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Das Haus des Hasses

 

 

Das Haus des Hasses

 

Kriminal-Roman

von

Walther Kabel

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Copyright 1921 by Verlag mod. Lektüre G. m. b. H.,
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

Erstes Kapitel.

Draußen wütete der Wirbelsturm, jagte Eiskörner gegen die Scheiben.

Ich ließ die Hand mit dem amtlichen Schreiben des Gerichts in Palmburg sinken. Meine Augen wanderten von dem Papier zu dem Brotrest hin, der auf einem Pappteller neben der Petroleumlampe lag. Es war, als wanderten diese Augen von einer glücklichen Zukunft ängstlich in die jämmerliche Gegenwart zurück: das amtliche Schreiben war die Zukunft, das trockene Brot – mein Nachtmahl! – die Gegenwart –

Ich dachte an das, was meine Mutter mir so und so oft gesagt hatte –

„– Nimm nie etwas von ihr an, nicht mal eine Kartoffel! Auch eine Kartoffel kann vergiftet sein!“ – Für meine Mutter war eine Kartoffel das Allergeringste. Andere sagen in solchen Fällen Heller oder Pfennig.

Diese Warnung hatte sich schon dem Knaben mit glühendem Griffel ins Hirn gebrannt. Und in dem Siebenundzwanzigjährigen lebte sie noch genau so eindrucksvoll, – wie ein Ton, der unsere Nerven einmal erzittern ließ und den wir ständig im Ohr haben.

Es war die Fanfare des Hasses –

Und all das um meinen Vater, der zuviel Liebe gefunden hatte, den ich noch vor mir sehe, wie er scheu und geduckt durch das Dasein schlich, in den Augen stets die unsichere Frage:

„– Warum mußte gerade ich dies Traurige anrichten gegen meinen Willen –?! – Warum nur –?!“

Die Frage lag in seinem Blick als großes Leid. Sein Lächeln war stets so gequält. Und er schüttelte stets mißbilligend den Kopf, wenn meine Mutter der ersten Warnung hinzufügte:

„– Sie ist vergiftet, – glaube mir, – denn „sie“ haßt dich, wie sie uns drei haßt, weil Du sein und mein Kind bist.“

Diese Sätze erfuhren selten eine geringe Änderung. Die Fanfare des Hasses verfügt nicht über viele Töne. –

Von dem Brotrest gingen die Augen gierig zum Reichtum zurück.

Da stand in der charakterlosen Kanzlistenschrift: „Das Grundstück wirft einen jährlichen Überschuß von 1200 Mark ab.“

Monatlich hundert Mark, täglich also ein gesichertes Einkommen von mindestens 3,30 Mark, rechnete ich zum vierten Male mir vor.

Die Fanfare wurde schon leiser. –

Nachdem ich nochmals den Pappteller mit meinem Abendbrot mir angesehen hatte, stand ich auf und war mit meinem Entschluß fertig.

Ich ging zu meiner Wirtin hinüber, zeigte ihr die Benachrichtigung von der Erbschaft und borgte sie um zwanzig Mark an. Dann begab ich mich in den „Blauen Dunst“.

Als ich, seit vierzehn Tagen zum ersten Male wieder, die Stammkneipe betrat, fand ich nur den dichtenden Kommißbock und den Menümaler am runden Tische mit dem Pappschilde „Künstlerverein Blauer Dunst“ vor.

Oberleutnant von Bock war natürlich in Zivil. Anders konnte er auch nicht gut in die Kutscherkneipe kommen, da er ohnehin seiner anständigen Kleidung wegen stets unangenehm auffiel.

Die beiden Vereinsbrüder begrüßten mich mit jener besonderen Herzlichkeit, wie sie zwischen uns üblich war, nämlich gar nicht. Der Menümaler (er lebte von Entwürfen für Ulkpostkarten und Menükarten und hieß für die bürgerliche Umwelt Hosea Garblig) begann sofort die Unterhaltung mit der Bitte, ich soll ihm doch bis morgen drei Mark borgen. Den dichtenden Kommißbock konnte er nicht mehr anpumpen, da die Summen „bis morgen“ inzwischen wohl beinahe eine vierstellige Zahl erreicht hatten.

Ich zeigte dem Oberleutnant die Mitteilung des Amtsgerichts von der Erbschaft und erhielt von ihm zwanzig Mark daraufhin, gab dem Menümaler drei Mark und bestellte mir eine doppelte Portion Eisbein mit Sauerkohl, ein großes Helles und das Reichskursbuch, in dem ich mich dann aber nicht zurechtfand, so daß der Kommißbock mir einen günstigen Zug nach Palmburg aussuchen mußte. –

Vierzehn Stunden Personenzug bis Palmburg waren selbst für meine robuste Gesundheit etwas viel. Ein Taxameter brachte mich vom Bahnhof immer an einem schmalen Fluß entlang durch eine endlose Vorstadt, die den Namen Bäckershagen führt, nach der Ziegengasse.

In Berlin hatten wir zwei Grad Frost gehabt, hier kämpfte mein dünnes Pelerinensieb gegen acht Grad an. Ich merkte, daß ich im Osten Deutschlands war.

Der Schnee auf der Straße knirschte, der Fluß war zugefroren und die Kinder tummelten sich auf dem Eise.

Die Droschke bog rechts ab in einen Hohlweg, hinter dem sich bewaldete Hügel auftürmten. Hier gab es am Wege nur noch vereinzelte Häuser, und in der Mitte dieses Ablegers der Vorstadt stand als größtes Gebäude Ziegengasse Nr. 9, mein neuer Besitz.

Die Taxe rumpelte zur Stadt zurück. Ich beschaute mir das Haus. Es lag ein gutes Stück von der Straße entfernt, inmitten eines Gartens, der mit Stacheldraht hoch eingezäunt war.

Daß es altehrwürdig war, sah jeder auf den ersten Blick. Über drei niedrigen Stockwerken hing ein vorspringendes Dach wie ein großer Sargdeckel. Die Dachziegel waren grünbemoost und stachen angenehm ab gegen den braungelben Anstrich der Mauern und den hellgelben der kleinen Fenster. Die rechte Giebelwand war bis zur halben Höhe des dritten Stocks unverhältnismäßig dick. Es sah so aus, als ob man das Gebäude hier an eine einzelne, starke Mauer, die von früher her noch stehen geblieben war, angeklebt hatte.

Ich sah nach der Uhr. Ich wollte feststellen, wann ich von meinem Grundstück Besitz ergriff. Meine Sieben-Mark-Nickeluhr zeigte genau drei Minuten vor halb zwölf.

Der bleiche Schein der Wintersonne tauchte jetzt plötzlich das Haus in ein eigentümlich verschwommenes Licht. Ich nahm diesen Gruß des Tagesgestirns als ein gutes Vorzeichen entgegen, obwohl gleich darauf graues Schneegewölk die bisherige Beleuchtung wiederherstellte.

Drei ausgetretene, breite Steinstufen führten zu der mit eisernen Ziernägeln beschlagenen Haustür empor.

Mit einem bisher nie gekannten selbstsicheren Gefühl legte ich die Hand auf die Klinke, schob die Tür auf und trat ein. Mein erster Gedanke beim Anblick dieses geräumigen Hausflures war: unnötige Raumverschwendung!

Der Flur war sehr hell, denn über der Haustür gab es noch ein breites Glasfenster, ebenso gegenüber, wo eine zweite Tür auf den Hof mündete.

In dem amtlichen Schreiben hatte gestanden: „Der Schlossermeister Gottlieb Hähnchen, einer der Einwohner, verwaltet bis zu Ihrem Eintreffen das Grundstück.“

Hähnchen wohnte rechter Hand im Erdgeschoß.

Ein trauliches Zimmer mit fauchendem Ofen und vielen gerahmten Bibelsprüchen an den Wänden erwärmte mich sehr schnell und wurde die Stätte, wo ich näheres über die Tante, meinen Besitz, die Mieter, die Einnahmen und Ausgaben und so weiter erfuhr.

Wir saßen am viereckigen Eßtisch. – Hähnchen war mittelgroß, gut genährt, wenn auch schlank und sehnig, und bieder und treuherzig; seine Frau einen Kopf größer, starkknochig, poltrig, aber gutmütig.

Ich mußte mit ihnen zusammen Mittag essen, lernte so die drei Lehrjungen kennen und ein neues Gericht: Barse[1] mit Klößen, säuerlich. – Es schmeckte vorzüglich.

Das Gespräch drehte sich immer um das Haus und die Schwester meiner Mutter, die Tante Hermine, die es mir hinterlassen hatte.

Es gab im ganzen sieben Mietspartien. Ich muß sie aufzählen, wie es Hähnchen mir gegenüber tat, denn alle diese Menschen standen, wie sich später herausstellte, in wunderlichen Beziehungen zueinander und hatten ihren Teil an den bösen Ereignissen, die meiner harrten.

Erdgeschoß, rechts: Hähnchens, nebst Werkstatt im Keller. – Links: Amtsschreiber Sauerbier nebst Familie, sechs Personen.

Erster Stock, rechts und links zu einer Wohnung vereinigt: Rentier Marville nebst Tochter und Köchin.

Zweiter Stock, rechts: Tante Hermine Löckner. – Links: pensionierter Kanzleirat Wehrhut, Junggeselle.

Dritter Stock, rechts und links zu einer Wohnung vereinigt: Major a. D. von Balting-Gattary, fünf Personen.

Mansarde, rechts: Kunstmaler Merling, Junggeselle. – Links: Volksschullehrer Bruchstück, Junggeselle. –

Jede Wohnung, mit Ausnahme der Mansardenstuben, bestand aus drei Zimmern nebst reichlichem Zubehör, die Doppelwohnungen aus sieben Zimmern, da hier die zweite Küche in eine Stube umgebaut war.

Bis auf den Kanzleirat Wehrhut, der erst am 1. Januar, also vor fünf Wochen eingezogen war, wohnten sämtliche Mieter bereits länger als fünf Jahre im Hause.

Hähnchen schickte jetzt die Lehrlinge nach oben in den zweiten Stock rechts und ließ heizen. – Auf meinen Wunsch.

„Wie Sie wollen, Herr Malwa, – wie Sie wollen!“ sagte er nochmals sehr gedehnt, als die Jungen draußen waren.

Frau Hähnchen räumte den Tisch ab, und wir Männer steckten uns eine Zigarre an.

Dieses wiederholte „Wie Sie wollen“ machte mich stutzig.

„Natürlich werde ich die leere Wohnung beziehen,“ meinte ich. „Hätte ich gewußt, daß dieses Haus so hübsch im Freien liegt, dann hätte ich meine Berliner Wohnung gleich gekündigt. Ich hänge nicht an Berlin. Ich werde hier in Ruhe arbeiten können. Sie wissen, ich bin Schriftsteller.“ Das letzte sagte ich mit Selbstgefühl, obwohl ich mich nach der durch die Verhältnisse bedingten Aufgabe meines Studiums – ich hatte Oberlehrer werden wollen – mit der Feder nur sehr knapp vor dem Verhungern geschützt hatte.

„So – so – ruhig arbeiten!“ murmelte Hähnchen, indem er die Hände über dem Leibe faltete. Sein bartloses, rosiges Gesicht sah jetzt beinahe kummervoll aus, und seine leicht von dem Staube der Werkstatt entzündeten Augen suchten einen der Haussegen an der Wand. Unwillkürlich folgte ich dem Blick. Der Haussegen lautete:

Vor böser Geister Schar
Du, Herrgott, uns bewahr’!
Amen.

„Zweifeln Sie daran, Meister, daß man hier mit dem Kopf arbeiten kann?“ fragte ich, um einen Gegensatz zu seiner Tätigkeit als Schlosser und demnach Handarbeiter herzustellen.

Er zuckte die Achseln.

„Es ist eine ganz niederträchtige Geschichte, Herr Malwa!“ meinte er. „Das Haus könnte tausend Mark im Jahr mehr abwerfen, wenn – ja, wenn – glauben Sie an übernatürliche Dinge?“

Dieser Satz überraschte mich ein bißchen. Dann lächelte ich.

„Ich bin ein aufgeklärter Mensch,“ erwiderte ich mit einer Ironie, die Hähnchen treffen sollte. „Es spukt hier wohl? Das wäre ja sehr interessant, sehr! Ich liebe Hausgeister –“ und ich blickte nach dem eingerahmten Spruche hin, den er vorher mit den Augen gesucht hatte.

„Soll ich es Ihnen erzählen?“ fragte er, indem er wie mißbilligend den biederen Kopf hin und her wiegte.

„Nein – ich danke!“ sagte ich schnell. „Geistern muß man ohne Voreingenommenheit gegenübertreten.“

„Vielleicht wär’s anders doch besser –,“ brummelte er vor sich hin. Und Frau Guste Hähnchen unterstützte ihn feierlich: „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde –!“ Dann ging sie hinaus.

Ich stand auf. „Ich möchte mir jetzt mein neues Heim ansehen.“

„Hm – ja, – geheizt ist ja nun. Aber – nachts stellen wir Ihnen doch wohl besser ein Bett hier bei uns auf, Herr Malwa,“ sagte er leise und beschaute seine leicht geschwärzten Finger.

„Unsinn!“ erklärte ich kurz, verbesserte mich aber schnell: „Natürlich ist es ja sehr freundlich von Ihnen, dieses Angebot. Aber – es hausen hier doch noch andere Junggesellen, denen der liebenswürdige Hausgeist auch nicht den Hals umdreht. Also –“

Er erhob sich. Und mir war’s, als seufzte er abermals.

Wir gingen in den Hausflur hinaus, wollten gerade die breite Treppe hinauf, als Frau Hähnchen hinter uns her kam.

„Gottlieb, Du weißt, der Herrn Sanitätsrat hat Dir eine halbe Stunde Mittagsschlaf verordnet,“ rief sie besorgt. „Ich werde mit Herrn Malwa nach oben gehen.“

Ich schickte nun selbst den Meister zurück. Er sträubte sich erst.

„Gustchen, auf dies eine Mal –“ Da nahm ich ihn beim Ärmel und schob ihn hinter die Tür.

Frau Hähnchen blieb dann auf dem Vorflur der ersten Etage stehen. Rechts und links führten die Türen in die hier zu einer Gelegenheit verschmolzenen Wohnungen. An der rechten Tür war ein Messingschild mit der Aufschrift „Percy Marville“. – Aha, – also der Rentier!

Die starkknochige Meisterin flüsterte mir zu: „Die gehören auch nicht in dieses anständige Haus!“ Dabei wies sie auf das Messingschild und sie fügte allerlei Bemerkungen hinzu, die mich zu ebenso vielen Fragen veranlaßten, bis ich ungeduldig sagte: „Heraus nun endlich mit der Wahrheit –!“

In diesem Augenblick war es mir, als ob im oberen Flur eine Tür leise geöffnet wurde, als ob dann zweimal eine Diele knarrte und nun – das vernahm ich ganz genau – eine elektrische Glocke kurz anschlug.

Aber meine Aufmerksamkeit war doch mehr dem zugewandt, was die Meisterin soeben gesagt hatte.

„Weshalb sollen also Marvilles nicht –“

Weiter konnte ich den Satz nicht aussprechen. Ich hatte fragen wollen, was gegen den Rentier und seine Tochter denn nun eigentlich vorläge.

Ein dumpfer Knall ließ mich verstummen. Es hatte geklungen, als ob ein Schuß oben in der zweiten Etage gefallen war – nicht im Flur, sonst hätte das Treppenhaus die Schallwellen deutlicher zurückwerfen müssen.

„Mein Gott – was war das?“ stieß Frau Guste hervor und packte voll Angst meinen Arm. Sie sah ganz verstört aus. Ich hätte ihr bessere Nerven zugetraut.

„Ich glaube, es war ein Schuß,“ flüsterte ich zurück.

Da – täuschte ich mich –? Wieder knarrte oben zweimal eine Diele – Ja – es war so, – mein Ohr hatte mich sicher nicht betrogen.

Wir standen und schauten uns unsicher an.

Die Meisterin beleckte sich die Lippen, strich sich mit der Rechten das Haar glatt.

„Es ist ein unheimliches Haus,“ seufzte sie.

Da ärgerte ich mich über sie und stieg schnell die Treppe weiter nach oben. – Nun war ich im zweiten Stock. Rechts ein Porzellanschild über dem Druckknopf der Türglocke: „Hermine Löckner“. Dort ging’s also in mein neues Heim.

Die linke Flurtür trug nur eine mit zwei Reißstiften befestigte Visitenkarte.

Ah – diese Tür stand eine Handbreit auf!

Blitzschnell durchzuckte mich ein aus dem Nichts aufsteigender Verdacht: Hinter dieser Tür ist der Schuß gefallen!

Neben mir Schritte – Frau Hähnchen!

„Mein lieber Gott, Herr Malwa, wenn hier man bloß nicht wieder sich einer umgebracht hat,“ hauchte das starke Weib ganz verängstigt.

Ich wurde aufmerksam. „Wieder –?! Frau Hähnchen? – Was heißt das –?!“ fragte ich mißtrauisch.

Sie bedeckte das Gesicht mit ihren großen Händen, schluchzte ganz leise, würgte an Tränen.

„Ihre Tante hat sich doch auch –,“ stöhnte sie gramvoll hinter den Händen hervor.

Ich fuhr nun doch zusammen.

„Etwa – selbst das Leben genommen?“ forschte ich hastig.

Sie nickte nur und behielt die Hände noch immer wie in stillem Grauen vor dem Gesicht.

Ich gebe zu – auch mir lief es plötzlich kalt über den Rücken.

„Selbstmord, Meisterin?“ fragte ich kurz, indem ich eine Gelassenheit heuchelte, hinter der doch schon eine bange Scheu grinste. Mir war das eingefallen, was meine Mutter so und so oft von der vergifteten Kartoffel gesagt hatte, – die Fanfare des Hasses erklang wieder –

„Sie hat sich mit Gas vergiftet, die Hähne der Krone in ihrem Schlafzimmer geöffnet, – ist erstickt,“ erklärte Frau Guste mit einer Stimme, die ganz heiser und undeutlich war.

„Also deshalb soll ich bei Ihnen Unterkunft für die Nacht erhalten –?!“ sagte ich, nur um nicht zu schweigen. Die Frau sollte nicht merken, daß das Haus auch mir bereits unheimlich zu werden begann.

„Weil – weil – doch der Herr Bruchstück sie als Geist gesehen hat,“ erwiderte sie und ließ die Hände sinken.

„Bruchstück?“

„Der Lehrer aus der Mansarde links.“

„Ein Lehrer –?! Der sollte doch an derlei Dinge besser nicht –“

Von oben eine scharfe Stimme, die wie ein eisiger Guß auf unsere Körper fiel –:

„Meisterin – he, – sind Sie’s?!“

Wir waren zusammengezuckt.

„Jawohl, Herr Major, – jawohl,“ rief sie mit rückwärts geneigtem Kopf.

Schritte dröhnten die Treppe abwärts.

Major von Balting-Gattary stellte sich mir vor.

„So – der Erbe also! Na gut! – Jetzt kann man nicht mal mehr sein Verdauungsschläfchen halten!“ polterte der magere Herr, in dessen blaurotem Gesicht ein grauer Schnurrbart sich rechts und links von der starken Nase hochsträubte. „Irmgard sagt, es sei bestimmt ein Schuß gewesen. Verdammte Bude dies! – Wer hat geschossen, he?!“

„Keine Ahnung, Herr Major.“

„Irmgard meint, hier in dieser Etage müßte der Schuß gefallen sein,“ knurrte er und ließ seine Blicke über die Tür des Kanzleirats Wehrhut hingleiten. „Ah, die Tür steht auf! Ich muß doch mal –“

Er trat näher nach links, drückte auf den Knopf der elektrischen Glocke, die sofort im Flur der Wohnung laut zu schrillen begann.

Wir warteten. – Abermals drückte der Major.

„Die Geschichte gefällt mir nicht,“ meinte er. „Selbst wenn der Kanzleirat geschlafen hätte, müßte er jetzt munter geworden sein.“

Er schob die Tür langsam auf. Sie schlug nach innen, und nun konnten wir den Flur überblicken.

Die Zimmertüren, die in ihn einmündeten, hatten oben matte Glasscheiben, so daß genügend Licht den Korridor erhellte.

Frau Hähnchen kreischte auf, und der Major und ich prallten zurück.

In der Mitte auf dem roten Plüschläufer lag ein Mensch auf dem Rücken – regungslos – starr –

Der Major faßte sich ein Herz und trat näher. Frau Hähnchen und ich standen wie die Bildsäulen da. Dann nahm ich alle meine Willenskraft zusammen und folgte Herrn von Balting.

Er deutete mit dem Finger, sich tief herabbeugend, auf eine blutige Stelle etwa vier Zentimeter über dem rechten Auge des Daliegenden und sagte: „Es ist der Kanzleirat. Schuß in den Kopf, tödlich ohne Zweifel! Kenne das Aussehen derartiger Wunden. War in den Kolonien! – Eine Waffe ist nirgends zu bemerken. Also nicht Selbstmord, sondern –“ Er sprach das andere nicht aus, richtete sich auf und fuhr fort: „Kommen Sie, wir werden die Wohnung abschließen und die Polizei benachrichtigen.“

In der Flurtür steckte der Schlüssel von innen. Herr von Balting nahm ihn dann an sich.

Wir hörten Frau Guste die Treppe hinablaufen. Der Meister Hähnchen würde einen schönen Schreck bekommen –!

„Ich habe Telephon oben bei mir. Bitte, wenn Sie mich begleiten wollen, Herr Malwa.“

Ich schritt neben Balting die Stufen hinan.

„Eine ganz verdammte Bude!“ knurrte er wieder. „Ich beneide Sie um diese Erbschaft nicht!“

Das Telephon hing im Flur. Als der Major gerade das Amt anrief, erschien ein junges Mädchen, stutzte bei meinem Anblick und blieb stehen, bis Herr von Balting zu mir sagte: „Leitung besetzt.“ Dann stellte er mich seiner Tochter Irmgard vor.

„Meine Jüngste, Herr Malwa. Angehender Lenbach, worauf schon die Malschürze hinweist.“

Irmgard war blond, mittelgroß, schlank und auffallend hübsch. Dabei hatte ihr Gesicht einen deutlich hervortretenden Zug von Energie und Selbstbewußtsein.

„War es nun eigentlich ein Schuß, Papa?“ fragte sie ahnungslos.

Er erzählte ihr kurz, was wir in dem Flur unten gefunden hatten.

Irmgard verriet kaum ein Zeichen des Schreckens. Nur ihre Augen wurden größer. Sie mußte ein außerordentlich starker Charakter sein.

„An der Brücke drüben steht zumeist ein Schutzmann oder patrouilliert doch wenigstens in der Nähe auf und ab,“ sagte sie jetzt schnell. „Man müßte ihn holen und des Kanzleirats Wohnung durchsuchen. Vielleicht hält sich der Mörder dort noch versteckt.“

Ich fand dies sehr zweckmäßig und erklärte mich bereit, nach der Brücke zu laufen, die ich ja von der Herfahrt kannte und die keine vierhundert Meter entfernt war.

Gleich darauf eilte ich die Treppe hinab. Auf dem Flur des ersten Stockwerks begegnete ich einer jungen Dame, die sich dann aber schnell hinter die Tür des Rentiers Marville zurückzog, nachdem sie mich mit seltsamem Blick gemustert hatte.

Auch das Ehepaar Hähnchen kam mir entgegen. Der Meister wollte etwas fragen, ich stürmte jedoch die Treppe weiter abwärts, indem ich ihm zurief: „Ich hole die Polizei!“

Barhäuptig rannte ich durch den Vorgarten. An der Gartenpforte drehte ich mich – es war ein bloßer Zufall – nach dem Hause um und überflog die Fenster mit den hellen, freundlichen Gardinen.

