sagte mir, daß die beiden in der Nische sich wohl kaum über unseres armen Horsts schriftstellerische Fähigkeiten unterhalten haben dürften, zumal Rickelt weder die Kabarettdiva noch diesen üblen Burschen, den Ernst Forbach, gekannt hat. Das Pärchen kam mir daher verdächtig vor, und meine Horchertätigkeit brachte mir schließlich auch ein paar Sätze aus dem Gespräch der Nischeninsassen ein, aus denen ich entnahm, daß Wieselchen alle Ursache hat, Berlin für einige Zeit zu verlassen. – Doch, da kommen die beiden. Biete mir schnell eine Zigarette. – Danke. Wir werden ihnen folgen. Ich muß herausbringen, wo sie bleiben!“

 

5. Kapitel.

Ein Reporter an der Arbeit.

Fünf Stunden später auf dem fernen Bahnsteig des Friedrichstraßenbahnhofs.

August Lehnert saß auf einem der Gepäckkarren und gähnte. Er war hundemüde – zum Umsinken! Aber er durfte nicht müde sein. Er zergrübelte sich den Kopf, wie er es verhindern konnte, daß Wieselchen, der da fünfzig Meter vor ihm auf einer der Bahnsteigbänke Platz genommen und eine Fahrkarte 2ter nach Köln in der Tasche hatte, das Weite suchte.

Dazu, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen und lange Erklärungen abzugeben, weshalb Wieselchen besser in Berlin bis auf weiteres zurückzuhalten wäre, fehlte August Lehnert die Zeit. Außerdem, wer bürgte ihm dafür, daß die Behörde auch sofort seinen Angaben so viel Wichtigkeit beimaß, um ungesäumt zuzupacken?! – Hm – hier hieß es: Selbst ist der Mann.

Der Berichterstatter gähnte abermals. Aber jetzt blieb ihm der Mund eine Weile offenstehen. – Donner – das wäre eine Idee, sagte er sich. Blitzartig war ihm da ein Gedanke durch den Kopf gezuckt. –

Hm – zwar eine Gemeinheit, – aber dem – dem Burschen gegenüber brauchte man in der Wahl der Mittel nicht zu gewissenhaft zu sein.

Also vorwärts! – Der Reporter war wieder ganz munter geworden, nahm seine Geldbörse aus der Schlüsseltasche der Beinkleider und schob sie in die rechte Außentasche seiner blauen, schon reichlich blanken Jacke.

Der D-Zug nach Köln lief ein. Es entstand an den Wagentüren ein ziemlich lebhaftes Gedränge. Die Reisezeit hatte begonnen, und die wohlhabenden Berliner kehrten der Reichshauptstadt, in der es von Tag zu Tag heißer wurde, den Rücken.

Der Geheimschutzmann, der heute auf dem Bahnsteig Dienst hatte, bekam plötzlich Arbeit. Ein erregter Wortwechsel vor einem Wagen 2ter lockte ihn herbei. Rufe „Polizei – ein Taschendieb!“ wurden laut, und wenige Minuten später brachte ein uniformierter Schutzmann Wieselchen und Lehnert nach der Wache im Bahnhofsgebäude, wo der Reporter sich einwandfrei auswies und Wieselchen beschuldigte, ihm die Börse aus der Jackentasche herausgelang zu haben.

Der in dieser Weise Verdächtigte hatte bisher keine Zeit gefunden, sich zu verteidigen. Das Publikum hatte auf dem Bahnsteig sofort gegen ihn Partei ergriffen, als Lehnert ihn am Arm packte und ihm scheinbar höchst aufgebracht vorwarf, seine Börse gestohlen zu haben. Ein paar Reisende hatten den angeblichen Taschendieb festgehalten, und so war Wieselchen jede Möglichkeit genommen, durch Vorweisen seiner gesamten Habe den Verdacht zu zerstreuen.

Jetzt mußte er seine Taschen auf der Wache entleeren. Und, siehe da, – August Lehnerts braunrotes Portemonnaie steckte in der linken Tasche von Wieselchens großkariertem Reisemantel.

Der Geheimpolizist, der sich auf der Wache befand, war zu Ernst Forbachs Unglück noch einer von den Beamten, die den allglatten, nicht zu fassenden besonderen Liebling der Polizei von Ansehen sehr gut kannten, ebenso auch den bestens beleumundeten Reporter.

Das gab den Ausschlag. Wieselchen mußte trotz allen Lamentierens seine Reise aufgeben und dulden, daß der Kriminalschutzmann jetzt auch seine Reisetasche durchsuchte. Dabei kam eine goldene Herrenuhr mit schwerer goldener Kavalierkette, die in ein zusammengerolltes Nachthemd eingewickelt gewesen war, zum Vorschein.

Die Geldbörse und die Uhr, über deren Erwerb Ernst Forbach sehr landläufige, in Verbrecherkreisen höchst beliebte Angaben – Kauf von dem großen Unbekannten! – machte, vermittelten ihm die Gratisfahrt im „grünen Wagen“ nach dem Polizeipräsidium.

August Lehnert aber wurde sehr höflich entlassen und benutzte einen Stadtbahnzug bis zur Station Zoologischer Garten, wo er ausstieg, um zu Fuß nach der Nebenstraße des Wittenbergplatzes zu wandern, in der er in einem alten vierstöckigen Hause hoch oben in einer Giebelstube für fünfzehn Mark monatlich wohnte.

Des Reporters Gewissen über den eigentlich recht schändlichen Streich, den er Wieselchen gespielt hatte, war durch den Fund von Uhr und Kette in seines Opfers eleganter Reisetasche so ziemlich wieder beruhigt worden. Und kaum war er in sein eisernes Feldbett unter die weißüberzogene Steppdecke geschlüpft, als er auch schon einschlief. Vorher hatte er noch seinen Wecker auf zwölf gestellt. Vier Stunden Schlaf mußten ihm heute genügen.

Die Giebelstube hatte zwei kleine Fenster, vor denen knallgelbe, zu stark gekremte Gardinen hingen. Das Mobiliar war sehr bescheiden. Trotzdem und trotz der nur mit Ölfarbe gestrichenen Wände war August Lehnerts Heim ganz behaglich.

Um zwölf schnurrte der Wecker. In einer knappen Viertelstunde hatte der Reporter sich rasiert und angekleidet, nachdem er gleich nach dem Verlassen des Bettes durch drei starke Schläge mit dem Stiefelabsatz auf den Boden seiner unter ihm wohnenden Wirtin telegraphiert hatte, daß er den Morgenkaffee wünsche.

Frau Bremer erschien denn auch rechtzeitig mit dem Kaffee, wünschte ihrem langjährigen Mieter freundlich guten Morgen und machte mit ihm dann noch den üblichen kleinen Schwatz.

Von ihr erfuhr Lehnert auch, daß an den Anschlagsäulen bereits eine Benachrichtigung der Polizei an das Publikum über den an Horst Rickelt verübten Mord angeklebt und daß für die Ergreifung des Täters eine hohe Belohnung ausgesetzt sei.

Die Polizei hatte schnell gearbeitet. Der Reporter freute sich dessen. Er wußte am besten, wie tadellos es mit dem gewaltigen Apparat der Fahndungsbehörde zu klappen flegelte und wie wenig die große Menge dies anerkannte. Nun – dieses Mal würde der kritiklüsterne Moloch Publikum wohl zufrieden sein. Noch keine zwölf Stunden seit Auffindung der Leiche waren vergangen, und schon regten sich die tausend Arme der Polizei zu nachdrücklichster Geschäftigkeit.

Frau Bremer, die Witwe eines früh verstorbenen Gerichtskanzlisten, war ein peinlich sauberes, vergnügtes Frauchen, die sich mit ihrem einzigen Kinde schlecht und recht durchs Leben schlug. Ihren Mieter liebte sie wie eine Mutter. Man hätte hier den Verhältnissen nach auch sagen können, wie eine Schwiegermutter den mit Freuden willkommen geheißenen Schwiegersohn, – wenn eben nicht August Lehnert für die lieblichen Reize Fräulein Grete Bremers so vollständig unempfänglich gewesen wäre.

Über diese Gleichgültigkeit und diese hartnäckige Ehefeindschaft des Reporters kam Frau Bremer schwer hinweg. Noch hatte sie ja die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, daß August Lehnert sich würde bekehren lassen. Und sie benutzte denn auch jede Gelegenheit, um ihrer Ansicht nach in sehr unverfänglicher Weise ihrem Mieter vor Augen zu führen, daß ein Junggeselle stets nur ein halber Mensch bliebe und daß das wahre Glück in einer harmonischen Ehe liege. Sie sagte tatsächlich stets „harmonisch“. Das Wort schien ihr gut zu gefallen, denn sie gebrauchte es schließlich auch da, wo es gar nicht hin paßte.

Als sie jetzt mit dem Reporter diese dunkle Mordsache besprach – sie wußte, daß Lehnert mit dem Toten befreundet gewesen war und daß dieser gestern hatte Hochzeit feiern wollen –, konnte sie sich nicht genug tun mit Ausdrücken des Mitleids für die Rhodenschen Damen, besonders für Klarissa, und daran knüpfte sie die Bemerkung, es sei doch ein tausendfacher Jammer, daß gerade ein Mann wie Herr Rickelt, der verständig genug gewesen, um an die Gründung einer Familie zu denken, der Mordwaffe eines gefühllosen Scheusals zum Opfer fallen mußte.

Inzwischen hatte der Reporter seine zwei Tassen Kaffee und die drei Brötchen bewältigt und schickte sich nun zum Gehen an. Davon, daß er mit dabei war, als man die Leiche in dem Auto als den Schriftsteller Horst Rickelt erkannte, hatte er nichts erwähnt. Sonst würde ihn Mutter Bremer durch unzählige Fragen noch länger aufgehalten haben. Und er hatte es heute sehr eilig.

Als er dann die vier Treppen hinabstieg, wobei er sich nochmals überlegte, womit er sein Tagewerk beginnen wolle, begegnete er auf dem untersten Absatz Fräulein Grete Bremer. Er blieb stehen, begrüßte sie durch kameradschaftlichen Handschlag und sagte ihr eine harmlose Schmeichelei wegen ihres „echt frühlingsmäßigen, duftigen“ neuen Kleides. Dann fragte er, eigentlich nur, um noch etwas zu sprechen, ob sie heute keinen Dienst hätte. Sie verneinte und fügte hinzu, ein Mal in der Woche habe sie ja stets von elf Uhr vormittags ab frei. Er beeilte sich darauf zu erklären, daß er sich jetzt an diese höchst erfreuliche Tatsache sehr wohl erinnere, verabschiedete sich und eilte weiter im Geschwindschritt dem Untergrundbahnhof Wittenbergplatz zu, um von dort nach der Redaktion seines Blattes zu fahren, der er noch in der Nacht telephonisch einen längeren Bericht über den neuesten Mord übermittelt hatte.

Auf der Redaktion empfing man ihn heute besonders aufmerksam. Der Lokalredakteur war glücklich, durch Lehnert so genau über dieses geheimnisvolle Verbrechen unterrichtet worden zu sein, und übertrug ihm die weitere Berichterstattung über den Fall, mit dem allem Anschein nach reichlich Arbeit und – guter Verdienst verknüpft waren.

Eine halbe Stunde später klingelte der Reporter an der Flurtür der Rhodenschen Wohnung.

Diese lag in Wilmersdorf in der neuen „Weingegend“, so genannt, weil die Straßen vielfach mit ihren Namen an bekannte Weinsorten erinnern. Wilmersdorf gehört mit zu Groß-Berlin und zwar zu den westlichen Nachbargemeinden.

Das langjährige Dienstmädchen der Frau verwitweten Steuerrat Rhoden öffnete dem Reporter, der seine Karte überreichte und sich bei den Damen, die er persönlich nicht kannte, melden ließ.

Die alte, grauhaarige Anna kam sehr bald zurück und erklärte dem auch dem Treppenflur wartenden Lehnert, daß die Frau Rat bedauere, den Herren nicht empfangen zu können.

„Es sind heute schon sieben Vertreter von Zeitungen dagewesen,“ fügte sie ärgerlich hinzu. „Und keinen hat die gnädige Frau angenommen.“

Lehnert kritzelte jetzt ein paar Worte auf die Rückseite seiner Karte und schickte Anna nochmals zu der Rätin. Das half. Gleich darauf stand er ihr in dem kleinen, altmodischen, aber behaglichen Salon gegenüber.

Frau Rhoden hatte vom Weinen stark gerötete Augen. Sie war ganz gebrochen. Die ihr durch Hartung morgens überbrachte Nachricht von Rickelts Ermordung hatte sie völlig niedergeschmettert.

Lehnert entschuldigte sich wegen seiner Aufdringlichkeit, wozu Frau Rhoden bemerkte, sie hätte ihn gleich empfangen, wenn sie nicht in ihrem Schmerz vergessen hätte, daß ihr der Name Lehnert ja als der eines guten Freundes ihres Schwiegersohnes bekannt war.

Der Reporter drückte dann sehr bald mit seinen besonderen Wünschen heraus, nachdem es ihm gelungen war, die abermals gänzlich fassungslose Rätin einigermaßen zu beruhigen.

„Gnädige Frau, meine Zeitung hat mir die Berichterstattung über diesen traurigen Fall übergeben. Da ich mich also ohnehin damit zu beschäftigen habe, da aber auch der Tote mir nahe gestanden hat und ich außerdem zusammen mit Rechtsanwalt Hartung der Auffindung der Leiche beigewohnt habe, so möchte ich versuchen, auch meinerseits so etwas zu Aufklärung dieses rätselhaften Verbrechens beizutragen. Nicht etwa, daß ich den Amateurdetektiv zu spielen beabsichtige. Nein, ich weiß wohl, daß dazu Übung und Erfahrung gehört, die mir fehlen, und daß die Angelegenheit bei unserer Kriminalpolizei am besten aufgehoben ist. Immerhin sind wir Reporter aber doch so ein wenig durch unseren Beruf für derartige Nachforschungen vorgebildet. Kurz, ich möchte die Polizei unterstützen und die Ermittlungen beschleunigen helfen. Ein alter Erfahrungssatz der Kriminalpraxis lehrt, daß die ersten drei Tage nach Entdeckung eines Verbrechens die wichtigsten sind. Findet man in diesen keine Spuren, die auf den Täter irgendwie hinweisen, so droht das ganze Bemühen um die Aufdeckung der Untat ergebnislos zu bleiben. Eile tut daher Not, wenn man den Schuldigen fassen will. Und daran habe ich ein Interesse, wie jeder gute Staatsbürger, ganz abgesehen davon, daß Horst Rickelt mir befreundet war. Würden Sie mir also, gnädige Frau, aus allen diesen Gründen einige Fragen gestatten, die vielleicht das schwere Dunkel etwas lichten, das über diesem Verbrechen liegt?“

Frau Rhoden nickte eifrig. „Gewiß, Herr Lehner, – sehr gern sogar. Fragen Sie nur. Ich werde ja wohl überhaupt jetzt viel ausgeforscht werden. Noch ist ja niemand von der Polizei hier gewesen. Aber ich weiß, daß die Herren bald erscheinen werden. Wenn sie nur Klarissa in Ruhe lassen! Das arme Kind hat noch keine Träne gefunden, ist noch völlig wie innerlich erstarrt vor Entsetzen und Schmerz. – Also bitte, Herr Lehner. Was wünschen Sie zu wissen?“

Der Reporter zögerte einen Augenblick. Dann sagte er etwas unsicher:

„Ich bitte Sie sehr, gnädige Frau, nicht empfindlich zu sein, wenn Ihnen manche meiner Fragen vielleicht den ganzen Umständen nach sehr unangebracht, ja taktlos erscheinen. Aber in einem Falle wie dem vorliegenden müssen alle Rücksichten schwinden. Sonst kommt man den Dingen nie auf den Grund. – So, als Einleitung jetzt noch die Bemerkung, daß man sich bei jedem Verbrechen, das sich nicht als Raubmord sofort von selbst kennzeichnet, nach einem alten Erfahrungssatz zu fragen hat: Cui bono[2], in erweiterter Form: Wer hatte überhaupt ein Interesse an dem Toten? – Da möchte ich nun zunächst einmal wissen, ob Rickelt vielleicht vor der Verlobung mit Ihrem Fräulein Tochter bereits in irgendwelchen Beziehungen zu einer anderen Dame gestanden hat?“

Die Rätin erhob abwehrend beide Hände.

„Ausgeschlossen – ganz ausgeschlossen! Ich habe mich, bevor ich Horst gestattete häufiger bei uns zu verkehren, sehr genau nach seinem Vorleben erkundigt, besonders auch bei der braven Frau, bei der er die letzten fünf Jahre zur Miete gewohnt hat. Diese Frau Meinke hat mich in jeder Beziehung vollkommen beruhigt. Obwohl Horst doch als Schriftsteller leichter als andere – das liegt nun einmal so im Künstlerblut, gewissen Verführungen ausgesetzt war, hat er doch niemals Beziehungen unterhalten, auf die Sie, Herr Lehner, soeben wohl anspielten. Gewiß – er lebte unregelmäßig, liebte das Nachtleben Berlins, das ihn nach seiner eigenen Aussage anregte, – aber sonst, – nein, – Weibergeschichten kommen hier nicht in Frage, um die Dinge ganz klar zu bezeichnen.“

Diese Angaben deckten sich vollkommen mit dem, was der Reporter selbst von Rickelt wußte. Trotzdem schien es ihm nicht geradezu unmöglich, daß man es hier mit einem Eifersuchtsdrama zu tun hatte. Diese Möglichkeit konnte ja auch in der Person Klarissas begründet sein.

„Und Ihr Fräulein Tochter, gnädige Frau, – hat die vielleicht vor der Bekanntschaft mit Rickelt einen ernsthaften Bewerber gehabt?“ fragte er daher jetzt.

Frau Rhoden schüttelte den Kopf.

„Wir haben stets sehr zurückgezogen gelebt, Herr Lehnert. Es war ein Zufall, daß wir Horst seinerzeit kennenlernten. Klarissa hat auch nie Geheimnisse vor mir gehabt. Wir haben miteinander stets wie gute Freundinnen gestanden und uns volles Vertrauen gegenseitig geschenkt, obwohl –“

Sie stockte und wurde verlegen, fuhr dann aber, nur mit leiser Stimme, gleich wieder fort:

„– obwohl – ich glaube Ihnen das nicht verschweigen zu dürfen, im Interesse Ihrer guten Absichten – Klarissa nicht mein eigenes Kind ist. Bisher weiß sie nichts davon. Gestern an ihrem Hochzeitstag wollte ich sie darüber aufklären. Aber es kam nicht dazu. Wenn ich bis jetzt geschwiegen habe, so geschah es eigentlich aus einer gewissen Selbstsucht heraus. Ich fürchtete, Klarissa könnte mich weniger lieb haben, wenn sie erst erfahren hatte, daß wir sie nur als eigen angenommen haben.“

Lehnert hielt diese Eröffnungen für recht unwesentlich für die Aufdeckung des Mordes und ermunterte daher die Rätin auch in keiner Weise, auf diesen Gegenstand näher einzugehen. Frau Rhoden aber fühlte wohl das Bedürfnis, gerade hierüber sich einmal auszusprechen und fügte nach kurzer Pause hinzu:

„Über Klarissas Herkunft schwebt ein gewisses Dunkel. Wenn auch die Art, wie wir zu dem Adoptivkinde kamen, alltäglich war, so sind doch einige Nebenumstände recht seltsam und lassen für die Vermutung Raum, daß bei der Abgabe des kleinen Mädelchens an uns nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, wie man zu sagen pflegt.“

Jetzt horchte der Reporter doch auf. Konnte man wissen, ob nicht doch dieses Verbrechen irgendwie mit Klarissas Vergangenheit zusammenhing? Jedenfalls hielt es Lehner für angebracht, der Rätin seine erhöhte Anteilnahme durch ein kurzes „ich bin sehr gespannt“ zu beweisen.

Frau Rhoden hatte einen Augenblick sinnend vor sich hin geschaut und fuhr nun fort:

„Als ich vier Jahre verheiratet war und meine Muttersehnsucht noch immer unerfüllt blieb, wandte ich mich an einen Spezialarzt. Er eröffnete mir zu meinem großen Schmerze, daß ich auf Kindersegen nicht zu rechnen hätte. Da beschlossen wir, mein Mann und ich, ein Kind für eigen anzunehmen. Ich wünschte mir ein Mädchen, er einen Sohn. Aber wir einigten uns dahin, daß hier der Zufall entscheiden solle. Die erste Anzeige in dem Blatt, das wir hielten, über die Überlassung eines Kindes, sollte ausschlaggebend sein. Durch diese Abmachung, wenn man es so nennen darf, kamen wir jedoch nicht ans Ziel. Wir fanden nämlich eine Anzeige, in der ein Knabe oder ein Mädchen gegen eine Abfindungssumme an Leute besseren Standes abgegeben werden sollte.“

Über der Rätin seit gestern so verhärmtes Gesicht breitete sich jetzt ein heller Schimmer glücklichen Rückerinnerns an jene Zeit aus, wo sie um Klarissa mit ihrem Mann so ein wenig im Streit gelegen und schließlich doch gesiegt hatte.

„Wir waren also hinsichtlich der Frage, ob Knabe oder Mädchen, genau so weit wie zuvor. Trotzdem beeilte wir uns, die Familie sofort aufzusuchen, bei der die beiden Kinder vorläufig untergebracht waren. Dieses alte Ehepaar – die Leute sind längst tot – zeigte uns dann einen Knaben von etwa zwei Jahren und ein reizendes Mädelchen von kaum einem halben Jahre. Beide Kinder waren sehr gut gehalten, sehr sauber gekleidet und so liebreizend, daß die Wahl auch mir schwer wurde. Das alte Ehepaar berichtete, daß die Kinder einem Witwer gehörten, der infolge starker geschäftlicher Inanspruchnahme im Auslande sich nicht um sie kümmern könne und mangels eigener Verwandten gezwungen sei, sie fremden Leuten ganz zu überlassen. Wir wurden uns jedenfalls nicht gleich einig, und als wir dann am Nachmittag wieder zu den alten Leutchen kamen, jetzt entschlossen beide Kinder anzunehmen, war der Knabe inzwischen bereits vergeben und weggebracht worden. Wir sicherten uns nun schleunigst das Mädelchen, versuchten aber gleichzeitig, den Knaben ebenfalls noch zu erhalten. Unsere Bemühungen waren jedoch erfolglos, da sich herausstellte, daß der Vater, der den Knaben von dem alten Ehepaare selbst abgeholt hatte, absichtlich anscheinend eine falsche Adresse angegeben hatte, wo der hübsch Junge hingekommen sein sollte.

Wir erhielten dann zu unserem Erstaunen als Abfindungssumme zehntausend Mark, außerdem an Papieren über die kleine Klarissa zwei Urkunden, einen Geburtsschein und ein Taufzeugnis. Nach diesen stammte unser Mädchen von deutschen, zur Zeit der Abfassung der Urkunden in Amerika weilenden Eltern ab, war in London City, Nord-Kanada geboren und hieß mit Vatersnamen Reisselt. Bei der Adoption hatten wir nachher noch große Schwierigkeiten, da die Behörden nachwiesen, daß in beiden Urkunden Ort und Vatersnamen ohne Zweifel zum Teil wegradiert und mit anderer Tinte dann gefälscht waren. Die Behörden haben aus diesem Grunde auch eingehende Nachforschungen sowohl nach dem Vater als auch nach dem Knaben angestellt, jedoch beide nicht auffinden können. Es wurde nur ermittelt, daß dieser Herr Reisselt sich offenbar die größte Mühe gegeben hatte, seine Spuren zu verwischen. So hatte er zum Beispiel dem alten Ehepaare gegenüber, bei dem die Kinder nur eine Woche untergebracht gewesen waren, unrichtige Angaben über das Hotel hier in Berlin gemacht, in dem er abgestiegen sein wollte.

Kurz das Ganze war eine recht dunkle Geschichte, und erst zwei Jahre später, als die Behörden die Suche nach dem angeblichen Reisselt aufgeben mußten, wurde die Adoption vollzogen. Niemand hat sich seitdem mehr um Klarissa gekümmert. Sie wuchs als unser eigenes Kind auf, und nach dem nur allzu frühen Tode meines Mannes schloß ich mich ganz an das liebe Mädel an, das die allerbesten Charaktereigenschaften in sich vereinigte und auch äußerlich von Tag zu Tag anziehender wurde. –

Sie sehen, Herr Lehner, ich habe wohl das Richtige getroffen, als ich vorhin sagte, daß die Art, wie Klarissa zu uns ins Haus kam, eben durch eine Zeitungsannonce, alltäglich war, daß dabei aber Umstände mitspielten, die recht merkwürdig erscheinen und die über des Kindes Herkunft noch heute völliges Dunkel breiten. In Nordkanada gibt es nämlich nur einen einzigen Ort namens London City. Das ist aber nur eine kleine Niederlassung, in der zu jener Zeit, als die Urkunden ausgestellt wurden, weder eine Behörde noch ein Geistlicher vorhanden waren, die beide Papiere hätten ausfertigen können. –

So, das ist Klarissas Geschichte. Wie mein armes Kind es hinnehmen wird, wenn sie erfährt, wie unklar ihre Herkunft ist, weiß ich nicht. Klarissa ist ja überhaupt in dieser Beziehung ein wenig sonderbar, daß sie manche Dinge sehr ernst nimmt, während sie über Vorkommnisse, die ich weit tragischer aufpasse, leicht hinweggleitet. Ich will auch in diesem Punkte ganz ehrlich sein, Herr Lehnert.

Als zum Beispiel gestern Horst Rickelt nicht auf dem Standesamt erschien und sich auch den Rest des Tages, der ein Hochzeitstag werden sollte, nicht blicken ließ, war sie auffallend gefaßt. Erst heute bei der Nachricht von der Ermordung ihres Verlobten trat jene starre, stumpfe Ruhe ein, die schlimmer ist, als die heftigsten Ausbrüche des Schmerzes.“

Die Rätin seufzte aus bedrücktem Mutterherzen tief auf und trocknete die schon wieder herabrinnenden Tränen.

August Lehnert sah ein, daß er der schwergeprüften Dame nicht länger zur Last fallen dürfe und daß er hier auch kaum noch wichtiges erfahren konnte. Er verabschiedete sich daher, dankte für die erhaltenen Auskünfte, versprach alles zur Aufdeckung des Mordes zu tun, was in seinen Kräften stand, und verließ das Haus. Im Flur begegnete er noch zwei Herren, von denen er einen von Ansehen kannte. Es war der Berliner Kriminalkommissar Lautenborn, eine Berühmtheit in seinem Fach, dabei ein lustiger Gesellschafter und sehr liebenswürdiger Charakter. Wohin die beiden wollten, war leicht zu erraten. Die Rätin würde jedenfalls sofort wieder jemandem Rede und Antwort stehen müssen.

Der Reporter aber machte sich auf den Weg nach Werner Hartungs Bureau.

 

6. Kapitel.

Otto Rulicke, der Spieler.

Direktor Karl Thomas hatte für Luzie Molla in der ersten Etage eines neuen Hauses der stillen, vornehmen Ansbacherstraße im feinsten Berliner Westen ein mit verschwenderischer Pracht ausgestattetes Nest hergerichtet. Vier Zimmer waren’s mit allem Zubehör und allen modernen Errungenschaften: Warmwasserversorgung, Dampfheizung, Vakuumstaubsauger, Bad mit vertiefter Wanne, eingemauertem Geldschränkchens, und so weiter.

Die Kabarettdiva, die noch vor zwei Jahren in einem Potsdamer kleinen Bonbonladen Süßigkeiten verkauft und die nur ihretwegen erscheinende Offizierskundschaft gewandt, schlagfertig und neckisch mit ihren Schmeicheleien und oft recht eindeutigen Vorschlägen zur Aufbesserung ihres Gehaltes zurecht gewiesen hatte, bis der Bankdirektor sie dann „entdeckte“ und für das Brettl ausbilden ließ, erhob sich zu derselben Stunde nach ruhigem Schlummer von ihrem kostbaren, altertümlichen, sehr breiten Bett, als August Lehnert bei Frau Rhoden so merkwürdige Dinge über Klarissas Herkunft vernahm.

Luzies Zofe, ein zierliches, hübsches Geschöpf, hatte gerade ihrer Gebieterin reichen Haarschmuck lose aufgesteckt und ihr in den Spitzenmorgenmantel geholfen, als die Flurglocke schrillte.

Das Püppchen Anni mit den Riesenhacken unter den schleifenbesetzten Samtschuhchen, dem weißen Häubchen auf dem künstlich gewellten blonden Scheitel und dem blendend zarten Tändelschürzchen eilte hinaus und meldete gleich darauf einen Herrn an, der keine Karte abgegeben, sich aber als Otto Rulicke vorgestellt hätte.

Luzie Molla fiel es schwer, ihr Erschrecken zu verbergen. Immerhin verfügte sie aber über so viel schauspielerisches Talent, um achselzuckend und gelangweilt zu erklären:

„Rulicke? Welch gewöhnlicher Name! Ich kenne den Herrn nicht.“

Inzwischen hatte sie blitzschnell überlegt, ob es ratsam sei, gerade diesen Menschen abzuweisen. – Nein – sie mußte wissen, was er für ein Anliegen hatte. Und deshalb befahl sich Anni, den Besucher in den Salon zu führen, indem sie diese Sinnesänderung mit einem leichten Auflachen geschickt durch den Satz begründete:

„Ah – eben fällt mir ein, daß dies wohl der Herr sein wird, der letztens schriftlich um eine geschäftliche Unterredung bat.“

Anni verschwand. Die Kabarettdiva aber lockte jetzt eine mächtige, schön gezeichnete Tigerdogge zu sich heran, die bisher auf dem weichen Fell vor dem Bett ihrer Herrin gelegen hatte.

Hektor stand gehorsam auf, reckte sich und folgte Luzie in das Speisezimmer. Während die Kabarettdiva hier stehend eine Tasse Kaffee trank und an einem gerösteten, mit Kaviar belegten Brötchen knabberte, suchte sie sich darüber klar zu werden, ob dieser Rulicke, auch Bomben-Otto genannt, etwa in der bewußten Angelegenheit zu ihr käme. Das Gefühl der Unsicherheit, das sie bei dem Gedanken beschlich, womöglich so halb auf Gnade und Ungnade diesem stiernackigen Menschen ausgeliefert zu sein, verschwand jedoch schnell wieder. Wie sollte Otto Rulicke erfahren haben, daß sie diejenige war, die – nein – da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Nur Ernst Forbach wußte Bescheid. Und Ernst plauderte nicht. Dazu war er zu schlau, und dazu standen sie sich auch zu nahe. Also mußte den Bomben-Otto mehr ein Zufall hergeführt haben, – irgend etwas, das mit jener Sache überhaupt nicht zusammenhing.