Da – mein Blick muß ganz stier gewesen sein! – an einem Fenster des zweiten Stockwerk links ein Gesicht – ein Männergesicht, das blitzschnell wieder verschwand.

Ich stand wie angewurzelt. Und dann an einem der Fenster der Wohnung Marvilles, also im ersten Stock, genau unter dem „anderen“ Fenster, die Gestalt eines Weibes – eines jungen Weibes, – derselben, die so eilig hinter der Tür des Rentiers sich vor meinen Blicken in Sicherheit gebracht hatte.

War’s Marvilles Tochter –? Und – schaute sie mir nach?!

Noch ein Blick eine Etage höher, zu den Fenstern des Ermordeten. Doch dort zeigte sich jetzt nichts –

Ich rannte weiter, fand nach fünf Minuten den Schutzmann und nahm ihn mit nach meinem Hause.

 

Zweites Kapitel.

„Langsam, Herr, – langsam!“ keuchte der dicke Beamte auf der Treppe.

Ich eilte voraus. Der Major hatte seine Flurtür nur angelehnt. Ich hörte, daß er telephonierte, trat leise näher.

Er hatte jetzt mit dem Polizeipräsidium Verbindung. Nach einem Weilchen hängte er den Hörer weg.

„Eine Kommission wird gleich hier sein,“ meinte er.

Der Schutzmann stand nach Luft schnappend vor uns, nahm jetzt seine Pistole aus der Tasche.

Wir stiegen in den zweiten Stock hinab. Der Major berichtete, daß er das Ehepaar Hähnchen wieder nach unten gejagt hätte.

„Sonst wäre ja das ganze Haus zusammengelaufen!“ meinte er. „Meine Irmgard hat mich dann auf einen sehr guten Gedanken gebracht. Meister Gottlieb hat sich unten im Hausflur postiert und aufpassen müssen, daß niemand die verwünschte Bude verläßt, – niemand, sei es, wer es sei, denn hier kommt ja jeder als Mörder in Betracht, der sich im Hause befand, als der Schuß fiel.“

Ich erklärte, Hähnchen sehr wohl im Hausflur bemerkt zu haben.

Dann steckte der Major den Schlüssel ins Schloß und öffnete Tür mit der Visitenkarte „Karl Wehrhut, Kanzleirat a. D.“.

Die Tür ging auf, und – Herr von Balting rief:

„Ja – wo – wo ist denn –?!“

Ich rieb mir die Augen, starrte wieder und wieder auf den roten Plüschläufer – es blieb dasselbe Bild: roter Läufer, – aber auch nichts weiter –

Der Tote war verschwunden –!

„Er wird sich in eins der Zimmer geschleppt haben, wird eben noch nicht tot gewesen sein,“ meinte der Schutzmann.

Da erinnerte ich die beiden leise an das Gesicht, das ich am Fenster gesehen hatte.

„Der Kerl muß ja noch hier sein,“ meinte der Major. Dann schloß er die Flurtür von innen ab und steckte den Schlüssel zu sich.

Wir drei waren überzeugt, sowohl den Kanzleirat als auch „das Gesicht am Fenster“ bald vor uns zu haben.

Man wird es begreiflich finden, daß wir unter diesen Umständen etwas zögernd die einzelnen Räume hintereinander betraten.

Ich will übergehen, wie wir suchten, – wie genau, wie aufgeregt, wie verblüfft und schließlich wie fassungslos –

Wir fanden keinen Menschen in der Wohnung.

Weder einen lebenden, noch einen verwundeten, noch einen toten –!

Wir standen dann in einem der ärmlich ausgestatteten Vorderzimmer und schauten uns kopfschüttelnd an.

Dann zeigte ich auf das eine Fenster:

„Dort zwischen den Gardinen sah ich das Gesicht –“

„Vielleicht haben Sie sich getäuscht!“ brummte der dicke Schutzmann.

Ich widersprach lebhaft.

Und der Major meinte: „Ebenso gut wie der Kanzleirat kann auch der andere sich in Luft aufgelöst haben.“ Er belächelte aber nur allein diesen schwachen Scherz.

Der Polizist schob seine Pistole in das Futteral zurück. Er war trotz seiner Korpulenz sehr eifrig und sehr „gerissen“, um seine plumpe Schlauheit ebenfalls zu betonen.

Plötzlich ging er dann in den Flur hinaus, und wir folgten ihm unwillkürlich. Er hatte schnell die Gaslampe angezündet, und bei deren Schein rutschte er nun auf den Knien auf dem Läufer herum, bis er sichtlich befriedigt rief: „Hier ist ein frischer Blutfleck!“, wobei er dem Major und mir vielsagend zunickte.

Stöhnend richtete er sich wieder auf und erklärte, er würde die Wohnung nochmals durchsuchen. Wir halfen ihm. Wäre auch nur eine Maus hier versteckt gewesen, wir hätten sie jetzt gefunden. Der Beamte prüfte auch sämtliche Fensterverschlüsse – es waren überall, der Jahreszeit entsprechend, Doppelfenster vorhanden – und sagte dabei zu uns: „Man kann sich ja auch an einem Strick hinablassen oder an einer Dachrinne entlangklettern.“ Die Fenster waren jedoch sämtlich fest zu.

Das Rätsel wurde immer dunkler.

Der Major schloß jetzt die Flurtür auf, wir verließen die Wohnung, und der Schlüssel wurde von außen nach zweimaliger Umdrehung im Schlüsselloch gelassen. Der Beamte, er hieß Friedrich Lanser, blieb auf dem Treppenflur, und der Major und ich gingen hinunter zu Meister Hähnchen.

Dieser hatte sich einen Schafpelz und dicke Filzgaloschen übergezogen und schritt im Hausflur auf und ab, indem er als Spazierstock und Waffe einen langen Kavalleriesäbel in der Hand hielt.

In diesem winterlichen und kriegerischen Kostüm hatte ich ihn bereits gesehen, als ich mit dem Schutzmann das Haus betreten hatte.

Er sagte uns: „Die Herren können überzeugt sein, daß niemand unbemerkt an mir vorüber gekommen ist.“ Sein Gesicht strahlte vor Eifer.

Als der Major ihm nun erzählte, daß die Wohnung Wehrhuts leer wäre, bekam er einen großen Schreck, ließ sein kriegerisches Instrument fallen und rief: „Nicht möglich!“

Immer wieder fragte er, ob wir auch genau gesucht hätten.

Uns fror ebenfalls in dem kalten Flur, aber ihm bebte jetzt vor Aufregung die Kinnlade, so daß er kaum sprechen konnte.

Dann kam die Kriminalpolizei: zwei Kommissare, ein Arzt und zwei Geheimschutzleute, alle in Zivil. Ihr Auto hielt draußen vor der Gartenpforte.

Palmburg ist eine Seestadt mit regem Schiffsverkehr und vielen Fabriken, und ihre Polizei wurde, wie ich später merkte, allgemein gelobt. Besonders der ältere der Kriminalkommissare, ein Herr Arthur Märker, wurde geradezu in den Himmel gehoben.

Und diesen Märker lernte ich jetzt schon am ersten Tage meiner Anwesenheit in Palmburg kennen und schätzen.

Unten im Flur gab der Major ihm einen kurzen Überblick über die Vorgänge, die mit dem seltsamen Verbrechen zusammenhingen. Märker beließ dann Hähnchen auf seinem Türhüterposten, gab den beiden Geheimschutzleuten leise einige Befehle und ging mit uns nach oben. Die beiden Kriminalbeamten folgten als letzte des Zuges, der sich nun die Treppen aufwärtsbewegte, blieben jedoch im ersten Stock zurück und läuteten bei Marville an.

In demselben Zimmer, in dem ich den Mann am Fenster beobachtet hatte, vernahm Märker die Hausbewohner, nachdem er sich in der Wohnung sehr genau umgesehen und den Major und mich durch sein beharrliches Schweigen schwer enttäuscht hatte. Wir hatten eben gehofft, daß er wenigstens eine Andeutung fallen lassen würde, was er von dem Verschwinden des Verletzten halte.

Zuerst wurden die Personen verhört, die den Schuß deutlich vernommen hatten: der Major, Irmgard von Balting, Frau Hähnchen und ich.

Es war ganz klar, daß es sich nur um eine einzige schußähnliche Detonation handelte, die wir vier zu derselben Zeit gehört hatten.

Märker, ein schlanker Mann in den Dreißigern, blond und bartlos, im Äußeren etwas an einen Offizier in Zivil erinnernd, schrieb sich jede Antwort genau auf. Ich hätte das nicht nötig gehabt. Mein Gedächtnis ist vorzüglich. – Mich fragte er unter anderem:

„Sie nehmen mit aller Bestimmtheit an, Herr Malwa, daß Sie nicht das Opfer einer Sinnestäuschung geworden sind, als Sie einen Männerkopf zwischen den Gardinen dieses Fensters dort zu erblicken wähnten?“

„Von Sinnestäuschung kann keine Rede sein. Ich mag Schriftsteller sein, gewiß, – aber ich bin in vielem ein sehr kühlabwägender, nüchterner Mensch.“

„Können Sie das Gesicht beschreiben?“

„In großen Zügen ja. – Der Mann war blond, hatte starkes, gescheiteltes Haar und einen kurzgehaltenen Spitzbart.“

Der Major warf mir einen erstaunten Blick zu. Märker entging dies nicht.

„Fällt Ihnen bei diesen Angaben Herrn Malwas etwas auf?“ fragte er Balting.

Der wurde ein wenig verlegen. „Hm – hier im Hause –,“ er hüstelte, – „ja, hier im Hause wohnt ein Kunstmaler, hm –, und auf den –“

„– paßt Scheitel und Kopfhaar,“ ergänzte Märker. „Wie heißt der Betreffende?“

„Heinz Merling.“

„Ah, – etwa der, der unlängst in Berlin die silberne Medaille für sein Bild „Fischkutter im Mondlicht“ erhielt?“

„Derselbe.“

Inzwischen war mir eingefallen, daß ich meiner Aussage noch etwas hinzufügen konnte.

„Der Mann am Fenster trug fraglos zu dem weißen Stehkragen eine schwarze, große Schleife,“ sagte ich zu Märker, der darauf nur mit einem „Danke!“ antwortete und sich dann mit seinem Kollegen flüsternd besprach. Dieser ging jetzt schnell hinaus.

„Ich möchte noch etwas erwähnen,“ meinte ich zögernd. „Ob diese Kleinigkeit von Belang ist, weiß ich allerdings nicht. Gerade unter diesem Fenster dort stand ein Stockwerk tiefer eine junge Dame hinter den Scheiben und schien mich zu beobachten – schien!“

Märker schrieb und fragte: „Äußeres?“

Ich überlegte und gab dann sehr genau an, was ich von der Dame, die ich auf der Treppe sah, als ich den Schutzmann holen ging, im Gedächtnis behalten hatte.

„Das ist Fräulein Doris Marville,“ erklärte der Major.

Märkers Bleistift flog im Eiltempo über das Papier.

Der andere Kommissar kehrte zurück und flüsterte wieder mit Märker, der dann laut sagte: „Es ist noch hell genug. Machen wir den Versuch!“ Und mir sich zuwendend: „Wollen Sie bitte nach der Gartenpforte gehen und wieder nach diesem Fenster hinschauen.“

Ich eilte davon. Ich wußte, was für ein Versuch hier angestellt werden sollte.

Inzwischen war es doch schon ein wenig dämmerig geworden. Trotzdem genügte dann ein Blick auf das Haus – mein Haus: dort am Fenster stand jetzt derselbe Mann – blond – schwarze Schleife. –

Als ich das Vernehmungszimmer wieder betrat, schaute mir Märker fragend entgegen. Vor ihm am Tische saß jetzt auf meinem Stuhl Heinz Merling.

„Es war dasselbe Gesicht,“ sagte ich fest und deutete mit der Hand auf den Maler.

Dieser zuckte die Achseln. „Ich wiederhole nochmals: ich kenne den Kanzleirat kaum. Jedenfalls war ich heute nicht in dieser Wohnung.“ Das klang sehr ruhig und zuversichtlich.

Märker verzog keine Miene.

„Aber Sie geben zu, den Kanzleirat Wehrhut immerhin persönlich gekannt zu haben?“ fragte er.

„Ja – aber ganz flüchtig.“

Märker schaute den sehr sympathisch aussehenden Künstler prüfend an.

„Wohin haben Sie Wehrhut gebracht? – Ich denke, Sie räumen am besten alles ein,“ sagte er dann schnell.

„Ich habe den Kanzleirat weder lebend noch tot fortgeschafft,“ erwiderte der Maler sehr bestimmt.

Heinz Merling gefiel mir ausgezeichnet. Ich nickte ihm daher verstohlen zu, als wollte ich ihm Mut machen. Doch er schaute gleichgültig, sogar etwas hochmütig über mich hinweg.

Dann entließ der Kommissar ihn. „Halten Sie sich aber jederzeit bereit, mir abermals Rede und Antwort stehen zu müssen. Ich ersuchte Sie, vorläufig Palmburg nicht zu verlassen.“ –

Als nächste mußte Fräulein Doris Marville vor Märker erscheinen.

Selbst diesem liebreizenden Gesicht gegenüber hatte auch ich sehr bald das bestimmte Gefühl, daß Doris Marville mit der Wahrheit hinterm Berge hielt.

Sie war wohl auch ein sehr selbstständiger, zielbewußter Charakter, aber dies in anderer Art als Irmgard von Balting. Während bei dieser alles auf temperamentvolles Selbstbewußtsein hinauslief, hatte ich hier die abgeklärte Ruhe mit einem starken Einschlag von herber Melancholie vor mir. Für mich als Schriftsteller war es ein Genuß, zu beobachten, wie Doris Marville die Angriffe Märkers abwehrte, wie sie auch ihn gewissermaßen bezauberte, obwohl es doch ziemlich klar auf der Hand lag, daß sie die Wahrheit verheimlichen wollte. Am liebsten hätte ich Märker zugerufen: „Geben Sie die Sache auf! Die junge Dame wird nur sprechen, wenn sie will, nicht, wenn Sie es wünschen!“

Doris Marville war zunächst von Märker gefragt worden, ob sie etwa den Schuß auch gehört hätte.

„Ja und nein,“ erwiderte sie. „Ich hörte, da ich mich im Flur unter dem des Kanzleirats befand, ein dumpfes Geräusch, dann auch ein Poltern über mir, als ob ein Möbel umfiel. Ob das erste Geräusch ein Schuß war, kann ich nicht sagen.“

„Was taten Sie in dem Flur?“ fragte Märker weiter.

„Ich – ich wollte mir noch ein Schränkchen ansehen, das dort stand,“ sagte sie. „Mein Vater hat es verkauft. Ich hänge an jedem einzelnen Stück seiner Sammlung.“

„Nachher, als Herr Malwa die Treppe hinablief, um den Schutzmann zu holen, begegnete er Ihnen aber im Treppenflur,“ meinte Märker schnell. „Sie zogen sich bei seinem Anblick in die Wohnung zurück. – Was wollten Sie in dem kalten Treppenhaus?“

„Ich hatte nachgesehen, ob sich Postsachen im Briefkasten befanden. Als ich dann oben Stimmen hörte, wurde ich neugierig, trat etwas vor und lauschte.“

Märker richtete nun ganz unerwartet an den Major die Frage, wann hier in der Vorstadt die Post ausgetragen würde.

„Dreimal: morgens gegen acht, mittags gegen halb zwölf und nachmittags gegen sechs,“ erwiderte Herr von Balting-Gattary.

Doris Marvilles Augen blieben von den Wimpern bedeckt. Eine feine Röte glaubte ich jetzt ihre zarten Wangen färben zu sehen. Es war im Zimmer aber schon zu dämmerig, um dies mit voller Sicherheit feststellen zu können.

Märker rief dem Kollegen plötzlich zu, die Gaslampe anzuzünden. Es war dies eine ganz billige sogenannte Lyra mit weißer Glocke.

Das Glas puffte auf, und das gelbliche Licht lag jetzt blendend auf unseren Gesichtern und ließ sie sämtlich etwas fahl erscheinen. – Kommissar Halfner zog die Fenstervorhänge zurück.

„Fräulein Marville,“ fragte Märker dann, indem er sie gleichmütig anblickte, „wenn der Briefträger gegen halb zwölf zu kommen pflegt, wird man doch nicht erst um viertel vier nachsehen, ob der Briefkasten etwas enthält?! – Übrigens, unsere Palmburger Postbeamten sind wohl sämtlich so aufmerksam, kurz zu läuten, wenn sie etwas in den Briefkasten geworfen haben.“

„Das geschieht hier im Hause auch ganz allgemein,“ erklärte der Major unaufgefordert.

Märker nickte ihm dankend zu.

„Lassen wir das jetzt –,“ meinte er. „Etwas anderes. Herr Malwa hat Sie, Fräulein Marville, am Fenster bemerkt, als er sich an der Gartenpforte umschaute.“

„Allerdings stand ich am Fenster. Ich sagte ja bereits, daß ich vermutete, es müßte sich hier im Hause wieder etwas ereignet haben. Da Herr Malwa es nun so eilig hatte, wollte ich sehen, ob er etwa mit bloßem Kopf irgendwohin laufen wollte.“

„Wieder etwas ereignet haben?“ fragte Märker schnell und betonte das wieder.

„Ja – weil doch vor etwa zehn Tagen die Hauswirtin sich durch Gas getötet hat.“

„Richtig – ich besinne mich.“ Und nach einer kleinen Weile: „Kennen Sie den Maler Heinz Merling persönlich?“

„Wir verkehren mit niemandem hier im Hause.“

„Ich spreche nicht von Verkehr.“

„Herr Merling grüßt mich, und einige Mal haben wir auch wenige Worte gewechselt.“

„Heute auch?“

„Ja. Er kam zu uns, von meinem Vater einen indischen Schal zu leihen, den er wohl für ein Bild brauchte, als Modell –“

„Wann war das?“

„Kurz nachdem ich nach dem Briefkasten gesehen hatte.“

„Das heißt also, er kam vielleicht, als Sie gerade am Fenster standen und Herrn Malwa nachschauten.“

„Ja.“

„Ist Merling schon häufiger bei Ihrem Vater gewesen?“

„Nein.“

„Wie lange blieb er heute?“

„Sehr kurze Zeit. Mein Vater wollte gerade den verkauften, altertümlichen Schrank ein wenig einhüllen.“

„Hatten Sie den Eindruck, daß Merling besonders aufgeregt war?“

„Er ist immer sehr lebhaft, soweit ich dies überhaupt zu beurteilen vermag.“

„Fräulein Marville hat recht,“ bestätigte der Major. „Merling ist nervös und voller Temperament. So das, was man quecksilbrig nennt.“

Märker schrieb wieder eifrig. Und ich betrachtete Doris Marville, sagte mir, daß ich selten einer so eigenartigen weiblichen Schönheit begegnet wäre wie ihr, bewunderte ihr volles, in breitem Knoten aufgestecktes dunkelblondes Haar und das Profil mit der ganz wenig gekrümmten Nase, den taufrischen Lippen und dem kräftigen Kinnansatz, dachte dann mit stillem Bedauern, daß diese Lippen meiner Überzeugung nach soeben die Unwahrheit in vielen Punkten gesprochen hatten und wartete darauf, daß Märker nun wohl den Maler nochmals verhören würde.

Ich täuschte mich. Er fragte Fräulein Marville nur noch, ob sie heute den Kanzleirat gesehen oder gesprochen hätte, worauf ein kurzes, hastiges „Nein“ erfolgte. Dann dankte er ihr und entließ sie. –

Jetzt wurde Gottlieb Hähnchen geholt.

Märker richtete an ihn eine Menge von Fragen, aus denen folgendes hervorging, – alles für mich als Hauseigentümer recht wichtig:

Meine Tante hatte das Grundstück vor zwanzig Jahren erworben. Damals war der Vater Gottlieb Hähnchens bereits Mieter der einen Erdgeschoßwohnung, und der Sohn war dann dem alten Hause treugeblieben. Jedenfalls waren Hähnchens diejenigen Bewohner, die den Besitz noch länger als meine Tante kannten. Der jetzige Schlossermeister Gottlieb hatte denn auch das volle Vertrauen meiner Tante besessen und nebenbei Hausverwalter gespielt, besonders wenn die Eigentümerin verreiste, was ziemlich häufig geschah, da das alte Fräulein nichts so sehr liebte als längere Fußtouren. – Die zweitältesten Mieter waren die Sauerbiers, Erdgeschoß links, mit zehn Jahren. Die übrigen Mieter wohnten durchschnittlich bereits fünf Jahre hier, den Kanzleirat ausgenommen, der erst im Januar eingezogen war, nachdem die Wohnung zwei Monate leer gestanden hatte. – Der biedere Hähnchen konnte es nicht unterlassen, eine Andeutung des Spukes wegen zu machen, so daß es nun mit meiner Absicht, dem Hausgeist ohne Voreingenommenheit gegenüberzutreten, vorbei war, da Märker ganz genau wissen wollte, was es mit dem Spuk auf sich hätte.

Der Meister erzählte, daß schon sein Vater zu ihm von diesen übernatürlichen Dingen gesprochen hätte, als er einmal als Knabe die seltsamen Geräusche nachts gehört und nach deren Ursache gefragt hätte. In der Hauptsache handelte es sich um geheimnisvolle Töne, die sehr schaurig klingen sollten, dann aber auch um eine Gestalt, die – freilich sehr selten – im Gemüsegarten hinter dem Hause sich sehen ließe. Major von Balting war dem Gespenst eines Nachts mal auf den Leib gerückt, um es zu entlarven, da er an einen schlechten Scherz geglaubt hatte, den sich einer der Nachbarn leistete. Die Gestalt wäre aber so schnell und lautlos davongeschwebt und in der Ruine verschwunden, daß der Major die Jagd hätte aufgeben müssen.

Jetzt wollte Märker wissen, welche Ruine Hähnchen meine. – Auch ich spitzte die Ohren. Ruine klingt ja stets etwas geheimnisvoll-poetisch.

„Wenn es noch hell genug wäre, könnten die Herren einen Teil des alten Bauwerks sehen,“ meinte der Meister. „Aus den Hinterfenstern der oberen Stockwerke, also auch von hier aus, bemerkt man als Abschluß des Gemüsegartens eine kleine Tannenanpflanzung, durch die der Weg nach der hinteren Gartenpforte und nach der Ruine hindurchführt. Diese gehört mit zum Grundstück. Es ist eigentlich nichts weiter als der Rest eines viereckigen Turmes, von dem nur noch zwei etwa mannshohe sehr dicke Mauern erhalten sind. Alles übrige ist nur ein Schutthaufen, bewachsen mit Dornen, wilden Himbeeren und einigen verkrüppelten Tannen. Aber diese Turmreste sehen ganz malerisch aus. Man hat sie nicht beseitigt, da dies nur durch Sprengung möglich gewesen wäre. Man erzählt sich hier in der Vorstadt, daß der Turm einst zu einer Außenschanze der Palmburger Befestigungswerke gehört hätte, und zwar aus der Zeit des Deutschen Ritterordens. Daher hat das Gemäuer auch diese Stärke, – fast zwei Meter, wie für die Ewigkeit gebaut.“

Mir fiel es jetzt erst ein, daß ja auch die rechte Außenwand an ein Stück alte Mauer sich anlehnte. Auf meine Frage erwiderte Hähnchen, das hätte schon seine Richtigkeit. Die Mauer stamme sicher auch aus einer früheren Zeit, und vielleicht habe der Baumeister des Hauses sie stehen lassen und die Giebelwand daran angeklebt, weil dort doch gerade die Nordseite sei und man so einen Schutz gegen die kalten Winde auf billige Art erzielen konnte. –

Märker äußerte sich auch zu dem Gespensterthema in keiner Weise, machte sich aber wieder kurze Notizen und wollte dann von Hähnchen wissen, ob dieser auch ganz bestimmt unten im Hausflur gut achtgegeben hätte, so daß niemand das Gebäude hätte verlassen können.

Meister Gottlieb lächelte selbstbewußt.

„Ausgeschlossen, Herr Kommissar! Nicht eine Maus wäre unbemerkt an mir vorübergeschlüpft.“

„Haben Sie jemand zurückschicken müssen, der vielleicht sich entfernen wollte?“ fragte Märker dann.

„Nein. Nur –“

„Na – nur?“

„Die Sache ist ja kaum von Belang, Herr Kommissar. Der Marville hat nur ein altertümliches Schränkchen weggeschickt.“

Eine Weile blieb es ganz still in dem unfreundlichen Zimmer, das so ärmlich ausgestattet war.

Ich bin gewiß alles andere als für den Detektivberuf begabt, – aber ich glaube, in diesem Moment dachten die beiden Kommissare, die schnell einen Blick ausgetauscht hatten, und ich genau dasselbe.

„So, ein Schränkchen weggeschickt?“ begann Märker dann wieder. „Wann war das, Herr Hähnchen?“

Der Meister hatte seine Gedanken offenbar wieder auf anderen Gefilden spazierengeführt, zuckte zusammen und schaute den Beamten etwas blöde an.

Märker mußte seine Frage wiederholen.

Hähnchen entschuldigte sich wegen seiner Zerfahrenheit.

„In diesem Hause muß man Nerven kriegen, weiß Gott!“ seufzte er. „Also – wann das war – Nun, vielleicht fünf Minuten später, nachdem Herr Malwa mit dem Schutzmann nach oben gegangen war.“

„Sie sagten, das Schränkchen wäre weggeschickt worden. In welcher Weise geschah dies?“

„Es wurde durch ein Taxameterauto abgeholt. Der Chauffeur ging zu Marvilles nach oben, und der Marville und der Chauffeur trugen das Schränkchen dann ins Auto. Hierbei hielt ich eben den Rentier an und bedeutete ihm, daß niemand das Haus verlassen dürfe. Er erwiderte: „Weshalb denn nicht?“ Worauf ich ihn über die Sachlage aufklärte. „Ich will ja nur dieses Schränkchen ins Auto bringen und komme sofort zurück,“ meinte er. Und so war’s auch. – Sonst hat niemand das Haus verlassen wollen.“

Märker winkte seinen Kollegen, der auf einem alten Sofa gesessen hatte, zu sich heran und flüsterte ihm etwas zu. Ich ahnte, welchen Auftrag er ihm gab. Halfner verließ jetzt nämlich das Zimmer und ging sicherlich zu Marvilles hinunter – des Schränkchens wegen, von dem ja auch schon Fräulein Doris gesprochen hatte.

Kaum war Halfner hinaus, als die beiden Geheimschutzleute sich einfanden. Wie sich jetzt herausstellte, hatten sie sämtliche Wohnungen, das ganze Haus vom Dach bis zum Keller, aufs sorgfältigste durchsucht, wobei ihnen noch zwei andere, telephonisch herbeorderte Kriminalbeamte geholfen hatten.

Die doch fraglos mit aller Umsicht und wohl auch Rücksichtslosigkeit gegen die Mieter durchgeführten Nachforschungen nach dem Kanzleirat waren ergebnislos geblieben. Der eine der Geheimen, ein Kriminalwachtmeister, erklärte, der Herr Wehrhut befinde sich weder tot noch lebendig im Hause. Selbst auf dem Dach hätte man gesucht, und in den Kellern sogar die Kartoffel- und Kohlenvorräte durchgeschaufelt.

Ich dachte wieder an das Schränkchen.

Zu meiner Enttäuschung wurden wir, Hähnchen, der Major und ich jetzt höflich weggeschickt.

Märker hielt es nicht für nötig, mir als dem Hausbesitzer gegenüber auch nur ein Wort darüber fallen zu lassen, was er weiter tun wollte, oder was er von dem seltsamen Verbrechen dächte.

 

Drittes Kapitel.

Als wir, Hähnchen und ich, auf den Treppenflur hinaustraten, ging dort ein Kriminalbeamter langsam auf und ab. Und unten im Hausflur stand ein zweiter Wache.

„Vor Dieben sind wir jetzt sicher!“ meinte ich. Aber Hähnchen blieb stumm.

In des Meisters Wohnstube war der Abendbrottisch bereits gedeckt. Die Gaslampe summte behaglich, und es roch sehr verlockend nach gebratenen Klopsen. Ich hatte die Einladung zum bescheidenen Mahl nicht gut ablehnen können.

Die drei Lehrlinge aßen diesmal in der Küche. Wir waren also unter uns und konnten die Ereignisse durchsprechen. So erfuhr das Ehepaar denn jetzt auch, daß ich den Maler am Fenster in Wehrhuts Wohnung gesehen hätte.

Ich ahnte, daß die Mitteilung dieser den beiden Eheleuten bisher unbekannten Tatsache eine starke Wirkung auf sie ausüben würde, war aber doch überrascht, wie sich diese Wirkung dann äußerte.

Meister Gottlieb fielen Messer und Gabel aus der Hand, und seine Frau stieß das Teeglas um. Dann saßen sie wie versteinert da und schauten sich mit weiten Augen an. Den Leutchen war der Mord doch sehr an die Nerven gegangen.

Dann kam Meister Gottlieb von selbst auf das Schränkchen zu sprechen.

„Ganz im Vertrauen, Herr Malwa,“ meinte er, „ich möchte beinahe annehmen, daß der Marville bei der Geschichte seine ohnehin nicht ganz reinliche Hand mit im Spiel gehabt hat. Das Schränkchen war gerade groß genug, um einen Menschen darin verbergen zu können. Der Kanzleirat, auch ein so netter, alter Herr, war ja recht klein und klapperdürr. Und – wäre das Schränkchen leer gewesen, hätte es der Chauffeur ganz allein aufschultern können. Jedenfalls kommt mir dieser angebliche Verkauf und dieses Fortschaffen des altertümlichen Möbelstückes sehr verdächtig vor.“

Ich hielt nun mit meiner Ansicht nicht länger hinterm Berge, daß auch ich sofort in dieser Beziehung Verdacht geschöpft hätte. „Die Polizei wird fraglos auch dies genau aufklären, lieber Meister,“ fügte ich hinzu. „Märker scheint mir ein feiner Kopf zu sein. Gerade Leute, die so wenig reden wie er, haben es meistens innerlich!“ Dann fragte ich: „Was liegt eigentlich gegen Marville vor? – Sie scheinen nicht gut auf ihn zu sprechen zu sein, Herr Hähnchen.“

„Das trifft nicht ganz zu, Herr Malwa. Mir ist der Herr ja soweit gleichgültig. Nur – doch nein, man soll über seinen Nächsten nichts Nachteiliges verbreiten!“

Ich bat jedoch so lange, bis er, freilich mit Widerstreben, erzählte, daß Marville wegen Diebstahls zwei Jahre im Gefängnis gesessen hätte. „Wenn er nun wenigstens bescheiden auftreten würde, wie dies doch jeder wirklich Reuige tun sollte,“ fuhr er fort. „Aber – keine Spur davon! Im Gegenteil – na, Sie werden ihn ja auch noch kennenlernen.“

„Und die Tochter?“

Er hob die Schultern. „Ich rede nicht gern über meine Mitmenschen,“ sagte er wieder ausweichend und schaute nach dem Bibelspruch über dem Sofa, einer Brandarbeit in allzu großen Abmessungen – „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst!“ – Da drang ich nicht weiter in ihn.

Die drei Lehrlinge kamen und baten, noch draußen in den Bergen rodeln zu dürfen. Der Mond schien so schön hell. – Der Meister erlaubte es. „Um neun Uhr seid ihr mir aber wieder zu Hause!“

Sie eilten vergnügt hinaus. Einer gefiel mir besonders, ein schlanker Bursche mit feinem Gesicht. Der Meister erklärte, Fritz Weigand wäre besserer Leute Kind, hätte jedoch auf der Schule, dem Gymnasium, nur dumme Streiche gemacht. „Ist ein Bruder Leichtfuß und muß kurz gehalten werden. Sein Vater, ein Bankbeamter, hat mir gesagt, ich müßte recht streng sein. Ich denke, ich bringe ihn schon zur Raison.“

„Eigene Kinder haben Sie wohl nicht?“ fragte ich jetzt, da ich diesen Punkt bisher nicht berührt hatte.

„Doch – doch,“ meinte er. „Eine Tochter. Sie befindet sich jetzt in einem Dresdener Pensionat. Wir haben ihr eine gute Erziehung geben lassen. Sie soll einmal über unseren Stand hinaus heiraten. Für sie sparen wir. – Ein hübsches Mädel, unsere Lore, – wirklich!“ Er strahlte jetzt förmlich, holte ein Photographiealbum hervor und zeigte mir Lore in allen Altersstufen. Sie war jetzt siebzehn, und das neueste Bild aus Dresden zeigte mir ein junges Mädchen, sehr elegant gekleidet, in einer richtigen Theaterpose, aufgestützt auf eine Säule, auf der eine ausgestopfte Eule hockte. Das Gesicht hatte einen recht herausfordernden Ausdruck, und um den Mund glaubte ich einen Zug von spöttischer Überhebung zu entdecken. Im ganzen aber war’s keine unüble Erscheinung. Nur in eine Schlosserfamilie paßte sie nicht hinein.

Meister Gottlieb war offenbar ganz vernarrt in sein Töchterlein, und auch Frau Guste sagte mit Stolz:

„Ja, ja – unsere Lore, die ist feiner wie die drei Majorstöchter!“

Ich äußerte jetzt den Wunsch, mir endlich auch mein neues Heim anzusehen.

Hähnchen nahm die Schlüssel der Wohnung, und dann stiegen wir in die zweite Etage hinauf. Die Geheimpolizisten waren nicht mehr da.

Ich war überrascht, wie geschmackvoll meine Tante eingerichtet war. Vom Wohnungsflur führte die erste Tür linker Hand in eine sogenannte gute Stube, auch „kalte Pracht“ benamst. Nun – dies hier war mehr ein Salon. Sogar ein ziemlich neues Piano stand hier. Die Garnituren aus rotem Mahagoni mit Seidendamastbezügen konnte nicht billig gewesen sein. – Das zweite Vorzimmer, mit dem Salon durch eine Flügeltür verbunden, war als Speise- und Wohnzimmer ausgestattet, ebenfalls recht elegant. Schräg an dem einen Fenster stand ein Schreibtisch mit niedrigem Aufsatz. – Und hier bekam ich nun auch das erste Bild der Tante Hermine zu Gesicht. Es war ein Ölporträt, das in breitem Goldrahmen auf einer Staffelei stand, um die ein farbiger Seidenschal drapiert war.

Unter einem grauen Scheitel mit hochgestecktem, zweifellos falschem Zopf (die Frisur erinnerte an die Krinolinenzeit[2]!) und einer etwas niedrigen Stirn sprang eine lange spitze Nase hervor. Diese war so auffallend groß, daß man die kleinen Augen, den verkniffenen Mund und das ebenfalls spitze Kinn ganz übersah. Jedenfalls hatte der Maler nicht versucht, ein geschmeicheltes Porträt zu schaffen. Wenn man von den etwas harten Linien um den Mund und der streitlustig erscheinenden Nase absah, wirkte Tante Hermine eigentlich mehr gutmütig als finster und haßerfüllt.

Auch Meister Gottlieb nahm jetzt die Gelegenheit wahr, nochmals die Tote als eine gütige, nur etwas eigentümliche alte Dame zu preisen.

Dann gingen wir über den Flur in das nach dem Gemüsegarten zu gelegenen Schlafzimmer, und hier erzählte mir Hähnchen nun ganz genau, wie man die Tante damals in dem gasgefüllten Raum aufgefunden hätte. – Morgens war die Aufwartefrau wie immer um halb acht gekommen, hatte geschellt, wieder geschellt und war dann zu Hähnchens hinuntergelaufen, trüber Ahnungen voll. Der Meister hatte die Flurtür, die verschlossen und noch durch die vorgelegte Sicherheitskette geschützt war, aufbrechen müssen, und dann hatte man das Unglück entdeckt. Vollständig angekleidet, war die Tante, auf dem kleinen Diwan gegenüber ihrem Bett liegend, tot in dem von innen verschlossenen Zimmer aufgefunden worden, und die geöffneten Hähne der dreiarmigen Gaskrone hatte nur zu klar bewiesen, daß sie freiwillig aus dem Leben geschieden war.

Dies schilderte mir Meister Gottlieb mit peinigender Ausführlichkeit, indem er genau zeigte, wo und wie die Leiche gelegen und wie sie ausgesehen hätte.

Ich bat ihn jetzt, das Bett aus dem Schlafzimmer in den Salon zu schaffen, es frisch zu beziehen und alles für mich zur Nacht herzurichten. Ich würde nur noch eine halbe Stunde spazieren gehen, um meine Kopfschmerzen loszuwerden.

„Gut, gut – wie Sie wollen, Herr Malwa, – wie Sie wollen,“ meinte er, und wir traten auf den Treppenflur hinaus, wo ebenfalls das Gas brannte.

Gewaltsam verscheuchte ich dieses gräßliche Bild.

Da sagte Meister Gottlieb zu mir, indem er sich auf der Treppe umdrehte und auf die Flurtür meines neuen Heims deutete:

„Dort, drei Schritt vor der Fußmatte, hat die Frauengestalt gestanden, die der Lehrer Bruchstück sah, als er vorgestern nacht, gerade um zwölf Uhr, nach Hause kam und mit einer Wachskerze sich die Treppen raufleuchtete. Er schwört, es wäre Ihre Tante gewesen. – Und einen solchen Schreck hat er bekommen, daß er die Kerze fallen ließ und wie ein Gehetzter wieder zum Hause hinausstürzte. Zufällig kam der Herr Major gerade aus Palmburg mit der Straßenbahn vom Stammtischabend zurück und nahm den Verängstigten mit nach oben. Allein wäre der Bruchstück wohl kaum während der Dunkelheit nochmals an dieser Tür vorbeigegangen. Er war noch den nächsten Tag halb krank.“

„Wahrscheinlich Kater, und das Gespenst wird wohl aus Alkoholdünsten geboren sein,“ sagte ich ironisch. Aber mir war wirklich ganz anders zu Mut! Dieses Haus war tatsächlich eine verdammte Bude –!

Eingehüllt in meinen Sommerpelerinenmantel eilte ich dann ins Freie. Ich fragte einen Vorübergehenden nach dem Postamt. – Keine zwei Minuten sollte es entfernt sein. Ich setzte mich in Trab, schickte dann an den Menümaler telegraphisch fünfzig Mark mit der Bitte, umgehend mich hier zu besuchen und bis auf weiteres mein Gast zu sein (Meister Gottlieb hatte mir beim Vorlegen der Kontobücher noch 280,53 Mark als Rest der achthundert Mark ausgehändigt, die in Tante Hermines Schreibtisch in besonderem Umschlag als „Begräbniskosten“ bereitgelegen hatten). – Ich wußte genau, daß Hosea Garblig diese Einladung annehmen würde. Gerade ihn konnte ich hier brauchen! Gewiß – er war nur der Menümaler, das Pumpgenie mit den „drei Mark bis morgen“, aber nebenbei hatte er doch noch trotz all seiner Schrullen Eigenschaften, die keineswegs alltäglichen waren. Von den Mitgliedern des Künstlervereins Blauer Dunst stand er allein mir näher, vielleicht auch noch der dichtende Kommißbock. Die übrigen hatte ich bald als eingebildete Neidhammel erkannt, die einer den anderen runtermachten und sich gegenseitig nicht den geringsten Erfolg gönnten.

In gehobener Stimmung kehrte ich nun heim. Es war halb zehn, als ich das Haus wieder betrat. Ich läutete bei Hähnchens an, wünschte ihnen gute Nacht und ging nach oben – mit jeder Stufe langsamer, obwohl doch im Treppenhaus noch überall das Gas brannte.

Da ich noch nicht die geringste Müdigkeit verspürte, begann ich die Schränke und sonstigen Behälter (sie waren sämtlich vom Nachlaßgericht versiegelt worden) zu durchwühlen, nur um mir Beschäftigung zu machen. Zuerst die beiden Kleiderschränke im Flur. Ich war überrascht, daß Tante Hermine über eine solche Auswahl von Garderobe verfügt hatte. So fand ich zwei lange Wintermäntel und einen Pelz, außerdem noch andere Stücke, deren Stoff sich meiner Ansicht nach leicht für mich umarbeiten lassen mußte. Ich wollte dann auch gleich am nächsten Vormittag mich nach einem Schneider umtun. Mein einziger blauer Anzug, seinerzeit fertig gekauft, war schon recht schäbig, und in dem dünnen Pelerinenmantel wirkte ich hier bei der Kälte fraglos wie ein richtiger hungernder Poet.

Alles Übrige gedachte ich zu verkaufen, auch die Leibwäsche, die ebenso reichlich vorhanden war. Es mußte dabei ein ganz nettes Sümmchen abfallen!

Nun wollte ich dem Schreibtisch zu Leibe gehen. Ich glaube, jedem bietet es eine anregende Zerstreuung, in fremden Behältnissen zu kramen. Es ist, als ob man auf Entdeckungsreisen auszieht oder unterirdische, unbekannte Gänge durchwandert, wo man jeden Augenblick auf Überraschungen stoßen kann.

Ich begann mit der großen Schublade des Tisches. Ich hatte sie gerade aufgezogen, als ich merkte, daß das Licht dunkler und dunkler wurde. Ich wußte, daß ein Gasautomat vorhanden war, holte schnell meine Börse vor und suchte nach einem Zehnpfennigstück – fand nicht eins! Gerade in solchen Fällen fehlt der notwendige Groschen stets!

Schleunigst zündete ich die Zierkerzen des Pianos an, suchte weiter nach Lichten, entdeckte zum Glück im Küchenschrank ein Paket mit sechs Stück und illuminierte mein Heim nun auf diese Weise.

Zu weiteren Entdeckungsreisen im Schreibtisch hatte ich keine Lust mehr. Nur das Buffet öffnete ich noch, fand auch, was ich suchte: eine Flasche Kognak neben zahlreichen anderen Likör- und Portweinflaschen!

Zwei halb volle Weingläser des freilich nicht erstklassigen Kognaks stellten mein durch das Versagen der Gasbeleuchtung etwas erschüttertes Gleichgewicht wieder her. –

Meine Hoffnung, daß ich einschlafen würde, erfüllte sich nicht. Mir wurde heißer und heißer unter dem Zudeck. Ich wurde immer munterer; ich verscheuchte die lächerlichen Gedanken an unheimliche Töne und Gestalten, – sie kehrten wieder zurück, als hingen sie an Gummibändern an meinem Hirn.

Dann schlug unter mir, also in Marvilles Wohnung eine Uhr mit lautem Gongton – ich zählte die Schläge mit –, elf, zwölf – Mitternacht, Geisterstunde!

Kaum gedacht, fuhr ich zusammen. – Ein Eisesschauer lief mir über den Leib –

Aus dem Wohnzimmer war an mein Ohr ein qualvolles Stöhnen gedrungen, dem ein deutliches Röcheln folgte, so, als ob ein Mensch dicht am Ersticken ist –

Wo war jetzt meine Aufgeklärtheit, was nützten mir alle Vernunftgründe, da es keine übernatürlichen Geschehnisse gäbe, daß alles eine höchst irdische Ursachen haben müßte –!

Der Schweiß rann mir über das Gesicht. Ich saß aufrecht im Bett und stierte auf die Tür, lauschte mit angespannten Sinnen –

Eine Weile war es still. Nur im Klavier knackte es zweimal so laut, daß ich förmlich hochschnellte.

Dann abermals das Stöhnen und Röcheln. – Ich fühlte, wie sich mir die Haare sträubten, wie mein Herzschlag auszusetzen drohte –, denn jetzt hörte ich auch im Wohnzimmer schlurfende Schritte, – ohne Frage, Schritte, – so, als ob jemand auf Pantoffeln langsam auf und ab wanderte –

Ich sagte mir: „Dort ist ein Mensch, springe auf, nimm den Ofenhaken, reiße die Tür auf –! Du bist doch ein kräftiger, junger Kerl –! Laß Dich nicht so ins Bockshorn jagen!“

Unten schlug die Uhr einen Schlag – ein viertel eins!

Ich hörte noch das leise Nachschwingen des tiefen Tones, dann – im Nebenzimmer ein gräßlicher, schriller Schrei –

Meine Sinne verwirrten sich, ich kroch unter das Zudeck, krampfte die Finger darin fest, als umklammerte ich einen Schild – der Schweiß drang mir aus allen Poren hervor, feurige Funken stoben vor meinen Augen auf, mein Herz raste – und ich verlor ganz plötzlich das Bewußtsein –

Als ich wieder zu mir kam, zitterte ich vor Frost. Das Zudeck war herabgeglitten. Die beiden Kerzen hatten nur noch die halbe Länge. Meine Nickeluhr auf dem Nachttischchen zeigte halb drei –

Nur ganz allmählich vermochte ich mich auf das Vorgefallene zu besinnen. Als ich an den zuletzt gehörten Schrei dachte, lief ich mir schon wieder – jetzt ein heißer! – Schauer über den Körper.

Aber ich beruhigte mich schnell wieder. Drüben im Wohnzimmer war alles still – kein Stöhnen, Röcheln, kein Tappen und Schlurfen – nichts – nichts –

Vor Übermüdung schlief ich ein, erwachte dann, als draußen gerade das fahle Licht des Morgens die Fenstervorhänge in große Transparente verwandelte.

Die Helle nahm zu. Ich konnte nun schon im Salon jeden Gegenstand unterscheiden. Die Kerzen waren in ihren Porzellanleuchtern längst heruntergebrannt und verlöscht.

Jetzt hatte ich Mut. Das Tageslicht übte eine Wirkung auf mich aus, als wäre ich nun plötzlich ein ganz anderer geworden. Ich schämte mich vor mir selbst; ich begriff mich einfach nicht; ich war nie feige gewesen; und nun diese Nacht –?!

Schnell zog ich mich notdürftig an, schloß die Tür nach dem Wohnzimmer auf und wollte – wollte über die Schwelle treten – Meine Augen hatten blitzschnell den Raum überflogen, blieben auf etwas haften, stierten – stierten –

Am Schreibtisch saß mit dem Gesicht nach mir hin eine Gestalt – eine Frau – meine Tante – die merkwürdige Frisur, die spitze Nase – ja, sie war es, genau wie das Ölporträt sie darstellte, selbst das Kleid war dasselbe mit dem hellen Schulterkragen aus Stickerei –

Ich wußte nicht, was ich tat. – Rein mechanisch schlug ich die Tür wieder zu, drehte den Schlüssel um, sank auf den nächsten Stuhl, gepackt von einem Schwindelgefühl, als wäre ich ein lebender Kreisel.