Luzie ging jetzt über den Flur der Wohnung in den Salon hinüber. Die Dogge blieb dicht hinter ihr. Einen besseren Schutz als diesen auf den Mann dressierten Hund konnte man kaum haben.

Otto Rulicke hatte sich für diesen Besuch gehörig in Wichs geworfen. In dem kurzen, hellen Sportpaletot, den frisch gebügelten Beinkleidern, die sehr gefällig auf die glänzenden Lackstiefel herabfielen, des blendend weißen Hemdes und der etwas genial geschlungenen schwarzen Krawatte täuschte er recht gut einen wohlhabenderen Herrn besserer Gesellschaftskreise vor, wenigstens für die Augen von Durchschnittsmenschen.

Bei Luzies Eintritt – Rulicke hatte links neben der Tür gestanden und nicht gewagt, auf einem der zierlichen Damastsessel Platz zu nehmen – machte er eine halbe Drehung nach rechts und verbeugte sich sehr tief und etwas verlegen linkisch.

Die rassige Schönheit der Brettlkönigin, die in dem zwanglosen Morgenanzug vielleicht noch mehr zur Geltung kam als in einer kostbaren Gesellschaftsrobe, verwirrte ihn vollends.

Luzie wies mit sehr hoheitsvoller Gebärde auf einen Sessel und ließ sich an der anderen Seite des Mitteltischchens nieder. Hektor lagerte sich zu ihren Füßen.

Bomben-Otto aber zögerte noch, und erst eine zweite einladende Handbewegung veranlaßte ihn, sich ebenfalls zu setzen.

Luzie musterte ihn von oben bis unten, spielte dann ein wenig mit ihrer Lorgnette und freute sich, daß Rulicke vor Verlegenheit puterrot geworden war und nicht recht wußte, wo er die Augen lassen sollte.

Als sie dem Besucher nun genügend imponiert zu haben glaubte, um mit ihm in jedem Falle leichtes Spiel zu haben, begann sie mit müder, schleppender Stimme, die übervornehme Dame kopierend:

„Welcher Anlaß führt Sie zu mir, Herr – Herr – wie war doch Ihr Name?“

Bomben-Otto atmete erleichtert auf, als dieses ihn ganz außer Fassung bringende Schweigen nun endlich aufhörte.

„Rulicke – Otto Rulicke,“ erwiderte er schon bedeutend selbstsicherer. Dann richtete er seine lebhaften, jede Seelenregungen leicht verratenden Augen mit dem Ausdruck steigender Bewunderung auf Luzies Gesicht und den unbekleideten, zarten Halsansatz, was die Kabarettsängerin veranlaßte, ihren Blick mit einem kaum wahrnehmbaren Sirenenlächeln in den seinen zu tauchen.

„Also – was führt Sie zu mir, Herr Rulicke?“ fragte sie dann abermals.

Bomben-Otto war ein geistig etwas schwerfällige Mensch. Es dauerte bei ihm stets eine Weile, ehe er sich in eine neue Situation hineingefunden hatte. Saß er aber erst einmal leidlich fest im Sattel, so half ihm stets das Bewußtsein seiner anerkannten seltenen Körperkräfte, die Lage auch zu beherrschen.

So erging es ihm auch jetzt. Es war ein schwerer Fehler von Luzie gewesen, von dem hohen Sockel unnahbarer Vornehmheit durch dieses kokette Lächeln herabzusteigen. Bomben-Otto kannte die Weiber, wußte, daß es nur wenige gab, die vor einer so kraftstrotzenden Männlichkeit, wie er sie besaß, nicht kapitulierten. Und das Lächeln hatte ihm bewiesen, wem er hier gegenübersaß, einem Weibe, das trotz der aufreizenden Schönheit genau an denselben Schwächen litt wie unzählige andere Evatöchter. So wurde Luzie Molla für ihn eigentlich mit einem Schlage nichts als die begehrenswerte Brettlsängerin, die allabendlich nach elf Uhr in den bekannten Nachtlokal der Friedrichstraße auftrat – für Geld, – für Geld seichte Liedchen sang und sich bewundern ließ.

Bomben-Otto hatte sich dergestalt also eben „in den Sattel geschwungen“. Die nächste Empfindung bei ihm war schon leiser Ärger, weil Luzie ihn zu Anfang wie einen dummen Jungen verlegen gemacht und wie eine Prinzessin sich gegeben hatte. Deshalb entgegnete er jetzt auch schon mit leiser Ironie:

„Sollten Sie mich wirklich nicht wiedererkennen, gnädiges Fräulein?“

Es war nicht nur der Ton seiner Stimme, sondern auch sein Gesichtsausdruck und seine ganze, plötzlich geradezu brutal selbstbewußte Haltung, die Luzie Molla zeigte, daß dieser stiernackige Bursche mit den Augen des halbgezähmten Raubtieres doch nicht so leicht zu beherrschen war, wie sie es angenommen hatte. Eine innere Stimme warnte sie, hier recht vorsichtig zu sein.

Und diplomatisch erwiderte sie nun:

„Ich besinne mich nicht recht mehr. – Sagen Sie mir doch, wo wir uns schon begegnet sind.“

Bomben-Otto lachte kurz auf.

„Dann haben Sie ein schlechtes Gedächtnis für Personen, mit denen Sie –“ er stockte plötzlich, schaute nach der Tür und fuhr sehr leise fort: „Es wäre ratsam, Ihr Mädchen zu entfernen. Diese Art Weiber spioniert stets. Und das, was wir zu verhandeln haben, ist zu – zu gefährlich, um an fremde Ohren gelangen zu dürfen.“

Luzie wußte jetzt Bescheid. Dieser Mensch kam doch in jener Angelegenheit, die sie so schlau eingefädelt zu haben geglaubt hatte, daß sie als Luzie Molla nie mit hineingezogen zu werden hoffte. Sie hatte sich getäuscht. Doch der Schreck über diese Entdeckung war schnell überwunden. Jetzt hieß es alle Verschlagenheit zusammenzunehmen, um hier noch zu retten, was noch zu retten war.

Sie erhob sich.

„Entschuldigen Sie mich einen Augenblick,“ sagte sie liebenswürdig und verließ das Zimmer.

Anni rieb gerade im Flur den Spiegel des Kleiderständers ab, obwohl sie jetzt das Schlafzimmer aufzuräumen gehabt hätte.

Luzie befahl ihr, sie solle ihr aus dem Handschuhgeschäft in der Tauentzienstraße sofort zwei Paar weiße Wildleder holen.

Die Zofe wußte Bescheid. Sie sollte entfernt werden. Nun – gehorchen mußte sie. Aber vor drei Stunden kamen sie dann auch auf keinen Fall zurück – als Vergeltung!

Die Brettldiva machte sich so lange im Schlafzimmer etwas zu schaffen, bis sie die Tür des Hintereinganges klappen hörte. Dann legte sie dort die Sicherheitskette vor. Dasselbe tat sie an der vorderen Flurtür. – So, nun war man vor Lauschern sicher. Nun konnte der Kampf mit dem unwillkommenen Besucher beginnen.

Luzie saß Otto Rulicke wieder gegenüber.

„Sie meinten vorhin, ich hätte ein sehr schlechtes Gedächtnis für Personen, mit denen ich – und diesen letzten Satz brachten Sie nicht zu Ende,“ sagte sie gelassen.

Um nun – Otto hatte jetzt Zeit genug gehabt, sich ganz zum Herrn der Lage aufzuschwingen.

„Allerdings – mit denen Sie nämlich noch gestern spät abends zusammen gewesen sind,“ erwiderte er gereizt. „Wozu überhaupt die Komödie?! Sie sehen doch, ich weiß, daß Sie die verschleierte Dame sind, die für Wieselchen und mich jetzt so allerlei Aufträge hat.“

Luzie lächelte.

„Sind Sie dessen so sicher, Herr Rulicke?“

„Na ob. Ich bin doch gestern vor Ihnen von Edelmanns weg, angeblich, um schnell noch etwas in der Kneipe nebenan zu genießen, bevor ich – na, Ihnen ist ja am besten bekannt, was ich später vorhatte. Angeblich! In Wahrheit suchte ich mir ein freies Auto, mit dem ich dann dem Ihrigen, das an der nächsten Ecke auf Sie gewartet hatte, bis nach dem Kabarett in der Friedrichstraße folgte.“

Otto Rulickes Gesicht strahlte. Er war stolz auf diesen Streich.

Luzie lächelte noch immer. Und leicht vertraulich fragte sie nun:

„Weshalb wollten Sie gern herausbekommen, wer die Verschleierte war?“

Bomben-Otto errötete jetzt wieder. Dann aber platzte er nach kurzem Zaudern heraus:

„Zum Teufel – warum soll ich lügen?! Sie gefielen mir, – ich ahnte, daß hinter der dichten Gardine eine hübsche Fratze stecken müßte, – Sie hatten in Ihren Bewegungen, in Ihrer Sprache etwas, das – das –“

„Nun – das –?“

„– das mich reizte, zum Henker! Ich bin einer, der sich auf die Weiber versteht, und in Ihnen witterte ich einen aparten Bissen –“

Da geschah etwas, das Otto Rulicke doch einen Augenblick wieder aus dem Sattel hob.

Luzie streckte ihm die zarte Hand hin und sagte:

„Schlagen Sie ein! Ich liebe Menschen, die nicht heucheln. Wir werden sicher ganz gute Freunde werden.“

Seine Riesentatze, von der er vorhin aus Verlegenheit den Handschuh abgezogen hatte, umspannte ihre weichen Finger. Und der Parfümduft, der sie umgab, half mit, in Bomben-Ottos Augen ein Flirren und Flimmern hervorzurufen, als ob ein Raubtier sich zum Sprunge anschickt und in seine Lichter das gierige Leuchten der Mordlust tritt. –

Die weichen Finger wirkten weiter, selbst als sie schon wieder mit der Goldkette der Lorgnette spielte. Otto Rulicke verschlang Luzie jetzt mit seinen Blicken brutalen Wünschens. Er vergaß fast, weswegen er zu dem schönen Weibe gekommen war.

Es war ein Zufall, daß die Dogge sich jetzt plötzlich aufrichtete, sich reckte und dabei das Maul weit aufriß, so daß ihr furchtbares Gebiß Bomben-Otto drohend entgegenleuchtete.

Das erschütterte ihn etwas. Und als Luzie nun fragte: „Ist vielleicht in unserer Sache etwas Neues geschehen?“ da konnte er leidlich verständig antworten:

„Leider – leider! – Die Blauen haben Wieselchen gefaßt. So ein verdammtes Pech! Ein Glück, daß ich Ihnen gestern nachfuhr. Sonst hätte ich Sie ja hiervon gar nicht benachrichtigen können, da auch die Edelmanns nicht wissen, wer Sie sind und wo Sie wohnen.“

Die Kabarettdiva war erblaßt. Wie versteinert saß sie da.

„Ernst verhaftet?“ fragte sie dann tonlos.

Otto Rulicke horchte auf. – Ernst – Ernst! Beim Vornamen nannte sie seinen Freund?! – Eine Regung von Eifersucht überkam ihn. Und aus dieser Eifersucht heraus sagte er kurz:

„Ja – verhaftet auf dem Bahnhof Friedrichstraße, weil er sich als Taschendieb etwas ungeschickt benommen hat.“

Luzie hatte sich wieder gefaßt.

„Taschendieb – Taschendieb –?! Unmöglich!“ rief sie erregt, „nie hätte er eine solche Unvorsichtigkeit begangen, wo er doch wußte, was für ihn davon abhing, schnell aus Berlin hinauszukommen!“

Bomben-Otto zuckte die Achseln.

„Es ist so, wie ich sage. Als ich heute Vormittag so gegen zehn in meine Stammkneipe kam, saß Nasen-Max da. Und der hat’s mit angesehen, wie sie Wieselchen auf dem Bahnsteig festnahmen und nachher im grünen Wagen wegbrachten.“

Luzie Molla war aufgestanden und begann im Salon auf und ab zu gehen. Dann blieb sie vor Otto Rulicke stehen. Wie zwei enge Verbündete besprachen sie nun die Folgen dieses unangenehmen Zwischenfalles.

Bomben-Otto suchte Luzies Besorgnisse zu zerstreuen, indem er erklärte, es müsse schon mehr ein Zufall sein, wenn die Polizei auf den Trick mit der Kiste und dadurch auf Wieselchen als daran Beteiligten aufmerksam würde.

Aber Luzie sah weiter.

„Vergessen Sie nicht, daß Ernst der Portierfrau gesagt hat, es sei eine falsche Kiste Porzellan in die Wohnung geschickt worden und daß die Firma die Verwechslung schleunigst wieder gutmachen wolle. Das heißt doch: Ich hole die falsche und bringen nachher die richtige Kiste! – Letzteres ist nun nicht geschehen, und daher wird die Frau mißtrauisch werden, wird bei Frau Rhoden anfragen, ob denn das Geschäft auch das bestellte Porzellan geliefert hätte, und so wird herauskommen, daß die ganze Geschichte Schwindel, das Porzellan längst ausgepackt und die Kiste leer war! Und diese merkwürdige Sache, daß ein Mann eine leere Kiste unter einem Vorwand im Auto fortschafft, wird man ohne Frage der Polizei mitteilen! Meine Sorge ist also nur allzu berechtigt.“

Bomben-Otto empfand Respekt vor Luzies Scharfsinn.

„Donnerwetter – ja so kann die Chose ans Licht kommen, das stimmt!“ meinte er kleinlaut.

Luzie war mit ihren Gedanken schon bei einer neuen Quelle ernstester Befürchtungen.

„Ob es nicht besser ist, daß auch Sie sich dünne machen?“ fragte sie nachdenklich. Sie war jetzt wieder in die Ausdrucksweise der Kreise zurückgefallen, aus denen sie stammte. Sie merkte es selbst nicht. Die lose Schicht mühsam aufgetragenen Kulturlacks blätterte heute zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein wenig ab.

„Ich?! Sie wissen, mich kennt hier keiner. In Hamburg – dort ja! Ich bin ja erst vor vierzehn Tagen auf Zureden Wieselchens nach hier verzogen und ganz ordnungsgemäß als Artist gemeldet. Und im Album haben die Greifer mich auch noch nicht. Bei mir ist also damit nichts zu wollen, mich nur nach der Beschreibung der Portierfrau und vielleicht des Chauffeurs aufzustöbern.“

Luzie war beruhigt. Trotzdem verlangte sie, er solle seine Wohnung wechseln, in eine andere Stadtgegend ziehen und sein Äußeres nach Möglichkeit verändern.

Er versprach alles, was sie wünschte. Ihre Besorgnisse kamen ihm jedoch übertrieben vor. Vielleicht nur deshalb, weil er für die Reize dieses schönen Weibes jetzt weit mehr Interesse hatte als für die Angelegenheit, die sie zu Verbündeten gemacht hatte.

Nachdem sie nun wieder ihm gegenüber Platz genommen, ihm auch eine Zigarette und ein Glas Wein angeboten hatte, saugten sich seine Blicke immer gieriger in ihrem Antlitz fest. –

Sie stießen auf gute Kameradschaft an. Luzie war jetzt wieder ganz das Weib, dem es eine prickelnde Zerstreuung bot, diesen athletischen Menschen zu verwirren. Die Angst war jetzt teilweise von ihr genommen, und das schuf bei ihr einen Übermut, dessen Folgen sie schlecht übersah. Sie glaubte, einen jener halb entnervten reichen Herren vor sich zu haben, die genug gute Erziehung besaßen, auf einen zurechtweisenden Blick hin in ihr eine halbe Dame zu respektieren.

Otto Rulicke war aus anderem Holze geschnitzt. Die Dogge war im Speisezimmer geblieben, als Luzie den Wein und die Zigaretten holte. Das machte sich Bomben-Otto zunutze. Als er aufgestanden war, um Luzie Feuer zu reichen, bückte er sich plötzlich, umschlang sie, riß sie hoch und preßte sie an sich. In seinen Armen war sie wehrlos. Umsonst suchte sie seinen Lippen zu entgehen. Er fand ihren Mund, küßte sie. So war Luzie noch nie geküßt worden. Sie fühlte seine Bärenstärke, sie dachte an die lauen Zärtlichkeiten des anderen, schon dem Greisenalter nahen Mannes. Ihr Widerstand wurde schwächer und schwächer. –

Als Otto Rulicke eine halbe Stunde später Luzie Mollas Wohnung verließ, ging er als Sieger. Das schöne Weib küßte ihn an der Flurtür zum Abschied immer wieder. Das Bündnis zwischen ihnen konnte jetzt kaum noch enger sein.

 

7. Kapitel.

Allerlei Widersprüche.

August Lehnert traf den Rechtsanwalt in dessen Bureau nicht an. Hartung hatte auf dem Gericht noch Termine wahrzunehmen.

Der Reporter setzte sich daher in des Freundes Arbeitszimmer und begann für die Abendausgabe der „Berliner Post“ einen Bericht über den neuesten Mord zu schreiben. Er war in der rechten Stimmung dazu, und so hatte er denn in einer halben Stunde die Arbeit fertig, die er bedeutend umfangreicher angelegt hatte als die in der Nacht der Redaktion übermittelte telephonische Meldung. Dann fertigte er für sich noch eine stenografische Abschrift, die er nachher Hartung vorlesen wollte, und schickte durch einen der Schreiberjungen des Bureaus das Original der „Berliner Post“ zu.

Sehr bald darauf erschien auch Hartung.

Lehnert erzählte dem Freunde zunächst, was sich noch ereignet hatte, nachdem sie in der Nacht auseinandergegangen waren.

„Du weißt, daß Wieselchen und die Molla sich an der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche trennten und in zwei Autos davonfuhren. In einem dritten folgte ich Ernst Forbach, der sich nach seiner Wohnung in der Ziegelstraße begab. Er hat dort in Nr. 18 ein Vorderzimmer inne. Ich beobachtete die Fenster und zwei wurden in der ersten Etage hell, nachdem er im Hause verschwunden war. Um nun nicht den Rest der Nacht auf der Straße zubringen zu müssen, da ich doch spätestens um sechs Uhr morgens wieder in der Ziegelstraße sein wollte und es sich nicht lohnte, noch mein eigenes Heim aufzusuchen, begab ich mich in ein nahes Cafee in der Friedrichstraße und habe dort bei vier Glas Punsch und einem halben Dutzend Tortenschnitten den Morgen abgewartet. Ich erwischte unseren Vogel auch glücklich, folgte ihm und stellte fest, daß er auf dem Bahnhof Friedrichstraße eine Fahrkarte nach Köln löste.“

Der Anwalt machte dann aber ein sehr bedenkliches Gesicht, als Lehnert weiter berichtete, auf welche Weise er die Abreise Wieselchens hintertrieben habe.

„Lieber Freund, dieser Trick, auf den du noch sehr stolz zu sein scheinst, kann dich vor den Strafrichter bringen,“ erklärte er nachher. „Soll ich dir die Paragraphen nennen, unter die deine Tat fällt? Jedenfalls war’s eine Unvorsichtigkeit von dir!“

„– deren Folgen ich gern tragen werde,“ fügte der Reporter gelassen hinzu. „Aber die Folgen werden anderer Art sein, als du denkst. Ich rechne sogar noch auf eine Anerkennung von Seiten der Polizei, die ich noch heute in der Person des Kriminalkommissars Lautenborn – er ist offenbar mit der Untersuchung des Falles Rickelt betraut worden – über alles aufklären werde.“

„Dazu wollte ich dir gerade raten.“

„Du siehst, – ist nicht mehr nötig. Ich kann ja auch unmöglich das für mich behalten, was ich an Verdachtsmomenten gegen die Molla und diesen Ernst Forbach gesammelt habe. Die Polizei wird das von mir im Caffee des Westens Belauschte weit mehr zu verwerten vermögen als ich. Oder ich müßte mich gerade für einen prima-prima Privat- oder Amateurdetektiv ansehen, der tausendmal mehr als die Behörden leistet, wie man dies so oft in Romanen liest, in denen nur zu gern die Polizei als eine Anstalt von Halbidioten hingestellt wird, über die das Genie eines Mannes nach dem Muster des morphiumsüchtigen, an Dämmerzuständen leidenden Sherlock Holmes spielend leicht triumphiert. Ich will nichts, als die Behörden tunlichst unterstützen, weniger aus Vorliebe für eine solche Spürtätigkeit, als vielmehr unseres armen Freundes wegen, dessen Mörder nicht entschlüpfen soll. Aus diesem Grunde habe ich auch bereits die Damen Rhoden heute aufgesucht und dort so manches erfahren, was vielleicht nicht unwichtig ist. Vielleicht!“

Er schilderte nun seine Rücksprache mit Frau Rhoden und gab den Inhalt deren Erzählung über Klarissas dunkle Herkunft mit allen Einzelheiten wieder.

„Bei einem so rätselhaften Verbrechen, wie dieses es ist, kann man nie wissen, wie weit die Fäden in die Vergangenheit zurückgreifen, die Ursache und Wirkung verbinden,“ fügte er hinzu. „Im übrigen, auch die Rätin deutete an, daß Klarissa das Verschwinden oder besser das Fernbleiben ihres Verlobten am Hochzeitstage recht gefaßt hingenommen hat. Es wird also wohl so sein, wie du vermutest. Die Liebe zwischen den Brautleuten war im Erlöschen begriffen!“

Hartung sagte hierzu nichts. Und so fuhr August Lehnert denn nach kurzer Pause fort: „Ich möchte dir jetzt einen Artikel vorlesen, den ich vorhin hier an deinem Schreibtisch abgefaßt habe und der Verschiedenes Neues enthält, das ich von dem Kriminalbeamten auf der Polizeiwache des Friedrichstraßenbahnhofs erfuhr, nachdem ich Wieselchen den moralisch recht anfechtbaren, aber durch die Umstände notwendig gewordenen Streich gespielt hatte. Sämtliche Polizeiwachen waren inzwischen nämlich bereits bis ins einzelne über den Mord unterrichtet worden, wobei auch unsere beiden Namen Erwähnung gefunden hatten, so daß der Kriminalschutzmann mich nach Ernst Forbachs Abtransport beiseite nahm und sich mit mir noch eine Weile über das jüngste Verbrechen unterhielt, nachdem ich zugegeben hatte, jener Reporter der „Berliner Post“ zu sein, der den Toten mit identifiziert hatte. So gelangte noch eine Menge von Einzelheiten zu meiner Kenntnis, die auch für dich recht interessant sein dürfte. –Ich lese dir jetzt also die stenografische Abschrift meines Berichtes vor:

Unsere erste Meldung über den Mord an dem Schriftsteller Horst Rickelt können wir durch unseren A. L. Berichterstatter noch wesentlich ergänzen lassen. –

Die hauptsächlichsten Momente seien hier gleichzeitig nochmals erwähnt. In der vergangenen Nacht kurz vor zwölf wurde der Chauffeur der Autotaxe 2224 in einem Seitenwege des westlichen Tiergartens von einem Manne in dunkelgrauen oder bräunlichen Havelock angerufen und gebeten, dessen auf einer Bank liegenden ohnmächtigen Freund nach Hause zu bringen und zwar nach Lützowplatz 14. Der Unbekannte im Havelock, den der Chauffeur als mittelgroß und blondbärtig schildert, ohne sonst genauere Angaben machen zu können, stieg mit in den Kraftwagen ein, war dann aber verschwunden, als das Auto vor dem Hause Lützowplatz 14 hielt. Zwei zufällig vorüberkommende Herren, von denen einer unser A. L. Berichterstatter war, erkannten dann in der in dem Kraftwagen festgebundenen Leiche den ihnen befreundeten Schriftsteller Horst Rickelt wieder, der seit dem Vormittag des eben verflossenen Tages, an dem er sich hatte verheiraten wollen, nicht mehr aufzufinden gewesen war. Der rühmlichst bekannte Schriftsteller, dessen Märchendrama „Der Stein der Weisen“ mit dem Schillerpreis unlängst ausgezeichnet wurde, war, wie der Polizeiarzt feststellte, bei seiner Auffindung erst kurz vorher ermordet worden und zwar durch einen Messerstich mitten ins Herz.

Er hat also – welch grausige Tragik! – an seinem Hochzeitstage einen gewaltsamen Tod gefunden. Aufrichtigstes Mitleid empfinden wir mit der schwergeprüften Braut und deren Mutter, die von Stunde zu Stunde auf das Erscheinen des Verlobten hofften und die keine Erklärung dafür fanden, weshalb Horst Rickelt ohne jede Entschuldigung fernblieb, der – und das ist bisher das einzige, was man von seinem Tun und Treiben an dem verhängnisvollen Tage weiß – etwa um ein halb neun Uhr morgens seine Wohnung in der Augsburger Straße schon vollständig für die standesamtliche Trauung angezogen verlassen hatte und von dem man nichts mehr hörte noch sah, bis dann seine Leiche auf so ungewöhnliche Art aufgefunden wurde.

Jedenfalls bietet dieser Kriminalfall eine ganze Anzahl recht eigenartiger Momente, die jedes für sich betrachtet, diesen Mord tatsächlich zu einem der seltsamsten Verbrechen machen.

Es dürfte im Interesse der schnellen Ermittlung des Täters liegen, wenn wir auch dem großen Publikum hier das vor Augen führen, was diesen Mord zu einem ungewöhnlichen Geschehen stempelt, wobei wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß dieser oder jener unserer Leser vielleicht etwas zur Aufklärung des Verbrechens beitragen kann. Wir weisen hier auch noch auf die ausgesetzte Belohnung hin, auf die auch derjenige Anspruch hat, der für das Ermittlungsverfahren förderliche Angaben zu machen im Stande ist.

Es steht fest, daß Horst Rickelt einen Lebenswandel führte, der in keiner Weise dazu angetan war, ihm Feindschaft einzutragen. Man wird den Gedanken an einen Mord aus Rache oder Eifersucht also von vornherein ausschalten können. Anscheinend liegt ja ein Raubmord vor – anscheinend, da bei der Leiche nichts von den Wertsachen gefunden wurde, die der junge Schriftsteller bei sich getragen haben muß, bevor er dem Messerstiche zum Opfer fiel. Und doch ist, was wir schon durch das „anscheinend“ andeuteten, das Verhalten des Täters ein so widerspruchsvolles, daß man notwendig zu der Annahme kommt, das Motiv zu dem Verbrechen sei nicht gemeine Raubgier gewesen. Welcher Mörder wird wohl sein Opfer, das er doch offenbar im Tiergarten niedergestoßen hat, noch unter nicht geringer Gefahr für sich selbst in einem Auto fortschaffen, anstatt den Toten einfach liegen zu lassen und zu entfliehen?! Weshalb dieses Wagnis der Verlagerung des Ermordeten in ein Auto? Weshalb begleitete der Mörder dessen Transport? Und wozu überhaupt dieser Transport nach einem recht belebten, nicht einmal weit entfernten Platze, wie der Lützowplatz es ist?! –

Jeder wird zugeben, daß diese höchst beachtenswerten Punkte die Unterlage zu einer ganz bestimmten Mutmaßung bilden könne. Wir wollen auf diese nur kurz hinweisen. –

Dem Täter war nach dem vorher Gesagten offenbar sehr viel daran gelegen haben, die Leiche nicht im Tiergarten in der Nähe der Mordstelle – denn daß das Verbrechen dort verübt wurde, darf mit Sicherheit angenommen werden – zu belassen, vielmehr sollte der Mord durch die Feststellung des Chauffeurs einen toten Fahrgast im Auto zu haben, entdeckt werden. –

Überlegt man sich nur dieses eine einzige Moment genauer, bedenkt man die Zwecklosigkeit dieser Entfernung des bereits verschiedenen jungen Schriftstellers nach dem Lützowplatz hin, – zwecklos, weil die Entdeckung des Mordes dadurch nur beschleunigt wurde, der Täter also geradezu Zeit verlor anstatt gewann, um das Weite zu suchen, so erhält man fast den Eindruck, daß hier ein Geistesgestörter als Verbrecher in Frage kommt.

Weiter aber! – Host Rickelt verließ morgens seine Wohnung in Gehrock, Lackschuhen und Zylinder, also in einem Anzug, wie er für die standesamtliche Eheschließung üblich ist. Als seine Leiche aufgefunden wurde, trug er andere und zwar – fremde Kleider, einen graukarierten Anzug, langen Gummimantel und schwarzen, weichen Filzhut. – Fremde Kleider! Die Polizei hat schon festgestellt, daß kein Stück dieser Sachen Rickelt gehört, ja, nicht einmal die Wäsche, die er auf dem Leibe trug, war die seine, vielmehr mit „A. R.“ gezeichnet, nicht mit „H. R.“. Wie ist er denn nun in diese Kleider hineingekommen? Hatte er sie sich selbst angezogen, – freiwillig oder unter einem Zwang, woher nahm er sie, wo wechselte er den Anzug und zu welchem Zweck? –

Der Leser sieht, wie sich die ungeklärten Fragen sich zu einem Berg aufhäufen. Und dieser Berg, über den man nicht in das Land der Erkenntnis, auf ein klares, übersichtliches Bild dieses Verbrechens, zu blicken vermag, vergrößert sich immer mehr, je eingehender man überall diese mehr als rätselhaften Nebenumstände nachgrübelt. Ein förmliches Chaos, ein wahres Labyrinth von nicht zu beantwortenden Fragen hat man hier vor sich. In diesem Labyrinth kann man diesen, kann man jenen Weg einschlagen – stets verwirrt man sich nur tiefer in geheimnisvolle sich kreuzende verschlungenen Pfade. In der Tat, unsere Weltstadt steht hier vor einem Verbrechen, das uns einmal durch seine Tragik, durch den Tod am Hochzeitstage, ans Herz packt, dann aber auch unseren Geist durch all das Außergewöhnliche verwirrt, das sich uns aufdrängt, sobald wir nur ein wenig um die ihn begleitenden Nebenumstände uns kümmern.