Aber – jetzt war es Tag – jetzt huschte der erste Sonnenstrahl durch einen Spalt der Vorhänge, zeichnete eine leuchtende Linie auf den dicken Smyrnateppich –

Ich raffte mich auf – die Sonne – und Gespenster –?! – Urplötzlich kam der Stimmungsumschlang. Eine rasende Wut packte mich. Ich sprang auf, ergriff den in dem Ofenvorsatz stehenden Schürhaken, die reine Brechstange, riß die Tür auf und war mit einem Satz mit schlagbereit erhobenem Eisen dicht am Schreibtisch –

Der Stuhl davor war leer – das Zimmer war leer, die ganze Wohnung – vor der Flurtür lag noch die Sicherheitskette; der Schlüssel steckte von innen. – Ich suchte nochmals. Jeden Schrank riß ich auf, sogar jede Schublade, schaute unter Sofas, unter das Bett im Salon. – Im Schlafzimmer meiner Tante stand ein uralter, riesiger Schrank aus Eichenholz, der halb in die Mauer eingelassen war. Ich warf den ganzen Inhalt heraus, – Kleider, Wäsche, altmodische Mäntel, – bis er ganz leer war. Dann beklopfte ich die Rückwand. So alte Schränke wie dieser haben zuweilen ihre besonderen Geheimnisse! Ich holte mir ein Licht, leuchtete jede Fuge ab, drückte, klopfte und schob an den Brettern herum, nahm schließlich sogar ein Küchenbeil und zwängte die Schneide in die Ritzen, brach große Splitter von der Rückwand ab – Dann hatte ich endlich ein Brett losgewuchtet, konnte die Mauer dahinter befühlen, beklopfen. – Ich sah ein: der Schrank war wie jeder gewöhnliche, hatte keine Geheimnisse, kein Versteck. – Nun packte mich die Manie, anderswo ein solches Versteck zu finden. Ich suchte. Beklopfte die Wände, rückte Schränke ab, hob Teppiche hoch, tat viel Unsinniges, Zweckloses –

Dann schrillte plötzlich die Flurglocke.

Ah – vielleicht Meister Gottlieb – ich würde ihn nicht einlassen. Erst mußte ich die Wohnung wieder in Ordnung bringen. Niemand sollte erfahren, was ich in der Nacht und heute früh erlebt, – nur der Menümaler, – obwohl der sicherlich so recht höhnisch grinsen würde.

Ich ging an die Flurtür, fragte: „Wer ist draußen?“

Zu meiner Überraschung kam die Antwort:

„Marville,“ – eine tiefe, kräftige Stimme.

„Ich bin noch nicht angezogen – entschuldigen Sie. – Vielleicht bemühen Sie sich nach einer halben Stunde wieder her.“

„Herr Malwa – nicht wahr?“

„Allerdings.“

„Ich war nur etwas in Sorge Ihretwegen. In der Nacht hörte ich einen gellenden Schrei, dann jetzt fortdauernd Geräusch hier oben.“

„Danke – mir geht es sehr gut.“

Darauf entfernte er sich mit einem kurzen „Auf Wiedersehen!“

Marville – der Mann mit dem Schränkchen! – Ich stand noch hinter der Tür und lauschte auf seine im Treppenflur verhallendem Schritte –

 

Viertes Kapitel.

Um neun Uhr brachte Frau Hähnchen mir den Morgenkaffee, zwei weichgekochte Eier und zwei belegte Brote. Nach dem Frühstück suchte ich Meister Gottlieb in seiner Werkstatt auf. Diese lag im Keller unter seiner Wohnung und hatte von oben einen direkten Zugang in Gestalt einer eisernen Treppe, die durch den Fußboden der Küche hindurch nach unten führte.

Hähnchen arbeitete gerade an der Tür eines Geldspindes, das repariert werden sollte. Wir unterhielten uns eine Weile, wobei ich mich erkundigte, ob die Kriminalpolizei denn schon wieder dagewesen wäre.

Der Meister lächelte vielsagend. „Eigentlich hat sie uns seit gestern gar nicht verlassen, Herr Malwa. – Man bewacht das Haus, auch die Rückfront.“

Ich hatte vorhin dem Lehrling Fritz Weigand, der Hähnchen helfen mußte, freundlich zugenickt. Der arme Junge tat mir leid. Er machte einen gedrückten, verschüchterten Eindruck. Anderseits sah der schlanke Bursche aber auch wieder so intelligent aus, um es bedauerlich erscheinen zu lassen, daß er es lediglich leichtsinniger Streiche wegen nicht weiter auf dem Gymnasium gebracht hatte.

Nachdem ich Meister Gottlieb noch eine Weile zugeschaut hatte, ging ich über die gemauerte Kellertreppe in den Gemüsegarten hinaus, der gut dreihundert Meter lang war und in dem jeder der Mieter sein besonderes Gärtchen mit einer Laube, einige mit wildem Wein umrankt, andere kleinen Pavillons gleichend, zugewiesen erhalten hatte, während das letzte Stück meiner Tante gehörte, also auch die Tannenkulisse und die Ruine.

Jetzt lag alles unter fußtiefem Schnee begraben. Trotzdem lief ein festgetretener Pfad vom Hause bis zur Ruine hin, wo Hähnchen, wie er mir soeben mitgeteilt hatte, ein paar Tellereisen für Marder und Iltisse aufgestellt hatte. Ich sah zwischen den Mauertrümmern und dem Gestrüpp des Meisters vielfache Fußspuren, mochte aber nicht gern in eins der Eisen geraten und wandte mich daher dem Gebäude wieder zu und betrat es durch die Hintertür.

Als ich in meinem Flur den Mantel auszog und dabei die wollenen Handschuhe in die linke Tasche schob, fühlte ich darin ein Papier, nahm es heraus und sah nun, daß es ein weißes, zweimal zusammengelegtes Quartblatt war, auf dem ich zu meinem nicht geringen Erstaunen sechs Reihen von je zwanzig griechischen Buchstaben des kleinen Alphabets mit Tinte niedergeschrieben fand.

Wenn mich schon die Tatsache, daß der Zettel mir fraglos heimlich zugesteckt worden war, etwas nachdenklich stimmte, so wurde diese Wirkung noch dadurch erhöht, daß über den sechs Zeilen von wahllos und ohne jede Interpunktion aneinandergereihten Buchstaben ein Totenkopf gemalt war.

Während der Lehrling die Öfen heizte, saß ich am Schreibtisch meiner Tante und versuchte die Geheimschrift – um eine solche handelte es sich ja sicher! – zu enträtseln. Es gelang mir nicht.

Der Junge begann jetzt die Stuben zu säubern, und ich unterhielt mich mit ihm dabei über dieses und jenes.

„Mein Vater hat vor einem halben Jahre wieder geheiratet, und der Stiefmutter war ich unbequem,“ sagte er unter anderem mit bebender Stimme. „Ich bin nicht schlecht. Alles, was ich tat, wurde aufgebauscht, – ich sollte aus dem Hause.“

In diesem Moment läutete die Flurglocke. Fritz eilte hinaus, kam sofort wieder zurück und meldete mir den Kriminalkommissar Märker.

Dieser schickte dann den Jungen in die Werkstatt.

„Es ist besser, daß wir allein sind,“ meinte er. Er war sehr liebenswürdig zu mir, hatte mit mir offenbar wichtige Dinge zu besprechen.

Wir setzten uns in das Wohnzimmer. Märker deutete auf die Staffelei: „Wohl Ihre Tante, Herr Malwa?“

Ich nickte. Ich vermied es, das Bild anzusehen. Es hätte mir die Schrecken der Nacht zu deutlich ins Gedächtnis zurückgerufen, und ich wollte nicht wieder einen Rückfall bekommen, nachdem ich die Angst vor dem Unfaßbaren endlich losgeworden war.

Märker fuhr jetzt fort: „Ich verlasse mich auf Ihre Verschwiegenheit gegen jedermann, Herr Malwa. – Das, was gestern sich hier in diesem Hause abgespielt hat, ist das seltsamste, was ich bisher in meinem gewiß an außergewöhnlichem recht reichen Leben kennengelernt habe.“

Ich hatte aus dem Büfett eine Kiste Zigarren geholt. Es war nicht die einzige, die dort in dem linken Seitenschränkchen stand, ein Beweis, daß meine Tante wohl auch Herrenbekanntschaften gehabt hatte. Es waren alles teure Sorten.

Ich bot Märker eine Zigarre an, gab ihm einen Abschneider und reichte ihm ein Streichholz.

„Ah – ein vorzügliches Kraut,“ meinte er nach den ersten Zügen. „Nun aber zu diesem rätselhaften Verbrechen zurück. – Ich liebe sonst derartige Ausdrücke wie rätselhaft, geheimnisvoll und so weiter nicht. Sie schmecken nach Sensation. Hier liegt aber wirklich etwas so ungewöhnliches vor, daß ich wie vor einem Rätsel stehe.“

Ich dachte: „Wenn du wüßtest, was mir noch begegnet ist –!“

„Mein Verdacht, daß der Kanzleirat durch den Rentier Marville in dem Schränkchen fortgeschafft sein könnte, hat sich nicht bestätigt,“ sagte er mit Betonung des Wortes Schränkchen.

„Ah – wirklich nicht?! Auch ich hatte dies vermutet.“

„Diese Erklärung für das Verschwinden der Leiche – falls der Major von Balting eben recht hat, daß der Schuß tödlich gewesen sein muß! – lag ja auch am nächsten. Doch, wie gesagt, – es ist nichts damit! Das Schränkchen war bereits zwei Tage vorher verkauft worden, zusammen mit zwei Bronzebüsten und einer Statue aus Marmor. Diese Sachen waren in dem Schränkchen verpackt. Ich habe sie selbst ebenfalls bei dem Käufer, einem Herrn Herbst, gesehen. Wir sind nun also genau so klug wie vorher. Nur – nur einen Menschen haben wir gestern gegen zwölf Uhr nachts verhaftet, der in verdächtiger Weise hier das Haus umschlich. Der Mann sieht etwas schäbig aus, gibt auf keine Frage eine Antwort und hat in seiner Zelle dann so fest geschlafen, daß man aus diesem Grunde annehmen müßte, er dürfte ein ziemlich reines Gewissen haben oder – ein ganz schwerer Junge sein. Heute vor einer Stunde ließ ich ihn mir wieder vorführen. – Ein seltsamer Kauz! Meine Fragen überhörte er, dafür fragte er aber mich nach so merkwürdigen Dingen, daß ich ihn für übergeschnappt halte, obwohl er sonst eine Ruhe besitzt, die die meinige noch übertrifft. – Denken Sie – so fragte er zum Beispiel: „Wie geht es Erwin Malwa, dem Phantasiemörder?““

Ich zuckte zusammen. „Phantasiemörder – gebrauchte er wirklich den Ausdruck?“ fragte ich schnell.

Märker sah mich gespannt an. „Allerdings. Aber –“

„Ich gehöre einem Verein junger, etwas verschrobener Künstler an,“ erklärte ich hastig. „Blauer Dunst“ heißt der Verein sehr bezeichnend. Da hat jedes Mitglied einen Spitznamen. Ich bin der Phantasiemörder, weil ich gern in meinen Romanen und Novellen die verbrecherischen Instinkte der Menschenseele beleuchte.“

„Ah, – dann muß der Mann Sie kennen!“

„Wahrscheinlich. – Was fragte er denn noch?“

„Ob ich heute früh schon auf dem Flugplatz Alsdorf gewesen wäre. – Alsdorf liegt keine zwei Kilometer von Palmburg entfernt. – Und dann wollte er auch wissen, ob Fräulein Hermine Löckner diese Frisur aus der Krinolinenzeit schon immer getragen hätte.“

„Merkwürdig! – Und der Mann wurde in der Nähe meines Hauses hier aufgegriffen? – Das muß ja wirklich ein seltsamer Heiliger sein –!“

Dann schoß mir plötzlich ein besonderer Gedanke durch den Kopf. Gerade diese verrückten Fragen deuteten ja mit ziemlicher Bestimmtheit auf jemanden hin, den ich nur zu gut kannte! Doch dieser Jemand konnte jetzt bestenfalls nach Palmburg unterwegs, nie aber hier bereits seit gestern anwesend sein! – Immerhin – dem Menümaler war so ziemlich alles zuzutrauen! Der hatte seinen Freunden schon ganz andere Überraschungen beschert!

Ich ließ mir den Mann daher von Märker beschreiben.

„Mittelgroß, abschreckend mager, ein Vogelgesicht mit einer krummen, messerscharfen Nase, einen Mund, fast lippenlos, wie ein zwischen Kinn und Nase gezogener, nicht gerade kurzer Strich, keine Spur von Bartwuchs, dünnes, kurzes, hochstehendes Kopfhaar von strohgelber Farbe, dazu ein schäbiger Anzug, schäbiger steifer Hut und einen Mantel mit gestepptem Seidenfutter und dem Monogramm B. v. B., – ein Mantel, viel zu elegant für diesen Menschen, der keinerlei Papiere, keinen Pfennig Geld und nur ein kleines Skizzenbuch bei sich hatte, in dem Ihr Haus, Herr Malwa, von fünf verschiedenen Seiten sehr flüchtig abgezeichnet war, dann zweimal wieder die Ruine im Gemüsegarten, auch recht flüchtig, aber in der ganzen Art der Ausführung genial.“

Ich sprang auf. „Das versteh’ ein anderer! Er ist’s!“ rief ich.

„Ja, wer denn in aller Welt?“

„Mein Freund Garblig, Hosea Garblig, der – Menümaler!“ Und ich lachte so fröhlich, daß der ernste Kommissar wohl etwas an meinem gesunden Verstand gezweifelt hat; wenigstens schaute er mich so seltsam prüfend an.

„Diesen Herrn begreife ich nicht – tatsächlich nicht!“ meinte er kopfschüttelnd. „Weshalb hat er mir denn nicht gesagt, wer er ist?! – Wir glaubten schon, in ihm einen ganz seltenen Vogel gefaßt zu haben. Da er so beharrlich auf meine Fragen schwieg und selbst nur fragte, da ich sein eigenartiges Benehmen für Berechnung gilt, für einen Versuch, seine Identifizierung zu erschweren, wollte ich ihn ja schon aus dem Polizeigewahrsam entlassen, teilte ihm dies auch mit. – Und seine Antwort! – Er grinste höhnisch und fragte: „Wie viele von Ihren Geheimen stehen schon bereit, Herr Kommissar, um mir nachzuschleichen und so mitzuhelfen, den über meiner interessanten Persönlichkeit liegenden Schleier zu lüften?“ – Ich war verblüfft. Ich hatte nämlich wirklich schon zwei Leute beauftragt, sich an seine Fersen zu heften. – Und dann fügte er noch hinzu: „Herr Kommissar, dürfen Sie einen Mann wieder freigegeben, der in der Nähe eines Hauses nächtlicherweile betroffen ist, in dem sich so merkwürdige Dinge abgespielt haben? Und – haben Sie nicht auch mal das Verlangen, ganz ungestört über dies und jenes nachzudenken? Gibt es anderswo eine so heilige, gedankenerfüllte Stille als in einem Gefängnis?“ – Na – da ließ ich ihn eben wieder abführen.“

Ich nickte Märker schmunzelnd zu. „So ist er, der Hosea! Oh – und das ist noch der zahme Hosea! Bei dem kann man Wunderdinge erleben.“

„Kommen Sie mit, Herr Malwa,“ schlug der Kommissar vor. „Holen Sie sich Ihren Freund persönlich ab. Mein Dienstauto wartet an der Brücke. Was wir noch zu besprechen haben, kann während der Fahrt geschehen.“

Gleich darauf verließen wir mein neues Heim.

Vor der Haustür stand Meister Hähnchen in der Sonne.

„Ich finde, es riecht schon etwas nach Frühling, meine Herren,“ sagte er freundlich. „Die liebe Sonne wirkt doch bereits recht stark! Wie das Schneewasser vom Dach leckt! Das wird abends wieder lange Eiszapfen geben, und morgens kann ich sie dann mit ’ner Stange von den Bodenfenstern aus abschlagen, damit sie nicht jemandem auf den Kopf fallen. Letztens war ein Eiszapfen hier gerade über der Tür entstanden, der wog gut seinen Zentner.“

Das graugestrichene, geschlossene Auto hatte elektrische Heizkörper. Man saß daher recht behaglich darin.

Märker begann sehr bald:

„Ihr neuer Besitz, Herr Malwa, ist in der Nachbarschaft, nein sogar in ganz Bäckershagen recht verschrien. Jedes Kind kennt das Haus unter dem Namen das Spukhaus. Ich pflege nun bei Untersuchungen auch Dinge zu beachten, die mit dem eigentlichen Gegenstand der Nachforschungen nichts zu tun zu haben scheinen. So auch hier diese Gespenstergeschichten – Meine Leute haben festgestellt, daß Frau Fama – dies alles hat man mir ja auch gestern bei der Vernehmung schon erzählt! – drei Arten von Spuk unterscheidet: unheimliche Töne, eine im Garten auftauchende Gestalt und neuerdings noch Ihre Tante, die auch „umgehen“ soll. Ich möchte all dies einmal nachprüfen lassen. Zu diesem Zweck will ich einen meiner Beamten, einen jungen, sehr tüchtigen Menschen, in das Haus sozusagen einschmuggeln. Es soll niemand etwas davon wissen als nur Sie. Auf Ihre Diskretion darf ich mich ja wohl verlassen. Unter welcher Maske der Beamte auftreten wird, kann ich jetzt noch nicht sagen. Er wird sich Ihnen aber zu erkennen geben.“

Während Märker mir dies in seiner ruhigen Art mitteilte, überlegte ich mir, ob ich ihm nicht berichten sollte, was ich in der verflossenen Nacht und gegen Morgen in meinem neuen Heim erlebt hatte. Ich kam aber doch zu dem Entschluß, erst mit dem Menümaler Rücksprache zu nehmen. Hosea Garblig war ja auf alles Außergewöhnliche geradezu erpicht, obwohl er dies niemals merken ließ. Ich war auch nur durch einen Zufall, als ich ihn etwa fünf Monate kannte, dahintergekommen. Wir waren damals eines Abends die einzigen am Stammtisch des Vereins Blauer Dunst gewesen, und ich hatte das Bedürfnis gefühlt, mit einem Menschen über unsere Familienverhältnisse zu sprechen, da es mir so schlecht ging, daß ich mich an die Tante Hermine um Unterstützung wenden wollte. So kam es, daß Hosea von dem erbitterten Haß erfuhr, der mich von Hermine Löckner trennte, als gäbe es keine verwandtschaftlichen Bande zwischen uns. – „Sie muß Deinen Vater über alles geliebt haben,“ meinte er. „Die verzehrende Eifersucht ist dann in Haß übergegangen. Auf Seiten Deiner Mutter mag diese Gefühlsumwandlung in ähnlicher Weise erfolgt sein.“

Märker ließ dann den Häftlingen nach seinem Dienstzimmer bringen. In Begleitung eines Schutzmannes trat Hosea Garblig ein. Als er mich sah, nickte er mir zu und fragte:

„Ist der Schnupfen schon zu merken, Phantasiemörder?“ Dabei zog er die Oberlippe an einer Seite hoch, so daß seine etwas vorstehenden Vorderzähne, wahre Hauer, sichtbar wurden. Er sah dann mit seinem Vogelgesicht wenig sympathisch aus. Aber eine andere Art von Lachen oder Lächeln kannte er kaum, immer war es höhnisch oder ironisch. Und doch – ich wußte, welch’ gute, treue Seele sich hinter diesem Grinsen verschanzte! – Hosea hatte nur einen einzigen Charakterdefekt: das Anpumpen! Aber er suchte sich sein Opfer stets mit Vorsicht aus. Wirklich armen Teufeln gab er die erborgten Beträge wieder. Bei dem dichtenden Kommißbock lag die Sache anders.

Ich war aufgestanden, hütete mich aber, ihm die Hand etwa hinzustrecken. Er hätte sie übersehen. Für derartige spießbürgerliche Gewohnheiten war er nicht zu haben.

Was er mit dem Schnupfen meinte, wußte ich nicht. Um ihn zum Reden zu bringen, gab es nur eine Methode: Eine möglichst törichte Behauptung aufzustellen! – Ich fragte daher auch:

„Schnupfen?! – Der Arzt hat erklärt, es wird eine Lungenentzündung werden. Ich habe bereits 39,2 Fieber.“

„Blödsinn! Wenn man ohne Mantel im bloßen Kopf bei acht bis neun Grad Kälte fünf Minuten lang im Freien nach einem Schutzmann sucht, holt man sich bei Deiner Bauerngesundheit nur einen Schnupfen!“ meinte er achselzuckend.

„Genau so, als wenn man dem kalten Gepäckwagen als blinder Passagier in demselben Zuge wie ich von Berlin nach Palmburg fährt,“ fügte ich hinzu, indem ich ihm auf die Schulter klopfte.

Die Oberlippe zog sich ganz hoch. „Willst Du Mikowski begrüßen?“ lautete seine Entgegnung. – Mikowski war ein bekannter Fluglehrer der Rumpler-Werke. Gelegentlich kam er auch an den Blauen Dunst-Stammtisch. – Sofort fiel mir ein, daß der Menümaler dem Kommissar gegenüber den Flugplatz Alsdorf erwähnt hatte. Jetzt wußte ich Bescheid.

„Ihr habt unterwegs drei Notlandungen gehabt,“ sagte ich zu Hosea. „Mikowski blamiert sich bei längeren Probeflügen immer!“

„Das ist plumper Schwindel, Kind! Aber – trotzdem bin ich mit Dir leidlich zufrieden. Du hast soeben bewiesen, daß Du mit Recht zu den höchstentwickelten Affen gehörst. – Mikowski hat mich mitgenommen auf meine Bitte hin. Ich ahnte, daß Dein Einzug in Deinen Besitz nicht ohne Zwischenfälle bleiben würde. Wir sind gestern um acht Uhr morgens in Johannisthal aufgestiegen und waren zwei Uhr nachmittags in Alsdorf.“

Für Hosea war das schon eine riesenlange Rede. Besonders, daß er richtige Sätze bildete, was er sonst nur bei Fragen tat, erregte mein Erstaunen.

Märker hatte für meinen Freund offenbar das größte Interesse.

„Sie hätten diese Nacht nicht in einer Zelle –,“ begann er sehr höflich, wurde aber schon bei dem Wort Zelle von Hosea unterbrochen:

„Kennen Sie ein billigeres, wärmeres, ruhigeres Hotelzimmer für einen Mann ohne Geld als eine Zelle? – Nennen Sie mir jemand, der gestern nacht froher war als ich, als Ihre Schergen mich mitnahmen?!“

Märker mußte lächeln. Hosea setzte sich auf den nächsten Stuhl und ich führte in längerer Rede aus, daß es ratsam wäre, wenn ich Hosea scheinbar vom Bahnhof nach Ankunft eines Berliner Zuges abholte, damit man im Spukhause auch wirklich daran glaube, daß er mein Freund Garblig sei und nicht etwa ein verkappter Kriminalbeamter.

Der Menümaler tat, als ginge ihn die ganze Sache nicht das geringste an. Selbst als ich ihm einen Hundertmarkschein reichte, damit er sich einen fertigen Anzug, Wäsche und so weiter kaufen könnte, blieb er stumm, steckte die Banknote nur wie gelangweilt in die Westentasche. Bei dieser Gelegenheit sagte ich:

„Dein jetziger Wintermantel ist auch nicht mehr gut genug für den Berliner Freund eines Hausbesitzers. Morgen kaufen wir ebenfalls einen neuen!“

„Meinst Du, Borwin Freiherr von Bock-Palluck wird einem Freunde einen uneleganten Mantel borgen?“ fragte er.

Aha – nun hatte ich es ja heraus! Daher das Monogramm B. v. B.!

Nachher bat Märker den Menümaler, ihn darüber aufzuklären, was Hosea eigentlich gestern abend in der Nähe meines Hauses gewollt hätte.