Sollte nun wirklich niemand um die zwölfte Stunde herum im Tiergarten an jener Stelle, wo die Leiche in das Auto verladen wurde, etwas Auffälliges gehört oder gesehen, sollte niemand beobachtet haben, wie der Mörder aus dem nicht allzu schnell fahrenden Auto sprang, das nach dem Lützowplatz hin doch dicht bebaute Straßen passierte? –

Jede, auch die anscheinend noch so unwichtigste Tatsache ist hier von Belang. Mag jeder Leser sich bei einem Überfliegen dieser Zeilen fragen: Kannst du nicht auch dein Teil zu Aufdeckung dieses Verbrechens beisteuern? –

Kurz, wir wenden uns an das große Publikum, wie schon oben einmal geschehen, mit der dringenden Bitte: Betrachtet es als eure Ehrenpflicht als Staatsbürger, die Behörden bei ihren Ermittlungen zu unterstützen! Niemand vergesse, daß unsere Kriminalpolizei hier vor einer Aufgabe steht, wie sie kaum schwieriger sein kann.“ –

August Lehnert schob die stenographische Abschrift seines Artikels wieder in die Tasche.

„Nun, Hartung, wie gefällt dir mein Geschreibsel?“ fragte er ernst.

Der Anwalt wiegte unzufrieden den Kopf hin und her.

„Gar nicht gefällt es mir, gar nicht!“ meinte er dann. „Wohlverstanden, nur aus dem Grunde, weil ich jetzt eingesehen habe, daß dieser Mord etwas ganz Außergewöhnliches darstellt, weil mir auch klar geworden ist, daß unsere arme Polizei eine Jagd auf einem Wild veranstalten muß, eben auf den Täter, das alle verbrecherischen Vorsichtsmaßregeln auf den Kopf stellt – ich denke hier besonders an die scheinbar sinnlose Fortschaffung des Toten – und daß daher auch eine ganz besondere Jagdmethode verlangt wird. Den Kriminalkommissar Lautenborn beneide ich nicht! Es muß eine undankbare Aufgabe sein, einen solchen Fall zu bearbeiten – wahrhaftig.“

Die beiden Freunde gingen dann zusammen zu Mutter Dieball, um Mittag zu essen. Nachher trennten sie sich. Hartung fuhr mit der Straßenbahn nach seiner Wohnung, um sich ein wenig von den Anstrengungen des terminreichen Vormittags zu erholen. Der Reporter aber sprang auf den nächsten nach dem Alexanderplatz gehenden Omnibus, wo sich das Berliner Polizeipräsidium befindet. Er wollte Lautenborn aufsuchen und ihm alles mitteilen, was er von Luzie Molla und Wieselchen wußte, – alles, auch von der Geldbörse, die er Ernst Forbach in die Manteltasche hatte gleiten lassen, um nachher als Ankläger gegen einen Taschendieb auftreten zu können.

 

8. Kapitel.

Die Jagd beginnt.

Lautenborn war nicht im Polizeipräsidium. Der Reporter erhielt dort aber den Rat, den Kriminalkommissar in dessen Privatwohnung aufzusuchen, wo dieser jetzt wahrscheinlich anwesend sein dürfte.

Lehnert brauchte nicht allzu weit gehen, bis er vor dem Hause anlangte, in dessen viertem Stock Lautenborn als „möblierter Herr“ wohnen sollte.

Vier Treppen! Und bei der Wärme! Lehnert schnaubte vor Atemnot und Herzklopfen, als er in der vierten Etage anlangte. Allerdings war er die Stiegen sehr eilig emporgelaufen, da er jetzt förmlich darauf brannte, mit dem Kommissar diesen Kriminalfall durchzusprechen.

Er läutete also nun an der Flurtür, an der zwei kleine Porzellanschildchen angebracht waren: „Lautenborn“ und „Nischewski“ stand darauf.

Eine sauber angezogene Frau in mittleren Jahren öffnete und fragte nach Lehnerts Begehr.

Der Reporter hatte schon unterwegs auf eine Visitenkarte ein paar Worte geschrieben, die genügten, um Lautenborn über den Zweck seines Besuches aufzuklären. Die Karte schickt er dem Kommissar hinein und erlebte dann auch die Genugtuung, daß dieser ihn empfing.

Erich Lautenborn war ein Mann Anfang der Dreißiger, schlank und kräftig, besaß er ein Gesicht, das mit dem blonden kurzgehaltenen Schnurrbärtchen und in Ausdruck und Schnitt mehr auf einen Offizier denn auf einen Kriminalbeamten schließen ließ. Nichts verriet an ihm seinen Beruf. Auch seine Lebensführung nicht. Er hieß in den Berliner Nachtlokalen allgemein der lustige „Kikerikomm“, und das deswegen, weil er meisterhaft das Krähen eines Hahnes in allen Altersstufen nachzuahmen verstand – daher Kikeri – und weil er eben Kommissar war, – daher „komm“.

Sein Wohnzimmer bestätigte in der Ausstattung vollkommen, daß er den Freuden dieses Lebens durchaus nicht abhold war. Neben Bildern von bekannten Schauspielerinnen, Operetten- Varietee- und Brettlstars, größtenteils mit eigenhändiger Widmung, hingen an den Wänden oder standen hie und da Kunstdrucke berühmter Rennpferde und reinrassiger Zuchthunde auf Wandbrettern, einem Piano und auf anderen Plätzen herum.

Weiber, Pferde, Hunde, – das war das Dreigestirn, um das sich Kikerikomms Interessen bewegten, natürlich abgesehen von seinem Beruf.

Und er selbst? – Daß er wie ein Offizier in Zivil aussah, ist schon gesagt worden. Bezeichnender für ihn aber als Gestalt, Gesicht und Auftreten von nachlässiger Sicherheit war seine Art sich anzuziehen. Seine Kleidung streifte haarscharf die Grenze des Gigerlhaften, ohne zu geschmacklos zu sein. Im Gegenteil, die Kunst, stets das Modernste zu tragen und doch darin eine gewisse einfache Vornehmheit zu wahren, war bei ihm bis zur Vollendung ausgebildet.

August Lehnert wußte all das längst. Desto gespannter war er, diesem weit über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmten Mann persönlich einmal näherzutreten.

Lautenborn empfing ihn äußerst liebenswürdig, nötigte ihn Platz zu nehmen und betonte, daß ihm der Name Lehnert keineswegs unbekannt sei.

„Ich liebe Originale,“ meinte er. „Und sie gehören fraglos dazu. Schablonenmenschen sind mir geradezu ein Ekel. Und es kann vorkommen, daß ich zum Beispiel einen besonders gewandten Gauner geradezu bewundere, während ich ihn unschädlich zu machen suche. Es ist so, als ob man einem politischen Gegner die Achtung nicht vorenthält. Ungefähr so. – Also Sie kommen Ihres Freundes Rickelt wegen. Ja, das ist ein recht merkwürdiger Fall. Denken Sie nun nicht, hier einem Zauberer gegenüberzustehen, dem es bereits gelungen ist, Licht in die Finsternis dieses Verbrechens zu bringen. Ich bin alles andere als ein Hexenmeister, vollgepfropft mit Scharfsinn und glänzendem Kombinationstalent! So stellt sich das Publikum uns zuvor. Alles Unsinn, sag’ ich Ihnen, Herr Lehnert. Mein Geschäft ist ähnlich der Geschicklichkeit eines Jongleurs, der auch erst durch Übung zwölf Bälle auf einmal durch die Luft kreisen zu lassen lernt. – Bisher weiß ich über diesen Mord genau so viel wie Sie. Nicht einen Deut mehr. Falls nicht gerade die Geschichte mit Wieselchen auf dem Bahnhof Friedrichstraße sogar vermuten läßt, daß Sie es sind, der über den Mord besser unterrichtet ist als ich.“

Lehnert war überrascht. Diese Bemerkung hatte er nicht erwartet.

Lautenborn las dieses Erstaunen dem Besucher vom Gesicht ab.

„Natürlich habe ich von diesem Taschendiebstahl erfahren,“ sagte er leichthin. „Ich studiere täglich die Meldungen aller Polizeiwachen. Und da mußte mir auffallen, daß Ihr Name in zweien dieser Meldungen von derselben Nacht wiederkehrte: als des Herrn, der den Toten im Auto erkannte und als der von Wieselchen Bestohlene, der dessen Verhaftung veranlaßte. – Nun war doch bei Ernst Forbach, diesem allglatten Burschen, eine goldene Uhr mit Kette in der Reisetasche gefunden worden. Die Leiche Rickelts aber war völlig ausgeraubt. In meinem Beruf muß man alles in Betracht ziehen. Daher versuchte ich festzustellen, ob die Uhr, die sonst nichts Besonderes an sich hat, vielleicht Rickelt gehört. Ich nahm sie mit zu den Damen Rhoden. Die konnten aber auch nur sagen, der Schriftsteller habe eine ähnliche besessen. Bei einem Stück Dutzendware ohne Monogramm ist es ja auch sehr schwer zu ermitteln, ob es sich um eine ganz bestimmte handelt. Nun – die Uhr hatte aber eine Nummer und einen Fabrikstempel. Und so fand ich das Geschäft, in dem sie mal gekauft worden war. Der Inhaber stellte an Hand seiner Bücher fest, daß Rickelt sie vor zwei Jahren dort erworben hatte.“

Lehnert gab es einen ordentlichen Ruck durch den Körper.

„Wahrhaftig – Rickelts Uhr?“ entfuhr es ihm.

„Tatsache! – Sehen Sie, Herr Lehnert, als ich dies erst heraus hatte, da besah ich mir diesen Taschendiebstahl auch genauer, weil er mir gleich so etwas fragwürdig erschienen war. Ein Mann, der die Uhr eines Ermordeten in seiner Reisetasche trägt und der sich noch nie als Taschendieb vorher betätigt hat, wird sich doch nicht der Gefahr aussetzen, sich bei einem solchen Fingerfertigkeitsversuch abfassen zu lassen. Nein – der vermeidet alles, was ihm Unannehmlichkeiten einbringen kann. Na – jedenfalls ließ ich mir Wieselchen vor einer Stunde vorführen, unterhielt mich mit ihm und gewann dabei so halb und halb die Überzeugung, daß bei dieser Sache irgend etwas nicht stimmt.“

Der Reporter nickte.

„Diese Vermutung trifft zu, Herr Lautenborn.“ Und dann erzählte er recht ausführlich, was er im Cafee des Westens von dem Gespräch zwischen Luzie Molla und Wieselchen erlauscht hatte und wie er schließlich auf den nicht ganz gesetzmäßigen Gedanken gekommen sei, Ernst Forbach die Flucht nach Köln zu unterbinden.

Lautenborn hatte sehr genau hingehört. Jetzt schüttelte er ungläubig den Kopf.

„Sollte also wirklich Wieselchen an dem Morde beteiligt sein?!“ meinte er nachdenklich. „Das würde so gar nicht zu diesem Menschen passen, der bisher mit einer Geschmeidigkeit sich überall durchgewunden hat, die seiner Intelligenz ein recht gutes Zeugnis ausstellt. – Ja, gewiß, man hat Rickelts Uhr bei ihm gefunden. Das beweist aber noch nicht, daß er der Täter ist. Er hat mir da eine Geschichte erzählt, wie er in den Besitz der Uhr gelangt sein will, die wahr sein kann. Ich betone, kann! – Er behauptet nämlich, er habe sie bereits am Nachmittag von Rickelts Hochzeitstag von einem Manne in einer Spelunke im Norden Berlins gekauft.“

Der Reporter lächelte. „Von dem großen Unbekannten also! – Und das soll wahr sein?!“

„Oh – lehnen Sie diese Angabe nicht so ohne weiteres ab. Ich möchte Ihnen da folgendes vorhalten. Rickelt wurde gegen ein viertel zwölf nachts ermordet, etwa eine Stunde vor der Auffindung seiner Leiche im Auto. Nachgewiesen ist jetzt schon, – durch telephonische Anfrage im Cafee des Westens bei dem betreffenden Kellner, daß Wieselchen schon von elf Uhr ab den Tisch in der Nische innegehabt hat. Er hat dies als Alibi angegeben. Ich wußte schon, bevor Sie mir Ihr Erlebnis im Cafee des Westens mit Forbach und der Molla erzählten, daß er in der Mordnacht dort gewesen ist. Er hat auch ausgesagt, er habe auf eine Dame gewartet, weigerte sich aber, deren Namen zu nennen. Nun habe ich von Ihnen diesen Namen erfahren, zugleich aber auch die Bestätigung erhalten, daß das Alibi Wieselchens für jenen Abend richtig ist. Also ist Ernst Forbach in keinem Falle selbst der Mörder. Das haben wir nun glücklich einwandfrei festgestellt.“

Jetzt war es Lehnert, der etwas verwirrt und schon beinahe verblüfft den Kopf schüttelte.

„Ich habe aber genau verstanden, Herr Lautenborn, und ein Irrtum ist ausgeschlossen, der Name Rickelt wurde zwischen den beiden erwähnt, wie ich schon sagte. Ebenso hörte ich ja auch, daß die Molla erklärte: „Du fährst gleich heute morgen! Du darfst nicht hierbleiben!“ Und, Wieselchen nannte die Kabarettdiva „Luz“ als Abkürzung von Luzie, muß sie also sehr gut kennen, außerdem duzten sie sich ja auch. – Aus der ganzen Geschichte mag ein anderer klug werden! Mir steht da wirklich der Verstand still.“

Lautenborn nickte.

„Ein wenig kompliziert liegt der Fall ja fraglos. Immerhin haben wir jetzt schon ein paar recht günstige Angriffspunkte: Die bei Wieselchen gefundene Uhr, das Gespräch im Cafee des Westens und die durch Sie verhinderte Vergnügungsreisende Ernst Forbachs nach Köln und Umgebung. – Was meinen Sie, wenn wir mal gleich nach dem Präsidium gingen, und ich Wieselchen so etwas auf den Zahn fühlte? – In meinem Zimmer steht für solche Zwecke ein Wandschirm. Dahinter können Sie Platz nehmen. Ich werde versuchen, ob ich Wieselchen nicht trotz all seiner Schlauheit aufs Glatteis führe. – Im übrigen, Herr Lehnert, wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, weil Sie Ernst Forbach hier festgehalten haben. – So, nun kommen Sie. Ich bin gerade in der Stimmung, mich mit einem so verschlagenen Menschen hinsichtlich unserer gegenseitigen Verstandeskastenkräfte zu messen wie Wieselchen es ist.“ –

Ernst Forbach saß Lautenborn gegenüber. Er spielte den tief Gekränkten, fragte patzig, ob man ihn denn noch länger in Haft behalten wolle und nannte den Mann, der ihn des Taschendiebstahls beschuldigt hatte, den größten Schuft des Jahrhunderts.

Lehnert lächelte hinter dem Wandschirm nachsichtig.

Der Kommissar aber sagte:

„Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich Sie bald freilassen kann, – wenn Sie eben Vernunft annehmen und mir den Namen der Dame nennen, mit der Sie damals im Caffee des Westens zusammen waren.“

„Ich begreife nicht, was hat die Dame mit diesen Dingen zu schaffen?! – Ich bleibe bei meiner Weigerung.“

„Hm, meine Nachsicht wird dadurch nicht größer werden,“ meinte Lautenborn gelassen.

In demselben Augenblick trat ein Beamter in Uniform ins Zimmer und meldete, Fräulein Luzie Molla wünsche den Herrn Kommissar zu sprechen.

Lautenborn sah, wie Ernst Forbach zusammenzuckte und ängstlich nach der Tür blickte.

„Kennen Sie Fräulein Molla?“ fragte er Wieselchen. „Der Name der Bretteldiva scheint bei Ihnen nicht gerade angenehme Empfindungen ausgelöst zu haben.“

Forbach machte ein wütendes Gesicht.

„Was geht mich die Molla an?! Lassen Sie mich in meine Zelle zurückbringen. Wer die Dame war, mit der ich zusammen war, kriegen Sie doch nicht aus mir heraus.“

„So?! – Sie sind im Irrtum. Die Dame war Luzie Molla, mit der Sie sich duzen, die Sie Luz nennen, mit der Sie in der Nische über Horst Rickelt gesprochen haben und die zu Ihnen sagte: „Du fährst gleich heute morgen. Du darfst nicht hier bleiben.“ – Na – was für eine Erklärung haben Sie jetzt abzugeben?“

Wieselchen war bleich geworden. Er konnte sich nur denken, daß Luzie von der Polizei vernommen worden war und, in die Enge getrieben, alles gestanden hatte. –

Dicke Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er sah sich schon im Zuchthaus. Die goldene Freiheit wäre dahin. –

Wie sollte der Kommissar denn auch anders über ihr damaliges Gespräch so gut unterrichtet sein?! –

Was tun?! Ebenfalls alles zugeben? –

Alles? Wußte er denn, wie viel man aus Luzie herausgepreßt hatte?! – Nein: Schweigen – schweigen! Das war am besten, am sichersten.

Wieselchens Haltung wurde schon wieder selbstbewußter.

„Erklärungen?!“ meinte er gedehnt. „Ich wüßte nicht worauf diese sich beziehen sollten.“

Lautenborns bisher noch ganz freundliche Stimme wurde jetzt kalt und schneidend.

„Gut – jeder schläft, wie er sich bettet, Forbach! Wenn Sie in dem Falle Rickelt ein reines Gewissen hätten, wären Sie nicht so auffällig blaß geworden. Überlegen Sie sich die Sache lieber und geben Sie der Wahrheit die Ehre. Damit kommt man am weitesten.“

Dann ließ er Wieselchen wieder abführen, der mit scheuem Blick davonschlich. –

August Lehnert kam jetzt hinter dem Wandschirm hervor.

„Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis dieses Verhörs?“ fragte er Lautenborn gespannt.

„Vollständig. Ich habe Wieselchen überrumpelt. Sein Erblassen sagte genug. Ich hätte sogar noch mehr erreichen können. Aber das war nicht nötig. Der Fall Rickelt beginnt zu laufen. Und Luzie Molla, die ich hier zum Schein auftreten ließ, wird sich jetzt von meiner Seite der größten Aufmerksamkeit zu erfreuen haben.“

Dem Reporter war soeben etwas eingefallen.

„Sie waren doch vormittags bei Rhodens, nicht wahr? – Ja – ich begegnete Ihnen im Hausflur. – Hat die Rätin Ihnen auch die seltsame Geschichte von Fräulein Klarissas Herkunft erzählt?“

„Allerdings. Und ich habe mir von ihr auch jene beiden einzigen Urkunden geben lassen, die über der jungen Dame Abstammung vorhanden und auf denen Vatersnamen und Geburtsort sicher gefälscht sind. Wenn ich nun auch nicht annehme, daß aus der ersten Kindheit der früheren Klarissa Reisselt, jetzigen Klarissa Rhoden, sich bis zu dem an Horst Rickelt verübtem Morde irgendwelche Fäden hinziehen könnten, so halte ich es doch für meine Pflicht, auch dieser Angelegenheit Beachtung zu schenken. Wissen kann man ja nie, wie seltsam manchmal das Schicksal spielt.“

Lehnert holte jetzt die Abschrift seines Artikels über den Fall Rickelt hervor und las seine Ausführungen dem Kommissar vor, der voll Interesse zuhörte und nachher bemerkte:

„Sie haben gerade das Rätselhafte an diesem Morde, das besonders in dem widerspruchsvollen Verhalten des Täters liegt, sehr geschickt und sehr richtig in allen Einzelheiten herausgearbeitet. Ja, ja – wenn wir wüßten, wo Rickelt die Zeit von morgens einviertel neun Uhr bis zu seiner Ermordung zugebracht hat! Ich erhoffe ja viel von der ausgesetzten Belohnung. Vielleicht schärft das lockende Gold das Gedächtnis irgendeines Menschen, der den in den Anschlägen der Plakatsäulen genau beschriebenen jungen Schriftsteller gestern während des Tages gesehen oder sonst etwas Auffälliges beobachtet hat. Ich bin ja bei Ermittlungen stets sehr sorgfältig, unterlasse nichts, aufzuklären, was auch noch so bedeutungslos erscheint, und habe daher auch überall dort nachfragen lassen, wo Rickelt vielleicht noch gewesen sein könnte, nachdem er sein Junggesellenheim verlassen hatte. Auch die Portierleute des Hauses Warmbrunner Straße 1, in dem das junge Paar sein Nest aufgeschlagen hat, habe ich telephonisch befragt, ob der Schriftsteller vielleicht dort sich gestern habe blicken lassen. Die Antwort fiel verneinend aus. Kurz – von dem Augenblick an, wo Rickelt sich von seiner alten Wirtin, der Frau Meinke, offenbar schweren Herzens verabschiedet hatte, hat niemand ihn mehr gesehen, der ihn kennt, – wenigstens muß ich das vorläufig unterstellen. Wirklich ein Wust von Rätseln, dieser Mord! Er wird mir noch viel Arbeit machen. Na, eine Handhabe, wie man den Stein vielleicht ins Rollen bringen kann, besitze ich ja jetzt zum Glück: Luzie Molla!“

 

9. Kapitel.

In der leeren Wohnung.

Werner Hartung war, nachdem er zusammen mit Lehnert Mittag gegessen hatte, nach seiner Privatwohnung gefahren und dort bis gegen vier Uhr nachmittags geblieben. Dann begab er sich wieder in sein Bureau, arbeitete bis sieben und suchte hierauf die Rhodenschen Damen auf. Er hatte eigentlich gehofft, daß Lehnert sich inzwischen nochmals bei ihm einfinden würde, um ihm über die Besprechung mit Lautenborn Bericht zu erstatten. Doch der Reporter hatte sich nicht blicken lassen, ja nicht einmal den Freund angeklingelt. Dies Fehlen jeder Nachricht von Lehnert beunruhigte den Anwalt ein wenig. Und im Stillen schalt er den Reporter rücksichtslos, weil dieser sich dergestalt in Schweigen gehüllt hatte.

Bei Rhodens wurde Hartung sehr herzlich willkommen geheißen. Am Morgen, als er den beiden Frauen die Nachricht von der Ermordung Horst Rickelts möglichst schonend beigebracht hatte, war Klarissa nur für ein paar Minuten sichtbar geworden. Jetzt trat sie dem Anwalt, mit dem sie auch trotz der Verlobung mit Rickelt noch immer in einem heiteren Neckton verkehrt hatte, der von seiner Seite aus nicht ganz frei von schlecht verhehlter Verliebtheit war, schon bedeutend ruhiger und gefaßter gegenüber. Blaß sah sie noch immer aus, aber diese Blässe machte ihr vornehm rassiges Römerinnenprofil nur noch anziehender. Sie hatte bereits ein dunkles Kleid angelegt, um der Trauer um den so jäh Dahingeschiedenen auch auf diese Weise Ausdruck zu verleihen. Schwarz stand Klarissa womöglich noch besser als die hellen Gewänder, die sie sonst ausschließlich bevorzugte. Ihr Gesicht erschien durchgeistigter, die Augen waren noch sprechender, und das Rot der Lippen hatte scheinbar eine dunklere und leuchtendere Farbe angenommen.

Hartung, der mit Klarissa längerer Zeit allein blieb, da Frau Rhoden noch schnell ein paar Besorgungen erledigen wollte, lernte das junge Mädchen heute von einer ganz neuen Seite kennen.

Keine Träne trat ihr in die Augen, als sie sich von dem Anwalt genauer schildern ließ, wie man Horst Rickelt in dem Auto als Leiche entdeckt habe und was sonst noch über dessen Tod später auf der Polizeiwache festgestellt worden war.

Dabei war es nicht etwa die Erstarrung verzweifelten Schmerzes, die ihre Augen trocken bleiben und ihren Mund nur gelegentlich nervös zucken ließ.

Als Hartung all ihre ins einzelne gehenden Fragen beantwortet hatte, sagte sie gepreßt und enthüllte damit ihre verborgenen Gefühle:

„Ich wünschte, ich wäre ein Mann! Dann würde ich nicht ruhen noch rasten, bis ich den Mörder entdeckt hätte. – Ich weiß nicht, wie es kommt, daß plötzlich dieses Begehren nach Vergeltung, nach Rache, so heiß in mir emporgeloderte ist. Bis heute Mittag fühlte ich nichts als eine dumpfe Betäubung. Mir war’s, als ob nicht ich es sei, die all dies durchmachen müsse. Ich stand sozusagen außerhalb all dieser traurigen Ereignisse. Dann, nach Tisch, mußte ich mich auf Mamas Bitten niederlegen, um meinen Nerven im Schlaf neue Kraft zuzuführen. Ich schlief auch wirklich ein. Aber eine Erquickung wurde dieser Schlummer nicht. Ich hatte seltsame Träume. Ich bin keine phantastisch veranlagte Natur. Und doch, denken Sie, wie merkwürdig, träumte ich in wirren Bildern von Hütten, die in einem wildromantischen Tale standen und von bärtigen, halb verwilderten Männern, die um ein Lagerfeuer vor einer der Hütten sich niedergelassen hatten, während etwas abseits ein in Decken gehüllter Kranker von einem Weibe gepflegt wurde. – Obwohl nun diese Szene an sich nichts Aufregendes an sich hatte, packte sie mich doch mit rätselhafter Gewalt. Vielleicht war es das Abenteuerliche dieses Lagerbildes, das auf mich so stark wirkte. Jedenfalls erwachte ich plötzlich und merkte, daß ich förmlich fieberte. Dabei besann ich mich auf jede Einzelheit des Traumes ganz genau. Ich könnte, wenn ich Maler wäre, Ihnen geradezu eine Skizze des Tales mit den roh zusammengezimmerten Hütten und den sonderbar gekleideten Männern entwerfen. Ich sah zum Beispiel mehr im Hintergrunde des Tales auch eine Anzahl von Maultieren stehen, die das spärliche Gras fraßen und neben denen hohe Sättel, Kisten und anderes lagen. – Ist das nicht wirklich seltsam, Herr Rechtsanwalt?! Man sagt doch stets, daß Träume durch Seeleneindruck oder körperliche Reizempfindungen ausgelöst werden. Wo besteht aber nun bei mir ein solcher Zusammenhang von Ursache und Wirkung?! Das Lagerbild könnte getrost als Illustration zu irgend einem Roman aus Wildwest verwandt werden. Aber derartige Erzählungen habe ich nie gelesen, jedenfalls seit Jahren nicht mehr. – Und dann das Allermerkwürdigste. Gleich nach dem Erwachen, als ich wieder in die Wirklichkeit zurückversetzt war, kam mir der Gedanke, du möchtest den Tod Horst Rickelts rächen, möchtest mithelfen, den Mörder zu entdecken. Eine mir bis dahin unbekannte, recht unweibliche Zügellosigkeit meiner auf diesen Gegenstand gerichteten Gefühle verwirrte mich geradezu. Der Wunsch nach Vergeltung übertönte alles andere. Und so ist es noch jetzt. Etwas Fremdes ist plötzlich in mir erwacht, das bisher geschlummert haben muß.“

Klarissas Wangen hatten sich sanft gerötet. Hartung merkte, wie jede Fiber ihres Herzens bei diesen Rachegedanken war, wie ernst sie es gemeint, als sie gesagt hatte: „Ich wünschte, ich wäre ein Mann!“

Dann zuckte in des Anwalts Hirn eine ungewöhnliche Ideenverbindung auf. Er hatte plötzlich an das gedacht, was er ja nun von Klarissas Herkunft wußte. In Britisch-Kanada war sie geboren und zwar angeblich in London City. Aber diesen Ortsnamen hatte man offenbar gefälscht, das heißt nachträglich verändert. Immerhin war es möglich, daß Klarissas Eltern vielleicht zu einem Trupp von Goldsuchern oder Pelzjägern gehört hatten und daß das junge Mädchen heute eine Szene im Traume gesehen hatte, die auf ihre Mutter einmal einen besonders starken Eindruck gerade zu der Zeit gemacht hatte, als sie Klarissa unter dem Herzen trug. Solche Fälle waren schon wiederholt wissenschaftlich nachgeprüft worden, in denen Traumerinnerungen nicht aus dem Gedächtnis des Träumenden selbst abgeleitet werden konnten, sondern notwendig auf dessen Eltern zurückverlegt werden mußten. Das wußte Hartung sehr gut, und daher war er auch auf die Vermutung gekommen, hier ein Beispiel der Vererbung von ganz bestimmten Seeleneindrücken vor sich zu haben.

Von alledem durfte er Klarissa gegenüber jedoch nichts erwähnen. Sie ahnte ja noch nicht, daß sie den Namen Rhoden nur als Adoptivkind führte und daß ihre Wiege jenseits des Atlantik in Nordamerika gestanden hatte.

Klarissa merkte, wie nachdenklich Hartung plötzlich geworden war. Sie führte dieses Insichversunkensein aber lediglich auf das zurück, was sie über ihren jäh erwachten Rachedurst ihm soeben anvertraut hatte. Und besorgt und etwas beschämt fragte sie nun:

„Nicht wahr, es ist unweiblich, sich mit solchen Gedanken abzugeben? Denken Sie nicht schlecht von mir, bitte. Ich war ja bisher recht sanftmütig. Und erst nach diesem sonderbaren Traume war das Neue, Fremde in meine Seele eingedrungen, – etwas Zügelloses, Wildes, das so gar nicht zu meinem bisherigen ich paßt.“

Hartung dachte: „Vielleicht könnte ich dir eine ziemlich einleuchtende Erklärung für diese Umwandlung gegen, armes Weib! Dein Vater mag ein Abenteurer gewesen sein, ein Mensch voll roher Instinkte, denen er willenlos folgte. Und das Traumgesicht, dieses Bild aus dem Erinnerungsschatze eines der beiden Menschen, denen du dein Leben verdankst, ließ wie ein Windstoß ein Fünkchen unter der Asche ähnliche Instinkte in dir aufglühen – eben ein Rachegelüst, vor dem du selbst erschrickst.“ Laut aber erwiderte er, und in seiner Antwort lag mehr Herzenswärme, als er selbst hineinbringen wollte:

„Schlecht von Ihnen denken, Klarissa? Wie sollte wohl gerade ich das, der Sie stets so gut verstanden hat und der glücklich war, wenn Sie ihn als guten Freund betrachteten.“

Sie errötete leicht. Sie hätte kein Weib sein müssen, um nicht zu spüren, daß er sie noch immer liebte, obwohl damals Horst Rickelt ihn als Freier verdrängt hatte.

Da kehrte Frau Rhoden gerade zurück. Während sie ihre Päckchen fortlegte, – Trauerschleier und schwarze Handschuhe waren darin, sagte sie zu den beiden jungen Leuten, die im Erker des kleinen Salon saßen:

„Ich begegnete eben auf der Straße vor unserem Hause der Frau des Portiers aus der Warmbrunner Straße. Richtig – Wilke heißen die Leute. Die Frau Wilke wollte zu mir. Der Hauswirt schickte sie. Sie sollte fragen, ob er die Wohnung weitervermieten solle.“

Die Rätin seufzte tief und schmerzlich.