„Interessieren Sie sich auch für Baustil und Haartrachten, Herr Kommissar?“ entgegnete er. „Gefallen Ihnen die Skizzen des Gebäudes, die ich nachmittags anfertigte? Und können Sie alte Gemälde schon nach den Frisuren der darauf befindlichen Damen auf die Zeitepoche hin unterscheiden, zu der diese Damen gelebt haben sollen?“

Märker gab es auf, mehr aus Hosea herauszuholen. Dann aber fragte dieser nach einer Weile weiter: „Kennen Sie die Kneipe Zum feurigen Roß in Bäckershagen?“

„Nur dem Namen nach – von außen.“

„Ob dort außer dem Amtsschreiber Sauerbier, dem Lehrer Bruchstück und dem jetzt verschwundenen Kanzleirat Wehrhut noch mehr Einwohner des Spukhauses verkehren mögen?“

„Sie sind also in jener Kneipe gewesen, Herr Garblig, und scheinen dort mancherlei gehört zu haben, auch wohl, daß Wehrhut vielleicht ermordet worden ist.“

„Wenn Sie wie ich, in dem Kolonialwarengeschäft gegenüber dem Spukhause an der Glastür stehend, den Phantasiemörder aus dem Hause im bloßen Kopf herausstürzen gesehen hätten, als er den Schutzmann holte, wenn Sie weiter beobachtet hätten, wie er die Dame am Fenster und das Männergesicht eine Etage höher wie Ausgeburten der Hölle anstierte und dann weiterrannte, – wäre Ihnen dann nicht auch der Gedanke gekommen, daß etwas passiert sein müsse, und wären Sie dann nicht ebenfalls in die Kneipe gegangen, in der sich der Schutzmann Lanser nachher innerlich aufwärmte?!“

„Sie scheinen mir so etwas ins Handwerk pfuschen zu wollen, Herr Garblig,“ meinte Merker freundlich.

„Wofür halten Sie mich? Haben Sie schon mal für Geld eine Menükarte entworfen? Habe ich schon mal für die Aufklärung einer außergewöhnlichen Begebenheit den Titel Kommissar und Gehalt bekommen? Und – haben Sie die Bronzebüsten und die Statue in das Schränkchen gepackt, den Chauffeur, der es tragen half, gerufen und ihn gefragt, ob das Schränkchen wirklich so schwer war, wie jetzt mit dem angeblichen Inhalt?“

Merkers Gesichtsausdruck wurde gespannt.

„Wie, Sie wissen auch schon, daß ich bei Herrn Herbst gestern abend war? – Sie sind ein vielseitiger Mensch, Herr Garblig, – allerlei Hochachtung! – Übrigens Ihre Idee ist glänzend. Sie zweifeln also daran, daß die drei Kunstgegenstände in dem Schränkchen verpackt waren?“

„Wo soll Wehrhut wohl hingeraten sein? Ist das Haus so oberflächlich durchsucht worden?“

„Nein – im Gegenteil. – Aber der Kanzleirat kann vielleicht aus dem ersten Stock, aus der Wohnung Marvilles, an Stricken in den Gemüsegarten hinabgelassen worden sein.“

Hoseas Oberlippe schob sich sehr hoch. Die weißen Hauer blinkten höhnisch.

„Wann wirst Du mich von der Bahn abholen?“ fragte er, indem er so tat, als habe der Kommissar soeben einen Unsinn gesprochen, auf den eine Antwort überflüssig war.

Märker lächelte wieder ein wenig, holte ein Kursbuch, blätterte darin und sagte: „Um halb vier nachmittags läuft ein Personenzug aus Berlin ein.“

„Gut, also halb vier Hauptbahnhof, Wartesaal zweiter Klasse,“ meinte ich.

Hosea fragte darauf Märker: „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich auch so etwas um diesen Fall Wehrhut kümmere?“

„Durchaus nicht. Sie würden mir damit sogar einen Gefallen tun.“

„Ob dem Täter wohl auch? – Ganz sicher! Sie bringen keine Menükarte fertig, Herr Kommissar, und ich keinen Mörder an den Galgen. Ist es nicht besser, jeder Schuster bleibt bei seinem Leisten?“

Ich verstand Hosea nicht, und Märker wohl auch nicht. Zu längerem Nachgrübeln hatten wir auch keine Zeit, denn er fragte schon wieder:

„Was haben Sie über Wehrhut festgestellt? Wo lebte er, bevor er nach dem Spukhause kam?“

Märker erwiderte: „Es ist uns aufgefallen, daß der Kanzleirat so sehr ärmlich eingerichtet ist. Die Zimmer enthalten nur die allernotwendigsten Möbel. Dann ist es auch sonderbar, daß sich in der ganzen Wohnung nichts von Papieren vorgefunden hat, die auf den Verschwundenen Bezug haben, – nichts, nichts! Er ist jedoch ordnungsmäßig angemeldet, kam aus Berlin und lebte hier sehr zurückgezogen. Nur die Abende verbrachte er häufig im feurigen Roß, nachdem er mit Sauerbier bekannt geworden war.“

Es klopfte jetzt und ein Kriminalschutzmann trat ein, ein junger Mensch mit einem rosigen Gesicht, recht gut angezogen und sehr sicher auftretend.

„Was bringen Sie, Helmbach?“

„Darf ich vor den Herren,“ – dabei streifte sein Blick besonders Freund Hosea etwas zweifelnd – „meine Meldung erstatten?“

„Ja. – Also – was gibt es?“

„Vor einer halben Stunde ist ein Möbelwagen vor dem Spukhaus vorgefahren, um die Sachen Wehrhuts abzuholen. Alles hat seine Richtigkeit damit. Die Möbel waren von dem Auktionator Levisohn nur geliehen. Levisohn zeigte dem Schlossermeister Hähnchen und mir einen Brief vor, den der Kanzleirat gestern morgen geschrieben hat, so daß Levisohn das Schreiben heute früh erhielt. Der Brief beinhaltet die Aufforderung, die Sachen abzuholen. – Herr Hähnchen hat mir bestätigt, daß der Brief zweifellos von dem Kanzleirat geschrieben worden sei, ebenso auch die Frau Sauerbier. – Ich wollte nun fragen, ob der Levisohn die Möbel und alles übrige – denn er hat alles zur Einrichtung geliefert, jede Kleinigkeit, selbst die Bücher auf dem Fichtenholzschreibtisch und die Gaslampen – mitnehmen darf, weil doch nun schon mal der Möbelwagen da ist.“

„Hm – Halfner hat ja gestern die Zimmer und die Sachen durchsucht – nun gut. Nur der Läufer im Flur soll liegen bleiben, und über den Blutfleck soll ein Brett gedeckt werden, damit er nicht verwischt wird.“

„Darf ich dann von hier gleich telephonieren? Der Herr Major von Balting wollte, da er Telephon hat, Ihre Entscheidung Levisohn mitteilen.“

Nachdem Helmbach das kurze Gespräch erledigt hatte, indem er sich des auf dem Tische des Kommissars stehenden Apparates bediente, fragte er Märker, ob dieser noch Befehle für ihn hätte.

„Nein. – Aber – haben Sie sich schon überlegt, in welcher Maske Sie die Arbeit dort beginnen wollen?“

„Am liebsten gar nicht, Herr Kommissar. Ich halte diese Mühe für zwecklos. Ich bin bedeutend ungebundener, wenn ich nach der bisherigen Methode arbeite.“

Ich verstand. Helmbach war der Beamte, den Märker hatte in das Haus einschmuggeln wollen. Aber ich glaubte auch herauszufühlen, daß Helmbach nur vor Hosea und mir so tat, als verlohne sich dieses Einschmuggeln in das Spukhaus nicht. Er wollte eben seine Absichten vor uns nicht enthüllen. –

Märker nickte und meinte: „Das überlasse ich ganz Ihnen.“

 

Fünftes Kapitel.

Als Helmbach das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Märker an Hosea. – Ich war bereits als kriminalistische Null ganz ausgeschaltet, trotzdem nicht verletzt oder eifersüchtig.

„Ist es nicht ein seltsames Zusammentreffen, Herr Garblig, daß Wehrhut gestern früh – ausgerechnet gestern früh! – den Auktionator anweist, die Sachen abholen zu lassen?“

„Was hat der Kanzleirat gestern tagsüber bis zu dem „Ereignis“ getrieben?“

„Oh – wir haben hierüber bereits ganz sichere Angaben. – Er ist vormittags um neun Uhr spazieren gegangen, kehrte um zehn zurück und blieb daheim. Um zwölf Uhr wurde ihm wie immer aus dem feurigen Roß das Mittagessen geschickt – in einer Menage[3], die ihn der Kellnerjunge der Kneipe regelmäßig brachte. Um zwei hat dieser Junge die Menage wieder abgeholt. – Dann wissen wir eben nur noch das, was die Zeugen Balting, Frau Hähnchen und Herr Malwa ausgesagt haben, – daß Wehrhut wie tot im Flur lag. Und dies war etwa gegen ein viertel vier Uhr nachmittags.“

Hosea stand auf. „Wir dürfen uns jetzt empfehlen, Herr Kommissar?“

„Bitte sehr. – Auf Wiedersehen, meine Herren. Ich werde mir erlauben, Sie gelegentlich zu besuchen, Herr Malwa.“

„Soll mich freuen, Herr Kommissar.“

„Werden Sie oft kommen?“ fragte Hosea unfreundlich.

„Keine Sorge. Nicht zu oft!“

Nach wenigen Minuten standen wir in der Vorhalle des Polizeipräsidiums.

Mich quälte schon seit einer Weile ein bestimmter Gedanke.

„Hör’ mal, Menümaler,“ fragte ich leise, „wenn Du nun in Bäckershagen als mein heute erst aus Berlin eingetroffener Freund auftreten willst, werden Dich dann nicht vielleicht Leute wiedererkennen, denen Du doch gestern schon begegnet bist, – so zum Beispiel der mir gegenüberwohnende Krämer, von dessen Laden aus Du mich doch erspäht haben willst –?!“

„Bist du ein Idiot?!“ – Da kam gerade ein Briefträger vorüber, und Hosea schoß auf ihn zu.

„Wann wird hier in Palmburg abends die letzte Post bestellt?“ hörte ich ihn fragen.

„Um sieben Uhr, Herr.“

„So, danke. – Und wenn in der Vorstadt Bäckershagen ein Brief zwischen neun und zehn vormittags in den Kasten geworfen wird, wann muß ihn dann ein in Palmburg wohnender Empfänger normalerweise erhalten?“

„Hm – zwischen neun und zehn –? – Na – ganz bestimmt mit dem letzten Bestellgang, also um sieben herum. Aber wahrscheinlich sogar schon um fünf nachmittags.“

„Danke sehr.“ Und Hosea kam wieder zu mir zurück, lächelte ironisch und meinte: „Ob der Kellnerjunge aus dem feurigen Roß Dir wohl gegen eine in die Hand gedrückte Mark sagen würde, ob Wehrhut ihm gestern Mittag einen Brief mitgegeben hat?“ Ohne dann eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Hältst du den dichtenden Kommißbock für so geizig, daß er mir nicht auch mit Geld ausgeholfen haben sollte, wo es galt, Dich zu schützen?“ Dabei zog er den Hundertmarkschein hervor und gab ihn mir hohngrinsend wieder.

„Aber – man hat doch bei Dir kein Geld gefunden?!“ wagte ich einzuwenden.

Er nahm das schmale Skizzenbuch aus der Brusttasche des eleganten B. v. B.-Mantels, schlug es auf, zeigte auch zwei der letzten Blätter, die an den Rändern zusammengeklebt waren, und meinte:

„Ob hier wohl glattgelegtes Papiergeld so leicht gefunden wird?“

Das Skizzenbuch verschwand wieder in der Tasche.

„Was macht einen besseren Eindruck, – wenn Dein Berliner Freund sehr wohlhabend ist oder ein armer Schlucker?“ fragte er dann. „Ist Reichtum nicht stets ganz gut, wenn man Dinge vorhat wie ich? Wirst Du es geschickt anfangen, den Hausbewohnern beizubringen, daß ich vermögend bin?“

Ehe ich noch antworten konnte, zog er vor mir den Hut wie vor einem Wildfremden und ging davon.

Die schwere Tür schlug langsam wieder zu, während ihre Luftbremse leise zischte.

Hosea war wirklich ein toller Kauz!

Auch ich verließ nun das große Gebäude und fuhr mit der Elektrischen nach Bäckershagen hinaus.

Von Hosea war nichts mehr auf der Straße zu sehen gewesen. –

In meinem Wohnzimmer fand ich den Tisch schon gedeckt. Gleich darauf kam auch Frau Guste Hähnchen mit einem Riesentablett, auf dem Teller, verdeckte Schüsseln und so weiter standen, und enthüllte dann vor mir die verlockendsten Reize eines üppigen Mittagessens.

Während ich die Erbsensuppe mit den gerösteten Brotwürfeln darin behaglich auslöffelte, erzählte die Meisterin mir haarklein die Geschichte von Levisohn und den Möbeln.

„Da der Kanzleirat nur bis zum 1. April gemietet und die Miete im Voraus gezahlt hatte, schadet’s ja nichts, daß der alte Möbelkram wegkam,“ meinte sie. „Mein Mann rät Ihnen, die Wohnung zu annoncieren, Herr Malwa. Vielleicht werden Sie sie bald wieder los und schlagen so noch bis zum Quartal doppelte Miete heraus.“

„Hm – sehr geschäftstüchtig gedacht, liebe Frau Hähnchen, – nur – bedenken Sie, – der Kanzleirat kann ja womöglich wieder auftauchen!“

„Nein, Herr Malwa, das ist ausgeschlossen! – Oder – meint der Herr Kriminalkommissar etwa, daß damit zu rechnen wäre? – Sie fuhren doch heute mit ihm nach der Stadt.“

„Oh – Märker ist verschwiegen wie Moltke, Meisterin! Der äußert sich über nichts. – Ich bat ihn, mich nach Palmburg mitzunehmen, weil ich für meine Tante einen Marmorstein und ein Grabgitter bestellen wollte.“

Ich war mit der Erbssuppe fertig und ging zu geschmorten Hammelrippchen über.

Ich erzählte Frau Hähnchen jetzt, nachdem ich die Suppe nach Gebühr gelobt hatte, daß ich gestern abend noch meinem Freunde Garblig, einem reichen Maler, eine Depesche geschickt und ihn gebeten hätte, mich zu besuchen.

„Garblig ist Kunstmaler, Meisterin, und wird hier vielleicht recht hübsche Wintermotive finden. Ich bin das Alleinsein nicht gewöhnt. In Berlin lebt man ja stets wie in einem Bienenhaus. – Lassen Sie also doch noch ein zweites Bett in den Salon stellen. Ich erwarte Hosea – ein etwas komischer Vorname – so heißt nämlich einer der kleinen Propheten in der Bibel! – bereits heute nachmittag. – Würden Sie uns beide auch weiter beköstigen?“

„Gern, Herr Malwa. Wird alles besorgt werden. – Das Schlafzimmer Ihrer Tante wollen Sie also nicht benutzen?“

„Nein. Ich möchte erst Garblig fragen, ob er sich nicht scheut, dort zu nächtigen. Er ist etwas ängstlich, offen gestanden. Jedermanns Geschmack ist es ja auch nicht, in einem Raume zu schlafen, in dem – Na – Sie wissen schon, was ich meine.“

Sie seufzte, nickte eifrig und schaute nach dem Ölgemälde hin. –

Nach dem Essen schnappte ich im Gemüsegarten etwas frische Luft. Bald gesellte sich der Major zu mir, der ein Tesching[4] mithatte, um Krähen zu schießen.

„Haben Sie etwas Neues über die traurige Geschichte von gestern erfahren?“ fragte er.

„Nichts: Die Polizei schweigt sich aus.“

„So – na ja!“ Er hüstelte. Dann: „Meinen Sie, daß der Maler Merling wirklich mit der Sache etwas zu tun hat? – Mein Weibervolk ist jetzt rein des Teufels, sag’ ich Ihnen! Im Vertrauen nämlich: Meine Irmgard und der Merling, – da spinnt sich was an! Und nun verlangen meine drei Mädels, die natürlich für des Malers reines Gewissen den Kopf auf den Block legen wollen, ich solle irgend etwas tun, um Merling von diesem Verdacht schleunigst zu reinigen. – Stellen Sie sich vor, Herr Malwa: Ich soll etwas unternehmen – ich, bei dieser Geschichte, einem Kapitalverbrechen, mit dem sich die Behörde beschäftigt – die Behörde! – Hm – und – na, ja – also meine Jüngste, die ist nun ganz besonders schlecht auf Sie zu sprechen – auf Sie! – Leider Gottes! Mir sind Sie nämlich recht sympathisch – Tatsache! – Sie sollen an allem schuld sein, obwohl Sie doch eben nur Ihre Pflicht als guter Staatsbürger erfüllt haben – was meine Weiber oben natürlich nicht verstehen! – und ausgesagt haben, was Sie gesehen hatten: Merlings Gesicht am Fenster des Kanzleirats! – Hm – jetzt liegt ja eine Nacht dazwischen. Und nachts überlegt man sich so manches. Sind Sie überzeugt – noch immer überzeugt, daß es wirklich Merling war, den Sie erblickten?“

„Er war es bestimmt, Herr Major!“

„So – so! – Arme Irmgard! – Wenn ich ihr dies mitteile, dann – Aber – hallo! – da kommt sie selbst! Wird uns wohl vom Fenster aus bemerkt haben. – Nun gnade Ihnen Gott, Herr Malwa!“

Ich muß sagen, daß die jüngste Balting mir hier draußen in der klaren Beleuchtung des Wintertages weit weniger gefiel als gestern in dem halbdunklen Flur. Gewiß – hübsch und rassig war sie! Aber – an ihrer Kleidung, ihrer Frisur und auch an ihrem Gesicht machte ich jetzt Beobachtungen, die nicht sehr für sie sprachen. Sie war etwas nachlässig angezogen, das Haar recht genial geordnet, und die Wangen zeigten eine starke Puderschicht, während die Augen wieder künstlich unterschattet zu sein schienen. Der Blick dieser Augen war auch nicht offen und frei, sondern stand zuweilen mit dem Lächeln und den Worten der etwas sinnlichen Lippen für einen kritischen Beschauer stark im Widerspruch.

Irmgard von Balting begrüßte mich zunächst wie einen alten Bekannten durch Handschlag, sagte etwas burschikos: „Mahlzeit, Herr Malwa“ und ging dann direkt auf ihre Ziel los, indem sie ziemlich dieselben Worte gebrauchte wie ihr Vater: ob ich wirklich davon ganz fest überzeugt sei, Merling am Fenster gesehen zu haben.

„So leid es mir tut, gnädiges Fräulein, – ich muß mit ja antworten.“

„Dann begreife ich Herrn Merling nicht,“ meinte sie bedächtig. „Er hat mir heute vormittag versichert, daß er nicht in des Kanzleirats Wohnung gewesen wäre. – Nun, man kann den Leuten ja schwer ins Herz sehen. Er ist mein Lehrer, und die Dankbarkeit veranlaßte mich, ihn auch Papa gegenüber in Schutz zu nehmen. Sein Malunterricht hat mich sehr gefördert. Ob ich die Stunden unter diesen Umständen aber noch fortsetzen soll, erscheint mir etwas zweifelhaft, da sich Herrn Merling vielleicht dazu nicht in der Stimmung befindet –“

„Wie, Kind, Du wolltest –,“ meinte der Major ganz fassungslos. „Aber – aber wird Merling ein solches plötzliches Aufgeben der Stunden nicht vielleicht –“

„Papa, wenn er Feingefühl besitzt, wird er verstehen, daß es von meiner Seite nur Rücksichtnahme auf seine bedrückte Gemütsverfassung ist. Ich werde ihm das auch schreiben.“

„Schreiben –?!“ echote der Major verdutzt.

Irmgard glitt über diesen Punkt schnell hinweg.

„Ist es wahr, Herr Malwa, daß Sie Besuch erwarten? – Frau Huhn,“ sie belachte den Scherz wie ein Backfisch – „hat unserer Minna, der Köchin, soeben erzählt, ein mehrfacher Mil–li–o–när träfe noch heute ein, – ein Mil–li–o–när, – oh, Minna kriegte das Wort gar nicht über die Lippen! – Sagen Sie, rodeln Sie gern, Herr Malwa? – Wir haben da drüben in den Bergen – eigentlich sind’s ja mehr Hügel! – eine feine Bahn uns ausgesucht mit drei famosen Kurven. Sie müssen mitmachen, Herr Malwa, – Sie müssen!“

„Gern, gnädiges Fräulein.“

Der Major verabschiedete sich jetzt. Er war offenbar etwas verlegen, als er mir die Hand gab und seiner Krähenhütte dann eilig zustapfte. Er dachte sicherlich daran, daß ich ihm jetzt wohl nicht mehr recht glauben würde, was er vorhin über sein Weibervolk gesagt hatte – „Kopf auf den Block legen“ – und so!

Und ich erklärte Fräulein Irmgard sehr bald, ich müßte jetzt nach Palmburg fahren, sonst käme ich nicht mehr zur Zeit zum Bahnhof. –

Der Menümaler saß im Wartesaal zweiter Klasse bei einer Tasse Kaffee. Neben seinem Tisch standen eine neue Handtasche und ein mittelgroßer, ebenso nagelneuer Koffer.

Er selbst hatte sich inzwischen in einen reinen Gecken verwandelt, so daß ich am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Sogar ein randloses Monokel hatte er eingeklemmt, und der blütenweiße Stehkragen war von beängstigender Höhe – wie ein Geradehalter für den Schädel.

Hosea grinste mich überlegen an, rief den Kellner und zahlte. Dabei konnte ich an seiner Linken zwei prachtvolle Brillantringen und einen dritten Ring mit vier köstlichen Smaragden, a jour-gefaßt, bewundern. – Natürlich Simili, – aber – die Aufmachung wirkte!

Eine halbe Stunde darauf rollte unser Auto vor dem Hause vor.

Hosea trug zu Lackschuhen hellgraue Gamaschen, wie mir jetzt erst auffiel, als wir durch den Vorgarten schritten und ich feststellte, daß oben bei Majors hinter den Vorhängen mehrere Köpfe unseren Einzug beobachteten.

Im Hausflur kam uns Meister Hähnchen entgegengestürzt, um Hosea die Handtasche und die Reisedecke abzunehmen.

Der Menümaler ließ sich Gottlieb Hähnchen in aller Form vorstellen, faßte an den Hutrand, deutete auf die Treppe und sagte herablassend: „Gehen Sie nur voraus, mein Lieber!“

Oben fanden wir den Kaffeetisch gedeckt, und bald tauchte Frau Guste mit einem Riesenteller frischgebackener Apfelkuchen auf, die geradezu lieblich dufteten.

Während er dann gleich drei Apfelkuchen mit Zucker bestreute und aufeinanderlegte, um den einzelnen Bissen umfangreicher zu machen, mußte ich berichten, was der Kellnerjunge im feurigen Roß gesagt hatte, wo ich noch schnell angesprungen war, bevor ich nach Palmburg fuhr. – Wehrhut hatte jenem keinen Brief mitgegeben.

„Was meinst Du, Phantasiemörder, ob der Levisohn den Brief noch haben mag?“ meinte Hosea kauend.

„Nein, – Meister Gottlieb hat ihn, wie mir Frau Guste erzählte. Levisohn ließ ihn dort liegen, nachdem Hähnchen und Frau Sauerbier erst die Echtheit der Handschrift des Kanzleirats bestätigt hatten.“

„Was für eine Sorte Papier mag Wehrhut benutzt haben?“ fragte Hosea, abermals drei Apfelkuchen präparierend.

„Das heißt also, ich soll den Brief holen,“ meinte ich lachend und eilte zu Hähnchens hinab.

Als ich das Wohnzimmer wieder betrat, hatte Hosea bereits in der ganzen Wohnung die Gaslampen angezündet. Er selbst war jedoch nicht da. Die Kuchen hatte er in die heiße Ofenröhre gestellt.

Ich rief, – und er meldete sich schließlich aus dem Schlafzimmer, wo er, eine Zigarette im Mundwinkel, auf dem Diwan saß.

„Was treibst Du hier?“ – Ich betonte das hier.

„Weshalb schlafen wir nicht in diesem Zimmer?“ war seine Antwort.

„Wenn Du es wünscht –“

„Eiche, nicht wahr?“ Und er klopfte mit der Fußspitze auf die Dielen.

„Ja, und sehr gut erhalten.“

Dann saßen wir wieder am Kaffeetisch.

Hosea überflog den an Levisohn gerichteten Brief und steckte ihn samt dem Umschlag in die Tasche.

„Hast Du ihn gelesen?“ meinte er. – Ich nickte. „Was ist Dir aufgefallen?“ – „Nichts.“

Er murmelte etwas, das sehr nach Idiot klang und fuhr fort: „Steht nicht unter dem Datum des gestrigen Tages noch etwas?“

„Ja –: morgens!“

„Und das fällt Dir nicht auf? – Welcher Mensch wird in einem solchen Falle noch „morgens“ hinzufügen –?!“

Er nahm den Brief wieder aus der Tasche und reichte ihn mir.

„Poststempel sind manchmal vielsagend, nicht wahr?“

Ah – die Briefmarke war ja in Palmburg abgestempelt, und zwar gestern zwischen sieben und acht Uhr abends.

Ich schaute Hosea verdutzt an.

„Morgens in Bäckershagen geschrieben, abends erst in Palmburg in den Kasten – komisch, nicht?!“ lächelte er ironisch.

„Ob Herr Moses Levisohn ahnt, daß er einen Brief von einem Manne erhalten hat, der schon erschossen war, als er ihn schrieb?!“ höhnte der Menümaler mit vollem Munde, so daß seine Worte etwas undeutlich klangen.

Ich war sprachlos. „Was – was willst Du damit sagen, Hosea?“ stotterte ich.

„Wirst Du morgen oder übermorgen an den Herrn die Wohnung Wehrhuts vermieten?“ entgegnete er und steckte den Brief in die Tasche.

„An welchen Herrn?“

„Weißt Du schon, wie er aussieht?“

„Wer, – wer –?! – Hosea, Du kannst einem rein um den Verstand bringen mit Deiner verdammten Art!“

Er lachte in sich hinein. Dann: „Der Herbst ist gekommen, der Herbst ist gegangen, – findest Du das nicht merkwürdig?“

„Nein, ich finde es nur folgerichtig!“ sagte ich in meiner Verzweiflung, nur um ihn durch Widerspruch zu reizen.

Die Oberlippe zuckte nach oben wie eine Fahne grimmen Hohnes.

„Folgerichtig – folgerichtig! Kind, das war ja ein Schuß ins Schwarze, ins Zentrum, – aber durch Zufall! – Weißt du denn, wer Herbst ist? Gewiß, der Käufer des Schränkchens und der drei schweren Kunstgegenstände, nicht wahr? Aber sonst – sonst noch? Hättest du diesen Mann, der seit Wochen in einem Fremdenheim in Palmburg wohnt, verreisen lassen, wie dies Märker tat, den ich heute nachmittag halb drei Uhr nochmals aufsuchte?! Ja, hättest Du es getan? Und nur deswegen, weil der Chauffeur das mit den drei Gegenständen belastete Schränkchen für ungefähr so schwer hielt wie gestern, als er es zusammen mit Marville in das Auto trug, und weil Herbst sich durch Papiere als harmloser Aufkäufer einer Münchner Kunsthandlung ausweisen konnte?! – Hast Du schon mal gefälschte Papiere gesehen?! – Der Herbst stellt sich nach jedem Sommer wieder ein! Dieser Herbst wird ausbleiben, oder meinst Du etwa nicht?!“

„Du hältst also daran fest, daß Wehrhut mit Hilfe des Schränkchens aus meinem Hause weggeschafft wurde?“ fragte ich gespannt.

„Gibt es eine andere Erklärung?! Und – gibt es überhaupt ein Verbrechen, das so merkwürdig ist, wie dieses?! Werden wir der Wahrheit je auf den Grund kommen? – Erwin Malwa, ist es nicht eine Lust, hier zu leben? Gibt es etwas Schöneres als dieses Knäuel von Geheimnissen, dieses alte Haus mit seinen Bewohnern, die alle mitspielen in unserem großen Drama?!“

Er war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und ab. Seine großen, dunklen Augen leuchteten. Ich sah jetzt wieder, wie schön, wie ausdrucksvoll sie waren.

Dann blieb er vor dem Bilde der Tante stehen.

„Hermine Löckner,“ sagte er, „wo ist das Kleid, das Du auf diesem Gemälde trägst? Du hast alle Deine Kleider, Mäntel, Umhänge seit Jahren sorgsam aufbewahrt? Wo ist dieses eine Kleid?“

Ich verstand ihn. – „Wir wollen die Schränke durchsehen, Hosea! – Hier, die Zigarren sind gut.“

„Wo ist der Zettel mit der Geheimschrift?“

Ich gab ihn ihm und ging allein das Kleid suchen.

Nach einer Viertelstunde kam ich in das Wohnzimmer zurück. Ich hatte das Kleid nicht gefunden. Hosea war, was die griechischen Buchstaben anbetraf, glücklicher gewesen. Er las mir den Mißerfolg vom Gesicht ab und fragte:

„Würdest du mir nochmals mit allen Einzelheiten schildern wollen, was Dir hier seit Eintritt in dieses Haus begegnet ist? Ob wohl Kleinigkeiten belanglos sind in einem Falle wie diesem?“

Ich setzte mich, steckte mir auch eine Zigarre an und blickte neugierig auf den Zettel mit den griechischen Buchstaben, auf den Hosea jetzt mit Bleistift eine Reihe deutscher Worte geschrieben hatte.

Schließlich tat ich einen schnellen Griff nach dem Papier und überflog die neue Niederschrift:

„Wehrhut und Marvilles haben heimlich sehr oft miteinander verkehrt und sich besucht. Beider Wohnungen sind oder waren durch eine besondere Telephonleitung verbunden.“

Die Hand, die das Papier hielt, sank mir schwer herab.

Ich blickte nach Hosea hin, der an den weißen Kachelofen gelehnt dastand.

„Willst du nun bitte alle, aber auch alle Einzelheiten erzählen?“ sagte er fast befehlend. – Ich bemühte mich, recht ausführlich zu sein.

Als ich nun berichtete (und dies hatte ich Märker gegenüber zu erwähnen vergessen!), daß, während ich noch mit Frau Guste im Treppenflur des ersten Stocks gestanden hatte, eine Etage höher anscheinend eine Tür leise geöffnet worden war, dann eine Diele zweimal geknarrt und darauf eine elektrische Glocke kurz angeschlagen hatte, gebot Hosea mir plötzlich durch eine Handbewegung Schweigen.

„Knarrten die Dielen auch, nachdem der Schuß gefallen war?“ fragte er, daß „nachdem“ betonend.

„Ja. Ich glaube nicht, daß ich mich getäuscht habe!“

„Hast Du den Flurschlüssel zu Wehrhuts Wohnung?“

„Er hängt im Flur an dem großen Brett.“

„Ob ich Dir die Szene nochmals vorspiele?“

„Welche Szene?“

„Willst Du hinuntergehen und Dich in der ersten Etage aufstellen, und zwar dort, wo Du mit der Meisterin gestanden hast?“

Ich gehorchte. Auch im Treppenhause brannte schon überall das Gas. Es war hier bitterkalt. Hoffentlich brauchte ich nicht zu lange frieren.

Ah – im zweiten Stock wurde eine Tür vorsichtig geöffnet, dann knarrte eine Diele zweimal, dann – schrillte eine Glocke, und dann – ich fuhr entsetzt zusammen! – Ein dumpfer Knall, gleich darauf abermals das Knarren der Dielen, – und nun Hoseas Stimme von oben: „Schnell – schnell – komm’ herauf!“

Mit ein paar Sätzen erreichte ich meine Wohnung. Und doch hatte, gleich nachdem Hosea mich rief, ein leises Geräusch hinter mir mich bewogen, den Kopf nach Marvilles Tür zu drehen –

Ich hatte Doris Marville in das blasse Gesicht geschaut, das durch die Türspalte lugte. In des Mädchens Augen lagen Schreck und Angst –

Oben drückte Hosea die Flurtür hinter mir lautlos ins Schloß, fragte dann mit einem triumphierenden Lächeln:

„War die Szene genau so? Habe ich sie gut gespielt?“

„Vorzüglich. Nur hat leider Doris Marville mich gesehen. Und ihre Mienen deuteten auf Schreck und Furcht.“

„Doris Marville? – Ob wir ihr die Sache nicht jeden Tag vormachen? – Vielleicht – vielleicht –?!“ Und er ging wieder in das Wohnzimmer zurück.

 

Sechstes Kapitel.

Gleich darauf klingelte es.

Ich ging öffnen. Es war Herr von Balting-Gattary.

„Haben Sie geschossen, Herr Malwa?“ meinte er ärgerlich.

Was sollte ich erwidern? – Ja oder nein? – Wie leicht durchkreuzte ich durch eine ungeschickte Antwort Hoseas schönste Pläne.

„Wollen Sie nicht nähertreten, Herr Major?“ bat ich sehr verbindlich. Ich wollte Zeit gewinnen.

Da erschien auch schon der Menümaler. – Ich machte die Herren miteinander bekannt, und wir gingen ins Wohnzimmer, wo Balting sich setzte und dann sofort dieselbe Frage tat.

„Sie haben also den Schuß gehört, Herr Major?“ meinte Hosea. „Oh, es tut mir sehr leid, daß ich Sie und Ihre Damen vielleicht erschreckt habe. Verwünschte Ungeschicklichkeit! Ich ließ meinen Revolver fallen. – Erwin, reiche dem Herrn Major doch eine Zigarre –“ – Hosea redete wie ein Wasserfall. Balting kam jedenfalls kaum zu Wort. Als er dann ging, mußten wir ihm versprechen, ihn nach dem Abendbrot ganz zwanglos zu besuchen. Hosea sagte für uns beide dankend und sehr bereitwillig zu.

Dann erschien Frau Hähnchen in Begleitung ihres Mannes mit einem Tablett voller leckerer Sachen. Hosea erklärte etwas unvermittelt, der biederen Meister hätte einen wahren Charakterkopf, nahm sein Skizzenbuch vor und entwarf in wenigen Minuten eine verblüffend ähnliche Zeichnung Gottlieb Hähnchens, die er dann dem Hochbeglückten mit der darunter geschriebene Widmung schenkte: „Dem guten Geiste des Spukhauses zur freundlichen Erinnerung, Hosea Garblig.“

Als wir wieder allein waren, sagte er feixend:

„Ob Gottlieb jetzt wohl glauben wird, daß ich Maler bin?! – Er wie alle Hausbewohner sollen nicht etwas denken, ich sei Kriminalbeamter.“

Kurz bevor wir dann zu Baltings gingen, kam noch das alte Schneiderlein, dem ich auf Empfehlung Frau Hähnchens die Verarbeitung der Kleidungsstücke der Tante übertragen hatte, und brachte mir den Pelz, der tadellos saß und in dem ich mir wie ein Nabob[5] erschien. –

Der Major war seit sechs Jahren Witwer. Die drei Töchter Asta, Margot und Irmgard führten den Haushalt mit Hilfe des alten Inventarstücks von Köchin, der im ganzen Hause ob ihrer bösen Zunge berüchtigten Minna, betätigten sich aber noch nebenbei künstlerisch und schienen recht erwerbstüchtig zu sein. Irmgard malte als Spezialität imitiert alte Holländer Bauernteller, Asta schrieb Novellen und Artikeln für Frauenzeitungen und Margot war Bildhauerin.

Wir wurden sehr herzlich und wirklich sehr zwanglos empfangen, saßen dann im Salon um den großen Tisch herum, tranken Glühwein, naschten Nüsse und Pfefferkuchen, rauchten (auch die Damen!), und fühlten uns bald wie zu Hause.

Hosea wurde von den drei Damen förmlich belagert, so daß ich mich ganz dem Major widmen konnte, der von seinem Aufenthalt in den Kolonien recht interessant zu erzählen wußte.

Freund Menümaler hatte inzwischen bereits eine Auswahl getroffen, welcher der jungen Damen er sich hauptsächlich widmen solle. Es war dies Margot, die etwas stiller und gesetzter als die beiden anderen zu sein schien und vorhin für Marvilles sehr energisch eingetreten war, als Irmgard eine wegwerfende Bemerkung über den früheren „Sträfling“ gemacht hatte. Da hatte sie nämlich gesagt: „Marville hat nie zugegeben, den Diebstahl im Museum verübt zu haben. Und wenn man ihn sieht, kann man schwer glauben, daß er einen Einbrecher ist.“

Irmgard wurde sichtlich verstimmt, als sie merkte, daß Hosea jetzt hauptsächlich sich mit Margot beschäftigte. – Ich gewann immer mehr den Eindruck, die jüngste Balting wäre eine recht berechnende, tieferen Gefühlen ganz unzugängliche Natur und – auf der Jagd nach einer guten Partie –!

Hosea war es dann, der um dreiviertel zwölf aufbrach, obwohl der Major lebhaft gegen dieses „vorzeitige Abrücken in die Quartiere“ Einspruch erhob. Doch der Menümaler verstand so meisterlich den von der Reise Ermüdeten zu spielen, daß wir glücklich fünf Minuten vor Mitternacht in meiner Wohnung waren.

Ich war neugierig, ob Hosea für die Nacht besondere Vorbereitungen treffen würde.

Nichts davon. Er verschloß nur die beiden Türen unseres Schlafzimmers, des dergestalt entweihten Salons, nachdem er sich noch die Zigarrenkiste und die Kognakflasche aus dem Buffet geholt hatte.

Dann zog er den Rock und die Stiefel aus und setzte sich in einen der Seidensessel, indem er mir zuwinkte, dasselbe zu tun.

„Ich denke, wir plaudern noch ein wenig,“ meinte er. „Vor ein Uhr morgens möchte ich das Licht nicht auslöschen. Du weißt, ich bin mit den Nerven sehr herunter, und in Deinem Hause sollte man gerade die Geisterstunde über das Gas stets brennen lassen.“

Ich wunderte mich, daß er auch mir gegenüber jetzt wie ein normaler Mensch sprach, wunderte mich nicht weniger über den Inhalt seiner Sätze, die mir ganz den Eindruck machten, als wären sie mehr für einen heimlichen Lauscher als für mich bestimmt.

Und dieser Eindruck verstärkte sich noch durch das, was Hosea weiter tat und sprach.

„Gieße mir einen Schnaps ein, Erwin,“ meinte er nach einer Weile. „Ich merke geradezu, wie ich nur ständig aufpasse, ob ich nicht irgend welche unheimlichen Geräusche höre. Alkohol ist zwar eine schlechte Medizin, aber – er täuscht doch Mut vor.“

Dann steckte er sich eine Zigarre an und sagte:

„Wir haben Dir des Majorstöchter gefallen? – Mir imponiert ihr Fleiß. Ich glaube, sie verdienen ganz nett zu den Kosten des Haushaltes mit hinzu. Die Margot ist offenbar die am meisten talentierte. Die Modelle künstlerischer Tintenfässer haben mir sehr gefallen, und das ist nicht etwa ironisch gemeint.“

Ich schnitt gerade die Spitze von meiner Zigarre ab, als – mir die kleine scharfe Klinge in das Daumenfleisch fuhr. Und das hatte seinen guten Grund: Schreck!

Ein seltsamer Ton durchzitterte plötzlich das Haus – ein helles Kreischen, zuweilen ein paar Sekunden anhaltend, dann wieder kurz abgerissen wie entsetzliche Aufschreie. – Die Töne wurden schwächer, dumpfer, schwollen wieder an, hörten auf, begannen wieder – Woher sie kamen, war nicht festzustellen – Zuweilen schien es, als befände sich die Quelle der unheimlichen Musik dicht vor der Salontür im Flur, dann wieder, als läge sie draußen vor den Fenstern oder in der Wohnung Marvilles.

Ich saugte mir den Schnitt aus und blickte dabei Hosea an. Die Oberlippe stand ganz schräg vor Hohn, und die weißen, großen Vorderzähne leuchteten wie die Bestandteile eines künstlichen Gebisses.

Dann rief er laut:

„Erwin, das ist ja furchtbar!“ Und er tat, als ob er sich die Zeigefinger in die Ohren bohrte.

Die gräßliche Musik dauerte etwa drei Minuten.

Ich gebe zu: wäre ich heute wieder wie gestern allein gewesen, so hätte ich mich sicher abermals unter das Zudeck verkrochen.

Die Töne machten einem wirklich die Nerven vibrieren –!

Als wieder friedliche Stille eingetreten war, seufzte Hosea erleichtert auf.

„Nur gut, daß wir nicht das Schlafzimmer Deiner Tante bezogen haben,“ sagte er. „Dort wäre ich vor Angst umgekommen. – Gieß’ mir noch einen Kognak ein. – So danke – Dein Wohl! – Ob ich lange Dein Gast bleiben werde, lieber Freund, bezweifle ich. Dieses Haus ist mir zu ungemütlich. Womöglich taucht auch noch das Gespenst im Garten auf oder die andere Erscheinung, die der Lehrer Bruchstück gesehen haben will – Das wäre für mich das Signal zur schleunigen Rückkehr nach Berlin.“

Es war klar: er nahm an, daß wir belauscht wurden! Sonst hätte er mir doch nicht derartigen Unsinn vorgeschwatzt.

„Ich bitte Dich inständig, Hosea: laß mich hier nicht allein,“ erwiderte ich, seinem Gedankengang folgend. „Ich muß Dir ein Geständnis machen. Aber verspricht mir, hier zu bleiben, sonst behalte ich das Geheimnis lieber für mich.“

Plötzlich sah ich nun, wie er unauffällig den Zeigefinger auf die Lippen legte.

Ich schwieg daher.

Und mir war’s nun, als hörte ich im Flur vor unserer Tür ein leises Schlurfen wie von müden Schritten.

„Na, – heraus mit Deiner Beichte, Erwin!“ rief Hosea dann. „Hast Du etwa den Geist Deiner armen Tante zu sehen bekommen?“

„Ja – leider. – Natürlich glaube ich nicht an Geister. Aber der Schreck war furchtbar. Heute früh, als der Morgen graute, saß sie dort drinnen am Schreibtisch. Es war eine Sinnestäuschung, – aber meine Nerven beben noch, wenn ich daran denke!“

„Sinnestäuschung, – hm ja! – Weißt Du, ich möchte morgen doch lieber nach Berlin zurück, – wirklich, Erwin, es ist besser so. Hier werde ich krank!“

Ich bat nun wieder so inständig, daß er schließlich erklärte, noch drei Tage bleiben zu wollen.

Dann meinte er, er möchte nun zu Bett; ob auch ich bereits müde wäre.

Wir gingen also schlafen. Hosea stellte sich zwei brennende Stearinkerzen auf den Nachttisch und blätterte noch die Kontobücher meiner Tante durch.

Ich schlief bald ein und erwachte erst, als Hosea mich derb rüttelte.

Die Sonne lag bereits wieder auf den Fenstern. Es war neun Uhr vormittags. – Hosea war schon fix und fertig angezogen.

„Soll ich allein ohne Dich Kaffee trinken?!“ sagte er brummig.

Ich sah jetzt durch die halb offene Flügeltür, daß der Frühstückstisch im Wohnzimmer gedeckt war. Frau Hähnchen mußte also schon hier gewesen sein.

Während ich mich vor dem großen Eckspiegel rasierte, ging Hosea in den beiden Räumen wie ein Raubtier im Käfig finster auf und ab.

„Du scheinst schlecht geschlafen zu haben?“ meinte ich.

Er lachte kurz auf. „Weißt Du, was ein Blitzableiter ist?“

„Ein Apparat, um –“

„So?! Ein Apparat? – Na gut! – Ein solcher Apparat ist in diesem Hause auch wohl vorhanden?“ Er war jetzt vor mir stehen geblieben und sprach ziemlich leise.

„Allerdings. Die Leitung läuft –“

„Ob man durch die zerschlagene eine Scheibe des Küchenfensters wohl bis an die Riegel des Fensters hindurchreichen kann?“

Da besann ich mich, daß der Blitzableiter dicht am Fenster meiner Küche vorbeiläuft, daß eine Scheibe zerschlagen ist, und somit ein Weg gegeben zu sein scheint, von außen in meine Wohnung einzudringen. – Hosea hatte mich auf seine Art hierauf aufmerksam gemacht.

„Hast du schon mal eine Enttäuschung durchgemacht wie diese?“ fragte er, immer noch mit gedämpfter Stimme.

Ich sah ihn unsicher an, begriff ihn nicht.

„Sollte ich noch länger nach einem anderen Zugang suchen, wo doch der Fensterkopf Spuren zeigt?!“ meinte er.

„Wir sind also gestern nacht wirklich belauscht worden?“ forschte ich wie gierig.

„Hoffst Du auch, daß der Lauscher jetzt glauben wird, daß wir beide feige sind?“

Ich nickte. Da lächelte er in höhnischem Triumph. Dann beugte er sich ganz dicht zu mir hin und flüsterte mir ein paar Worte ins Ohr –: „Kein Selbstmord, – Raubmord! – Das Allerneueste!“

Der Rasierapparat aus dem Drei-Mark-Bazar entglitt der einen, der weißflockige Pinsel der anderen Hand. Und Hoseas rechter Lackschuh bekam einen weißen Seifenfleck.

„Hast Du schon nach einem Kindermädchen für dich annonciert, he?!“ höhnte er.

„Wie – nicht einmal bei dieser Nachricht darf ich erschrecken?!“ fuhr ich auf.

„Wäre es nicht möglich gewesen, daß auch Du in den Kontobüchern die Beweise gefunden hättest?“

Ich schüttelte fassungslos den Kopf.

Das grelle Schrillen der Flurglocke rief Hosea nach der Flurtür.

Der Besucher war Kriminalkommissar Märker. Obwohl ich die eine Gesichtshälfte noch eingeseift hatte, kam er doch in den degradierten Salon, meinte, wir seien ja unter uns Männern, ich solle nur dem Reste der Bartstoppeln ruhig zu Leibe gehen, nahm dann mit Hosea am Kaffeetisch Platz und brachte sein Anliegen durch die offene Tür vor.

Er hätte, wie uns ja schon bekannt wäre, jenem Herrn Herbst, dem Käufer des Schränkchens, gestattet, für einige Tage nach Thorn zu verreisen, natürlich aber dabei die Nebenabsicht gehabt, diesen immerhin etwas bei ihm in Mißkredit geratenen Herrn durch einen Beamten im Auge behalten zu lassen. Nun hätte es dieser schlaue Fuchs von Herbst aber tadellos verstanden, seinem Wächter, dessen Anwesenheit im Zuge nach Thorn er wohl geahnt hätte, abzuschütteln und spurlos zu verschwinden.

„Eine sehr ärgerliche Sache, meine Herren! Sehr ärgerlich! Ich habe da sehr klug zu handeln geglaubt, und bin nun böse hereingefallen,“ fügte er hinzu. „Dieser Fehler muß ausgeglichen werden! Herbst, Marville und der Maler Merling stecken fraglos unter einer Decke. Die beiden anderen sollen mir nicht entgehen. Ich werde sie mit Ihrer Erlaubnis, Herr Malwa, sofort hier in Ihrer Wohnung nochmals vernehmen und dann sehr wahrscheinlich verhaften.“

„Etwa auch Fräulein Marville?“ fragte ich schnell.