„Wie wenig zartfühlend doch manche Menschen sind,“ fuhr sie fort. „Kaum hat der Mann erfahren, daß – daß die Wohnung jetzt nicht bezogen wird, da ist er auch schon um sein Geld, die Miete, besorgt und sucht sich zu sichern. – Außerdem hat die Wilke mir dann noch eine etwas unklare Geschichte erzählt von einer Kiste Porzellan, die gestern Vormittag abgeholt worden ist und die angeblich umgetauscht werden sollte. Die Portierfrau ließ es sich nicht ausreden, daß hier ein Irrtum vorliegen müsse, da ich ja doch das Porzellan aus der Kiste eigenhändig ausgepackt habe. Ich weiß auch nichts von einem Umtausch. Jedenfalls scheint aber festzustehen, daß hier irgend etwas nicht ganz richtig ist. Die Wilke behauptet, der Vertreter des Porzellangeschäftes, der die Kiste holte, hätte sowohl die Schlüssel zur Wohnung als auch eine Visitenkarte Rickelts gehabt, letztere als Ausweis, und gesagt, er würde die andere Kiste sofort nachher bringen. Da dies nun nicht geschehen ist, hielt die Wilke sich für verpflichtet, mir die Sache mitzuteilen. – Ich verstehe das alles nicht. Der Angestellte des Geschäfts soll die Wohnungsschlüssel gehabt haben?! Von wem? – Von mir nicht, und von Rickelt? – Das kann ich mir auch nicht denken. Wenn wir da nur nicht bestohlen worden sind. Ich hätte die größte Lust, gleich einmal nach Schmargendorf hinauszufahren, um in der Wohnung nachzusehen, ob etwas fehlt. Womöglich haben Spitzbuben die in der Küche stehende leere Kiste mit den wertvollsten Sachen vollgestopft und sind damit verschwunden.“

Hartung hatte aufgehorcht. Diese Angelegenheit erschien ihm durchaus nicht belanglos, da der Geschäftsangestellte – oder der Dieb? – doch die Wohnungsschlüssel zur Verfügung gehabt und sich offenbar der Portierfrau gegenüber durch eine Karte Rickelts ausgewiesen hatte. Als Anwalt, der auch zahlreiche Strafsachen schon vertreten hatte, wußte er, daß bei einem Verbrechen selbst Dinge, die noch so lose mit diesem zusammenzuhängen schienen, zu beachten waren. Hier war nun die Person des Ermordeten mit hineinverwickelt, und daher hatte er ebenfalls ein lebhaftes Interesse daran, diesen Vorfall genau aufzuklären.

Nach einigem Hin und Her beschloß man dann, daß Frau Rhoden und Hartung sich sofort nach Schmargendorf hinausbegeben sollten. Die Rätin wollte Klarissa nicht mitnehmen, da sie fürchtete, diese könnte durch den Anblick der Räume, in die sie gestern ihren Einzug als Rickelts Gattinnen hatte halten sollen, allzu sehr belastet werden.

Klarissa war denn auch zunächst einverstanden damit, zu Hause zu bleiben. Als die beiden sich dann aber von ihr verabschiedeten, erklärte sie plötzlich, doch mitkommen zu wollen. Und dabei blieb sie auch.

Ein Auto brachte die Damen und den Anwalt in zwanzig Minuten nach der Warmbrunner Straße. Gegen halb neun abends langte man dort an und begab sich in den zweiten Stock hinauf. Portier Wilke schloß sich den dreien an. Seine Frau war noch nicht heimgekehrt.

Die Rätin hatte bald festgestellt, daß nichts fehlte – auch nicht ein Teller, nichts – nichts.

Klarissa war auf der Loggia geblieben, wo sie sich in einen der Korbsessel gesetzt hatte.

So konnte Frau Rhoden denn ohne jeden Zwang Hartung gegenüber ihrem Herzen Luft machen.

Erst sprach sie, während sie mit dem Anwalt im Speisezimmer stand, von dem furchtbaren Geschick, das daran schuld war, daß diese trauliche Wohnung nun leer blieb. Sie weinte ein wenig, vergaß ihren Schmerz aber über dem anderen schnell, der Tatsache, daß diese Geschichte von der abgeholten Kiste jetzt noch dunkler als vorher war.

Hartung gab zu, die Sache bedürfe nun mehr denn je der Aufklärung.

„Ich denke dabei immer an die Schlüssel und die Visitenkarte, die Rickelt dem Angestellten ausgehändigt haben soll,“ meinte er.

Während die beiden den Fall noch näher erörterten, ohne Klarheit darüber zu gewinnen, erschien nun auch die dicke Frau Wilke, die von Hartung dann sofort gefragt wurde, ob es nicht vielleicht eine leere Kiste gewesen sei, die der Angestellte fortgeschafft habe.

„Leer?! Na – ich danke schön,“ erklärte die Portierfrau fast aufgebracht. „Ich habe doch mit angefaßt, als sie die Treffen hinunter getragen wurde. Nee – das Ding wog gut seine anderthalb Zentner.“

Hartung schüttelte den Kopf.

„Zum Henker,“ entfuhr es ihm, „was können aber nur in der Kiste verpackt gewesen sein, wenn hier in der Wohnung nichts fehlt?“

Die Wirtin ging mit ihnen daher nochmals durch alle Zimmer. Im Schlafzimmer, wo die Betten mit der blauunterlegten Tülldecke standen, bemerkte Frau Rhoden erst jetzt, daß das eine Bett ganz eingedrückt war, als habe sich jemand quer darüber geworfen.

„Wer hat das denn nun wieder getan?“ meinte sie ärgerlich und glättete das Bett mit kundiger Hand. Dabei kam ihr ein Taschentuch in die Finger, daß auch der Spitzendecke gelegen hatte und aus dem jetzt, als sie neugierig nach dem Monogramm sah, ein Stück Watte zu Boden flatterte.

„Es wird immer schöner!“ rief sie. „Ein fremdes Taschentuch?! Was tut das hier? Kein Monogramm, bunter Rand, Batist, – und dann noch das Stück Watte?!“

Hartung hatte die Watte schon aufgehoben und daran gerochen. Seine Stimme klang wie belegt, als er jetzt sagte:

„Bitte, gnädige Frau, geben Sie mir das Taschentuch. Mir ist da soeben ein Verdacht aufgestiegen, über den ich mich vorläufig nicht näher auslassen möchte. Ich denke, wir können jetzt auch wieder aufbrechen.“

Man hatte das Auto warten lassen. Als man vor der Rhodenschen Wohnung wieder angelangt war, verabschiedete Hartung sich von den Damen. Und dasselbe Auto brachte ihn nach der Potsdamer Straße vor Mutter Dieballs gemütliche Kneipe.

August Lehnert saß wirklich im Zimmer auf seinem Stammplatz hinter dem freistehenden Kachelofen.

„Sag’ mal, weswegen hast du mich denn nicht antelephoniert?“ meinte Hartung, nachdem sie sich begrüßt hatten. „Ich hätte doch gern erfahren, wie Lautenborn dein Geständnis von dem üblen Streich aufgefaßt hat, den du Wieselchen gespielt hast –“

„Ich hatte nicht Zeit. Ich war im Dienst der Kriminalpolizei – als freiwilliger Hilfsarbeiter. Vor zehn Minuten bin ich erst aus Potsdam zurückgekehrt. – Doch ich will alles hübsch eins nach dem andern erzählen.

„Wie gesagt, – als ich mich von Lautenborn verabschiedet hatte,“ fuhr er fort, nachdem er auch sein Erlebnis hinter dem Wandschirm auf dem Polizeipräsidium geschildert hatte, „packte mich die Lust, den Kriminalbeamten so etwas ins Handwerk zu pfuschen. Luzie Molla war mein Ziel. Nachdem ich mit großer Geduld anderthalb Stunden vor ihrem Hause gewartet hatte, erschien sie wirklich und zwar tief verschleiert wie damals im Cafee des Westens. Sie fuhr dann mit dem Vorortzüge nach Potsdam hinaus. Ich ebenfalls. Und so stellte ich fest, daß sie in einer Seitenpforte des Hauses verschwand, in dem die Potsdamer Handelsbank ihr Heim aufgeschlagen hat. Sie blieb etwa eine Stunde in dem Gebäude. Dann betrat sie wieder die Straße. Und jetzt hatte ich das Glück, auch den Mann flüchtig zu Gesicht zu bekommen, der sie aus dem Pförtchen hinausließ. Es war ein älterer, recht vornehm aussehender Herr. Nachher auf dem Bahnhof beschrieb ich ihn einem Kellner des Wartesaales 2. Klasse, sagte, ich hätte den Betreffenden aus dem Bankgebäude heraustreten sehen, und fragte ob es ein Angestellter der Firma sei. „Der Direktor Karl Thomas selbst war’s,“ belehrte mich der Potsdamer Kellner. Nun weiß man also endlich auch, daß es mit Luzie Mollas viel berühmter Unnahbarkeit doch nicht so sehr weit her ist. Denn ich bin dann mit der Kabarettdiva wieder in demselben Zuge nach Berlin zurückgekehrt. Die Molla ist augenblicklich daheim – und ich erhole mich hier von den Strapazen des Nachmittags.“

Hartung hatte es sehr eilig, nun auch seine eigenen Neuigkeiten an den Mann zu bringen. Die Folge war, daß der Reporter in der Telephonzelle der Kneipe verschwand und das Polizeipräsidium anläutete.

Lautenborn war nicht anwesend, hatte aber hinterlassen, wo er zu finden sei. Jedenfalls stellte er sich gegen halb elf bei Mutter Dieball ein, wo Hartung ihm die Geschichte der Porzellankiste und des Taschentuches mit dem Wattestück, das auf dem eingedrückten Bett gelegen hatte, erzählte.

Der Kommissar führte die Watte an die Nase.

„Natürlich – riecht nach Chloroform,“ sagte er. „Ich sehe in dieser Sache bereits so ziemlich klar,“ fuhr er fort. „Viel Kombinationstalent gehört da ja nicht dazu.“

„Allerdings nicht,“ bestätigten Hartung und Lehnert wie aus einem Munde.

Lautenborn bat, man solle sofort zahlen und aufbrechen.

„Ich schmiede das Eisen gern, solange es noch heiß ist,“ fügte er hinzu. „Wir werden daher Wieselchen aus dem Präsidium abholen und nach der Warmbrunner Straße hinausfahren, um ihn der Frau Wilke gegenüberzustellen. Diese wird wohl über die Störung ihrer Nachtruhe ebenso empört sein, genau wie Ernst Forbach. Das ist mir aber sehr gleichgültig. Ich glaube nämlich ganz bestimmt, daß Wieselchen der Mann ist, der den Vertreter des Porzellangeschäfts gespielt hat. Folgendes veranlaßt mich zu dieser Annahme: Sein Erbleichen, als ich ihm mitteilte, was ich über sein Gespräch mit Luzie Molla in dem Cafee des Westens wußte, sein Versuch, aus Berlin zu verschwinden und schließlich dieses Taschentuch hier, von dem wir in Forbachs Wohnung in der Ziegelstraße eine Anzahl ganz ähnlicher Exemplare gefunden haben, wie er selbst auch bei seiner Verhaftung noch ein halbes Dutzend davon in seiner Reisetasche bei sich trug. Das bunte Muster des Randes ist nicht gerade alltäglich, und daher sind mir die Tücher aufgefallen. – Vorwärts also, meine Herren. Vielleicht sind wir in einer Stunde schon ein gut Stück mit den Ermittlungen des Falles Rickelt weiter gekommen.“

 

10. Kapitel.

Zweifel.

Selten hat wohl ein Mensch im Zustände so völliger Versteinerung vor einer Anschlagsäule gestanden wie Otto Rulicke, als er gerade von dem Besuche bei Luzie Molla kam und auf dem Wittenbergplatz dann durch das rote Plakat mit der dicken Überschrift „Mord“ angelockt wurde.

Er las – las, wischte sich die Augen, – es half nichts! Da stand groß und deutlich:

Wurde in einem Taxameterauto die Leiche des Schriftstellers Doktor Horst Rickelt entdeckt –

Doktor Horst Rickelt! – Das wollte Bomben-Otto durchaus nicht in das ohnehin recht schwerfällige Hirn. – Host Rickelt – unmöglich! Doch daran ließ sich nichts ändern! Der Name lautete so. Und dazu noch Doktor und Schriftsteller – alles stimmte!

Otto Rulicke packte plötzlich eine Angst, wie er sie noch nie empfunden hatte. Scheu sah er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete. Dort hinten schritt ein Schutzmann vorbei. Der Beamte tat zwar so, als gebe er auf den elegant gekleideten Herren vor der Anschlagsäule nicht weiter acht. Aber vielleicht verstellte er sich nur. Wer konnte es wissen?!

Bomben-Otto schlich davon, scheu, ganz in Verwirrung geraten. Und er kam erst wieder richtig zu klaren Gedanken, als er sich überzeugt hatte, daß niemand ihm auf den Fersen war.

Um allein mit diesen seinen Gedanken zu sein, ging er in den nahen Zoologischen Garten. Dort war es um diese Stunde menschenleer, dort konnte man auf einer einsamen Bank ungestört nachdenken.

Bald saß er mitten im Grünen, vor sich den Teich mit den fremdländischen Wasservögeln.

Was sollte er tun?! – Luzie Molla! Die mußte raten und helfen! Die war gewitzter, schlauer als er. Das hatte er schon gemerkt.

Aber – er durfte sie nicht wieder in ihrer Wohnung besuchen. Sie hatte es ihm streng untersagt. Zu ihm wollte sie kommen, wenn die Sehnsucht übermäßig wurde. Also blieb nur ein Brief als Verständigungsmittel! Sie hatte zwar Fernsprechanschluß. Aber das war zu gefährlich. Da konnte auf dem Amt jemand das Gespräch mitanhören.

Otto Rulicke ging also nach dem Hauptrestaurant, bestellte sich eine Suppe, ein warmes Gericht und eine Flasche Rotwein und bat den Kellner um Schreibzeug und Papier.

Mit Zentnergewichten verstand der ehemalige Zirkusathlet sehr gut umzugehen, mit dem leichten Federhalter wurde er schwer fertig. So dauerte es eine halbe Stunde, bevor er einen Brief zurechtgebracht hatte, der seinen Anforderungen leidlich genügte.

Bei dem Kellner erkundigte er sich nach der nächsten Straßenecke, wo ein Dienstmann zu finden sei. Und wieder eine halbe Stunde später gelangte der Brief auf diese Weise in Luzie Mollas zarte, wohlgepflegte Händchen.

Der Inhalt überraschte sie nicht mehr. Als die zierliche Anni nach Hause gekommen war, hatte sie bereits die Nachricht von der hohen Belohnung mitgebracht, die für die Entdeckung des Mörders ausgesetzt worden war, dessen Opfer – „der bekannte Schriftsteller Horst Rickelt, der zu so großen Hoffnungen berechtigte“ geworden. Anni hatte auch gleich vom Kaufmann nebenan die Morgennummer der „Berliner Post“ sich für kurze Zeit ausgebeten, da dieses Blatt, wie der Kaufmann zu erzählen wußte, als einzige Zeitung bereits einen Bericht über das Verbrechen enthielt.

Luzie Molla war auf die Kunst der Selbstbeherrschung und Verstellung recht gut gedrillt. Aber als Anni mit dieser Botschaft herausgeplatzt war – und welche Zofe interessiert sich nicht glühend für Mord, Todschlag und Rieseneinbruchsdiebstähle! – da hatte der Brettldiva doch für einen Augenblick der Herzschlag gestoppt und ein lautes „unmöglich!“ war wider ihren Willen ihren Lippen entschlüpft.

Zum Glück achtete Anni nicht auch dieses eine Wort, das einem scharfsinnigen Menschen so allerlei Vermutungen aufgedrängt haben würde.

Luzie faßte sich auch sehr schnell. Nur um ihre Verwirrung zu bemänteln, fragte sie ihre Zofe achselzuckend:

„Horst Rickelt das Opfer eines Raubmordes?! Eigentlich kaum glaublich! Bei dieser erst angehenden Berühmtheit können doch kaum große Schätze zu holen sein. – Im übrigen, Anni, – ich habe für derartige blutige Geschichten keine besondere Vorliebe. Da Sie nun aber die Zeitung mitgebracht haben, will ich einen Blick hinein werfen. – Beeilen Sie sich jetzt. Das Schlafzimmer ist noch nicht aufgeräumt.“

Luzie Molla war allein in ihrem verschwenderisch ausgestatteten Musikzimmer, in dem ein teurer Flügel fast die Hälfte des Raumes einnahm.

Sie hatte die Zeitung auf den Deckel des Instrumentes gelegt, lag selbst schwer aufgestützt halb über dem nach Druckerschwärze duftenden Blatt und überflog mit eilenden Augen die verschiedenen Spalten, bis sie den Artikel mit dem Bericht des Mord gefunden hatte.

Sie las – las wieder, buchstabierte beinahe die einzelnen Worte. Sie begriff nicht, was da gesagt war. Dann schloß sie die Augen. Vielleicht träumte sie all das nur. Aber hinter den fest zusammengedrückt Lidern arbeiteten ihre Gedanken weiter – ganz folgerichtig! Nein, sie träumte nicht. Vor einer halben Stunde noch war Otto Rulicke bei ihr gewesen. Und er hatte auch noch nichts geahnt – nichts, sonst hätte er doch sicherlich davon gesprochen – gerade davon!

Die Kabarettsängerin kam sich plötzlich – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben! – völlig hilflos vor.

Das, was hier gedruckt stand, war ja ein Unding – eine Unmöglichkeit! Der in dem Taxameterauto Aufgefundene konnte nicht Horst Rickelt sein – nie und nimmer!

Dann fiel ihr Karl Thomas ein, der Mann, der vielleicht der einzige war, dessen Mund diese ihr so sinnlos erscheinenden Widersprüche aufklären konnte. Sie mußte ihn sprechen – recht bald! Eher fand sie keine ruhige Minute.

Sie raffte sich auf, eilte in den Flur und läutete den Bankdirektor an.

„Vor sieben Uhr abends ausgeschlossen! Ich erwarte dich bei mir,“ lautete seine Antwort.

Oh – also noch Stunden mußte sie in dieser peinvollen Ungewißheit zubringen – noch viele Stunden! Wie sollte sie diese nur ausfüllen? Auch sie würde ja doch nirgends Ruhe finden!

Gleich darauf kam Otto Rulickes Brief. Der Inhalt dieses unbeholfenen Schreibens vermehrte nur ihre Verwirrtheit. Auch Rulicke schrieb, er müßte doch am besten wissen, wo „jener“ – damit war Rickelt gemeint – geblieben sei. Zum Schluß fügte er noch hinzu, er werde Luzie heute nach Beendigung der Kabarettvorträge abholen.

Dies Letztere kam ihr sehr gelegen. Sie fühlte das Bedürfnis, sich auch mit ihm auszusprechen. Vielleicht hatte er etwas Neues über Wieselchen erfahren. Dessen Verhaftung trug auch nicht dazu bei, ihre Stimmung aufzubessern. Es gab Augenblicke in diesen Stunden, bis sie endlich nach Potsdam hinausfahren konnte, in denen sie das Gefühl hatte, daß alles um sie her wankte, daß sie sich auf einem plötzlich sehr unsicher gewordenen Boden bewege und ihre ganzen Pläne wie ein Kartenhaus zusammenzustürzen drohten.

Luzie Molla besaß jene natürliche Schlauheit und Verschlagenheit, wie sie den in einer moralisch vergifteten Umgebung aufgewachsenen Kindern des Volkes oft eigen ist. Daneben war aber auch, nachdem sie sich der Macht ihrer Schönheit und der Charakterlosigkeit vieler Herren der ersten Gesellschaftskreise bewußt geworden war, ein maßloser Ehrgeiz in ihr erwacht. Sie wollte nicht Kabarettdiva bleiben. Ihr Streben war einzig und allein darauf gerichtet, in die soliden Verhältnisse einer reichen Ehe hineinzukommen. Am liebsten hätte sie einen Adligen geheiratet. Aber ihre Umschau nach einem Aristokraten, der für ihre Schönheit und ihren Besitz ihr seinen Namen zu geben bereit war, hatte keinen Erfolg gehabt. Wenigstens vorläufig nicht. Dann hatte sie Karl Thomas kennen gelernt. Er nahm in Potsdam eine sehr geachtete Stellung ein, verkehrte in der besten Gesellschaft, betätigte sich auch als blind ergebener Regierungsanhänger auf politischem Gebiet und hatte alle Aussicht, einmal in eine Staatsstellung berufen zu werden. Daß er verheiratet war, störte sie nicht. Seine Frau kränkelte seit Jahren. Sie litt an einem unheilbaren Leiden, das in absehbarer Zeit zum Tode führen mußte. –

Diesen Mann suchte sich Luzie dann zu sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde sie nicht nur zur Intrigantin, sondern auch aus kluger Berechnung zur eifrigen Schülerin verschiedener Privatlehrer, die die Lücken ihres recht mangelhaften Wissens ausfüllen mußten. Sie wollte um jeden Preis Dame werden, wenigstens äußerlich, wollte Karl Thomas einst eine Lebensgefährtin sein, deren er sich nicht zu schämen brauchte. Aber der Bankdirektor sollte anderseits für sie auch nur das Sprungbrett werden, um noch höher hinauf zu gelangen. In ihren ins Uferlose schweifenden ehrgeizigen Gedanken schwebte ihr eine spätere Ehescheidung und eine Heirat mit einem vermögenden Adligen vor. Es gab ja genug Fälle, in denen Künstlerinnen es bis zur hochgeborenen Gräfin gebracht hatten. Schon jetzt dachte sie an diese Scheidung, bereitete sie sie vor, ehe sie noch Karl Thomas Gattin geworden war. Und diese Vorbereitungen waren wieder nichts als ein weitschauendes Intrigantenspiel. Sie mußte den Bankdirektor ganz in ihre Gewalt bekommen, mußte ihn zu ihrem willenlosen Sklaven machen.

All das schien ihr glücken zu wollen. Und nun waren diese unglücklichen Zwischenfälle eingetreten, erst Wieselchens Verhaftung und dann diese Auffindung der Leiche Horst Rickelts im Auto. Da war der ganze, scheinbar auf so festen Fundamenten ruhende Bau ihrer gefährlichen Ränke ins Wanken geraten. Sie fühlte dies mit sicherem Instinkt, sie ahnte, daß jetzt alles auf dem Spiel stand, daß der geringste Fehler sie tiefer stürzen würde, als sie je gestanden.

Aber – sie wollte siegen, mußte siegen! Beschlichen sie kleinmütige Anwandlungen, so jagte sie sie sofort wie Gespenster davon, teilweise sich selbst betrügend und sich einredend, daß ihre Lage zwar unsicher, aber durchaus nicht verzweifelt sei.

Endlich – endlich konnte sie sich dann zur Fahrt nach Potsdam fertig machen. Im Auto gelangte sie nach dem Bahnhof. Sie ahnte nicht, daß August Lehnert hinter ihr her war.

Durch die Seitenpforte schlüpfte sie nachher wie immer in das Gebäude der Bank.

Karl Thomas war heute zerstreut, mißvergnügt und nicht zu Zärtlichkeiten aufgelegt.

Luzie bemerkte sofort, daß er einen dunklen Anzug trug, schwarze Krawatte und Trauerflor. – Sollte seine Gattin etwa –? – Ihr Herzschlag stockte einen Moment vor freudiger Erwartung. Und gleich nach der Begrüßung stellte sie die für sie so wichtige Frage.

Er nickte nur. Seine Stirn war umdüstert. Er sah um Jahre gealtert aus. – Ob der Tod Frau Addas ihm doch nahegegangen war, ob sich das Gewissen etwa bei ihm gemeldet hatte, die Leidende so schändlich betrogen und vernachlässigt zu haben?!

Luzie besaß genug Empfinden, das jedoch nicht etwa als Taktgefühl zu bezeichnen war, um ihn mit Worten des Beileids zu verschonen, die ja doch nur grobe Heuchelei gewesen wären.

Nur weich und anschmiegend war sie, spielte die gute Kameradin, die um seine Gesundheit besorgte Geliebte.

„Du siehst angegriffen aus, Charlie. – Wann ist deine Frau denn endlich erlöst worden von ihren Leiden?“

Aber selbst dieser Ton verfing heute nicht bei ihm. Fast finster, etwas ungeduldig und auch unfreundlich erwiderte er:

„In der vergangenen Nacht.“

Sie fühlte sich beunruhigt durch seine Kälte und schlecht verhehlte Schroffheit, und sie wußte nicht recht, ob es angebracht war, ihn jetzt mit den Dingen zu behelligen, die ihr so sehr am Herzen lagen.

Da fuhr er schon fort, indem er langsam mit schweren Schritten das Gemach durchmaß:

„Ich hätte doch nicht auf dich hören sollen, Luzie, was Arturs Verschwinden anbetrifft. Ich befinde mich jetzt in einer sehr unangenehmen Lage. Ich habe alle Welt in dem Glauben belassen, mein Stiefsohn sei verreist. Wie soll ich diese Angaben jetzt noch aufrecht erhalten?! Es muß doch auffallen, wenn Artur nicht zum Begräbnis seiner Stiefmutter erscheint, die ihm stets mit voller Liebe die rechte Mutter ersetzt hat, wie hier alle unsere Bekannten wissen. Er liebte meine zweite Frau mit fast überschwänglicher Zärtlichkeit. Auch das ist in unserem Umgangskreis bemerkt worden. Bleibt er der Beerdigung jetzt fern, so bin ich gezwungen, mich in neue Lügen zu verstricken. Ich habe schon mit Thekla darüber gesprochen. Sie war nie für diese Geheimniskrämerei. Daß ein Mensch, der in gewissem Grade geistig nicht zurechnungsfähig ist, auch einmal auf den Gedanken kommen kann, sich heimlich zu entfernen und sich verborgen zu halten, – dafür hätte doch im Grunde niemand mich verantwortlich machen können. Du warst es, die der Sache ein anderes Angesicht gab, die mir zuredete, Arturs Verschwinden geheimzuhalten.“

Er war an das eine Fenster getreten und starrte die Milchglasscheiben an, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen.

Hinter ihm saß Luzie Molla mit zusammengepreßten Lippen im Klubsessel. Ein feindseliger Blick aus den Augen des schönen Weibes traf jetzt den Mann, der bisher im Rausch der Sinne diesem selben Weibe blindlings gefolgt war, der sie noch als seine treue Ratgeberin gepriesen hatte.

Nach einer Weile drehte Karl Thomas sich um. Ein leises Schluchzen war an sein Ohr gedrungen.

Luzie weinte, hatte das Gesicht in beide Hände vergraben.

Jetzt tat ihm seine Unfreundlichkeit leid. Schließlich hatte sie es ja nur gut mit ihm gemeint, sagte er sich. Und als er sie so vornübergebeugt dasitzen sah, ganz hilflos zusammengekauert, kam ihm auch ein anderer Gedanke, daß sie doch eigentlich in der Tat die einzige war, der er sich voll und ganz anvertrauen, zu der er mit all seinen Sorgen sich flüchten durfte. Sie war seine Verbündete, sie beide hatten die gleichen Interessen, wenn auch verschiedene Endziele. Ihm galt als Hauptsache die Erhaltung seiner gesellschaftlichen Stellung, die Rettung der Bank vor dem Zusammenbruch. Sie strebte danach, seine rechtmäßige Gattin zu werden. Und dieser Wunsch genügte seiner Ansicht nach, um Luzie und ihn fester als alles andere zusammenzuschweißen.

Grübelnd blickte er jetzt auf die Gestalt des jungen Weibes, dessen Schultern hin und wieder in verhaltenem Schluchzen zuckten und bebten.

Karl Thomas war ein sehr vorsichtiger Spieler in der großen Lotterie des Daseinskampfes. Auch im Privatleben, nicht nur bei geschäftlichen Unternehmungen, war sein Grundsatz, stets mit halbverdeckten Karten zu operieren. Allzu große Offenheit hielt er für Schwäche, für das Zeichen einer gewissen Unselbstständigkeit. Wenn er sich jetzt überlegte, ob er Luzie völlig an dem teilnehmen lassen sollte, was ihn betrübte, so geschah es nur, weil er sich heute so vereinsamt fühlte, wie noch nie bisher. Nach der Gemütsseite hin war er ja überhaupt nicht gerade stark entwickelt. Und doch – jetzt kam er sich in dem Kampfe, den er seit Wochen ausfocht und der sich der Entscheidung immer mehr näherte, so verlassen vor, daß es ihn bisweilen wie dumpfe Angst packte.

Noch immer war er nicht mit sich einig geworden. Öffnete er jetzt Luzie Molla seine Seele, so gab er sich ganz in ihre Hand. Und ein unbestimmtes Etwas in seinem Herzen, vielleicht eine Empfindung des Mißtrauens gegen die Geliebte, warnte ihn hiervor. Nein – er wollte doch noch warten. Brauchte er Luzies tröstenden Zuspruch, ihre ermutigenden Worte, vielleicht auch ihren Rat, so konnte er noch immer zu ihr flüchten.

Langsam kam er jetzt auf sie zu, zog sie empor an seine Brust und bat um Verzeihung, wenn er vorhin vielleicht etwas schroff und auch ungerecht gewesen wäre.

Sie ließ sich schnell trösten.

Aber seine Unfreundlichkeit hatte auch sie gewarnt, sehr vorsichtig bei dem zu sein, was sie vorhatte. Sie war seiner doch nicht so sicher, wie sie bisher glaubte. Und sie fühlte, daß eine Ungeschicklichkeit von ihrer Seite eine Kluft zwischen ihnen auftun konnte, die dann vielleicht kaum mehr zu überbrücken war.

Absichtlich lenkte sie das Gespräch wieder auf Karl Thomas Stiefsohn.

„Hältst du es für möglich, Charlie,“ fragte sie nach einigen Redewendungen, die ihm klarmachen sollten, daß Arturs Abwesenheit bei dem Begräbnis vielleicht doch nicht so sehr auffallen würde, wie er befürchtete, „– hältst du es für möglich, daß Artur sozusagen ein Doppelleben geführt und zum Beispiel in Berlin aus krankhaftem Ehrgeiz noch eine zweite Wohnung unter einem anderen Namen, dem eines berühmten Schriftstellers innegehabt hat?“

Er schaute überrascht auf. Ein gespannter Ausdruck war in sein Gesicht getreten. Wieder stieg eine mißtrauische Regung in ihm auf – was sollte diese Frage? Wie kam Luzie auf den Gedanken, hierüber seine Meinung erfahren zu wollen?!

Prüfend blickte er sie an. Und dann erwiderte er:

„Möglich wäre es schon. Du weißt ja, wie seltsame Einfälle er stets hatte. In seinen Adern fließt das reine Vagabunden- oder milder ausgedrückt, Abenteurerblut. Seine tollen Streiche, seine Verschwendungssucht, seine krankhafte Überzeugung, mit seinen schriftstellerischen Versuchen schließlich doch noch berühmt zu werden, führten ja auch zu seiner Entmündigung. – Ja, es würde ihm ganz ähnlich sehen, wenn er ein solches Doppelleben geführt hätte. – Hast du denn irgendwelche Beweise, daß dies so war?“

„Nein, nein,“ sagte sie schnell. „Es war nur eine Vermutung von mir, wie einem zuweilen plötzlich ein seltsamer Gedanke kommen.“

Er glaubte ihr nicht recht. Und immer wieder fragte er sich nun: „Wozu diese ganze Erörterung? Luzie muß eine bestimmte Absicht damit verbinden, muß!“

In ihr Gespräch kam nun ein besonderer Ton hinein, etwas Tastendes, scharf Abwägendes, als ob zwei altgewiegte Diplomaten gegenseitig sich auszuhorchen suchen.

Erfolge erzielten weder Karl Thomas noch Luzie. Sie waren ziemlich ebenbürtige Gegner. Das einzige Ergebnis dieser Unterhaltung war, daß jeder zu der Überzeugung gelangte, der andere verberge etwas Wichtiges vor ihm.

Der Abschied fiel daher heute auch recht erzwungen herzlich aus. Und als die Kabarettdiva wieder im Eisenbahnzuge saß und Berlin zurollte, war nichts von all der Unruhe geschwunden, die sie zu Karl Thomas hingetrieben hatte. Im Gegenteil, die unbestimmte Angst war noch größer geworden, vermehrt durch das Bewußtsein, daß ihre Macht über den Mann, der ihres Ehrgeizes erstes Ziel war, eine Grenze hatte und daß all die Pläne für später, der Traum eines adligen Wappens und eines Lebens im Kreise der durch Geburt Erwählten der Menschheit, scheitern könnten, weil dieser kühle, berechnende Geldmensch sich ihr gegenüber nie eine Blöße geben würde.

 

11. Kapitel.

Die Toten stehen auf.

Wieselchen war äußerst beunruhigt, als er so mitten in der Nacht geweckt wurde, sich anziehen mußte und dann von zwei Kriminalbeamten in ein Auto gebracht wurde, das im Hofe des Polizeipräsidiums wartete.

Die Fahrt erschien Ernst Forbach endlos. Seine beiden Begleiter hatten die Fenster des Kraftwagens dicht verhängt, so daß Wieselchen sich nicht darüber klarwerden konnte, wohin die Reise ging. Außerdem waren die Geheimen auch stumm wie die Fische, antworteten ihm auf seine Fragen mit keiner Silbe.

Endlich hielt das Auto. Einer der Beamten stieg aus und schlug die Tür schnell wieder zu. Nach einer Weile kam er zurück. Wieselchen mußte es sich gefallen lassen, daß man ihm Handschellen angelegte und ein Tuch über die Augen band. Dann wurde er weggeführt, – erst über glatte Fliesen, durch kühle erfrischende Nachtluft. Aber nur wenige Schritte. Nun betrat er offenbar einen Hausflur, nun ging es läuferbelegte Treppen empor.

Dann ließen ihn die Hände los, die ihn bisher geleitet hatten. Die Handschellen klappten auf. Er hörte leise Schritte auf einem unbedeckten Fußboden und gleich darauf nahm ihm jemand die Binde ab.

Er stand in einem Schlafzimmer, und ihm gegenüber ein dickes, starkknochiges Weib. An der Decke brannte in einer mattrosa Milchglasscheibe eine elektrische Birne, und dieses Licht genügte völlig, um Wieselchen sowohl das Weib als auch den Raum wiedererkennen zu lassen.

Er prallte zurück. Schreck malte sich in seine Züge.

Das war ja das Zimmer, in dem er vorgestern morgen den Mann so geschickt überwältigt hatte. Da war ja das Bett, über das er ihn geworfen hatte, um ihm dann das mit Chloroform getränkte Tuch auf den Mund zu drücken. Zweimal hatte der Überfallene noch halblaute Hilferufe ausgestoßen.

Und die Frau da, das war die Hausbesorgerin, die geholfen hatte, die Kiste wegzutragen, hinunter in das Auto.

Wieselchen traten plötzlich dicke Schweißperlen auf die Stirn. Alles war verloren. Das sah er jetzt ein. Die Polizei hatte gesiegt. Und was nun kam, mußte mit einer Zuchthauszelle endigen, mit dem Verlust der goldenen Freiheit.

Da sagte Frau Wilke auch schon, indem sie auf das Bett deutete, sie hatte die Rolle sich gut gemerkt, die sie auf Lautenborns Geheiß spielen sollte:

„Sie haben etwas hier vergessen. Dort liegt noch Ihr Taschentuch mit einem Stück Watte darin.“

Ernst Forbach schaute sich ratlos um. Die beiden Türen des Schlafzimmers war nur angelehnt. Er wußte, dahinter lauerten seine Feinde. –

Aber noch gab er den Kampf nicht auf. Die Verzweiflung, die Angst vor dem Zuchthaus, dem er bisher stets entgangen war, gab ihm schneller die Fassung zurück, als er es selbst gehofft hatte.

„Was soll das mit dem Taschentuch?“ fragte er zunächst noch mit belegter Stimme, die aber bald selbstbewußter wurde. „Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie? Und wozu hat man mich hergeführt?“

Die Hausbesorgerin hatte eine solche Frechheit nicht für möglich gehalten. Ihr Geduldsfaden war Männern, besonders dem eigenen Gatten gegenüber nie sehr dick gewesen. Und daher schrie sie Wieselchen jetzt auch unter einem Stimmenaufwand an, daß der schlaue Gauner ordentlich zusammenfuhr.

„Sie kennen mich nicht, Männeken?! Na – da hört sich doch verschiedenes auf! Sie oller Schwindler. Dafür kenne ich Ihnen desto besser – verstanden, Sie falscher Porzellanonkel, Sie! Ihnen wird’s gut gehen, darauf können Sie sich verlassen!“

Lautenborn trat jetzt ein, hinter ihm August Lehnert und Hartung.

„Gedenken Sie wirklich noch weiter zu leugnen, Forbach?“ fragte der Kommissar gereizt. Er ärgerte sich, daß diese von ihm vorbereitete Szene den Verbrecher doch nicht so niedergeschmettert hatte, wie er erwartet hatte.

Wieselchen sah Lautenborn haßerfüllt an, zuckte aber nur die Achseln und schwieg.

Es war auch jetzt bei ihm nichts mehr zu erreichen. Er gab keine Antwort, verfolgte wieder die alte Taktik.

Lautenborn ließ ihn schließlich von den beiden Beamten abführen.

Wenige Minuten später rollte auch das Auto mit den drei Herren dem Zentrum der Riesenstadt wieder zu.

Der Kommissar machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl.

„Ich glaubte, der Bursche würde in der Umgebung ein umfassendes Geständnis ablegen. Er ist aber ein zu gewitzter Kunde, dieser Forbach! Na – trösten wir uns! Jedenfalls wissen wir jetzt, das Wieselchen es gewesen, der die Kiste fortgeschafft hat, in die der von ihm betäubte Rickelt eingezwängt war.“

Hartung hatte gebeten, ihn vor seiner Wohnung abzusetzen. Als das Auto jetzt hielt, forderte er Lautenborn und den Reporter noch auf, bei ihm „eine kleine Herzstärkung einzunehmen“, wie er sich ausdrückte.

„Ich habe da einen Rheinwein, den die Herren mal kosten müssen. Also bitte! Eine anständige Zigarre ist auch vorhanden.“

Lautenborn war kein Spielverderber. Im Gegenteil, er liebt einen guten Tropfen ebenso wie August Lehnert es tat, nur daß dieser seltener über die nötige Münze verfügte, und so üppig die Kehle anfeuchten zu können. –

*

Frau Julia Edelmann und ihr zweihundertvierzig Pfund schwerer Gatte saßen in dem kleinen Wohnzimmer der Kellerbehausung am Kaffeetisch. Es war um dieselbe Zeit, als Luzie Molla Bomben-Ottos Brief erhalten hatte, den dieser im Zoologischen Garten so mühsam zurechtgebracht hatte.

Frau Julia trug wieder den roten Morgenrock. Ihr schwammiges Gesicht sah finster aus wie ein Gewitterhimmel.

„Alter, mir ist jetzt höllenangst von wejen der janzen Jeschichte,“ sagte sie brummig. „Wir hätten uns auf die Schose nich einlassen sollen. Kommt die Sache raus, so jehn wir verschütt.“

Gottfried Edelmann kaute ruhig an seiner Wurststulle weiter.

„Wenn dir eener ‘n Blauen zeijt, bist de ja immer jleich für jeden faulen Zauber zu haben!“ meinte er und schnitt sich noch ein Ende Leberwurst ab.

Seine Gattin keifte sofort los:

„Na – du etwa nich?! Tu doch man nich so! Und bei dies Jeschäft jing’s doch um fünf Blaue – vorläufig. Nu is allerdins det Aussehn von die janze Spekulation een anderet jeworden.“

War das Ehepaar allein, so berlinerte jeder nach Kräften. Nur vor Fremden spielte man die „Gebildeten“.

„Det stimmt – een janz anderet,“ sagte Gottfried Edelmann. „Und wenn man schlau is, kriejt man och noch wat von die dreitausend Märker einzuheimsen, die die Polizei als Belohnung ausjesetzt hat.“

Frau Julia zuckte zusammen. Mit einer gewissen Bewunderung blickte sie jetzt auf ihren sonst so verachteten Ehegemahl.

„Wie meinst de det – von wejen Einheimsen?“ fragte sie eifrig.

„Na – ick meene, es könnte sich der Fall ereignen, det wir es vorzihn, uns Straffreiheit dadurch zu sichern, det wir so ‘n bißken pfeifen.“

„Also jlaubst du wirklich, wir kämen dann mit ‘n blauet Auge davon?“ forschte sie begierig.

„Sicher! – Aber die Jeschichte ist noch nich janz spruchreif, wie die Rechtsverdreher sajen. Erst müssen wir mal dem Patentdussel, dem Bomber-Otto, ordentlich uf ‘n Zahn fühlen. Er war ja damals in der Nacht, als der Rickelt im Tierjarten kalt jemacht wurde, mit een Mal wejjeloofen – besinn’ dir nur. Er jing, noch ehe „sie“ verschwand, sagte, er hätte noch Durst uf ‘n Jlas Echtes.“

„Stimmt – det hab’n wir ja schon besprochen. Also jut – wir werden mal sehn, ob der Bomben-Otto nischt aus sich herausholn läßt.“

Vorn schrillte jetzt die Ladenglocke, und Gottfried Edelmann ging keuchend hinaus, um die Kundschaft zu bedienen. Es waren zwei Studenten, die sich für einige Zeit das Aufziehen ihrer Uhren ersparen und sie in der Pfandleihe in Pflege geben wollten.

Während der korpulente Edelmann noch mit den Studiosen verhandelte, erschien Otto Rulicke. Er trug noch dieselben Sachen, in denen er sich bei Luzie Molla eingeführt hatte.

Frau Julia schlug das Herz schneller beim Anblick des kraftstrotzenden Mannes, der dazu noch ganz wie ein vornehmer Herr aussah.

Sie bot ihm eine Tasse Kaffee an, trat hinter seinen Stuhl und lehnte sich an ihn, indem sie ihm zuflüsterte: „Bleiben Sie nachher noch ein Weilchen. Mein Alter hat was zu besorgen und verschwindet bald.“

Otto Rulicke war keineswegs in der Stimmung, um die Hand nach dieser reifen Frucht auszustrecken.

„Lassen Sie die Faxen und schubbern Sie sich nicht an mir!“ sagte er grob. „Mein Bedarf is reichlich jedeckt – verstanden?! Sie kennten je meene Mutter sin! For ‘ne Frau in Ihren Jahren hab’ ick nischt übrig, damit Sie man jleich Bescheid wissen!“

Frau Julias Gesicht verzerrte sich. Bomben-Otto ahnte nicht, daß ein verschmähtes Weib eine schlimmere Feindin als eine betrogene Geliebte ist. Er glaubte die Frauen zu kennen. Hier aber bewies er, daß er über die Charakterveranlagungen des anderen Geschlechts recht harmlose Anschauungen hatte.

Die Gattin des Pfandleihers lachte jetzt leise auf.

„Eigentlich haben Sie recht, Herr Rulicke. Also entschuldigen Sie man. – Aber auch mit vierzig Jahren geht mit einem manchmal noch der Verstand durch.“

Sie setzte sich ihm gegenüber, schob ihm den Milchnapf hin und fuhr fort, indem sie das Thema des Mordes vorläufig umging:

„Was sagen Sie eigentlich dazu, daß Wieselchen sich seit gestern Abend bei uns nicht mehr hat blicken lassen? Ich finde das geradezu rücksichtslos. Fünfhundert Mark sollten wir auf ein Brett ausgezahlt erhalten, und dreihundert hat er uns erst gegeben. Mein Mann ist wütend, tatsächlich! Und wenn „sie“ herkommen sollte, so wird er ihr gleich Bescheid sagen. Fünfhundert waren abgemacht und nun gleich Abzüge, – das fehlte noch!“

Sie spielte Komödie. Mehr noch, sie log. Wieselchen hatte ihr die volle Summe ausgehändigt. Aber sie wollte feststellen, wie Bomben-Otto über seinen Freund dachte, wollte dem Gespräch dann eine andere Wendung geben, um den Athleten aufs Glatteis zu führen.

Otto Rulicke beging jetzt den zweiten schweren Fehler an diesem Nachmittag. Er erzählte, daß Wieselchen „verschütt“ gegangen sei und jetzt in dem großen roten Ziegelbau am Alexanderplatz sitze.

Frau Julia war ein schlaues Weib, im Augenblick hatte sie bei sich ungefähr dieselben Überlegungen angestellt, die auch Luzie Molla hinsichtlich der Folgen von Wieselchens Verhaftung Bomben-Otto gegenüber geäußert hatte.

Sie wurde plötzlich sehr einsilbig. Nach einer Weile erhob sie sich und ging nach vorn zu ihrem Mann in den Laden. Als sie wieder an den Kaffeetisch zurückkehrte, sagte sie zu Bomben-Otto:

„Eben war ein Bekannter von uns da, der uns davon benachrichtigte, daß Kriminalpatrouillen in allen Pfandleihen nach einem gestohlenen Diamantenkollier suchten. Also gehen Sie lieber. Und kommen Sie nicht vor zwölf Uhr nachts wieder. Womöglich werden die Leihhäuser des Geschmeides wegen überwacht.“

Otto Rulicke verschwand schleunigst.

Dann kam Gottfried Edelmann in das Wohnzimmer, keuchte noch kurzatmiger als sonst und erklärte:

„Ick jebe dir recht, Jule! Wir werd’n den Kopf schleuigst aus de Schlinge zieh’n. Wieselchen verschütt – det is der Momang, wo entscheidend is!“

Auch Edelmann nickte eifrig.

„Ick hab’ schon ‘ne Idee, wie wir det Ding drehen müssen,“ sagte sie triumphierend. „Und den dämlichen Rulicke lass’n wir mit hops gehen. Er soll sich wundern. Kein anderer als er is der Mörder –!“

Ihr beleidigtes Herz schrie nach Rache. Hätte Otto Rulicke mehr Verständnis für ihre Reize gehabt, wär’s ganz, ganz anders gekommen. Dann hätte sie ihn verteidigt, ihn geschützt mit all ihrer gewissenlosen Verschlagenheit. Aber so – so –!

*

Lautenborn erzählte gerade von dem Manne, der bei seiner Verhaftung den gestohlenen Brillantringe verschluckt hatte und daher für dreißig Pfennig Rizinusöl auf einmal gewaltsamen eingetrichtert bekam, wodurch drei Stunden später bereits nicht nur der Ring, sondern auch zwei Dutzend lose Edelsteine zum Vorschein kamen.

Der Kommissar hatte einen so trockenen Witz am Leibe, daß Hartung und Lehnert lachen mußten, ob sie wollten oder nicht.

„Prosit – trinken wir auf den armen Spitzbuben, der jetzt vor dem Worte Rizinusöl allein schon erblaßt.“ meinte Lautenborn.

Er wollte gerade das Weinglas zum Munde führen, als im Flur die elektrische Glocke Sturm schlug.

Die drei Herren, die in Hartungs Arbeitszimmer um einen kleinen Tisch in einer gemütlichen Ecke saßen, sahen sich verwundert an. Und der Anwalt meinte kopfschüttelnd:

„Etwa noch Besuch – jetzt um halb zwei Uhr nachts?!“

Abermals schrillte die Glocke. Hartung eilte hinaus, ließ die Tür offen, und – dann hörten die beiden anderen einen halblauten Schrei.

Der Anwalt erschien sofort wieder in der Tür, – ganz blaß. Er hielt sich an der Türfüllung fest, als sei er plötzlich auf den Beinen sehr unsicher.

„Horst Rickelt – oder sein Geist!“ brachte er mühsam über die Lippen.

Lautenborn sprang empor. Er sah es Hartung an, daß dieser nicht scherzte.

Die drei Herren standen dann vor der Flurtür, die ein rundes Guckloch hatte. Nacheinander schauten sie hindurch. –

Draußen im Treppenhaus war die Nachtbeleuchtung eingeschaltet. Und da stand ein Herr im modernen weiten Mantel mit einem spiegelblanken Zylinder auf dem Kopf.

August Lehnert flüsterte jetzt leise:

„Wahrhaftig – es ist Horst Rickelt!“

Lautenborn legte die Hand auf den Drücker und öffnete.

„Da bin ich wieder,“ sagte das Gespenst des Ermordeten ernst und streckte Hartung die Hand zum Gruß entgegen.

Der Anwalt hatte den Arm des Kommissars mit schmerzhaftem Druck wie schutzsuchend umklammert.

„Du – du lebst?!“ sagte er mit ganz heiserer Stimme.

„Wie du siehst. – Aber –“

Da erlosch die Flurbeleuchtung. Die Einschaltuhr hatte die Stromzufuhr wieder unterbrochen, und die Szene war in Dunkelheit gehüllt.

Lautenborn mischte sich jetzt ein.

„Gehen wir ins Zimmer meine Herren. Die Sache wird schon eine Lösung finden,“ meinte er und machte kehrt. Durch die offene Tür des Arbeitsgemaches drang matter Lichtschein in dem Korridor der Wohnung des Anwalts. Dieses Auftauchen des Totgeglaubten hatte etwas Unheimliches an sich, dem sich selbst Hartung und Lehnert als aufgeklärte Menschen nicht ganz entziehen konnten. Der Kommissar war als einziger der merkwürdigen Situation gewachsen. Um das Halbdunkel des Korridors schnell zu beseitigen, schaltete er jetzt auch hier das elektrische Licht ein. Dann wandte er sich an Rickelt, der eben seinen Zylinder auf einen Haken des Garderobenständers hängte.

„Sie gestatten, daß ich mich selbst vorstelle; Kriminalkommissar Lautenborn. – Sie dürfen es Ihren Freunden nicht verargen, Herr Doktor, wenn diese zunächst noch ein wenig „platt“ sind, wie man zu sagen pflegt.“ Er schlug absichtlich einen scherzenden Ton an, um baldigst eine angemessenere Stimmung bei diesem Wiedersehen aufkommen zu lassen. „Sie sind nämlich eigentlich gar nicht mehr berechtigt, leibhaftig auf Erden zu wandeln, da Sie das Opfer eines –“

Horst Rickelt unterbrach ihn hier.

„Ich weiß alles. Und ich nehme es weder Hartung noch Lehnert weiter übel, daß sie bisher einer – Leiche nicht mal die Hand zur Begrüßung gereicht haben.“

Die beiden hatten sich nun wieder völlig gefaßt. Hier im hellen Licht, wo sie sahen, daß sie ihren alten Freund zwar etwas blaß und mit dunklen Schatten unter den Augen, aber sonst frisch und munter vor sich hatten, schwand der unheimliche Eindruck im Augenblick, und der Anwalt beeilte sich jetzt, den Wiedergefundenen herzlich zu umarmen. Dasselbe tat dann auch Lehnert, und in ihren Worten kam so viel aufrichtige Freude über diese unerwartete Wendung der Dinge zum Ausdruck, daß der junge Schriftsteller ganz gerührt wurde.

Dann saß man zu vieren in der gemütlichen Ecke. Hartung hatte schnell zwei Flaschen Sekt unter die Wasserleitung gelegt und schleppte nun aus der Speisekammer herbei, was gerade an kalten Eßwaren vorhanden war. Hatte doch der „Ermordete“ auf des Anwalts Frage, ob er ihm irgend eine Erfrischung anbieten dürfe, ehrlich erwidert: „Nicht „eine“ Erfrischung, sondern mehrere! Ich habe nämlich einen Bärenhunger, da ich seit einer Stunde in den Straßen umherlaufe und – doch das erzähle ich nachher alles im Zusammenhang.“

 

12. Kapitel.

Erlebnisse im Keller.

Während Horst Rickelt einer Büchse Sardinen zu Leibe ging, begann er mit der Schilderung seiner Erlebnisse, berichtete, daß er ganz gedankenlos nach Schmargendorf am Morgen seines Hochzeitstages hinausgewandert und unbemerkt in sein neues Heim gelangt war.

„Ich durchschritt die Zimmer, ging bis in die Küche und wollte durch den Schlafraum in das Speisezimmer zurück. Da, gerade neben den beiden Betten, sprang mir plötzlich jemand von hinten an die Kehle, würgte mich und warf mich auf das eine Bett. Ich war so überrascht, daß sich zunächst gar nicht an Gegenwert dachte. Dann habe ich wahrscheinlich, als mein Angreifer mir ein mit Chloroform getränktes Tuch auf das Gesicht drückte, ein paar Mal um Hilfe gerufen. Genau weiß ich das aber nicht. Mir schwanden die Sinne, und als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem hölzernen Rahmenbett auf einem Strohsack in einem von einer Küchenlampe notdürftig erhellten fensterlosen Kellerraum. Mir war sehr wüst im Kopf, und es dauerte eine gute Weile, ehe ich meine Gedanken wieder soweit beieinander hatte, um mich auf das vorher Geschehene zu besinnen.

Dann kam durch eine feste Holztür ein starkes, großes Weib in einem roten Morgenrock und mit einer seidenen Halbmaske vor dem Gesicht zu mir herein. In der Hand trug diese meine Gefangenenwärterin einen sogenannten Totschläger als Waffe gegen Angriffe, die ich vielleicht unternehmen könnte. Nun – mir war durchaus nicht danach zu Mute. Ich fühlte mich hundeelend und hätte keine Fliege tottreten können.

Das Weib begann ein Verhör mit mir anzustellen. Ich wurde aus Ihren Fragen nicht recht klug. Erst als sie dann abends zum zweiten Mal erschien, wurde sie deutlicher. Sie wollte offenbar, daß ich zugab, ein Doppelleben geführt zu haben, das heißt als Horst Rickelt und unter einem anderen Namen. Eigentlich nur, um sie zu unbedachten Äußerungen zu verleiten, aus denen ich den Grund meiner seltsamen Gefangennahme entnehmen zu können hoffte, erklärte ich dann, mit dem Doppelleben habe es seine Richtigkeit. Diese Antwort befriedigte sie offenbar sehr. Ich bekam jedoch aus ihr Nichts heraus, und selbst eine versteckte Drohung mit Gedankenfernbeeinflussung, durch die ich meine Bekannten angeblich auf meine Spur bringen wollte, half nichts. Das Weib schien ihrer Sache sehr sicher zu sein, daß ich nicht so leicht aufgefunden werden könne.

Man hat mich in meinem Kerker recht anständig behandelt. Das Essen war leidlich, und sogar Bücher und Schreibmaterial erhielt ich. Ich will noch nachholen, daß meine Aufseherin mir versprochen hatte, eine von mir geschriebene Nachricht an Klarissa sofort befördern lassen zu wollen. Dies ist jedoch nicht geschehen, wie die Person mir nachher eingestanden hat.“

Nach einigen weiteren Ausführungen, die seine Stimmung und seine Gedanken während der Einkerkerung betrafen, fuhr Rickelt fort:

„Heute nun, etwa gegen elf Uhr abends kann es gewesen sein, kam das maskierte Weib wieder zu mir. Ich saß gerade und schrieb an einer Erzählung, zu der mich mein merkwürdiges Abenteuer angeregt hatte. Ich mußte mich eben durch Arbeit ablenken, sonst wäre ich in meiner dumpfen Zelle verrückt geworden.

Die Frau stellte sich wieder wie immer, wenn sie mit mir sprach, mit dem Rücken an die Tür und sagte mir dann etwa folgendes:

„Es sind besondere Umstände eingetreten, die es angebracht erscheinen lassen, Sie freizulassen. Im Tiergarten ist in der vergangenen Nacht ein Mann ermordet worden, der mit Ihnen sehr große Ähnlichkeit haben muß, da die in einem Auto aufgefundenen Leiche von zwei Herren alsbald als die des Schriftstellers Doktor Horst Rickelt wiedererkannt worden ist. Ich habe Ihnen hier nun ein paar Zeitungen mitgebracht. Lesen Sie sich bitte zunächst mal die den Mord behandelnden Artikel durch, besonders die aus der „Berliner Post“. Das sind die am ausführlichsten geschriebenen!“

Was in mir bei dieser Nachricht von dem gewaltsamen Ende eines Unbekannten, den man für mich hielt, der also sicherlich eine überraschende Ähnlichkeit mit mir aufzuweisen hatte, vorging, ist schwer zu schildern. Ich habe wohl für die Ungeduld des Weibes viel zu lange regungslos dagesessen. Jedenfalls sagte sie dann sehr laut, um mich aus meiner Erstarrung aufzuwecken: „So lesen Sie doch, Herr!“ –

Inzwischen hatten meine Gedanken sich wirklich leidlich geklärt. Wie Schuppen war es mir mit einem Male von den Augen gefallen. Ich hatte ohne Frage einen Doppelgänger, und diesem hatte der Streich gegolten, den man mir gespielt hatte, – er sollte eingekerkert, beseitigt werden – es lag also meinem Abenteuer eine Personenverwechslung zu Grunde!

Wie gierig griff ich nun nach den Zeitungen, suchte mir die „Berliner Post“ heraus. und las das, was du lieber Lehnert über den Mord im Tiergarten geschrieben hattest, las mit jagenden Pulsen. Zuweilen blickte ich auf und sann nach. Die Einzelheit meines geradezu unglaublichen Abenteuers kläre sich jetzt. Ich begriff endlich, was das Weib im roten Morgenrock eigentlich mit den Fragen bezweckt hatte, die meinem angeblichen Doppelleben galten. Die Leute, die es auf meinen Doppelgänger abgesehen gehabt und den Falschen weggeschleppt hatten, waren sicher durch die in meiner Brieftasche gefundenen Papiere und durch andere Umstände stutzig geworden, ob sie mit mir nicht einen Fehlgriff getan hatten. Deshalb sollte ich durchaus eingestehen, noch ein zweites Dasein unter anderem Namen geführt zu haben, deshalb hatte das Weib erleichtert aufgeatmet, als ich ihr den Gefallen tat und schließlich ihre Frage bejahte.