Ich dachte an ein paar schöne, verängstigte Augen, die mir seit gestern wie Rätselsterne ständig in der Erinnerung schimmerten –

„Wäre das nicht des Guten zuviel?!“ meinte Hosea mit stark verzogenem Munde.

„Allerdings,“ erklärte Märker. „Die junge Dame soll frei bleiben. Ich hoffe, sie wird irgendeine Dummheit machen, wenn sie allein auf sich angewiesen ist, – eine Unvorsichtigkeit begehen, die uns endlich Klarheit gibt, was nachher aus Wehrhut geworden ist.“

 

Siebentes Kapitel.

„Bleiben Sie bitte hier, meine Herren, und wohnen Sie der Vernehmung bei,“ sagte Märker, als es gleich darauf läutete.

Marville trat ein. Ich konnte meine Überraschung schwer verbergen. – Der Mann sollte ein Verbrecher sein?! Niemals! – Ich besann mich, daß ich dasselbe gedacht hatte, als ich gestern den Maler Merling kennenlernte. Eigentlich war es doch seltsam: Alle Bewohner des Spukhauses, die ich bisher gesehen hatte, machten einen so günstigen Eindruck, daß es schwer fiel, ihnen auch nur das geringste Schlechte zuzutrauen. Vielleicht bildete nur Doris Marville eine kleine Ausnahme, wenn man an die Angst in ihrem Blick sich erinnerte.

Percy Marville war, schlank, sehr gut angezogen und von sicherem, vornehmen Auftreten. Das Gesicht, blaß, von edlem Schnitt, sah schwermütig und verbittert aus. Der graue, halblange Vollbart, das graue, gescheitelte Haar war wie der ganze Mensch tadellos gepflegt. Marville hielt viel auf sein Äußeres. Die Augen riefen mir sofort die seiner Tochter ins Gedächtnis zurück, – dunkel, sehr lange Wimpern, etwas verschleiert.

Marville stellte sich uns vor, als ob wir uns bei einer Gesellschaft begegneten. – Märker wies auf einen Stuhl und fragte, sofort auf den Kernpunkt des Verhörs kommend:

„Jener Herr Herbst ist flüchtig geworden, das genügt mir als Beweis dafür, daß das altertümliche Schränkchen nicht jene drei Kunstgegenstände, sondern eine Leiche enthielt, als es gestern aus diesem Hause fortgeschafft wurde. Ich rate Ihnen daher, Herr Marville, nicht länger bei Ihrem Leugnen zu beharren wie gestern meinem Kollegen Halfner gegenüber. All Ihre Ausflüchte nützen Ihnen nicht. Sie verschlimmern dadurch Ihre Lage nur noch mehr.“

Der Rentier erwiderte sehr förmlich:

„Ich habe meiner Aussage von gestern nichts hinzuzufügen, Herr Kommissar.“

Märker blieb höflich. Nur zwischen den Augen lag jetzt auf der Stirn eine kleine Falte.

„Zu meinem Bedauern sehe ich mich unter diesen Umständen genötigt, Sie zu verhaften,“ meinte er.

Marville verbeugte sich leicht. „Sie müssen wissen, was Sie tun.“

Da mischte sich Hosea ein.

„Ich bin Maler, Herr Marville, nebenbei auch begeisterter Turner. Treiben Sie auch Sport?“

Der Rentier musterte Hosea mit deutlichem Mißtrauen, antwortete aber ohne Zögern:

„Wenn ich Gelegenheit dazu habe, – ja.“

„Und welche Art Sport bevorzugen Sie? Turnen Sie auch?“

„Jetzt nicht mehr. Früher, in jungen Jahren habe –“

„Sie sollen einen Streit zwischen mir und Malwa entscheiden,“ fiel ihm Hosea schnell ins Wort. „Kann man, wie einer der Kriminalbeamten heute früh behauptete, aus Ihrer Küche mit Hilfe des Blitzableiters in die Küche dieser Wohnung hinaufgelangen? – Malwa meint nein, – ich das Gegenteil.“

Ah – Marville war das Blut ins Gesicht gestiegen! Der Menümaler wußte seine Leute zu nehmen!

„Außerdem,“ fuhr Hosea fort, ohne Marville Zeit zum Antworten zu lassen, „– außerdem hat Herr Kriminalkommissar Halfner schon gestern festgestellt, daß Sie jene drehbaren, runden Gummiabsätze unter den Schuhen tragen, die nur mit einer Schraube an den Stiefelhacken befestigt werden, – sehr praktische, angenehme Erfindung das, nur, hm – ja, nur sagte Herr Märker vorhin, wovon ich ja als Laie nichts verstehe, daß solche Gummiabsätze in rußbeschmutztem Schnee von Fenstersimsen sehr verräterische Spuren hinterlassen, hübsche, runde Stempel, – besser Siegeleindrücke, die dann auch, infolge des schwarzen Rußes, auf dem Fensterkopf innen in der Küche zu finden sind und auf Kletterkunststücke an einem Blitzableiter hindeuten. – Ist Ihnen plötzlich schlecht geworden, Herr Marville? Sie sehen so blaß aus. – Erwin, gib dem Herrn doch einen Kognak. Vielleicht hat Herr Marville sich in der verflossenen Nacht überanstrengt, was schon Herr Märker vermute, – überanstrengt bei den Turnübungen am Blitzableiter.“

Mir fiel es plötzlich – die Phrase paßt hier vorzüglich! – wirklich wie Schuppen von den Augen. In meiner Küche hatte ich ja vorhin tatsächlich solch runden, schwärzlichen Stempel auf dem Fensterkopf bemerkt, nachdem mich Hosea darauf aufmerksam gemacht hatte.

Auch Märker begriff schnell, worauf dieser seltsame, unerwartete Angriffe Hoseas gegen Marvilles ruhige Sicherheit hinauslief, und er gab nun auch noch ganz geschickt „seinen Senf dazu“.

„Ja, Herr Marville,“ sagte er mild, „wozu sind Sie eigentlich an dem Blitzableiter hochgeklettert? Wollen Sie uns das nicht erklären?“

Des Rentiers Lippen preßten sich fest aufeinander. In sein blasses Gesicht trat ein Ausdruck von Trotz und schlecht verhehlter Verlegenheit. Er schaute zur Seite – gerade auf meiner Tante Ölporträt. – Die Sekunden schlichen, wir warteten auf seine Antwort, – aber sie blieb aus.

Hosea hatte Märker unauffällig sein Skizzenbuch aufgeschlagen unter dem Tisch gereicht und auf eine seiner Notizen gedeutet.

Märkers Augen weiteten sich jetzt, und er warf mir einen Blick zu, in dem ungläubiges Erstaunen zu lesen war. Und dieser Blick glitt nun weiter nach Hermine Löckners Bild hin, so daß zwei Augenpaare jetzt die scharfen Züge des alten Fräuleins, allerdings wohl mit sehr verschiedenen Gedanken, musterten.

Ich war begierig, ob Märkers nächste Äußerung mir darüber Aufschluß geben würde, welche von Hoseas zahlreichen Notizen auf den Kriminalkommissar diese Wirkung ausgeübt hatte.

Zunächst sagte Märker jetzt, immer noch im Ton eines wohlmeinenden Freundes:

„Wollen Sie mir nicht antworten, Herr Marville?“

Der Rentier senkte den Kopf, strich sich mit der wohlgepflegten Rechten nervös den grauen Vollbart und schien zu überlegen, wie er sich am besten aus dieser bösen Schlinge wieder befreien könnte.

Es lag jetzt wie elektrische Spannung, wie Gewitterstimmung in der Luft. – Was würde Marville erwidern? Würde er zu leugnen versuchen? Dazu war’s eigentlich schon zu spät. Dann hätte er nicht so lange zögern dürfen.

Ah – nun kam’s –

„Ich verweigere die Antwort – vorläufig!“ erklärte er mit seiner kräftigen, angenehm klingenden Stimme, und sein Blick ruhte fest auf Märkers Gesicht, als ob er zeigen wolle, daß nicht einem belasteten Gewissen dieser Entschluß zuzuschreiben war.

„Vorläufig?“ fragte Märker, und die Stirnfalte grub sich tiefer.

„Ja – ich habe meine Gründe, jetzt noch zu schweigen, selbst auf die Gefahr einer Verhaftung hin.“

In diesem Augenblick erhob sich Hosea ganz unvermittelt und ging hinaus. Märker und ich blickten ihm etwas erstaunt nach.

Eine Weile blieb es still in dem behaglich durchwärmten Zimmer. Dann sagte der Kommissar, jedes Wort betonend:

„Sie scheinen sich über die Tragweite dieser Ihrer Weigerung nicht recht klar zu sein, Herr Marville. Es handelt sich hier nicht lediglich um den Fall Wehrhut.“ Eine kurze Pause. „Vielmehr besteht der Verdacht, daß in diesem alten Gebäude noch ein zweites Verbrechen nach Sühne ruft.“

Marville war leicht zusammengezuckt, blieb aber stumm. Seine Augen irrten jetzt durch das Zimmer, fanden keinen Ruhepunkt.

„Ein zweites Verbrechen!“ fuhr Märker mit ungewohnter Schärfe fort, „– ein Raubmord wahrscheinlich, – kein Selbstmord – Fräulein Hermine Löckner!“

Der Rentier nickte wie selbstvergessen mit dem Kopf. Sein Gesicht sah keineswegs bestürzt, eher betrübt aus.

Auch Märker faßte dieses Kopfnicken offenbar ebenso auf wie ich.

„Es macht beinahe den Eindruck,“ sagte er, als Marville beharrlich weiter schwieg, „daß das tragische Geschick der früheren Hausbesitzerin Ihnen in seiner wahren Bedeutung bekannt gewesen ist.“

Die Antwort war seltsam genug.

„Tun Sie Ihre Pflicht, Herr Kommissar,“ meinte der Rentier bescheiden. „Ich vermag vorläufig nichts weiter zu alledem zu erklären.“

Wieder dieses „vorläufig“ –! – Das klang doch so, als erwarte Marville mit Bestimmtheit, nach einiger Zeit auf seine eigenen Angaben hin, die er dann machen würde, wieder freizukommen.

Märker sah ein, daß er hier nichts mehr ausrichten konnte. Er erklärte also Marville für verhaftet. Kaum hatte er das schwerwiegende Wort ausgesprochen, als Hosea hastig eintrat und rief:

„Wissen Sie, Herr Kommissar, was einer Ihrer Leute soeben entdeckt hat? – Etwas sehr Merkwürdiges! In dem von Wehrhut als Schlafzimmer benutzten Raume befindet sich ein Loch im Fußboden, ein enges Löchlein, das durch die Decke bis zu Marvilles hinuntergeht. Das Loch ist recht geschickt in einer Ecke an einer rissigen Stelle der Dielen verborgen und mal mit einem Zentrumbohrer gebohrt worden. An den Rändern hat Ihr tüchtiger Geheimpolizist feine, dünne Seidenfädchen von grüner Farbe bemerkt, und er schwört nun Stein und Bein, daß durch das Loch noch vor kurzem ein grünbesponnener Kupferdraht nach unten in die Wohnung des Herrn Marville hinablief.“

Hosea war der reine Schwätzer geworden. Er spielte den Laien, den der Fall Wehrhut nur aus Sensationslüsternheit interessierte, vorzüglich. Natürlich hatte er, nur er soeben das Loch in der Decke gefunden! Er wollte aber alles anderen als besonderes Verdienst zuschreiben[6], um sich selbst nicht vor Marville eine Blöße zu geben.

Wie nahm nun der Rentier diese Mitteilung hin, die ihn doch abermals in ein recht eigentümliches Licht rückte? Ich hatte sofort an die Geheimschrift gedacht. Woran mochte dieser Mann denken, nach dem soeben die Schergen der Justiz den Arm ausgestreckt hatten?

Sein Gesicht behielt unverändert den ernsten, verbitterten Ausdruck bei. Als Märker fragte, was es mit dieser Verbindung der beiden Wohnungen durch einen elektrischen Draht auf sich hätte, sagte er wieder nur: „Ich habe nichts hinzuzufügen.“

Hosea meinte jetzt mit einem langen Seufzer:

„Dazu bin ich nun hierher zur Erholung gekommen –! Mir wird diese Aufregung fraglos schaden. Kann ich etwas dafür, daß ich mich so schnell für etwas begeistere! Ich werde jetzt nur darüber nachgrübeln, weshalb Sie sich so seltsam benehmen, Herr Marville, und dem Herrn Kommissar sich nicht anvertrauen, wenn Sie ein reines Gewissen haben.“ –

Gleich darauf führte ein Kriminalbeamter den Rentier hinüber in das Schlafzimmer meiner Tante, wo Marville bewacht werden sollte, bis Merlings Verhör erledigt war. –

Der Maler trat ein, verbeugte sich und nahm auf Märkers einladende Handbewegung auf einem Stuhle Platz.

Merling sah blaß und übernächtigt aus. Die Gesichtsfarbe war ein ungesundes Grau. Sein Anzug war etwas vernachlässigt, ebenso die Frisur.

Der Kommissar schaute ihn erst eine Weile prüfend an. Dann fragte er, ob Merling jetzt zugeben wolle, sich damals in der Wohnung Wehrhuts befunden zu haben.

„Es unterliegt keinem Zweifel,“ meinte er, „daß Sie dort eingeschlossen gewesen sind – zusammen mit einem Schwerverletzten oder Toten. Aber Sie konnten leicht hinaus. Es wird sicher in der Wohnung noch ein zweiter Flurschlüssel vorhanden gewesen sein. Und Herr Malwa und der Major hatten ja leider verabsäumt, den von ihnen benutzten Schlüssel von außen im Schloß stecken zu lassen. Nur Sie allein sind es gewesen, der Wehrhut tot oder lebendig, jedenfalls aber in ohnmächtigem Zustande, hinunter zu Marvilles schaffte.“

Ich muß bemerken, daß Hosea abermals verschwunden war, und daß Merling heute einen braunen Anzug aus flockigem Stoff trug, während er damals am Fenster einen von sogenannter Pfeffer und Salz-Farbe angehabt hatte.

Merlings Taktik gegenüber den Angriffen des Kommissars war genau dieselbe wie die Marvilles. Auch er erklärte, er könne vorläufig nichts aussagen.

Also wieder das rätselhafte „vorläufig“ –!

Auch auf Märkers Frage, ob er mit Marville gestern oder heute früh, überhaupt seit dem Verschwinden Wehrhuts, zusammengekommen wäre und über dieses Ereignis gesprochen hätte, beschränkte er sich auf ein: „Meine Zunge ist vorläufig gebunden.“

Die Vernehmung drehte sich im Kreise, kam nicht vom Fleck. Ich bewunderte Märkers Geduld.

Dann traten Hosea und der andere Kriminalbeamte ein. Letzterer hatte ein graues Pfeffer und Salz-Herrenjackett auf dem Arm, zeigte es nun Märker, deutete auf einen verwischten Fleck auf dem rechten Ärmel dicht an der Schulter und sagte mit einem langen Blick nach Heinz Merling hin:

„Dies dürfte ein Blutfleck gewesen sein, Herr Kommissar, den der Maler auszuwaschen versucht hat und der recht gut entstanden sein kann, als Merling den Kanzleirat auf den Armen forttrug.“

Der Maler ließ den Kopf auf die Brust sinken, schien kraftlos wie eine Puppe jede Haltung verlieren zu wollen, nahm sich aber schnell zusammen und fragte ärgerlich:

„Sie sind in meine Wohnung eingedrungen? – Das ist nicht statthaft. Ich werde mich beschweren.“

„Das können Sie,“ meinte Märker kalt. „Vom Untersuchungsgefängnis aus. Sie sind hiermit verhaftet!“ –

Marville bekam seine Tochter nicht mehr zu sehen. Hosea übernahm es, Fräulein Doris von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen. Und ich schloß mich ihm an. Daß Hosea in vollem Einverständnis mit Märker sich dieser keineswegs angenehmen Aufgabe unterzog, ist selbstverständlich.

Bei Doris Marville ließen wir uns durch die Köchin, eine ältere, freundliche Person, anmelden und wurden sogleich in ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Damenzimmer geführt.

Ich weiß nicht, woher es kam. Aber mir pochte das Herz wie vor einem Examen, dem man sich mit recht ungenügenden Kenntnissen unterziehen will.

Der hundeschnäuzige Menümaler schaute sich um, als befände er sich in einem Panoptikum. Jeder Gegenstand schien für ihn Interesse zu haben.

Dann trat Doris ein.

Oh, wie eigenartig liebreizend war dieses Mädchen doch! Und welch ruhige Sicherheit, welche wundervoll abgerundeten Bewegungen besaß sie, wie schön waren nur diese Augen, die unter den langen Wimpern hervorleuchteten –! Wenn man einem Weibe einen seelenvollen Blick zusprechen konnte, dann war es Doris Marville!

Auf unsere Verbeugung – die meinige fiel sehr tief aus! – neigte sie kaum merklich den Kopf. Sie forderte uns nicht zum Platznehmen auf, lehnte sich gegen den zierlichen Damenschreibtisch und fragte:

„Die Herren wünschen?“

Ich merkte, daß selbst Hosea sich etwas befangen fühlte.

„Ihr Herr Vater, gnädiges Fräulein, ist leider verhindert, sich von Ihnen zu verabschieden,“ begann er dann. „Es ist für mich nicht –“

Sie hatte die Hand gehoben.

„Geben Sie sich keine Mühe, mich besonders zu schonen,“ sagte sie, ihm ins Wort fallend. „Mein Vater ist, was vorauszusehen war, verhaftet worden. Auch das muß noch ertragen werden. – Grüßen Sie ihn bitte von mir. – Welche von seinen Kleidungsstücken will er mitnehmen?“

So wurde in einen kühl-sachlichen Tone das Nötige besprochen. – Ich war geradezu begeistert von der ruhigen Vornehmheit und ausgeglichenen Selbstbeherrschung dieses jungen Weibes, habe sie wohl mit allzu unverhohlener Bewunderung angestarrt, daß sie mir dann einen Blick sehr von oben herab zuwarf, der eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns zu öffnen schien.

Als Hosea und ich wieder die Treppe emporstiegen, mußte ich mir von dem Freunde sagen lassen, daß ich auf dem besten Wege wäre, mein Herz an jemand zu verlieren, der als Verlobungsobjekt „vorläufig“ wohl kaum in Frage käme.

Ich fand diese Bemerkung sehr zynisch. Es gab Augenblicke, in denen ich Hosea zu hassen glaubte, – eben weil ich seinen Scharfblick fürchtete. –

Nachdem Marville und der Maler im Polizeiauto ohne Aufsehen fortgeschafft worden waren, gab es in meinem Wohnzimmer zwischen Märker und uns noch eine Art Besprechung der allgemeinen Lage.

Als das Thema Wehrhut erledigt war, ging Märker zu der großen tragischen Neuigkeit, wie er sich ausdrückte, über, – zu Hoseas Verdacht, Hermine Löckner könnte ermordet worden sein.

„Ich möchte gerne Ihre Beweise für die Richtigkeit dieser Vermutung kennenlernen,“ meinte Märker zu Hosea, der auch sofort aufstand und die Kontobücher, im ganzen sechs, vom Schreibtisch holte.

„Die ersten Tage nach jedem Quartal erzählen eine besondere Geschichte,“ sagte Hosea. „Das alte Fräulein hat vor zwölf Jahren einen Lotteriegewinn von 50 000 Mark gemacht. Und auf dieses Geld hatte der Mörder es abgesehen.“

Märker und ich saßen mit keineswegs geistreichen Gesichtern da, was wohl verständlich ist. Das Nachlaßgericht hatte sich doch um meiner Tante Besitz sehr gründlich gekümmert, ohne auch nur einen einzigen Hinweis dafür gefunden zu haben, daß Barvermögen vorhanden wäre. Und nun wollte Hosea gleich so genau unterrichtet sein über den Betrag, Art des Erwerbes und Dauer des Besitzes dieser Summe.

Märker blätterte die Kontobücher durch. Ich tat dasselbe. Das älteste reichte mit seinen Eintragungen gerade dreizehn Jahre zurück. Jetzt, wo uns Hosea auf die Tage nach den Quartalsersten aufmerksam gemacht hatte, fanden wir folgendes heraus. Die Tante hatte ein ganzes Los der Preußischen Klassenlotterie gespielt und den Betrag hierfür noch in dem ältesten Kontobuch an den Quartalsersten unter „Vierteljährliche Ausgaben“ derart gebucht, daß sie die Nummer des Loses und daneben den Betrag für die Ziehungen eingetragen hatte. Die Nummer war 131 465. Im Januar vor zwölf Jahren war dann dieser Ausgabenposten verschwunden. Dafür fand sich unter vierteljährliche Einnahmen abgesondert die Zahl 131 465 wieder und dahinter die Buchstaben xzzz.

Ich wurde aus diesen xzzz nicht klug, aber Märker hatte schnell heraus, daß die Tante auch anderswo in ihren Kontobüchern mit Buchstaben eine Art Geheimschrift sich zurechtgemacht hatte. – Z war 0, y gleich 1, x gleich 2, w gleich 3 und so weiter. – Kurz: die Zahl 131 465 ergab eine Einnahme von 2000 Mark, und Märker meinte, die Tante hätte sich für den Gewinn vierprozentige Papiere gekauft, ohne dieses Vermögen jedoch versteuert zu haben.

Hosea hatte unsere Bemühungen, seinen Gedankengang von rückwärts aufzurollen, durch sein Monokel mit hochgezogener Oberlippe verfolgt. Als jetzt Märker in dem neuesten Kontobuche die Entdeckung machte, daß hier seit einem Jahre das xzzz als Einnahme fehlte, und dies sich zu erklären suchte, sagte der Menümaler ironisch:

„Würden Sie als Mörder auch ein Radiermesser benutzt haben, Herr Kommissar?“

Märker verstand sofort, ging mit dem Kontobuch ans Fenster und hielt diese und jene Seite einzeln gegen das Licht.

„Wahrhaftig – wegradiert!“ rief er.

„Würden Sie als Mörder dies nicht auch getan haben, he?“ fragte Hosea abermals. „Gerade die Einnahmen und Ausgaben des letzten Jahres prüft doch das Gericht genau durch. Da war es besser, daß 131 465 xzzz verschwand. Man hätte doch darauf aufmerksam werden und nachforschen können. – Aber gerade diese Rasuren wiesen mich auf ein Verbrechen hin. Hermine Löckner hatte auch diese Posten gebucht wie bisher. Der Dieb der Wertpapiere radierte sie weg. Und der Dieb ist der Mörder.“

Märker schüttelte den Kopf. „Es kann auch jemand nach Hermine Löckners Selbstmord dies getan haben,“ meinte er.

„Selbstmord?!“ Hosea lachte auf. „Ich weiß so genau über das alte Fräulein Bescheid, daß die Annahme einer Selbstentleibung der hellste Blödsinn wäre. Sie war gesund, lebenslustig, hatte ihr gutes Auskommen, hatte angenehmen Verkehr, empfing oft Besuch, gab kleine Gesellschaften, liebte die Natur, liebte Fußtouren, wußte sich von vielen Leuten geschätzt, die ihr mit Hochachtung und Verehrung begegneten; sie hat noch am Tage ihres „Selbstmordes“ sechs Damen als Gäste bis gegen zehn Uhr abends bei sich gesehen, hat bei ihrer Schneiderin zwei neue Kleider in Arbeit gehabt und bereits schriftlich eine Fußtour durch das Riesengebirge für Ende dieses Monats ausgearbeitet, an der sich noch zwei Damen und ein älterer Herr beteiligen sollten –, sieht das alles nach Selbstmord aus?!“

„Woher weißt du das alles?“ fragte ich verblüfft.