Als ich mit der Durchsicht der Berichte über das rätselhafte Verbrechen fertig war, als ich die Zeitungen fortschob und aufgeregt in meinem Kerker auf und abzulaufen begann, fragte meine Gefangenenwärterin ziemlich kleinlaut:

„Herr – sagen Sie mir jetzt die Wahrheit! Wer sind Sie nun eigentlich? Sind Sie Doktor Rickelt oder – der Andere?“

„Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich bin Doktor Rickelt! – Sie wissen ja auch, daß ich in meiner zukünftigen Wohnung überfallen wurde, das unendlich vieles dafür spricht, daß ich die Wahrheit rede. – Ich bin Horst Rickelt!“

Die Frau schwieg eine Weile. Dann sagte sie:

„Als mein Mann und ich heute von dem Morde erfuhren, hat mein Alter gleich erklärt: „Jule, – die Geschichte steht für uns faul! Es gibt fraglos zwei Herren, die sich sehr ähnlich sehen. Das geht aus allem hervor, was über den Mord bekannt ist und was wir noch nebenbei wissen, – nur wir und die anderen Eingeweihten! Der eine Doppelgänger sitzt bei uns in dem verborgenen Kellergelaß, der andere ist kaltgemacht. Jetzt wird die Polizei dem Mörder mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln nachspüren, jetzt handelt es sich nicht bloß um das spurlose Verschwinden eines Menschen, ich meine desjenigen, den wir eingekerkert halten. Paß auf – die Sache nimmt für uns eine gefährliche Wendung an.“ –

Da bekam auch ich es mit der Angst, und zwar gehörig! Mein Alter meinte nun, wir sollten schlau sein und uns rechtzeitig Straffreiheit sichern. Ich will ganz ehrlich sein. Er meinte auch, wir könnten uns von der Belohnung, die für die Ergreifung des Mörders ausgesetzt ist, einen Teil verschaffen, wenn wir der Polizei alles offen eingeständen, was uns bekannt ist. –

Sehen Sie, Herr Doktor, unsere Pfandleihe ernährt uns nur kümmerlich. Und man will doch auch was zurückgelegt haben fürs Alter. Wenn da nun einer wie dieser Wieselchen kommt, den wir schon lange kennen, und uns sagt, wir sollten für fünfhundert Mark einen Mann bei uns eine Weile einsperren, dann denkt man an das ersehnte sorgenfreie Alter und verspricht alles, was von einem verlangt wird. Wir hatten ja auch den verborgenen Keller schon von unserem Vorgänger – das war wohl so ein richtiger Hehler und Diebesgenosse! – mit übernommen, brauchten nicht viel Vorbereitungen zu treffen und schnitten nur in die Tür das Guckloch, um den Mann beobachten zu können, den Wieselchen uns bringen wollte. Wann – wußte er nicht. Es käme darauf an, ob es ihm früher oder später gelingen würde, den Betreffenden unauffällig verschwinden zu lassen, sagte er. –

Ja, und dies alles teilte uns Wieselchen am Abend vor Ihrer Hochzeit mit, Herr Doktor. Schon an nächsten Vormittag brachte er Sie dann – in einer großen Holzkiste, betäubt durch Chloroform. – Wieselchen ist ein ganz Geriebener. Damit der Chauffeur des Autos, mit dem die Kiste von Ihrer neuen Wohnung weggeschafft wurde, nicht wußte, wo die Kiste blieb, hat Wieselchen mit Hilfe seines Freundes Otto Rulicke das schwere Ding auf eine von den beiden frech gestohlene zweirädrige Karre verladen, die einem Dienstmann gehörte und ohne Aufsicht am Seiteneingang des Bahnhofs stand, und so die Kiste unauffällig zu uns geschafft. –

Wieselchen ist nun bereits verhaftet. Nicht etwa wegen dieser Sache, nein, er soll einen Taschendiebstahl begangen haben. Und diese Verhaftung eines der Hauptbeteiligten an der Geschichte, in die auch wir mit hineinverwickelt sind, gab bei uns den Ausschlag. Mein Alter und ich beschlossen, Sie freizulassen und Sie nun gleichzeitig zu bitten, für uns bei der Polizei ein gutes Wort einzulegen, Herr Doktor. Wir haben uns Ihnen gegenüber ja auch nicht gerade roh oder unfreundlich benommen, haben Ihnen Erleichterungen in Ihrer unangenehmen Lage gewährt, soweit dies in unseren Kräften stand. Also seien Sie bitte unser Fürsprecher, damit wir nicht allzu böse hereinfallen. Wir sind noch nie mit den Gesetzen in Konflikt geraten, sind nur Verführte! –

Und dann noch etwas, Herr Doktor. Wir glauben die Polizei hinsichtlich des Mörders auf die richtige Fährte leiten zu können. Otto Rulicke, auch Bomben-Otto genannt, weil er früher mal in einem Zirkus als Athlet aufgetreten ist und mit Eisenkugeln jongliert hat, kam in der vergangenen Nacht erst gegen zwei Uhr hier zu uns zurück, obwohl er eigentlich vor der Tür Ihrer Zelle als Wächter hätte schlafen sollen. Wir waren so lange aufgeblieben, mein Mann und ich, und als wir ihm Vorwürfe machten, weil er so spät kam, wurde er furchtbar grob, – so recht wie einer, der ein schlechtes Gewissen hat. Mein Alter meint nun, daß der Rulicke Ihren Doppelgänger abgetan hat, nachdem die feine, verschleierte Dame, die mit Wieselchen unter einer Decke steckt, erkannt hatte, daß sie den Falschen aufgegriffen und hier eingesperrt hatten. Da hat eben der Bomben-Otto gleich ganze Arbeit tun müssen, wieder im Auftrage der Verschleierten, die wir leider nicht kennen. Wir haben auch nicht mal eine Ahnung, wer es sein könnte. Ebenso wenig wissen wir, weshalb man Ihrem Doppelgänger nachgestellt hat und wie dieser heißt. Wieselchen war uns gegenüber mit seinen Mitteilungen sehr vorsichtig, und die Verschleierte nicht minder, die nur ein einziges Mal – an Ihrem Hochzeitsabend zu später Stunde – uns aufsuchte.“

Ich habe dem beide hierauf versprochen, tatsächlich für sie mich zu verwenden, damit sie und ihr Mann straffrei ausgingen. Es handelt sich ja auch, soweit ich die Sache überblicken kann, nur um Freiheitsberaubung, die nur auf Antrag verfolgt wird. Und diesen Antrag werde ich nicht stellen.

Um nun auch den Namen dieses Ehepaares zu nennen: Pfandleiher Gottfried und Julia Edelmann, Berlin N, Aachener Straße 62. – Jedenfalls war ich gleich darauf, daß heißt nach Beendigung meiner Unterredung mit der Julia im roten Morgenrock, frei und konnte gehen, wohin ich wollte. Vorher aber bestimmte ich die Leute noch dazu, Otto Rulicke, der als Wächter wieder um Mitternacht sich einfinden sollte, zu verheimlichen, daß die Zelle leer sei. Das Ehepaar versprach mir das hoch und heilig, und diese Zusage wird auch fraglos gehalten werden.

Ich nahm mir dann, nachdem ich mich noch schnell mit Herrn Gottfried Edelmanns Rasierzeug von den inzwischen recht lang gewordenen Bartstoppeln befreit hatte, das nächste Auto und fuhr hier zu dir, lieber Hartung. Wohin sollte ich mich auch sonst wenden? Meine alte Wohnung war weitervermietet, und die neue“ – hier seufzte Horst Rickelt tief auf – „ja – die neue zu beziehen oder in ein Hotel du gehen, dazu hatte ich keine Lust. Außerdem wollte ich mich dir auch möglichst rasch als lebendiger Toter vorstellen und mit dir besprechen, was nun weiter geschehen solle, um den Mord an meinem Doppelgänger aufzuklären. Vor deinem Hause hier langte ich gegen halb eins an, traf den Schließer eures Viertels zufällig, als ich den Chauffeur bezahlte, und ließ mir von dem Manne mit den vielen Schlüsseln die Haustür öffnen, läutete hier oben vergeblich und verließ wider das Haus, vor dem der Schließer auf meine Bitte gewartet hatte. Ich bestellte ihn mir nach einer Stunde wieder her, und diese Stunde bin ich durch die Straßen gebummelt. Dann sah ich Licht in deinem Arbeitszimmer, der Schließer fand sich pünktlich ein, und – da bin ich!“

Als er jetzt schwieg und das Glas Sekt zur Hand nahm, um die trocken gewordene Kehle anzufeuchten, rief Hartung, und damit gab er wohl auch dem Empfinden Lautenborns und Lehnerts Ausdruck:

„Unglaublich – nein, ganz ungeheuerlich ist diese Geschichte! – Doch jetzt zunächst mal: Dein Wohl, Alterchen – Es lebe der von den Toten Auferstandene!“

 

13. Kapitel.

Die Stimme des Blutes.

Während Hartung die leeren Gläser aufs neue füllte, sagte er zu dem Kommissar:

„So – nun erteile ich Ihnen das Wort als Fachmann. – Was haben Sie zu alledem zu bemerken?“

Lautenborn bließ den Rauch seiner Importen erst in tadellosen Ringen von sich und meinte dann:

„Ich werde erst mal Herrn Rickelt über die wahre Bedeutung der Verhaftung Wieselchens aufklären. Dann mag er uns über einiges Aufschluß geben, was ich für wichtig halte.“

Der Kommissar erzählte kurz, wie Lehnert auf das Pärchen in der Nische des Cafees des Westens aufmerksam geworden war, wie der Reporter die Flucht Wieselchens verhindert und wie man herausbekommen hatte, daß Luzie Molla in offenbar sehr intimen Beziehungen zu dem Direktor der Potsdamer Handelsbank stand; ferner, daß Wieselchen es gewesen war, der sein Taschentuch und das nach Chloroform duftende Stück Watte in der Wohnung der Warmbrunner Straße zurückgelassen und daß die Portierfrau ihn auch mit Sicherheit als den Abholer der Kiste wiedererkannt hatte.

„Sie sind nun, zumal Sie ja auch Herrn Lehnerts widerspruchsvolle Begleitumstände des Mordes gelesen haben, ganz im Bilde, Herr Doktor,“ fuhr Lautenborn fort. „Jetzt meine eigene Ansicht über den tatsächlich recht ungewöhnlichen Kriminalfall. – Nie hätte ich auch nur im entferntesten daran gedacht, daß die Angelegenheit eine solche Wendung bekommen könnte. Dieser Doppelgänger muß nun mit Ihnen, Herr Doktor, eine unheimliche Ähnlichkeit haben. Besitzt er doch sogar dasselbe Muttermal an der linken Schläfe wie Sie, worauf ich besonders hinweisen möchte. Um nun gleich diesen Doppelgänger ganz zu erledigen, haben Sie vielleicht einmal davon gehört, ich meine, sind sie durch dritte Personen oder vielleicht gar selbst auf die Tatsache aufmerksam geworden, daß ein Mensch existiert, der Ihnen so sehr gleicht, um selbst Ihre besten Freunde darüber täuschen zu können, wen sie eigentlich vor sich haben?!“

Der Schriftsteller schüttelte erst den Kopf. Dann aber hob er ihn plötzlich mit einem Ruck höher.

„Mir fällt da ein Erlebnis ein, ein kleines Abenteuer, das ich vor etwa zwei oder drei Wochen in der Stadtbahn hatte,“ sagte er schnell. „Ich saß allein in einem Abteil 2. Klasse. Auf der Station Tiergarten stieg ein junges Mädchen ein mit auffallend traurigen Augen in einem eigenartig liebreizenden Gesicht. Bei meinem Anblick fuhr sie zusammen, musterte mich scharf und streckte mir dann die Hand hin.

„Wieder in Berlin?“ sagte sie herzlich. „Ich heiße Sie willkommen. Sie sehen frischer als vorher aus.“

Mein Erstaunen entging ihr nicht. Ihre Hand, die ich absichtlich übersah, sank herab.

„Sie sind hier fraglos das Opfer einer Verwechslung geworden, meine Gnädigste,“ klärte ich sie auf. „Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen.“

Da wurde sie flammendrot vor Verlegenheit und eilte in das besetzte Nebenabteil, um nicht weiter mit mir allein zu sein. –

So, das ist mein Abenteuer. Ich habe es deshalb nicht vergessen, weil das junge Mädchen – doch das gehört nicht hierher,“ fügte er unsicher und leicht verwirrt hinzu. „Jedenfalls habe ich an dieses Erlebnis auch während meiner Einkerkerung gedacht, daraus aber nicht den Schluß gezogen, der doch so nahe lag – daß ich als der Unechte in die unangenehme Lage geraten sein könnte!“

„Ganz interessant, diese Begegnung,“ meinte Lautenborn. „Also vor etwa drei Wochen fand sie statt, nicht wahr?“

„Ja, länger kann es nicht gut her sein, da ich noch vor einem Monat ganz anders aussah und mit meinem damaligen Spitzbart und der Brille kaum von der jungen Dame für ihren Bekannten gehalten worden wäre. Bart und Brille verschwanden auf Bitten meiner Braut hin.“

„So, so, auch dies ist von Wichtigkeit. – Nannte das junge Mädchen einen Namen, als es Sie dergestalt mit einem anderen verwechselte?“

„Ja, ich glaube. Doch ich habe ihn vergessen. Er fing aber, soweit ich mich besinne, wahrscheinlich wie der meine mit „R“ an, klang auch entfernt ähnlich.“

Der Kommissar formte nachdenklich ein paar Rauchringe.

„Wenn wir die junge Dame aufstöbern könnten. Das würde uns ein gutes Stück vorwärts bringen,“ sagte er dann. „Doch nun weiter. – Wir sind dem Ehepaar Edelmann ohne Frage zu großem Dank verpflichtet. Mögen die Leute auch aus selbstsüchtigen Motiven gehandelt haben, durch Ihre Freilassung, Herr Doktor, ist endlich Licht in das bisher undurchdringliche Dunkel dieses Verbrechens gekommen. Wir wissen jetzt, daß Luzie Molla ein sehr starkes Interesse daran hatte, einen Mann, der ihnen auffallend ähnlich sieht, verschwinden zu lassen, wobei sie sich Wieselchens und eines gewissen Bomben-Otto als Helfershelfer, die sicher gut bezahlt wurden, bediente. Wir wissen aber auch, daß die Kabarettdiva wieder dem Bankdirektor Karl Thomas sehr nahe steht und daß das Ehepaar Edelmann jenen Otto Rulicke im Verdacht hat, den Unbekannten – für uns ist der Tote ja jetzt leider und doch auch glücklicherweise, letzteres in Ihrem Sinne gesprochen, wieder ein Fremder geworden – ermordet zu haben. Es drängen sich uns nun zwei weitere Fragen auf, die untersucht werden müssen. Erstens, ob Karl Thomas etwa an diesem Verbrechen ebenfalls als Anstifter mitbeteiligt ist, zweitens, ob Bomben-Otto als Täter in Betracht kommt. – Frage eins läßt sich jetzt noch nicht klären. Frage zwei möchte ich mit ja beantworten, obwohl es dabei so einige Punkte gibt, die diese Annahme auch wieder unwahrscheinlich machen. Doch diese Zweifel werde ich mit Otto Rulickes freundlicher Unterstützung, den ich noch in dieser Nacht verhaften lasse, hoffentlich in befriedigender Weise lösen können. Bevor ich mich verabschiede, noch etwas, Herr Doktor. Eine Ähnlichkeit wie die zwischen Ihnen und dem Toten, die sogar bis zu einem genau an derselben Stelle befindlichen Muttermal geht, findet man nun wohl nur unter ganz nahen Verwandten – bei Zwillingen eben. Liegt denn die Möglichkeit vor, daß Sie einen Bruder besitzen, ohne hiervon selbst Kenntnis zu haben?“

Die drei an dem kleinen Tisch sitzenden übrigen Herren hatten überrascht aufgeschaut. Diese Frage Lautenborns, die schon allein zur Genüge bewies, daß er an alles dachte, jede Möglichkeit in Betracht zog, gab der ganzen Angelegenheit ein neues Gesicht.

Während aber der Anwalt und Lehnert lediglich überrascht zu sein schienen, zeigte sich auf Horst Rickelts Gesicht jetzt auch noch der Ausdruck einer wachsenden Verlegenheit. Dann sagte er etwas zögernd:

„Ich spreche über meine Herkunft nicht gern. Selbst meine beiden alten Freunde hier und auch meine Braut glauben, ich sei das rechte Kind des längst dahingegangenen Ehepaares Rickelt. Dem ist nicht so. Meine Eltern kenne ich nicht. Über meiner Abstammung liegt ein undurchdringliches Dunkel.“

Er machte eine große Pause. – Kein Wunder, daß sein Zuhörer, die sofort sich an Klarissa Rhodens seltsame Kindheitsgeschichte schon nach diesen einleitenden Bemerkungen erinnert hatten, mit fieberhafter Spannung dem weiteren entgegen sahen.

„Ja – ein undurchdringliches Dunkel. Ich bin nur das Adoptivkind des verstorbenen Kaufmanns Albert Rickelt, der mir erst nach dem vorausgegangenen Tode seiner Frau, meiner Pflegemutter, auf dem Sterbebett als damals achtzehnjährigem Studenten das Geheimnis meiner Herkunft mitteilte und mir auch die beiden einzigen Urkunden übergab, die über meine Geburt beziehungsweise Taufe vorhanden waren. Ich habe sie bei mir. Hier – bitte!“

Was die drei Herren nun aus dem Munde des jungen Schriftstellers vernahmen, war genau dasselbe, was Frau Rhoden dem Reporter über Klarissas Herkunft anvertraut hatte. Nur in einem Punkte wich Horst Rickelts Erzählung von den Angaben der Rätin ab. Die beiden Urkunden über Rickelt waren zwar gleichfalls gefälscht worden, aber bei ihnen war der ursprünglich Name in Reichert verwandelt. Sonst stimmte die Ortsangabe London City, die ja offenbar ebenso nachträglich niedergeschrieben war, überein, desgleichen die Unterschriften der Aussteller. Dies festzustellen fiel Lautenborn nicht schwer, der sich ja von Frau Rhoden die Papiere über Klarissa zwecks chemischer und photographischer Untersuchung der radierten Stellen ausgebeten hatte und sie noch bei sich trug.

Kaum hat Rickelt die Urkunden sich angesehen, kaum hatte er erklärt: „Bis auf den gefälschten Namen genau wie meine,“ als der Rechtsanwalt ausrief:

„Dann behaupte ich, daß ihr beide, du und Klarissa, Geschwister seid! Es gibt ja keine andere Möglichkeit!“

Aber der Kommissar schüttelte ernst den Kopf.

„Nur eine große Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Die Kinder, die der Mann, der sich Reisselt nannte, also ebenso, wie Klarissa heißen soll, bei dem alten Ehepaar für eine Woche untergebracht hatte und in denen wir jetzt das Brautpaar vor uns haben, brauchen nicht notwendig Bruder und Schwester gewesen zu sein. Wie man diese Frage lösen soll, weiß ich nicht, falls nicht –“

Da unterbrach ihn Horst Rickelt, indem er mit vibrierender Stimme sagte:

„Wir sind Geschwister! Wenn auch äußere Beweise hierfür fehlen, die Stimme des Blutes hat gesprochen! Gleich als ich Klarissa kennen lernte, fühlte ich mich seltsam zu ihr hingezogen. Wir wurden sehr schnell miteinander vertraut. Schließlich, nachdem wir dann eine Weile verlobt waren, merkte ich aber, daß es nicht bräutliche Liebe war, die mich zu ihr hinzog, immer stärker wurde das Gefühl reiner wunschloser Zuneigung bei mir. Ich konnte mir eine eheliche Gemeinschaft mit Klarissa nicht mehr vorstellen, ich habe schlimme Seelenqualen gelitten, war des Öfteren entschlossen ihr zu gestehen, daß ich sie nicht heiraten könne. Und auch ihr Verhalten mir gegenüber war lediglich das einer guten Freundin. Es war eben die Stimme des Blutes, die sich bei uns beiden meldete, die uns begehrliche Gedanken, den höchsten Liebesrausch als etwas Unmögliches zwischen uns erscheinen ließ! So ist es – so und nicht anders!“

Jetzt sagte Lautenborn leise:

„Das ändert die Sache. Sie werden Recht haben. Und vielleicht gibt uns die streng unparteiische chemische Wissenschaft volle Klarheit. – Ich muß auch Ihre beiden Urkunden mitnehmen, Herr Doktor. Ich brauche sie. Und nun werde ich mich empfehlen. Otto Rulicke wartet meiner –“

„Ich komme mit,“ erklärte Lehner. Und fügte hinzu: „Zwei ereignisreiche, seltsame Nächte liegen hinter uns. Ich weiß nicht, welche die aufregendere war. – Gute Nacht, Rickelt! Morgen schickst du Hartung zu Rhodens. Diese Verlobung ist unter allen Umständen ein Unding!“

*

Vormittag neun Uhr war’s. Im Dienstzimmer Lautenborns fand große Beratung statt. Anwesend waren der Leiter der Berliner Kriminalpolizei Oberregierungsrat Kuhnke und die beiden Kommissare, die mit zur sogenannten Mordkommission gehörten.

Lautenborn hatte soeben das Protokoll der ersten Vernehmung des in der Nacht verhafteten Bomben-Otto den Herren vorgelesen.

Der Athlet war bei seiner Festnahme völlig zusammengebrochen. Er hatte ja schon manches in seinem Leben „berissen“, auch schon im „Kittchen“ gesessen, aber nur wegen Rohheitsdelikten, nicht wegen Hochstapeleien oder Eigentumsvergehen. Er war geborener Berliner, hatte aber seit Jahren in Hamburg gelebt und als Preisringer genügend Geld verdient, um mehr als behaglich leben zu können. Wieselchen wurde sein böser Engel, der bald erkannt hatte, daß der Kraftmensch sich leicht ausnutzen ließ, und ihn daher nach Berlin zurückgelockt.

Otto Rulicke gab alles verloren. Und deshalb versuchte er es erst gar nicht mit dem Leugnen. Er hatte Lautenborn gegenüber folgende Angaben über seine Beziehungen zu Ernst Forbach und Luzie Molla gemacht und diese Aussage sprach auch fraglos den Tatsachen.

Als er vor etwa zwei Wochen nach Berlin gekommen war, wo Wieselchen ihm eine Anstellung als Ringkampflehrer bei ein paar Sportfreunden besorgt hatte, übergab ihm sein Freund eines Tages eine Photographie eines Mannes zugleich mit einem Hundertmarkschein und bat ihn, sich möglichst viel in entlegeneren Vierteln der Reichshauptstadt auf der Straße und in Lokalen aufzuhalten und nach dem jungen Manne zu suchen, den das Bild darstellte. Mehr sagte Wieselchen ihm nicht, fügte nur andeutungsweise hinzu, daß auch andere gute Bekannte von ihm noch nach dem betreffenden Herren auf der Jagd seien und daß „eine Stange Gold“ zu verdienen wäre, wenn man den Mann aufstöbern könnte.

Bomben-Otto hatte genügend freie Zeit, um sich dieser Aufgabe voll und ganz zu widmen. Die Sache hatte ihm Spaß gemacht. Er war sich wie ein „Geheimer“ vorgekommen, der einem Verbrecher nachsetzt. Das war doch mal etwas anderes gewesen, als sich selbst hetzen zu lassen.

Und er hatte Glück gehabt. Auf dem Kurfürstendamm traf er eines Abends einen Herrn, der der Photographie so auffallend glich, daß er ihm folgte. Aber er benahm sich etwas ungeschickt und konnte nur feststellen, daß der Gesuchte in einem der Häuser Nr. 28 bis 35 der Augsburger Straße verschwand. In welchem, wußte er nicht genau. Am nächsten Morgen hatten Wieselchen und er dann in der Augsburger Posten gestanden. Und dies war am Morgen von Horst Rickelts Hochzeitstag. –

Alles andere, was Bomben-Otto noch auszusagen wußte, war Lautenborn bereits bekannt gewesen. Nur über einen Punkt erhielt er noch genaueren Aufschluß. Darüber, daß Luzie Molla tatsächlich die treibende Kraft bei der Einkerkerung Horst Rickelts gewesen war, in dessen Person man jedoch den falschen gefaßt hatte. Der Streich hatte dem Doppelgänger des jungen Schriftstellers gegolten, demselben Unglücklichen, der nachher ermordet in dem Auto aufgefunden wurde.

Davon, daß man Otto Rulicke auch im Verdacht hatte, diesen Mord begangen zu haben, hatte Lautenborn bei dem Verhör zunächst nichts erwähnt. Erst als Bomben-Otto mit seiner umfassenden Beichte fertig war, fragte der Kommissar ihn, wo er sich denn in der Mordnacht bis zwei Uhr morgens aufgehalten habe und ob er für die Stunden von elf Uhr abends bis zu seinem Eintreffen im Pfandkeller bei Edelmanns ein lückenloses Alibi nachweisen könne.

Otto Rulicke war schlau genug, um sofort zu ahnen, welcher Verdacht auf ihm lastete. Ganz empört war er aufgefahren. Er sei kein Mörder. Mit solchen Sachen gebe er sich nicht ab.

Er erzählte dann ganz eingehend, was er in jenen Stunden getrieben hatte. Um halb elf abends war er, bevor Luzie Molla Edelmanns verließ, aus der Pfandleihe fortgegangen, war dann der Brettldiva heimlich gefolgt und hatte sich nachher in ein Cafee in der Chausseestraße mit demselben Auto begeben, um dort mit ein paar Vereinsmitgliedern des Schwerathletikklubs „Obergriff“ Billard zu spielen. –

Lautenborn hatte sofort gemerkt, daß Rulicke als Täter nicht in Frage kam.

Dies teilte er jetzt auch den Herren der Mordkommission mit und fügte hinzu:

„Ich bin der Überzeugung, daß der geistig so schwerfällige Rulicke tatsächlich hier nur der Verführte war und ganz ahnungslos ist, zu welchem Zwecke der „Mann auf der Photographie“ bei Edelmanns festgehalten werden sollte. Auch das Pfandleiherehepaar weiß hierüber nichts. Aufschluß können nur Wieselchen und die Molla geben. Aus Forbach ist jedoch nicht herauszubringen. Der schweigt beharrlich weiter. Mithin kann nur die Molla uns darüber aufklären, wer der Ermordete nun eigentlich ist. Und sie dürfte auch darüber unterrichtet sein, wo wir den Täter zu suchen haben. Die Brettlsängerin steht unter unauffälliger, aber schärfster Überwachung. Von Rulickes Verhaftung ahnt sie noch nichts. Die Zeitungen werden nichts von alledem bringen, was sich in der verflossenen Nacht ereignete. Horst Rickelts bleibt vorläufig für das Publikum der Ermordete. Ich habe alles in die Wege geleitet, daß nichts von der Wahrheit in die Öffentlichkeit dringt.“

Oberregierungsrat Kuhnke wollte gerade eine Frage stellen, als ein Kriminalbeamter eintrat und folgende Meldung erstattete:

„Die von mir geführten Ermittlungen haben ergeben, daß Luzie Molla, die eigentlich Marie Mullert heißt, eine Stiefschwester Ernst Forbachs, genannt Wieselchen, ist.“

„Ah – recht interessant,“ meinte der Leiter der Kriminalpolizei. „Wieder sind wir einen kleinen Schritt vorwärts gekommen.“

Der Beamte trat auf einen Wink Lautenborns ab.

Aber auch jetzt kam der Oberregierungsrat nicht dazu, das Wort an den tüchtigsten seiner Kommissare zu richten.

Ein uniformierter Schutzmann erschien und fragte, ob Herr August Lehnert den Herrn Kriminalkommissar Lautenborn in einer sehr dringenden Sache sprechen könne.

 

14. Kapitel.

Das Bild im „Weltenbummler“.

Der Reporter kam nicht allein. Er brachte Fräulein Grete Bremer, die Tochter seiner langjährigen Wirtin, mit.

Lehnert vermochte seine Erregung schwer zu unterdrücken. Kaum waren seine Begleiterin und er den anwesenden Herren durch Lautenborn vorgestellt worden, kaum hatten alle dann wieder Platz genommen, als es ihm auch schon entfuhr:

„Ich weiß, wer der Ermordete ist. Dieser jungen Dame hier verdanke ich diese wichtige Aufklärung.“

Lautenborn, lebhaft wie immer, rief jetzt:

„Herr Oberregierungsrat, – Herr Lehnert ist derselbe Reporter, der den Bericht für die „Berliner Post“ geschrieben hat, in dem die Widersprüche im Verhalten des Mörders so scharf herausgearbeitet sind.“ Und zu Lehnert gewandt: „Wer ist der Tote also?“

Aber Lehnert wollte seinen Triumph ganz auskosten.

„Ich werde erzählen, was sich heute morgen zugetragen hat,“ sagte er. „Wozu soll ich den Herren die Überraschung vorwegnehmen?! – Ich wohne seit Jahren als „möblierter Zimmerherr“ bei der Mutter von Fräulein Bremer. Eigentlich müßte ich sagen als „möblierter Dachkammerherr“. Aber mit einem Kammerherrn darf ich mich nicht vergleichen.“ Er lächelte als einziger über diesen Scherz. Die anderen Anwesenden waren viel zu gespannt, um diese Abschweifung vom Thema angenehm zu empfinden. –

„Fräulein Bremer ist nun Schreibmaschinendame und so halbe Privatsekretärin des Direktors der Potsdamer Handelsbank, des Herrn Karl Thomas. Heute wird dessen zweite Gattin begraben, mittags zwölf Uhr. Deswegen ist Fräulein Bremer auch dienstfrei. Sonst wäre sie wie gewöhnlich mit dem Siebenuhrdreißig-Zug nach Potsdam hinausgefahren.

Ich war nun heute gegen acht Uhr aufgestanden. Frau Bremer machte Einkäufe, und Fräulein Grete brachte mir daher den Morgenkaffee, gleichzeitig aber noch etwas anderes, die gestrige Wochennummer des „Weltenbummler“. –

Wie das Blatt nun zu einem Bild Horst Rickelts gekommen ist, einem Bild aus jüngster Zeit, nachdem der Schriftsteller sich bereits den Spitzbart hatte abnehmen lassen und auch die Brille nicht mehr trägt, weiß ich nicht. Jedenfalls sagte Fräulein Grete zu mir, indem sie auf den „Weltenbummler“ deutete:

„Ich habe heute eine merkwürdige Feststellung machen können, Herr Lehnert, die Sie als Freund Doktor Rickelts und mich als Angestellte der Potsdamer Handelsbank interessiert. Hier ist ein Bild des Toten. Darunter steht: „Der ermordete bekannte Schriftsteller Horst Rickelt“. Ebenso gut könnte es aber auch heißen: „Der Stiefsohn des Direktors Thomas des Potsdamer Bankhauses“, – denn dem Bilde nach gleichen die beiden Herren sich völlig. Selten habe ich eine so auffallende Ähnlichkeit gesehen.“

Sie können sich denken, meine Herren, daß ich erst ganz starr war, dann der jungen Dame wenig höflich das Blatt aus der Hand riß und wie entgeistert auf das Bild stierte. Hier habe ich den „Weltenbummler“. Bitte – überzeugen Sie sich. Es ist dies ohne Zweifel der Doppelgänger, den wir suchen, dieser Herr Artur Richard, – das ist der Ermordete!“

Das Heft wanderte von Hand zu Hand. Jeder der Herren bestätigte, daß die Ähnlichkeit verblüffend wäre.

Dann fuhr der Reporter fort:

„Ich habe Fräulein Bremer darauf sofort in die neue Sachlage eingeweiht, habe ihr erzählt, daß Horst Rickelt lebt und die Polizei bisher im Unklaren ist, wer eigentlich der Tote aus der Autotaxe sei. Hoffte ich doch, daß sich von ihr wertvolle weitere Aufschlüsse über die Person Artur Richards erhalten könnte. Ich wurde durch das, was ich dann hörte, nicht enttäuscht. – Aber nun mag Fräulein Bremer selbst sprechen.“

Und sie begann erst sehr verlegen und zögernd, dann ruhiger und mit einem gewissen Eifer, auch das ihre zu der Aufdeckung des Mordes beizutragen:

„Herr Lehnert hat unser Gespräch von heute früh nicht ganz vollständig wiedergegeben. Er vergaß zu erwähnen, daß ich vor etwa vierzehn Tagen in der Stadtbahn einen Herrn in dem Glauben ansprach, Artur Richard vor mir zu haben. Nun erst weiß ich, daß es der Schriftsteller Rickelt war, den ich begrüßte. –

Ich möchte hier gleich einflechten, obwohl Horst Rickelt mit Herrn Lehnert befreundet war, habe ich ihn doch nur einmal flüchtig bei uns im Hause gesehen, und damals ja noch mit Spitzbart und Brille, die sein Gesicht sehr veränderten. Was nun Artur Richard anbetrifft, so kann ich folgendes über ihn angeben. –

Ich lernte ihn vor einem halben Jahre einmal zufällig in der Bank kennen. Er hat mich dann sehr oft nach Geschäftsschluß nach der Bahn begleitet, ist auch verschiedentlich mit mir zusammen nach Berlin in einem Abteil gefahren. Jedenfalls bewies er mir ein Interesse, das mir nicht gerade angenehm war, da er seiner ganzen Geistesverfassung nach kein geeigneter Gesellschafter für einen so schwermütigen, ernsten Charakter, wie ich es bin, genannt werden konnte. Er hatte sehr viele Eigenheiten an sich, hielt sich für ein literarisches Genie, war jeder geregelten Arbeit abhold, gab sehr viel Geld aus und ist dieserhalb auch entmündigt worden und zwar auf Antrag seines Stiefvaters, den er daher mit einem so wilden Hasse verfolgte, daß mir manchmal ganz angst wurde, wenn er mir seine phantastischen Rachepläne entwickelte, wie er seinen „Peiniger“ ruinieren und ins Gefängnis bringen wollte. Je länger ich Artur Richard kannte, desto fester war ich überzeugt, daß er geistig nicht ganz zurechnungsfähig sein könne. Ich suchte ihn von mir fernzuhalten, aber er klammerte sich an mich mit einer Zähigkeit, die fast etwas Rührendes hatte.

Er – liebte mich. Oft genug sagte er mir: „Sie sind der einzige Mensch, an dem ich hänge. Ich habe sonst niemanden. Weisen Sie meine Freundschaft nicht zurück! Sie würden mich sehr unglücklich machen.“ –

Er tat mir leid. Und mein Mitgefühl mit ihm war zu groß, als daß ich ihn hätte fortschicken können, wenn er, stets bescheiden bleibend, mich begleiten zu dürfen bat. Dann verschwand er eines Tages, nachdem er mir noch am Nachmittag vorhergesagt hatte, er beabsichtige irgendwo in der Einsamkeit einen großen zu Roman schreiben, der ihn berühmt machen werde. Direktor Thomas, der Arturs Schwärmerei für mich wohl kannte und der zu mir stets sehr freundlich gewesen ist, erzählte mir, sein Stiefsohn sei nach der Schweiz gereist. Aber ich habe daran nie recht geglaubt. Artur Richard verfügte ja gar nicht über die hierzu nötigen Geldmittel. Der Direktor hielt ihn, obwohl sein Stiefsohn ein Vermögen von gut einer halben Million besaß, sehr kurz und hätte ihn auch nie ohne Begleitung eine Reise machen lassen, da er stets fürchtete, daß Artur bei seinem Geisteszustand irgendwelche Torheiten begehen könne. – So, das ist wohl alles, was ich aussagen kann.“

Da fiel Lehnert mit Eifer ein:

„Nicht doch, Fräulein Grete, – Sie haben zu erzählen vergessen, was Artur Richard Ihnen von seinen Eltern und seinem Geburtsort anvertraut hat.“

„Ja, richtig, das könnte ich noch nachholen. Arturs Eltern –“

In diesem Augenblick betrat ein Herr das Zimmer, der einen fleckenbesäten Leinenrock zu ein paar tadellos gebügelten Beinkleidern und ebenso tadellosen braunen Schnürschuhen trug.

Lautenborn sprang sofort auf und eilte ihm entgegen.

„Na, Doktor, was hat Ihre Kunst erreicht?“ fragte er gespannt.

„Alles!“ erwiderte der Chemiker Dr. Olfers strahlend. „Alles! Hier sind die photographischen Vergrößerungen der gefälschten alten Urkunden über die angebliche Klarissa Reisselt und Horst Reichert. Die Chemie hat gesiegt. Sie sehen hier deutlich den von mir wieder hervorgerufenen richtigen Familiennamen der Kinder Klarissa und Horst, ebenso den richtigen Ortsnamen. Ersterer lautet Richard, letzterer Dawson City.“

Das Wort Richard wirkte auf alle Anwesenden geradezu wie eine Bombe. Alles erhob sich, umringte den Chemiker, wollte die photographischen Vergrößerungen der gefälschten Schriftzüge sehen. Selbst die bescheidene Grete Bremer wurde von der allgemeinen Erregung angesteckt.

„Rechtsanwalt Hartung hat recht behalten! Horst Rickelt und Artur Richard sind Zwillingsbrüder, daher auch die täuschende Ähnlichkeit bis zu dem Muttermal an der linken Schläfe!“

„Und Klarissa und Horst, die sich heiraten wollten und die das Schicksal davor bewahrt hat, sind Geschwister!“ fügte Lehnert feierlich hinzu.

Es war eine bewegte Szene, wie all diese ernsten Männer, diese Hüter der Ordnung und Wächter der Sicherheit, mit lebhaften Worten und Gebärden diese neueste Entdeckung, diese Bestätigung bereits gehegter Vermutungen, erörterten. Dann bat der Oberregierungsrat wieder Platz zu nehmen.

Grete Bremer sollte berichten, was sie über Artur Richards erste Jugend wußte. Atemlos hörten die Herren zu. Keine Zwischenfrage wurde gestellt. Bilder einer wilden Romantik tauchten vor den Anwesenden auf. Immer mehr lichtete sich das Dunkel der Zusammenhänge zwischen der Mordtat, dem Toten, Horst Rickelt und Klarissa Rhoden.

Als das junge Mädchen nichts mehr hinzuzufügen wußte, stand Lautenborn auf.

„Schade, daß Hartung nicht hier ist,“ sagte er ernst. „Er hat mir von dem seltsamen Traum erzählt, den Klarissa Rhoden am Nachmittag des gestrigen Tages hatte und bei dem es sich nur um eine Szene aus dem Lagerleben von Goldgräbern gehandelt haben kann, wie ich jetzt mit größter Bestimmtheit annehmen darf, – eine Szene, wo in einem Felsentale ein Lager aufgeschlagen war, Männer vor einer Hütte um ein Feuer sich niedergelassen hatten und etwas abseits eine Frau sich um einen Kranken bemühte. – Begreifen Sie, meine Herren, was dies bedeutet? Klarissa Rhoden hat im Traum ein Erlebnis aus dem abenteuerlichen Dasein ihrer Eltern gesehen – das ist’s!“

Er machte eine kurze Pause.

„Wir wissen jetzt sehr viel, aber wir wissen doch nicht alles. Wer ist der Mörder? – Diese Frage ist noch offen geblieben. –

Ich will nun folgenden Vorschlag machen, da ich ahne, wer Artur Richard ermordet hat. Wir können dem Manne, den ich in Verdacht habe, sehr leicht eine Falle stellen, wenn wir uns in geschickter Weise Otto Rulickes als Werkzeuge bedienen. Ich habe zu diesem Menschen insofern volles Vertrauen, als ich annehme, daß er, wenn man ihm Straflosigkeit zusichert, seine Geliebte, die Kabarettdiva, ohne Gewissensbisse verrät und alles tut, was wir von ihm verlangen. Ich weiß bereits einen Plan, wie man Rulicke als Helfer am besten ausnutzen kann. Wir dürfen vor diesem nicht ganz einwandfreien Mittel nicht zurückschrecken. Moralische Bedenken fallen hier wohl weg, wo es sich darum handelt, ein Kapitalverbrechen zu sühnen.“ –

Gleich darauf verließen Grete Bremer und Lehnert das Polizeipräsidium, nachdem man sie noch zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet hatte.

In Lautenborns Amtszimmer aber stand Bomben-Otto vor den Herren der Mordkommission und hörte mit hoffnungsfrohen Augen an, was der bekannte Kriminalkommissar ihm zur Wiedergewinnung seiner Freiheit vorschlug.

„Denken Sie nun nicht etwa, Rulicke, daß Sie uns bei dieser Gelegenheit entwischen könnten,“ sagte Lautenborn jetzt strengen Tones. „Sie werden überwacht. Ihnen folgt eine Menge von Geheimen. Und bei den geringsten Anzeichen von Verrat –, na, Sie wissen wohl, was ich meine!“

„Ich werde mich hüten!“ brummte Otto Rulicke. „Keine Sorge! Wird alles gemacht, – ganz genau, wie Sie es wünschen. Nur müssen Sie mir nochmals genau sagen, Herr Kommissar, was ich zu reden habe, damit ich nichts verpfusche.“ –

Eine halbe Stunde später verließ Bomben-Otto durch einen Seitenausgang gleichfalls das Polizeipräsidium.

 

15. Kapitel.

Die letzte Hoffnung.

Luzie Molla hatte nicht vergessen, daß Otto Rulicke sie nach Schluß des Kabaretts hatte abholen wollen. Aber diese Verabredung war ihr mit einem Male unbequem geworden. Ein neuer Verehrer war aufgetaucht, ein kurländischer Baron, der nun schon zum vierten Male hintereinander an demselben Tische saß und Luzie unverwandt anstarrte, wenn sie das Podium betrat. Seine Annäherungsversuche hatte sie jedoch kühl abgewiesen. Einladungen zu Soupers nahm sie nie an. Und bei dem Baron war es schlaueste Berechnung, daß sie noch stärker als gewöhnlich die hochanständige Künstlerin spielte. Vielleicht ließ er sich auf diese Weise am leichtesten fangen, vielleicht war es dann überflüssig, Charlie Thomas als Sprungbrett nach oben zu benutzen.

Gerade zu derselben Zeit, als Lautenborn, Lehnert und der Rechtsanwalt in des letzten Wohnung die zweite Flasche Rheinwein nach der Autofahrt nach Schmargendorf hinaus leerten, hatte der Baron von Blotthus Luzie durch einen Kellner eine Karte geschickt und sie auf dieser gebeten, ihm eine kurze Unterredung zu gönnen.

In einem leeren Nebenraum des Kabaretts empfing Luzie den verliebten Kurländer mit der Miene einer Audienz erteilenden Herzogin.

Blotthus, kaum dreißigjährig und Besitzer von riesigen Gütern und einem ebenso riesigen, gut angelegten Barvermögen, ging sofort aufs Ganze, bot Luzie eine halbe Million, wenn sie ihn nach Italien begleiten wolle, oder nach Norwegen, dort sei es im Sommer angenehmer.

Sie hob die Hand zum Schlage. Das war ihre Antwort. Und hätte er nicht zugegriffen, so wäre diese Hand vielleicht wirklich mit seiner linken Wange in unsanfte Berührung gekommen.

„Ah – Sie wollen nicht, Sie sind stolz!“ preßte er mit dem Lachen des siegesgewohnten Mannes zwischen den Zähnen hervor und drückte ihr Handgelenk, daß sie noch eine Stunde nachher einen roten Ring auf der Haut hatte.

„Sie beschimpfen mich, Herr Baron,“ sagte sie kalt. „Geben Sie meine Hand frei. Ich bin keine Dirne!“

Sie schauspielerte glänzend.

Da meinte er, indem er sich ganz kavaliermäßig vor ihr verbeugte:

„Sie werden doch gehorchen, werden mit mir reisen, – wenn nicht anders als mein Weib!“

Luzie lächelte.

„Ich schließe für Geld auch keine Ehe, Baron. Leben Sie wohl.“

Sie wollte zur Tür. Er aber vertrat ihr den Weg.

„Ich werde um Sie werben,“ sagte er, ganz heiser vor Liebestollheit.

„Hoffentlich haben Sie auch Erfolg,“ rief sie übermütig und schlüpfte hinaus. –

So kam es, daß sie nachher Otto Rulicke an der Südseite der Passage umsonst warten ließ. Sie wollte vorsichtig sein. Dieser Baron war leicht einzufangen, das fühlte sie. Da durfte sie nicht mit dem Bomben-Otto zusammen gesehen werden.

Im Auto war sie nach ihrer Wohnung gefahren, hatte bis zehn Uhr dann fest durchgeschlafen.

Als Morgengruß schickte ihr Blotthus einen Strauß köstlicher dunkelroter Rosen mit einem Brief, in dem nur stand: „Sie werden doch gehorchen!“

Kein Wunder, daß Luzie in glänzender Stimmung war. Alle Sorgen wegen ihres Stiefbruders Verhaftung waren geschwunden und Karl Thomas schon halb als Heiratskandidat von der Liste gestrichen. Er hatte ja doch nur Sprungbrett sein sollen.

Um halb zwölf, als Luzie gerade im Musikzimmer ein neues Lied einübte, klingelte es im Flur.

Anni kam und meldete grinsend Herrn Rulicke.

Luzie stampfte mit dem Fuß auf.

„Sagen Sie, ich sei krank,“ befahl sie.

Aber Bomben-Otto wußte schon, wie man bei ihr Zutritt erlangte. Er schickte eine schon vorbereitete Visitenkarte im Umschlag durch die Zofe hinein.

Als Luzie die Karte las, erbleichte sie.

„Führen Sie den Herrn in den Salon,“ sagte sie ganz tonlos. „Und dann können Sie mit Hektor spazieren gehen, Anni. Der Hund hat viel zu wenig Bewegung.“

Otto Rulicke sah wieder wie ein Dreiviertelgentleman aus – beinahe echt in Vornehmheit der Kleidung. Als Luzie eintraf, kam er ihr entgegen.

„Du – die Sache steht faul,“ sagte er aufgeregt und ganz leise flüsternd. Er reichte ihr nicht einmal die Hand.

Sie sah ihn entgeistert an.

„So ist es wahr, was du auf der Karte schreibst?“ fragte sie.

„Mit solchen Dingen scherzt man nicht. – Setzen wir uns! Nein – schicke erst Anni weg.“

„Sie geht sofort.“

„Auch den Köter. Der stört mich.“

Sie nickte. „Anni nimmt ihn mit.“ –

Sie war so niedergeschmettert, daß sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie gehorchte Rulicke blindlings. Sie hatte ja nur ihn als Verbündeten.

Als Anni und Hektor fort waren, legte Luzie wieder wie damals die Sicherheitskette vor die Türen. Dann saß sie, auch wie damals, dem stiernackigen Mann im Salon gegenüber und schaute ihn aus verängstigten Augen an.

„Also Horst Rickelt ist von Edelmanns entflohen?“ fragte sie zaghaft.

„Ja, leider! Entflohen stimmt aber nicht ganz. Sie haben ihn laufen lassen. Doch das ist ja schließlich alles eins! Jedenfalls ist er weg. Und nun ist der Teufel los, nun ist die Polizei auch schon hinter mir her. Edelmanns werden sicher „pfeifen“, und dann bist auch du dran, dann suchen die Geheimen nach der verschleierten Dame, – eine ganz verwünschte Geschichte!“

Luzie rang die Hände im Schoß. Sie dachte an den Baron von Blotthus. Gerade jetzt mußte das Unglück hereinbrechen – gerade jetzt! Aber das durfte nicht sein, – nein, niemals, sie mußte unbehelligt bleiben, koste es, was es wolle. Vielleicht hatten Edelmanns doch nichts von der tief verschleierten Dame erwähnt, deren Werkzeuge Wieselchen und Bomben-Otto gewesen waren, vielleicht konnte man sie bestechen. Rulicke mußte zu ihnen gehen, – gleich, sofort, mußte fünfhundert Mark mitnehmen!

Sie fühlte eine geringe Hoffnung in ihrer Seele aufkeimenden. Aber ach – wie schnell wurde dieser helle Schimmer in all dem Dunkel wieder zerstört!

Rulickes grobe Stimme platzte in ihre schweifenden Gedanken brutal hinein.

„Mein Brief von gestern aus dem Zoo wird dir wohl klargemacht haben, – falls du nicht schon selbst auf diese Lösung gekommen bist, daß es zwei Menschen gibt, besser gab, die sich so ähnlich sahen, daß man sie nicht auseinanderhalten konnte, – ich meine den Toten im Auto und Horst Rickelt.“

Sie zuckte zusammen. Ein Schauer lief ihr über den Leib. Vor Tod und Vergänglichkeit fühlte sie wie alle moralisch haltlosen Geschöpfe ein angstvolles Grauen.

„Ja, richtig, – der Mord! Darüber haben wir ja noch gar nicht gesprochen,“ sagte sie leise. „Du hast recht, zwei Männer gab es, die sich so sehr glichen, wie man es kaum für möglich halten sollte.“

Er achtete auf ihre Worte kaum. Er dachte nur an das, was Lautenborn ihm befohlen hatte. Und daher sagte er:

„Wenn ich dir helfen soll, mußt du ganz ehrlich mir gegenüber sein. – Ich hatte die Photographie eines jüngeren Herren von Wieselchen erhalten. Nach dem Bilde sollte ich den Mann suchen. Wer ist dieser Mensch, und zu welchem Zweck sollte er den Keller bei Edelmanns beziehen – so etwas gewaltsam?!“

Luzie überlegte nicht lange. Ja – sie mußte rückhaltlos offen sein. Es ging nicht anders. Es handelte sich um ihre Zukunft – um den Baron, um ein Leben in Glanz und Üppigkeit.

„Der Herr war der Stiefsohn des Bankdirektors Thomas aus Potsdam, – Artur Richard,“ erwiderte sie schnell. „Die Bank hat schwere Verluste erlitten. Und Artur Richard hat von seiner Mutter, von Thomas erster Gattin, eine halbe Million unter der Bedingung geerbt, daß der Bankdirektor das ganze Vermögen im Falle des Todes Arturs erhalten solle. Thomas ist nun ein ernsthafter Verehrer von mir; er hat mich heiraten wollen. Ich hatte mithin ein Interesse daran, den Zusammenbruch des Geschäftes zu verhindern. Vor etwa vier Wochen entfernte sich Artur Richard aus der Wohnung, die er in der Nähe des elterlichen Hauses innehatte. Wo er geblieben, wußte niemand. Er stand nicht gut mit seinem Stiefvater, der dafür gesorgt hatte, daß den geistig nicht ganz zurechnungsfähigen Menschen die freie Verfügung über die Zinsen des Kapitals entzogen wurde. Thomas ließ heimlich nach Artur Richard zwar gleich forschen – durch ein Privatdetektivinstitut, doch der Polizei meldete er auf meinen Vorschlag hin das Verschwinden des Entmündigten nicht. Thomas und ich haben es uns zwar nie gestanden, aber im Stillen hofften wir beide dasselbe, – daß sein Stiefsohn vielleicht eines Tages irgendwo als Leiche aufgefunden werden würde. Woche um Woche verging. Inzwischen hatte sich diese eben erwähnte Hoffnung, durch deren Erfüllung Thomas mit Hilfe des Vermögens Arturs die Bank wieder hätte in die Höhe bringen können, bei mir so fest eingenistet, daß langsam auch der Entschluß in mir reifte, das Schicksal etwas zu korrigieren. Was Thomas nicht gelang, gelang mir, oder besser gesagt, ich glaubte, daß es mir gelungen sei, glaubte mit deiner Unterstützung Artur Richard entdeckt und – bei Edelmanns in sicherem Gewahrsam untergebracht zu haben, wo ich ihn festhalten wollte, bis – bis –“

Sie schaute verlegen zu Boden, wurde sehr rot und senkte scheu den Kopf ganz tief auf die Brust. Dann preßten sich ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, ein böses, grausames Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und mit jäher Bewegung hob sie wieder den Kopf.

„Wozu soll ich es zu verheimlichen suchen,“ sagte sie. „Ich hoffte, daß Artur Richard, der ohnehin verbittert und lebensmüde war, Hand an sich legen, – sich selbst töten würde! Die Leiche hätte ich dann irgendwohin schaffen lassen, wo sie gefunden werden mußte. – So gedachte ich in die Räder des Schicksals einzugreifen. – Gewiß – als ich dann sah, daß unser Gefangener Papiere bei sich trug, die auf Horst Rickelt lauteten, als ich manches andere erfuhr, was ihn als den bekannten Schriftsteller ziemlich zweifelsfrei hinstellte, kamen wir Bedenken, ob unser Opfer auch tatsächlich Artur Richard sei. Ich sah jedoch, als er noch betäubt in seiner Zelle auf dem Bett lag, das Muttermal an der Schläfe, sah, daß der Mann Thomas’ Stiefsohn in jeder Linie des Gesichtes glich. Da stieg in mir die beunruhigende Vermutung auf, Artur Richard könne ein Doppelleben geführt haben, was gerade bei seinen phantastischen Neigungen nicht ausgeschlossen schien. Frau Edelmann mußte Rickelt daher dieserhalb ausforschen. Und er gab zu, daß er sowohl als Horst Rickelt als auch als ein anderer ein zweifaches Dasein gelebt hätte. Da erst war ich meiner Sache ganz sicher. Doch schon am nächsten Tage, als der Mord im Tiergarten zu meiner Kenntnis gelangte, packte mich wieder die Angst, die Zweifelsucht. Horst Rickelt sollte ermordet sein! Und dabei wußte ich doch, daß er bei Edelmanns streng bewacht wurde. In meiner peinvollen Ungewißheit fuhr ich zu Thomas hinaus nach Potsdam. Aber ich wagte nicht, mit ihm über den Mord zu sprechen. Er war so ganz anders als sonst zu mir. Unsere Unterhaltung machte zum Schluß auf mich den Eindruck, als ob wir uns gegenseitig mißtrauten. So kehrte ich heim – in keiner Weise getröstet, eher noch mehr beunruhigt. Ich weiß jetzt, wir haben den Falschen eingekerkert. Und Artur Richard ist tot!“

Otto Rulicke hatte Luzie mit keinerlei Wort unterbrochen. Er sah sie jetzt mit anderen Augen an. Unter der schönen Hülle hatte sie ihm eine Seele gezeigt, die selbst ihn abstieß. –

Welch ein Weib, – welch kalte verbrecherische Berechnung, welche Gefühllosigkeit wohnten in ihr.

Aber – fort mit dem Gedanken! Er war ja erst halb am Ziel!

„Einen großen Teil von dem, was du mir soeben erzählt hast, wußte ich schon,“ sagte er jetzt. „Ich sehe, du hast nicht versucht, mich zu täuschen. Daher will auch ich dich noch weiter warnen, Luzie. Erschrick nicht, die Polizei hat Thomas im Verdacht, seinen Stiefsohn ermordet zu haben, und dich – hält man für seine Helfershelferin!“

Sie schnellte empor. Sie war bleich geworden. Ihre Lippen bebten, und schwer stützte sie sich mit beiden Händen auf den Tisch.

„Ich – seine Helfershelferin, – ich?!“ stieß sie mit gänzlich veränderter Stimme hervor. „Wie kommt man darauf? Wie – wie –?“

Sie vermochte nicht weiter zu sprechen.

„Setz’ dich wieder, Luzie,“ meint Rulicke gleichmütig. „In einer Lage wie der unsrigen kann nur eins Rettung bringen – kühle Ruhe, Besonnenheit! – Höre also! Derselbe Bekannte von mir, – man nennt ihn Nasen-Max, der mir auch von Wieselchens Verhaftung zu berichten wußte, ist ein verkappter Polizeispitzel. Ich habe ihm nun mal vor Jahren einen Dienst erwiesen, wir sind sehr vertraut miteinander, und daher – warnte er mich, als er mir vor einer Stunde auf der Straße begegnete. Die Geheimen sind hinter mir her, und man sei auch schon der verschleierten Dame, die mit Wieselchen und mir im Bunde stehe, auf der Spur. Ebenso suche die Polizei nach einem Zusammenhang zwischen der Entführung Horst Rickelts und dem Morde und habe auch schon einiges ermittelt, was auf den Bankdirektor Thomas als Täter hinweise und auch die Kabarettdiwan Luzie Molla als dessen Mitwisserin, da diese Thomas am Tage nach dem Morde in der Bank heimlich besucht habe und zu ihm auch in näheren Beziehungen stehe.“

Luzie saß wie versteinert da. Sie merkte gar nicht, wie wenig Otto Rulicke es begründete, daß auch sie in dieser Mordsache mit hineinverwickelt sein solle. Sie glaubte alles – alles! Sie fühlte wieder den Boden unter sich schwanken wie damals, als sie von dem Morde erfuhr, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, war hilflos wie ein Kind.

Aus weiten, entsetzten Augen starrte sie Rulicke flehend an.

„Rette mich,“ wimmerte sie. „Rette mich! Ich will – ich werde –“ Sie wußte kaum, was sie sprach.

Er hatte kein Mitleid mit ihr, zuckte die Achseln und erwiderte:

„Es gibt nur einen Weg, damit du frei ausgehst! Du mußt beweisen, daß du keinen Teil an dem Morde hast, muß das, was du Horst Rickelt angetan, dadurch wettmachen, daß du der Polizei den Mörder überführen hilfst.“

Sie zuckte zusammen.

Also sollte sie Karl Thomas verraten! Darauf kam alles hinaus! –

Nur einen Augenblick zögerte sie. Dann –:

„Gut – ich bin bereit. Aber – wer bürgt mir dafür, daß mein Name auch wirklich nicht an die Öffentlichkeit gezerrt wird, daß man mich nicht wegen der Edelmannschen Sache vor Gericht zieht?“

Rulicke fürchtete, sie könnte wieder schwankend werden.

„Wenn du auf mich hörst, wird nichts geschehen, was dir schaden kann. Du mußt aus Thomas das Geheimnis seiner Tat herauszulocken suchen, alle Einzelheiten der Ausführung, und wenn du dann zur Polizei gehst und vorher deine Bedingungen stellst, unter denen du aussagen würdest, was du erfahren, so wird man dir fraglos bewilligen, was du verlangst.“

Luzies Antlitz hellte sich etwas auf.

„Und wie soll ich es anfangen, um Thomas zum Reden zu bringen?“ fragte sie eifrig.

„Ja – das ist deine Sache. Jedenfalls mußt du ihn schon heute Nachmittag zu dir bestellen. Deute ihm telephonisch an, was für ihn auf dem Spiel steht. Er wird dann sicher kommen. Und ist er hier, so kannst du ihm vielleicht sagen, daß du bemerkt hättest, du würdest ständig offenbar von Geheimschutzleuten seit gestern überwacht doch – ich vermag dir da wirklich kaum wichtige Anweisungen zu geben. Du bist selbst schlau genug für einen solchen Streich, denke ich.“

Sie schaute grübelnd vor sich hin. Ihre Intrigantennatur kam wieder zum Durchbruch. Plötzlich lächelte sie, – sie lächelte wirklich.

„Ich werde ihn zu einem Geständnis zwingen,“ sagte sie sehr selbstüberzeugt. „Wie – das ist mir soeben klar geworden.“

Rulicke atmete erleichtert auf. Aber noch war nicht alles erledigt.

„Es wäre gut, wenn eurer Unterredung für alle Fälle heimlich ein Zeuge beiwohnen würde,“ meinte er. „Ich denke da an meinen Freund, den Nasen-Max, der ist zuverlässig. Der redet nur über die Sache, wenn du es haben willst, – eben wenn Thomas nachher wieder alles abstreiten sollte. Ich selbst kann dieser Zeuge nicht sein, da ich mich für die nächste Zeit besser verborgen halte.“

Luzie wurde mißtrauisch. Aber Rulicke verstand es sehr gut, ihre Bedenken zu zerstreuen.

Seufzend erklärte sie sich schließlich bereit, Nasen-Max im Musikzimmer zu verstecken – hinter dem Notenschrank in der Fensterecke.

Bomben-Otto gab ihr dann noch sehr genaue Verhaltungsmaßregeln. Zum Schluß meinte er:

„Hör’ mal, – so traurig brauchst du wirklich nicht dreinzuschauen! Paß auf – alles läuft glatt ab, und dann bist du fein raus!“

Seine Sicherheit richtete sie etwas auf. Als Rulicke sich verabschiedete, sagte er noch:

„Ich werde heute abend in einer Verkleidung ins Kabarett kommen. Dort werden wir eine Gelegenheit finden, uns zu sprechen.“ –

In der Nebenstraße traf Bomben-Otto gleich darauf mit Lautenborn zusammen.

„Alles im Lot, Herr Kommissar!“ erklärte er. „Sie haben hier wohl etwas lange warten müssen, wie? – Na – schneller ließ die Sache bei der Molla sich nicht erledigen.“

Und sie will Nase-Max, besser – mich selbst, in einer Verkleidung als Zeugen in ihrer Wohnung verbergen?“ fragte der Kommissar gespannt.

„Natürlich! Um vier Uhr nachmittags soll Nasen-Max sich bei ihr einfinden. Die Zofe und den Hund wird sie vorher wieder wegschicken.“ –

Otto Rulicke fuhr dann in Begleitung eines Kriminalbeamten nach dem Polizeipräsidium zurück. Er sollte in Haft bleiben, bis der rätselhafte Fall Horst Rickelt ganz aufgeklärt war.

 

16. Kapitel.

Karl Thomas’ Vergangenheit.

Horst Rickelt hatte auf dem Diwan in Hartungs Arbeitszimmer sehr gut geschlafen. Bevor der Anwalt sich dann, nachdem man gemeinsam Kaffee getrunken hatte, in sein Bureau begab, suchte er noch die Rhodenschen Damen auf.

Trotz der frühen Stunde – er traf bei Rhodens kurz nach neun Uhr ein – fand er die Rätin und Klarissa bereits empfangsfähig.

Hartungs strahlendes Gesicht verriet den Damen, daß er heute der Überbringer einer günstigen Botschaft war.

Daher sagte Frau Rhoden auch, nachdem man sich mit freundschaftlicher Vertraulichkeit begrüßt hatte:

„Ihnen muß etwas Gutes begegnet sein, Herr Rechtsanwalt. – Ach, wer doch auch mal wieder einen Lichtblick in all der Trübsal sehen dürfte! Aber für uns gibt es so etwas nicht. Wo der Tod mit rauher Knochenhand in ein Familienleben hineingreift, da dauert es Jahre, ehe alles wieder ins Gleichgewicht kommt.“

Hartung sah schon wieder Tränen in den Augen der Rätin aufblinken.

„Bitte – nicht weinen, liebe gnädige Frau,“ sagte er mit warmer Herzlichkeit. „Wollen Sie mir einen Gefallen tun, – ja? Dann begleiten Sie mich bitte sofort nach meiner Wohnung. Ich habe dort für Sie und Fräulein Klarissa eine Überraschung bereit – eine sehr angenehme Überraschung. Sie werden nicht ahnen, worin diese besteht. Ich will Ihnen helfen. Das zwei Menschen sich sehr ähnlich sehen, ja, bis zum Verwechseln sich gleichen, bis zu einem Muttermal sogar, kommt ja nicht oft vor. Aber es gibt doch solche Fälle. Und, existieren zwei derartige Doppelgänger, dann wird vielleicht der eine als tot betrauerte, während in Wirklichkeit doch der andere –“

Frau Rhoden ließ Hartung den Satz nicht beenden. Ihre Augen waren weit vor staunendem Begreifen geworden. Sie hatte die Rechte um des Anwalts Arm gekrallt und rief jetzt:

„Horst lebt! – Habe ich Sie richtig verstanden – lebt er wirklich?“

Klarissa stand mit hilflosem Gesichtsausdruck dabei. Sie vermochte überhaupt kein Wort hervorzubringen. In die offene Freude über diese Andeutungen Hartungs mischte sich sofort ein anderer Gedanke, daß nun wieder zugleich mit dem Toten das Gespenst dieser Ehe lebendig wurde, die einzugehen sich alles in ihrer sträubte. –

Niemals würde sie jedoch jetzt darein willigen, daß diese Heirat nochmals vorbereitet werden durfte. Tauchte Horst wieder auf, so wollte sie ganz ehrlich ihm gegenüber sein.

Blitzschnell schossen ihr diese Gedanken durch den Kopf. Da erwiderte Hartung auch schon:

„Ja – er lebt, und er befindet sich bei mir in meiner Wohnung.“

Die Rätin trugen ihre zitternden Beine nicht mehr. Schwer ließ sie sich in einen der altmodischen Sessel des kleinen Salons fallen. Tränen liefen ihr über die Wangen, und ganz verwirrt durch diese Kunde, daß einer, den man schon als tot beweint, noch unter den Lebenden weile, sprach sie wie geistesabwesend vor sich hin.

„Er lebt – er lebt –“

Dann mußte Hartung erzählen. Er faßte sich kurz. Mochte Rickelt den Damen selbst alles genau berichten.

Nur bei einem Gegenstande verweilte er länger, wie man festgestellt habe, daß Klarissa und Horst Geschwister sein müssten!

Neues Staunen, neue Ausrufe der Überraschung bei der Rätin, abermals Tränen um – und jetzt nahm Frau Rhoden Klarissa liebevoll in die Arme und bat schluchzend:

„Kind, verzeih’ mir, daß ich das alles, ich meine die Geschichte deiner Herkunft, solange vor dir verborgen gehalten habe. – Und nun – Horst dein Bruder!“

Hartung war zartfühlend an das Fenster getreten, schaute hinaus in den hellen Vormittagssonnenschein.

Aber lange blieb er so nicht stehen. Die Rätin wollte jetzt sofort nach des Anwaltes Wohnung – hin zu Horst Rickelt!

„Lieber Herr Rechtsanwalt – im Augenblick sind wir zum Ausgehen fertig. Ich schicke gleich unser Mädchen nach einem Auto,“ rief sie und zog Klarissa mit sich fort ins Nebenzimmer. –

Horst Rickelt ahnte, daß Hartung die beiden Damen mitbringen würde. Als es daher im Flur läutete und er hörte, wie die Aufwärterin öffnen ging, dachte er nicht anders, als daß es Rhodens seien. Ihm pochte doch das Herz ein wenig. Wie würde das Wiedersehen mit Klarissa ausfallen – seiner Braut, die gleichzeitig seine Schwester war?!

Es klopfte. Er rief „Herein!“ und eilte zur Tür.

Es waren nicht die Erwarteten. Es war August Lehnert in Begleitung einer jungen Dame.

Rickelt stand wie angewurzelt vor Grete Bremer, starrte sie wie eine Erscheinung an. Das – das hatte er ja nie vermuten können, – hier dieses Wiedersehen mit seiner holden Unbekannten von der Stadtbahn her, – nie und nimmer!

Sofort wußte er, wen er vor sich hatte. Ein Blick in dieses schwermütige Gesicht hatte genügt.

August Lehnert lachte jetzt fröhlich auf.

„Nicht wahr, Fräulein Grete, sehr liebenswürdig werden wir beide, die wir eben im Dienst einer guten Sache auf dem Polizeipräsidium waren, hier gerade nicht empfangen! Dieser Herr da stiert Sie an wie einen Geist! – Lieber Rickelt – komm’ zu dir! Es sind zwei ganz gewöhnliche Sterbliche, die sich dir nahen. Freilich, einer dieser sterblichen darf mit Recht Anspruch auf sofortige Zurücknahme dieses wenig schmückenden Beiwortes „gewöhnlich“ erheben, da –“

Rickelt lachte jetzt auch.

„Hör’ auf – hör’ auf, – ich bitte dich!“ unterbrach er den Redestrom des übermütigen Reporters. „Mache mich lieber mit dieser jungen Dame bekannt, die mir allerdings keine Fremde ist.“

Er sah Grete Bremer dabei so strahlend an, daß sie tief errötete.

Abermals läutete die Flurglocke. Es waren jetzt wirklich die Rätin und Klarissa. Hartung hatte gleich das Auto benutzt, um weiter ins Bureau zu fahren.

Frau Rhoden stürmte förmlich ins Zimmer.

„Horst – Horst mein Sohn!“

Sie umarmte ihn, gab ihn nicht so bald wieder frei. Sie liebte ihn wirklich, als sei er ihr leibliches Kind.

Endlich konnte dann auch Klarissa den Bruder begrüßen. Beide waren erst etwas verlegen. Sie küßten sich. Und wieder half hier Lehnerts glückliche Zunge über die etwas peinliche Szene hinweg, indem er rief:

„Die erste Zärtlichkeit zwischen den Geschwistern Richard! – Jawohl, gnädige Frau, die Chemie hat festgestellt, daß der ursprüngliche Name auf den Urkunden Richard lautete und der Ort Dawson City hieß.“

Diese Bemerkung genügte, um das Interesse aller nach einer anderen Richtung hin zu lenken.

Fragen und Antworten flogen hin und her. Es gab ja noch so viel aufzuklären, so sehr viel Neues zu hören, was Lehnert vom Polizeipräsidium mitgebracht hatte, davon das Wichtigste, daß nun auch der Name von Horst Rickelts Doppelgänger mit Hilfe Fräulein Bremers festgestellt und daß dieser Artur Richard, der sein Leben durch Mörderhand hatte lassen müssen, ohne Zweifel ein Zwillingsbruder des jungen Schriftstellers gewesen war.

Die Rätin konnte bei alledem nur immer wiederholen:

„Hier zeigt sich Gottesfügung, – drei Geschwister, die nichts voneinander gewußt haben! Und einer davon mußte sterben, um alles an den Tag zu bringen!“ –

Schließlich beruhigten sich aber auch hier die Gemüter. Man blieb in Hartungs Wohnung zusammen, wohin Lehnert telephonisch ein Mittagessen aus einem nahen Weinrestaurant für fünf Personen bestellt hatte. Hartung fand sich gleichfalls zur rechten Zeit dazu ein. Es wurde eine Stille, kleine Feier, über der wie ein grauer Schatten das Bewußtsein lastete, daß draußen in Moabit im Leichenschauhaus ein stummer Toter lag, dem es nicht mehr vergönnt gewesen, Bruder und Schwester in die Arme zu schließen.

*

Luzie Molla öffnete die Flurglocke und ließ Karl Thomas ein. Dann legte sie die Sicherheitskette vor und wandte sich ihm zu.

„Es ist gut, daß du nicht gezögert hast, zu mir zu kommen, Charlie. Schreckliche Dinge sind passiert. Ich befinde mich in einer Angst, oh, was habe ich heute durchgemacht, Charlie!“

Er hatte ihr nur flüchtig die Hand gereicht. Sein Gesicht sah grau und verfallen aus. Er war plötzlich ein alter Mann geworden. Alle Straffheit hatte seinen Körper verloren, und der Blick seiner Augen war stumpf und gleichgültig.

„So – durchgemacht?“ meinte er trübe. „Wohl kaum mehr als ich, Luzie, – sicherlich nicht!“

Sie führte ihn in das Musikzimmer, wo in einer Ecke an einem niedrigen japanischen Tischchen zwei zierliche Korbsessel standen.

Karl Thomas ging langsam wie ein Kranker. Und müde nahm er dann Platz, um grübelnd vor sich hinzustarren.

Luzie begriff dies nicht. Sie hat erwartet, daß er in heller Angst zu ihr eilen würde. Und nun nichts von Erregung, von furchtsamer Erwartung. Im Gegenteil, kaltblütiger, gleichmütiger konnte dieser Mann kaum sein, auf dem ein so schwerer Verdacht lastete. Und auch die Art, wie er jetzt die Unterredung begann, bewies sein völliges Gefaßtsein:

„Ich wäre auch ohne deine Benachrichtigung zu dir gekommen, ohne diese Warnung, in der du andeutetest, daß die Polizei sich mit meiner Person beschäftige. Ich werde von hier zu dem Kommissar gehen, der die Untersuchung in der Mordsache Rickelt führt. Das Spiel ist aus. Oder besser – ich spiele nicht mehr mit.“

Luzie glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

„Ja – was willst du denn dort in aller Welt?“ rief sie geradezu entsetzt. – Gedachte Thomas sich vielleicht selbst den Häschern auszuliefern?! Dann nahm er ihr dadurch die Möglichkeit, die Behörden sich zu Dank zu verpflichten, dann fielen ja all die Voraussetzungen fort, unter denen sie selbst straflos auszugehen gehofft hatte!

„Was ich will?! – Die Polizei darüber aufklären, daß der Tote nicht Horst Rickelt ist!“ sagte er gelassen.

„Das weiß sie bereits!“ entfuhr es Luzie halb gegen ihren Willen.

„So?! – Du scheinst ja sehr gut darüber unterrichtet zu sein, wie weit die Untersuchung vorgeschritten ist.“

Er schaute sie prüfend an.

„Überhaupt, Luzie, – willst du mir nicht sagen, weshalb du eigentlich gestern bei mir warst? Was bedeutete es, daß du mich fragtest, ob Artur vielleicht unter dem Namen eines bekannten Schriftstellers ein Doppelleben geführt haben könne?“

Die Kabarettdiva hatte inzwischen Zeit gefunden, sich über ihr ferneres Verhalten schlüssig zu werden. Um jeden Preis mußte sie dieser Unterredung eine Wendung geben, die sie berechtigte, nachher behaupten zu können, um der Gerechtigkeit willen Thomas ein Geständnis entlockt zu haben. Sie dachte dabei an den hinter dem Notenschrank verborgenen Lauscher, der jedes Wort mitanhörte. Dieser Polizeispitzel mußte für alle Fälle den Eindruck gewinnen, daß ohne Luzie Mollas Eingreifen Karl Thomas nie eine vollständige Beichte abgelegt haben würde.

„Ah – du bist durch diese meine Frage anscheinend mißtrauisch geworden,“ sagte sie schnell. „Du ahnst jetzt, daß ich wußte, wer der Ermordete ist und wer als Mörder in Betracht kommt. Und daraus erwuchs dir die Einsicht, daß auch andere hinter dein Geheimnis kommen könnten, deshalb gedenkst du jetzt der Polizei ein Geständnis abzulegen, welches wohl nur die halbe Wahrheit enthalten kann, – denn selbst liefert sich niemand ans Messer!“ Sie wurde immer eifriger, immer erregter. Noch ehe er Zeit fand, ihre Worte zu widerlegen, sprach sie schon weiter, während ein lauernder Blick sein blasses Gesicht streifte:

„Ich werde dir sagen, wer schuld daran ist, daß die Polizei feststellen konnte, wen sie eigentlich in dem Ermordeten vor sich hat. Ich selbst bin’s, die den Stein ins Rollen gebracht hat – ich allein! Ich wußte, daß dir damit gedient war, wenn Artur nicht wieder auftauchte. Da habe ich einen Mann, der deinem Stiefsohne vollkommen glich, versehentlich an Stelle Arturs verschwinden lassen, – eben Horst Rickelt! Hätte ich dies nicht getan, so wäre die Polizei nicht hinter so manche Dinge gekommen, die schließlich auch ich als den Täter hinwiesen.“

Karl Thomas blieb auch jetzt völlig ruhig.

„So, – also du hast die Hände mit im Spiel gehabt,“ sagte er nur, um dann sofort hinzuzufügen:

„Das ist alles sehr gleichgültig – sehr sogar! Aus dem einfachen Grunde nämlich, weil ich kein Mörder bin. Ich mag manche Schandtaten in der Gier nach Reichtum begangen haben: Blut klebt nicht an meinen Fingern! – Du lächelst zweifelnd?! – Meinetwegen. Zwischen uns ist ja doch alles aus. Ich spreche dich heute zum letzten Mal – wenigstens unter vier Augen. – Wenn du mir geduldig zuhören willst, so werde ich dir die Geschichte erzählen, deren Anfänge Jahrzehnte zurückreichen und deren letzte Kapitel in der Gegenwart spielen.

Als gelernter Bankbuchhalter wanderte ich, kaum dreiundzwanzigjährig, nach Nordamerika aus. Aber auch dort ging mir das Geldverdienen nicht schnell genug. Ich hörte von den Goldfunden in Alaska, der nordwestlichen Halbinsel des größten Kontinents, und Abenteuerlust und Hoffnung auf leichten Gewinn ließen mich nach Dawson City gehen, dem Hauptorte von Klondyke, wie das neue Goldgebiet genannt wurde. In Dawson traf ich mit einem deutschen Landsmann zusammen. Er hieß Richard mit Vatersnamen, war ein ähnlicher Charakter wie ich, nur beruhte bei ihm der Goldhunger auf dem Streben, für Frau und Kinder eine sorgenlose Zukunft zu schaffen. Wir beide, Richard und ich, schlossen uns einer Karawane an, die in die traurige Felsenwildnis von Klondyke mit ihrem acht Monate langem Winter hinauszog, um neue Fundstellen des Edelmetalls zu suchen. Richard nahm seine Familie, seine Frau und ein Zwillingspärchen mit in die Einöde. Er hing an den Seinen mit jeder Faser seines Herzens. Deshalb wollte er sie nicht allein in Dawson zurücklassen, obwohl besonders die erst etwas über ein halbes Jahr alten Knäblein ihm große Unbequemlichkeiten bereiteten. Unsere Expedition entdeckte dann auch tatsächlich in einem romantischen, tiefen Tale überaus reiche Goldadern. Und in diesem Talkessel haben wir ein volles halbes Jahr zugebracht, drei Monate davon in Eis und Schnee. Der Winter forderte manches Opfer. Sieben Leute unseres Trupps starben an den Entbehrungen, und schließlich begann auch Richard zu kränkeln, kurz nachdem ihm noch ein Töchterchen geboren worden war. Er machte es nicht mehr sehr lange. Vor seinem Tode nahm er mir das Versprechen ab, für die Seinen zu sorgen und vertraute mir gleichzeitig an, daß er in der Nähe unseres Lagers noch eine Bonanza[3] gefunden habe. In Gegenwart seiner Frau beschrieb er mir den Ort und bestimmte, daß vier Fünftel der Ausbeute der Bonanza den Seinen, ein Fünftel aber mir gehören solle. – Ich will mich kürzer fassen. Die Einzelheiten interessieren hier auch kaum. – Richard starb, und ich heiratete seine Witwe, nachdem wir glücklich mit den Schätzen der Bonanza nach Dawson zurückgekehrt waren. Sehr bald siedelten wir dann auch nach der alten deutschen Heimat über. Ich besaß ein Vermögen, war sogar für deutsche Verhältnisse reich. Aber dieser Reichtum genügte mir nicht. Mein Weib und meine Stiefkinder beneidete ich um das, was ihnen gehörte. Ich hatte große Pläne im Kopf, wollte ein Börsenfürst werden nach amerikanischem Muster, ein zweiter Morgan oder Vanderbilt. Meine Frau verstand mich nicht. Ängstlich hütete sie das Geld ihrer Kinder. Ich wußte, daß sie es nie zu gewagten Spekulationen hergeben würde.

Wir hatten uns im Osten Berlins in einer Villa an der Spree niedergelassen. Als wir hier kaum zwei Wochen gewohnt hatten, brachte ich einen Plan zur Ausführung, der längst in mir ausgereift war. Ich verstand es, eines Tages zwei meiner Stiefkinder heimlich fortzuschaffen und brachte sie zunächst in Berlin bei einem alten Ehepaar unter. Mit einem Raffinement, das mir mein krankhaftes Streben nach Einfluß und Ansehen verliehen, täuschte ich einen Unglücksfall vor. Alles sprach dafür, daß die Kinder im nahen Fluß ertrunken seien.

Die Wahrheit ist bis heute nicht an den Tag gekommen. Den kleinen Horst und sein Schwesterchen Klarissa gab ich dann an anständige Leute als eigen, nachdem ich die Geburtsurkunden und die Taufscheine gefälscht hatte, damit auch nicht einmal ein Zufall mein Verbrechen aufdecken könne. Wenn ich mich nicht an dem dritten Kinde vergriff, dem anderen Zwilling, so geschah es nur deswegen, weil der kleine Artur ein schwächlicher, geistig sehr zurückgebliebener Knabe war, der kaum alt zu werden versprach, und weil ich fürchtete, das Verschwinden aller drei könnte Argwohn hervorrufen. –

Meine Frau überlebte meinen Schurkenstreich nicht lange. Der Gram verzehrte sie. Ich erbte ihr Geld und daß der beiden scheinbar verunglückten Kinder, gründete damit die Bank in Potsdam und verheiratete mich wieder. Adda, meine zweite Frau, arm, aber aus sehr guter Familie, hat mir, wie du weißt, keinen männlichen Erben geschenkt. Nur eine Tochter besitze ich, – Thekla, die aber schon als kleines Mädel eine seltsame Scheu vor mir hatte. Daß Adda mir weder als Weib noch als Kameradin genügte, ist dir bekannt. Ich habe sie schmählich vernachlässigt, selbst als sie wie eine stille Märtyrerin ihr schmerzhaftes, schleichendes Leiden ertrug und mir durch ihre Seelengröße zum mindesten Ehrfurcht und Achtung hätte abbringen müssen. –

Auf meiner Arbeit ruhte kein Segen. Nach anfänglichen Erfolgen ging es mit der Bank langsam rückwärts. Dann tratest du in mein Leben, Luzie. Der Sinnenrausch machte mich blind. Erst jetzt habe ich eingesehen, daß ich für dich nur – Spekulationsobjekt gewesen bin. Doch – schweigen wir hiervon.

An meinem Stiefsohne Artur erlebte ich auch keine Freude. Wir blieben uns fremd, obwohl ich an ihm gutmachen wollte, was ich an seinen Geschwistern gesündigt hatte. Dann verschwand er. Ich ließ nach ihm forschen, habe viel Geld daran gewandt. Wochen vergingen. Es kam der Tag, an dem du abends mich wieder einmal besuchtest und mir dabei zuredetest, nicht die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen, um über den Verbleib Arturs mir Gewißheit zu verschaffen. Kaum hattest du mich damals verlassen, als mich das Detektivinstitut, welches ich mit den Nachforschungen betraut hatte, anläutete und mir mitteilte, Artur sei gefunden. Er wohnte in Berlin-Moabit unter falschem Namen in einem bescheidenen Zimmer in der Turmstraße nahe dem Kriminalgericht. Obgleich mir nun meine Tochter Thekla vorher mitgeteilt hatte, daß es meiner Frau wieder sehr schlecht gehe, trieb es mich doch nach Berlin. Ich wollte Artur zurückholen. Da ich nun nicht gern ohne Überzieher die Fahrt unternehmen mochte – meinen eigenen hatte ich daheim gelassen –, holte ich mir aus dem Kassenraum den Havelock meines ersten Kassierers, den dieser dort stets für unvorhergesehene Regenfälle hängen hatte. – Ich traf Artur wirklich daheim an. Ein Schließer hatte mir die Haustür öffnen müssen, da ich erst gegen halb elf in Berlin war. Mein Stiefsohn begann mir sofort eine heftige Szene zu machen, warf mir vor, ich hätte sein Leben zerstört, indem ich ihn entmündigen ließ, und wurde schließlich so aufgeregt, daß ich fürchtete, seine Wirtsleute könnten aufmerksam werden. Ich bat ihn daher, mich zu begleiten. Im Freien könnten wir uns ungestört aussprechen. Er kam wirklich mit. Wir gingen in den Tiergarten. Artur beruhigte sich auch jetzt nicht. Auf einem engen Seitenwege zog er dann plötzlich ein Dolchmesser hervor und – stieß es sich selbst in die Brust, ohne daß ich Zeit fand, ihn daran zu hindern. Er starb in meinen Armen. Seine letzten Worte waren ein Fluch für mich und der Wunsch, man möchte mich für seinen Mörder halten. Diese Bemerkung, aus der der ganze krankhafte Haß Arturs gegen mich sprach, brachte mir zum Bewußtsein, daß meine Lage tatsächlich recht bedrohlich war. Ich war Arturs Erbe, die Bank stand halb vor dem Zusammenbruch, ich hatte einen Havelock an, der mir nicht gehörte, kurz, die ganzen Umstände hätten nur zu leicht den Verdacht aufkommen lassen können, ich sei der Mörder meines Stiefsohnes. Blasse Furcht packte mich. Ich überlegte mir, daß auch die Tatsache, daß ich Arturs Verschwinden verheimlicht hatte, zu meinen Ungunsten gedeutet werden konnte. Kurz, auf einmal war entschlossen, einen Raubmord vorzutäuschen. Ich trug die Leiche ins Gebüsch, zog den Dolch aus der Wunde, warf ihn weg, nahm dem Toten alle Wertsachen ab und – fand hierbei in der Tasche des Gummimantels einen blonden falschen Bart, den Artur zu irgend einem Zweck sich besorgt haben mußte. Der Bart war mit Hilfe eines Drahtes leicht zu befestigen. Und er war es erst, der mir den Gedanken eingab, diesem angeblichen Verbrechen ein Ansehen zu verleihen, als handele es sich hier um die Tat eines Geistesgestörten. Deshalb schaffte ich die Leiche im Auto weg, sprang selbst unterwegs aus dem Kraftwagen und begab mich dann nach dem Bahnhof Zoologischer Garten, von wo ich in der dritten Klasse nach Potsdam zurückfuhr. Hier angelangt, brachte ich den Havelock in die Kasse der Bank und eilte hierauf nach Hause. Thekla empfing mich mit der Nachricht, daß meine Frau im Sterben liege. Ich sagte meiner Tochter, ich hätte bis jetzt in der Bank gearbeitet, und sie schöpfte auch keinen Verdacht. –

Adda starb eine Stunde später. Diese beiden traurigen Ereignisse so kurz hintereinander, – erst Arturs Selbstmord, dann der Tod jener stillen Dulderin, haben stärker gewirkt, als ich anfänglich annehmen konnte. Hinzu kam noch der Umstand, daß ich dann aus den Zeitungen ersah, welchem Irrtum die Polizei hinsichtlich der Person des scheinbar Ermordeten zum Opfer gefallen war. –

Ich muß hier noch einschalten, daß ich mich um das Ergehen der beiden von mir entführten Kinder meiner ersten Frau nie mehr gekümmert hatte. Absichtlich nicht. Ich wollte nicht an mein Verbrechen erinnert sein. Erst als Horst Rickelt als Schriftsteller sich einen Namen gemacht hatte, trat die Vergangenheit wieder mit unheimlicher Deutlichkeit und schwersten Gewissensbissen vor meine schuldbeladene Seele. Und nun sollte Horst der Tote sein! Nun erfuhr ich auch, daß er im Begriff gewesen war, seine leibliche Schwester zu heiraten, ersah ich weiter aus den Zeitungsberichten, daß er am Morgen seines Hochzeitstages verschwunden war. Das alles ließ mir keine Ruhe. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Ich habe erst schwer mit mir kämpfen müssen, ehe das Bessere in meiner Seele siegte. Diese Seelenkämpfe, die letzten Tage überhaupt, haben meine Lebenskraft gebrochen. Ich bin dieses schuldbeladenen Daseins überdrüssig. Daher stelle ich mich noch heute der Polizei. Nichts werde ich verschweigen, – nichts!“

Karl Thomas erhob sich müde.

„Leb’ wohl, Luzie! Und – laß dich warnen! Ich weiß, auch dich verführt ein krankhaftes Streben nach Macht und Ansehen zu Taten, die sich einst an dir selbst rächen werden – wie bei mir! – Lebe wohl!“

Er schritt zur Tür. Aber die Hand, die er nach dem Drücker ausgestreckt hatte, sank plötzlich herab. Er wandte sich um.

Hinter ihm hatte eine Männerstimme ihm ein „Bitte – noch einen Augenblick!“ zugerufen.

Lautenborn war aus seinem Versteck hervorgetreten.

Karl Thomas schaute ihn gleichgültig an.

„Ah – eine Falle hat man mir gestellt,“ meinte er mit einem verächtlichen Blick für die Brettldiva, die mit verbissenem Gesichtsausdruck in ihrem Korbsessel saß.

Der Kommissar verbeugte sich leicht vor Thomas.

„Mein Name ist Lautenborn. Ich führe die Untersuchung in der Sache Rickelt. – Diese Falle galt dem Mörder Artur Richards, nicht Ihnen, Herr Direktor, – denn Sie sind keine Mörder! Die Überzeugung habe ich soeben gewonnenen.“

Luzie Molla lachte laut auf.

„Köstlich – wirklich köstlich! Also Sie glauben an diesen Roman, den Thomas mir da eben erzählt hat? – Ich nicht!“

„Es klingt wie ein Roman – mag sein!“ sagte Lautenborn ernst. „Und doch ist’s die Wahrheit. Das Leben baut oft genug seltsamere Geschichten zusammen als es die menschliche Phantasie zu tun vermag.“

Dann wandte er sich an Thomas.

„Kommen Sie, Herr Direktor, – wir haben hier nichts mehr zu suchen.“

Abermals lachte Luzie Molla hinter den beiden Herren höhnisch drein. Sie wußte, daß sie ihr Spiel verloren hatte, daß Lautenborn sie nicht schonen würde. Und all ihre ohnmächtige Wut drängte sich in dieser häßlichen Lache zusammen.

 

Schluß.

In der nächsten Morgenausgabe brachte die „Berliner Post“ zum Falle Rickelt aus der Feder August Lehnerts einen Artikel, dessen letzter Absatz hier wiedergegeben werden soll.

„Es ist nach alledem wohl kaum zu viel gesagt, wenn man den Fall Rickelt als eines der spannendsten Dramen bezeichnet, die die Wirklichkeit je geschaffen hat, ein Drama, in dem die Fäden der Handlung ein Vierteljahrhundert zurück und nach dem wildromantischen Goldlande Klondyke laufen, das Verschwinden Horst Rickelts den ersten Akt, die Auffindung der Leiche Artur Richards den Höhepunkt der dramatischen Steigerung und Direktor Karl Thomas’ Selbstbezichtigung den harmonischen Schluß bilden. –

Ja, einen harmonischen Schluß, der geradezu versöhnend wirkt, da in dem Drama die fehler- und schwächebeladenen Charaktere einer Luzie Molla, eines Ernst Forbach, des athletischen Bomben-Otto und des Ehepaares Edelmann nur allzu sehr in den Vordergrund treten und uns mit Abscheu und Widerwillen gegen all diese Tücke, Verworfenheit und kalte Selbstsucht erfüllen. Förmlich erleichternd tritt dann im Schlußakt die Gestalt des reuigen Sünders Karl Thomas auf, erwirbt noch im letzten Augenblick unsere stille Anteilnahme durch den Sieg der besseren Regungen seiner Seele und durch eine gewisse Lebensgröße, die wohl auch in diesem freiwilligen Geständnis und den damit verbundenen Verzicht auf gesellschaftliches Ansehen und äußere Achtung liegt. –

Aber auch von einer anderen Seite betrachtet dürfte der Fall Rickelt zu den merkwürdigsten großen Ereignissen gehören, die unsere Reichshauptstadt je miterlebt hat. Schuld und Sühne sind zwei Begriffe, die innig zusammengehören. Hier wird das große Publikum umsonst darauf warten, daß die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Die Straftaten, mit denen wir es hier zu tun haben, sind entweder verjährt – so Karl Thomas’ Verfehlungen gegen seine Stiefkinder Horst und Klarissa, bei denen er einen Unglücksfall vortäuschte –, oder sie sind nur auf Antrag verfolgbar, – so das gegen die persönliche Freiheit Horst Rickelts Unternommene. Und diesen Antrag auf Strafverfolgung zu stellen hat der junge Schriftsteller bereits mit der Begründung abgelehnt, daß Luzie Mollas und ihrer Helfershelfer Eingreifen, wenn auch unbeabsichtigt, einen guten Erfolg gezeigt hat, die Verhinderung der Eheschließung zwischen Geschwistern! –

Unser Gerechtigkeitsgefühl mag sich dagegen auflehnen, daß diese Schuldigen nicht vor dem Strafrichter zu erscheinen brauchen. Halten wir uns jedoch vor Augen, daß es für die Anstifterin dieses Komplotts, für die gefeierte Kabarettdiva Strafe genug ist, wenn jetzt ihr Charakterbild unverhüllt vor den Augen der ganzen Welt daliegt, wenn jetzt ihr ehrgeiziger, gewissenloser Flug nach oben mit einem jähen Sturz in die Tiefe endet. –

Der Vorhang fällt. Unser Drama ist aus –“

*

So schrieb August Lehnert in jener Morgenausgabe der „Berliner Post“.

Er hätte in der letzten Zeile seines Artikels vorsichtiger sein sollen, zurückhaltender. Das Drama war damals noch nicht ganz zu Ende.

Ein Vierteljahr später finden wir wieder in einer Morgenausgabe desselben Blattes folgendes:

Der Schlußakkord des Falles Rickelt

Gestern Nachmittag fand in der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche eine dreifache Trauung statt. Vor dem Altar reichten sich die Hände zum Lebensbunde Klarissa Rhoden und Rechtsanwalt Hartung, Horst Rickelt und Margarete Bremer, und als drittes Paar unser Berichterstatter August Lehnert und Thekla Thomas.

Unsere Leser werden sich beim Klang dieser Namen auch an die seinerzeit so gefeierte Kabarettdiva Luzie Molla erinnern. Wir sind nun in der Lage mitzuteilen, daß der einstige Brettlstar vor drei Tagen in Not und Elend in dem Pfandkeller des Edelmannschen Ehepaares, welches die Tiefgesunkene aus Mitleid bei sich aufgenommen hatte, einer Lungenentzündung zum Opfer gefallen ist. –

Jetzt rauscht der Vorhang endgültig herab.

 

 

Anmerkungen:

  1. Der Havelock (nach Henry Havelock (1795–1857), britischer General), Inverness-Mantel oder MacFarlane war ein im 19. und noch im Anfang des 20. Jahrhunderts weit verbreitetes Herrenbekleidungsstück. Es handelt sich um einen Mantel, der zwar Armlöcher, aber keine Ärmel hatte, also um einen Umhang. Da der Mantel keine Ärmel aufweist, wird er meist über einem Sakko getragen. Zusammen mit dem Deerstalker-Hut steht er für die Kleidung von Sherlock Holmes.
  2. lateinisch für: Wem zum Vorteil.
  3. Eine Stelle, wo das Gold in reinen Kieseln vorkommt.