„Der Schreibtisch hat es mir heute morgen gesagt, dann gestern nachmittag, bevor wir uns im Wartesaal trafen, ein paar alte Damen, und gestern abend der Major, – so wurde aus Stückwerk ein ganzes, eben die Überzeugung, daß Deine Tante – ermordet worden ist.“

Märker nickte jetzt eifrig. „Ja, ja, – Sie werden wohl recht haben! Ich besinne mich: dieser Selbstmord hat allgemeines Kopfschütteln hervorgerufen. Man sprach von einer plötzlichen Geistesverwirrung –“

Darauf brach Märker auf. Hosea wollte noch einen Spaziergang machen, und daher schlossen wir uns dem Kommissar an.

Wir traten vor die Haustür, blieben stehen, freuten uns an dem prächtigen, klaren Himmel, an dem Sonnenschein und schauten den Kindern des Amtsschreibers Sauerbier zu, die dicht an der Gartenpforte einen Schneemann bauten. – Nachdem wir uns von dem Kommissar verabschiedet hatten, schlug Hosea einen Seitenweg ein, der auf die Berge hinter meinem Besitz zuzuführen schien und nach einer Viertelstunde einen Fußpfad kreuzte.

„Gib acht,“ sagte Hosea, „wie dieser Pfad, der hinter uns bis nach dem Fabrikviertel von Palmburg läuft, alle Vorteile der Bodengestaltung und die Baumgruppen ausnutzt.“

Ich verstand ihn nicht, das heißt, ich begriff nicht, welchen Zweck diese Bemerkung hatte. – Er ging voran, denn dieser Fußsteg durch den Schnee war nur schmal wie eine Furche.

„Vor acht Tagen hatte es hier den letzten tüchtigen Schneefall gegeben,“ sagte Hosea nach einer Weile.

Dann machte er auf einer Anhöhe halt, zog mich hinter eine Tanne und deutete mit der Hand nach vorwärts.

Dort lag die Schlucht, dort die Krähenhütte des Majors, weiterhin die Ruine, der Gemüsegarten, mein Haus.

„Wenn Du gute Augen hast, Phantasiemörder, so wirst du an einer der Tannen in den obersten Ästen eine dünne Stange sehen,“ meinte Hosea eifrig.

Ja, ich sah die Stange. Sie ragte wie ein fadendünner Strich in den Himmel hinein.

„Was soll’s damit, Hosea?“

„Oh, das wollte ich Dich als Hausbesitzer fragen. – Aber – sprich zu niemandem von der Stange. Vielleicht wird daraus ein Galgen, den Doppelmörder aufzuhängen.“

Dann gingen wir weiter, immer die Furchen entlang, durch die Schlucht – bis zur Ruine. Hier verlor sich der Pfad bereits draußen vor der Gartenpforte in zahlreichen Spuren von Erwachsenen und Kindern, den Bewohnern des Spukhauses.

Ich grübelte darüber nach, wer wohl diesen Pfad in dem erst vor einer Woche gefallenen Schnee ausgetreten haben könne. Wie oft mußten da mehrere Leute wohl hin- und zurückgewandert sein, um eine so feste Furche auszustapfen?! Und – was hatten diese Leute hier zu tun? Warum benutzten sie nicht die große Straße, warum gingen sie, gedeckt durch grüne, verschneite Tannen und durch Talmulden – zum Spukhause hin, zum Fabrikviertel zurück –?! – Ach – das waren wieder viele, viele Fragen. Und mein Hirn war schon so müde von dem ewigen Nachsinnen, auf der Lauer Liegen und fruchtlosem Rätselraten –!

Da kam uns vom Hause her der Lehrer Max Bruchstück entgegen.

 

Achtes Kapitel.

Hosea sorgte stets für Überraschungen.

Wie sollte ich ahnen, daß er Bruchstück schon kannte?! Ich jedenfalls hatte den Lehrer noch nicht persönlich kennengelernt.

Die beiden schüttelten sich kräftig die Hand, Hosea stellte mich vor und sagte dann:

„Hoffentlich sind Sie heute morgen noch zur Zeit nach der Schule gekommen, Herr Lehrer?“

„Gewiß, gewiß. – Aber – nennen Sie mich doch beim Namen, nicht mit dem Titel, Herr Garblig.“

„Unmöglich! Wenn ich Bruchstück sage, denke ich stets an etwas Unfertiges, Halbes! Und Sie habe ich als ganzen Mann schätzen gelernt.“

„Oh, sehr liebenswürdig. – Wann darf ich Ihnen also dort drüben in den Bergen ein paar wirklich malerische Punkte für Ihr Skizzenbuch zeigen?“

Aus dem weiteren Gespräch entnahm ich, daß Hosea den ahnungslosen Schulmeister einfach schon um halb acht heute früh besucht und ihn gebeten hatte, – als wahrscheinlich recht ortskundig! –, ihm Motive für Winterlandschaften zu vermitteln.

„Wie war das eigentlich damals mit dem Gespenst, Herr Lehrer?“ fragte er dann ganz unvermittelt.

Bruchstück schaute ihn verwirrt an und wurde rot.

„Oh – erinnern Sie mich nicht an diese – diese Blamage!“ meinte er. „Ich schäme mich zu sehr, wenn ich daran denke, zu sehr! Ich, ein gebildeter Mann, ein kräftiger Mann, – ich reiße vor etwas aus, das doch nur ein als Gespenst herausgeputztes Wesen von Fleisch und Blut sein konnte! Ich muß mich von dem Herrn Major erst zur Vernunft bringen lassen! – Ich wünschte, der „Geist“ begegnete mir nochmals! Er sollte es dann gut haben –!“

„Ob es eine Niete war, Phantasiemörder?“ fragte Hosea mich jetzt, was ihm einen sehr erstaunten Blick des Lehrers eintrug.

Dann verabschiedete er sich von Bruchstück. Ich tat ein gleiches, wurde aber noch zurückgehalten.

„Herr Malwa, ich möchte mir so gern einen Hund anschaffen, – hätten Sie etwas als Hausbesitzer dagegen?“

„Durchaus nicht. Meinetwegen gleich ein halbes Dutzend.“

„Oh – das freut mich, das freut mich.“

„Weshalb glaubten Sie, mein Freund würde Ihnen den Hund verbieten?“ fragte Hosea.

„Nun, weil Fräulein Löckner doch auch – hm, ja, – und solche Abneigungen sind oft erblich. – Freilich, ich glaube, da steckte noch jemand anderes dahinter, der die Schmutzerei auf den Treppen fürchtete – durch Hundepfoten, bei Regenwetter, – Frau Hähnchen, die doch hier die Hausmeisterin spielt. Ich kann’s ihr nicht verdenken, aber –“ Sein Gesicht wurde plötzlich finster. Der Major, mit dem Tesching im Arm, hatte den Garten betreten. Bruchstück fürchtete für seine Lieblinge –

Als wir oben in meiner Wohnung anlangten, war der Mittagstisch schon gedeckt. – Ich hatte keinen Hunger.

„Was ist’s mit der Stange, Hosea?“ fragte ich, während er sich über das Essen hermachte.

„Daran brannte in jener Nacht, als mich die Polizei aufgriff und mitnahm, eine winzige Laterne, – also ein Signal! Und zwar so, daß der Lichtschein nur von der Anhöhe aus zu sehen war, wo wir heute standen.“

Auch das noch! Ein Signal! – Mein Haus enthüllte immer mehr Seltsamkeiten –!

Nach Tisch verabschiedete Hosea sich. Er habe in Palmburg zu tun. – Ich selbst ging dann in den Vorgarten und sah mir den Schneemann an, der jetzt eine rote Mohrrübe als Nase und Kohlenstückchen als Augen und Mund hatte. Bald gesellte sich Frau Sauerbier zu mir, eine dünne Hopfenstange, früh verblüht, mit harten Zügen und müden Augen. Sie fragte, ob sie ihre Nichte für einige Zeit zu sich nehmen dürfe, die in Palmburg das Konservatorium besuchen wolle. Ich hatte nichts dagegen. – Frau Sauerbier entpuppte sich als Klatschbase. So erzählte sie mir, Lore Hähnchen sei wohl nur deswegen nach Dresden geschickt worden, weil sie sich in den „schönen“ Merling verliebt habe, während ihre Eltern es mindestens auf einen Assessor abgesehen hätten.

Während wir noch so in der Sonne vor der Haustüre standen, fuhr draußen ein Taxameter vor. Der Gaul dampfte. Ein Herr kletterte aus dem Innern etwas mühsam heraus. Der Kutscher legte dem Pferde die Decke über und schlug sich die Arme knallend um die Brust, um sich zu erwärmen.

Der korpulente, kleine Herr kam auf das Haus zu. Er sah sehr gemütlich aus, so etwas nach Provinz in der Kleidung. Sein rundes Gesicht, umrahmt von einem rötlichen Haarwald, wirkte etwas komisch. Die Nase war bläulich, bläulich auch die Wangenpartien rechts und links des gewaltigen Gesichtserkers. Als er vor mir dann den Schlapphut lüftete, erschrak ich über seine häßliche Kopfform. Die rötlichen Haare waren ihm tief in die Stirn gewachsen, gescheitelt und mit Pomade festgeklebt, so daß die Stirn dadurch noch niedriger erschien.

„Schellhorn,“ stellte er sich vor. „Hier soll ja wohl eine Wohnung zu vermieten sein.“

Ich erschrak, – nur deswegen, weil Wehrhut vielleicht wirklich noch zurückkehrte. – Na – dann war’s schließlich noch immer Zeit genug, mit ihm sich zu vergleichen.

Ich stieg mit Herrn Schellhorn die Treppe empor. Er sagte mir, er sei Chemiker und Erfinder.

Während wir die Räume der Wohnung des Kanzleirats durchgingen, fand sich Frau Guste ein – triumphierend, daß die Anzeige so bald gewirkt hatte. – Schellhorn hatte viel zu bemängeln, aber die Meisterin wußte alle seine Bedenken zu zerstreuen. Er mietete schließlich die Wohnung, obwohl ich mich sehr zurückhaltend zeigte und ihm nicht verschwieg, was hier vor kurzem vorgefallen war.

Nachher wurde in meiner Wohnung der Vertrag schriftlich abgeschlossen, wobei ich noch mehr über meinen neuen Mieter erfuhr. Er kam aus Breslau, war Junggeselle und wählte nur deshalb Palmburg zum neuen Wohnsitz, weil er mit den hiesigen chemischen Fabriken Geschäftsbeziehungen anzuknüpfen gedachte. – Mir war der Herr Dr. phil. Schellhorn nicht sehr sympathisch. Er war ein ziemlich eingebildeter Schwätzer, fast ein männliches Seitenstück zu der Sauerbier-Hopfenstange. Wie er Hosea zusagen würde, darauf war ich wirklich gespannt.

Der Menümaler kehrte erst recht spät heim, gegen acht Uhr abends. Ich saß bei Hähnchens, als er erschien, wo ich mit Meister Gottlieb tiefgründige Gespräche über alles mögliche geführt hatte.

Nach dem Abendessen erklärte Hosea der den Tisch abräumenden Meisterin, er würde heute sehr früh zu Bett gehen. Sie möchte ihm noch eine Kanne Tee nach oben schicken durch den Fritz. Er fühle sich gar nicht wohl und müsse sich stark erkältet haben.

Als der ehemalige Gymnasiast dann mit dem Tee sich bei uns meldete, gab es für mich eine neue Überraschung.

Hosea, der am Ofen im Wohnzimmer stand, sagte zu mir, der ich am Tische saß und Zeitung las:

„Willst du gern den Absender der Chiffre-Botschaft kennenlernen?“

Fritz Weigand stellte gerade das Tablett auf den Tisch. Der Deckel des Teekännchens klapperte laut. Der Junge hätte die ganze Bescherung beinahe fallen lassen.

Dann rief Hosea halblaut „Fritz!“ und zwang den Lehrlingen so, ihn anzusehen.

„Ich war heute nachmittag sowohl bei Deinem Vater als auch bei Deinem früheren Direktor und Deinem Klassenlehrer,“ begann er. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich es durchsetzte, Dir die Wiederaufnahme des Schulbesuchs zu ermöglichen. Nur verlange ich, daß Du uns gegenüber ganz aufrichtig bist. – Du hast meinem Freunde Malwa den Zettel mit den griechischen Buchstaben unten in der Werkstatt in die Tasche geschoben, als Malwa dem Meister und Dir beim Ausbessern der Geldschranktür zuschaute. – Woher stammt Deine Kenntnis von der Verbindung zwischen den beiden Wohnungen? Und weshalb wähltest Du diesen geheimen Weg, diese Tatsache Malwa mitzuteilen? – Im übrigen hast Du Deine Sache mit der Geheimschrift recht gut gemacht. Die Entzifferung wäre nur schwer geworden, wenn ich nicht unter den Buchstaben das mit einer Nadel leicht in das Papier eingeritzte Schema entdeckt hätte, wie die Buchstaben geordnet werden müßten.“

Der freundliche Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Der hübsche, schlanke Junge berichtete ohne Scheu folgendes: Bald nach Herrn Wehrhuts Einzug hätte dieser ihn gebeten, ihm unauffällig mal einen Zentrumbohrer mit recht langem Bohrer für kurze Zeit zu besorgen, aber nicht weiter darüber zu sprechen. Er hatte dem Herrn Kanzleirat diese Bitte auch erfüllt und war so mit dem sonst sehr zurückhaltenden Mitbewohner näher bekannt geworden, für den er in der freien Zeit dann auch gelegentlich einige Gänge erledigt hatte. Nur auf diese Weise hatte er sich dann auch in den Zimmern hin und wieder genauer umsehen können, und dies mehr aus Neugier als in einer bestimmten Absicht. Eines Nachmittags war er in dem Schlafzimmer, wo er den einen Fensterriegel wieder festschrauben sollte, allein gewesen, als er hinter einem Schränkchen das Schrillen einer Glocke gehört hatte. So entdeckte er die geheime Telephonleitung, die nach unten zu Marvilles führte. Er hatte dem Herrn Wehrhut nichts von dem Glockenzeichen gesagt, sondern das Zimmer verlassen, da seine Arbeit ohnehin beendet war. In der Erkenntnis, daß der Kanzleirat diese Einrichtung geheim gehalten wissen wollte, hatte er niemandem davon etwas erzählt, bis dann eben der Mord an Wehrhut auch ihm bekannt geworden war. Da hatte er es für seine Pflicht erachtet, wenigstens dem neuen Hausbesitzer hiervon Mitteilung zu machen. Den Totenkopf über den Buchstaben und die Geheimschrift selbst habe er lediglich deswegen benutzt, um nicht selbst in die Sache mit hineinverwickelt zu werden, dann auch, weil es ihm Spaß gemacht habe, der Benachrichtigung einen möglichst geheimnisvollen Anstrich zu geben. –

Hosea klopfte Fritz Weigand jetzt lachend auf die Schulter.

„Du hast sicherlich viele Detektivgeschichten verschlungen, mein Junge! Daher der Totenkopf – so als Geheimzeichen einer unheimlichen Bande, – wie?! – Na, ich kann das verstehen! Du brauchst auch keine Angst zu haben. Wir werden Dich nicht verraten. Sag’ mal, Fritz, – kannst Du uns vielleicht noch etwas über Wehrhut mitteilen, – irgend etwas, was Du nur allein weißt? – Besinne Dich mal.“

Der schlanke, intelligente Junge wurde verlegen.

„Sie werden vielleicht schlecht von mir denken, Herr Garblig,“ erwiderte er zögernd. „Aber – man hat doch sein Vergnügen daran –“

„Hm – wohl am Spionieren, Detektivspielen, – wie?!“

Fritz nickte. Und dann behauptete er, auch Fräulein Löckner hätte mit dem Herrn Kanzleirat viel verkehrt. Im Marvilles Wohnung wären die drei häufiger zusammengekommen, aber stets in aller Heimlichkeit. Nach außen hätten sie dagegen immer so getan, als bestünden keinerlei Beziehungen zwischen ihnen.

Er gab auch für seine Behauptungen allerlei Beweise an, die sämtlich schwerwiegend genug waren, um die Person Wehrhuts urplötzlich in ein ganz besonderes Licht zu rücken.

Nachdem der Junge dann gegangen, sagte Hosea sofort zu mir: „Findest Du nicht auch, Phantasiemörder, daß dieser Kanzleirat uns recht viel zu raten aufgibt?! Ich möchte nur um alles in der Welt wissen, was er eigentlich mit Deiner Tante und Marville zu tun hatte?! Er ist aus Berlin nach Palmburg gekommen, und zwar erst vor etwa sechs Wochen, während Hermine Löckner und der Rentier mit der hübschen Tochter bereits viele Jahre Palmburger Bürger sind. Welche gemeinsamen Interessen verbanden die drei? Und schließlich: was mag Merling als vierter in diesem Bunde für eine Rolle gespielt haben?! – Ach, Erwin, – manchmal ist das Leben fast zu schön, selbst für meinen Geschmack, der ich doch die Schönheiten lediglich nach dem Maße des Ungewöhnlichen beurteile!“

Ich merkte, daß Hosea in mitteilsamer Stimmung war. Das mußte ausgenutzt werden.

„Dieses Maß des Ungewöhnlichen vermag ich ja leider nicht so wie Du richtig einzuschätzen,“ meinte ich. „Dazu überschaue ich die Ereignisse denn doch zu wenig. – Überhaupt: wenn Du mir mal in vernünftiger Weise meine Fragen beantworten würdest, könnte dabei nur für die Sache Ersprießliches herauskommen. Eine kritische Aussprache klärt manches. Man lernt wichtiges von unwichtigem trennen, lernt auch eine vielleicht vorgefaßte Meinung abändern.“

„Sehr richtig, Kind. Auch ohne diesen geistigen Rippenstoß hätte ich heute mit Dir zusammen große Musterung der Geschehnisse und unserer Feststellungen abgehalten. – Nur eins mußt Du dabei mit in Kauf nehmen: in der Kürze steckt die Würze! – Nur keine überflüssigen Redensarten! – Also bitte: frage!“

„Du bist mir mit Hilfe Mikowskis sehr schnell gefolgt. Du sagtest: um mich zu schützen. – Wie konntest Du wissen, daß dies vielleicht nötig sein würde?“

„Ich hoffte, um diese kleine Beichte herumzukommen,“ erwiderte er zögernd. „Na – es hat nicht sollen sein! – Ich habe Deine Tante Hermine persönlich gekannt, auch dieses Haus war mir nicht fremd.“

Wäre eine Bombe neben mir explodiert, – die Wirkung hätte nicht größer sein können als die dieser Eröffnung.

Ich schnellte empor, brachte nur stotternd heraus:

„Persönlich –? Und auch das Haus –?“

„Behalte Platz, Erwin. – Die Erklärung ist so einfach. Du erzähltest mir mal von dem Haß, der Euch trennte. Dir ging es bald darauf hundsjämmerlich. Besinne Dich – damals, als Du im Krankenhaus lagst und die Ärzte Entkräftung festgestellt hatten. – Da bin ich hier nach Palmburg gefahren. Die Reise war sehr interessant. Ich hatte wie immer keinen Heller Geld, und der Kommißbock war irgendwo im Manöver. Ich fuhr also als Begleitmann mit einem Viehtransport mit, gegen vier Mark Tagelohn. Und genau vier Tage war der Güterzug unterwegs. Aus jener Zeit stammen meine Tierstudien. – Deine Tante entpuppte sich als eine weltkluge Dame. An meinem Strolchkostüm nahm sie keinen Anstoß. Sie lud mich sogar zum Mittagessen ein. Aber Geld für Dich war trotzdem nicht loszueisen. Sie sagte: „Es schadet niemandem etwas, wenn er sich unter Entbehrungen aufwärtsbringen muß. Nur schwache Charaktere gehen im Daseinskampf zu Grunde.“ – Nachdem dieser Gegenstand dann erledigt war, kam eine allgemeine Unterhaltung in Fluß. So erfuhr ich auch von den geheimnisvollen Tönen, von dem Gespenst im Gemüsegarten, auch manches über die Hausbewohner. Deine Tante wollte mir dann die Rückreise bezahlen. Ich lehnte ab, und wir schieden meines „ganz unangebrachten Stolzes“ wegen etwas in Unfrieden voneinander. – Dann kamst Du an den Stammtisch während jenes Schneesturms, zeigtest die amtliche Benachrichtigung, daß Du das Erbe antreten solltest. Du ahntest nicht, welche Aufregungen Deiner warteten. Ich meine den Spuk. – Ich kannte Dich zur Genüge, wußte, wie sehr Du vor allem Geheimnisvollen sofort Nervenanfälle bekommst. Als Du gegangen warst, besprach ich mit dem Kommißbock das Nötige. Ein Zufall führte dann auch Mikowskis in unsere Kneipe. So traf ich hier ein, fand schlimmeres vor, als ich vermuten konnte. Ich sah, drüben beim Krämer verkleidet im Laden stehend, Dich barhäuptig nach dem Schutzmann rennen. Dieser Vorgang war für mich der Beweis, daß nicht nur der Spuk Dein seelisches Gleichgewicht gestört haben konnte. Was ich an jenem ersten Tage noch erlebte, der mit meiner Verhaftung endete, weißt Du. Dann holtest Du mich aus dem Hotel Polizeigewahrsam ab. Und nun ging die Jagd los. – Du hast mir haarklein geschildert, was hier vorgefallen ist, wie Du auf Deinem neuen Besitz empfangen wurdest. – Zunächst der Fall Wehrhut. Dieses Attentat hat seine großen Eigentümlichkeiten. Suchen wir uns die Ereignisse auf Grund dessen, was wir bestimmt wissen, logisch wiederherzustellen. – Du hörst, in der ersten Etage stehend, in der zweiten das vorsichtige Öffnen einer Tür, zweimaliges Dielenknarren, Läuten einer Flurglocke, einen Schuß, abermals zweimaliges Dielenknarren; Folgerung: eine Person kam aus Deiner Wohnung, ging auf die Tür Wehrhuts zu, trat dabei auf zwei knarrende Dielen, läutete bei dem Kanzleirat an, der wahrscheinlich beim Anblick dieser Personen zurückwich, die dann sofort die Waffe hob, feuerte und, ohne die Tür einzuklinken, sich schnell wieder über die knarrenden Dielen in Deine Wohnung zurückzog. – Du siehst, Erwin, wie wichtig derartige Kleinigkeiten wie das Knarren der Dielen werden können.“

„Famos, Hosea, – famos!“ lobte ich. „Nur weiter! Du bist so schön im Zuge!“

„Erledigen wir nunmehr die Frage,“ fuhr der Menümaler fort, indem er sich geschickt ein Kognakgläschen bis zum Rande füllte, „wer diese Person gewesen sein kann, die aus Deiner Wohnung kam und hier auch wieder Zuflucht suchte. – Gehen wir die Mieter der Reihe nach durch. – Hähnchens scheiden aus. Er hielt Mittagsschlaf, sie befand sich in Deiner Begleitung. Die drei Lehrlinge kommen auch nicht in Betracht. – Dann Sauerbiers. Die ganze Familie war um den Kaffeetisch versammelt, – also auch Strich drunter! – Weiter Marvilles – hier schaut die Sache schon anders aus. Weshalb, weißt Du. Das Interesse an der Tochter für den Briefkasten – angeblich! Denn die letzte Postbestellung lag mehrere Stunden zurück –, ihre Teilnahme für Dich, den ohne Kopfbedeckung nach dem Schutzmann Davoneilenden, und manches andere gestatten uns, hinter Marvilles ein Fragezeichen zu machen. – Nun zur dritten Etage – zu Majors! Scheiden ebenfalls aus. – Schließlich die Bewohner der beiden Mansardengelegenheiten. Über Bruchstück kann ich mich noch nicht äußern. Merling, der Maler, verdient wieder ein dickes Fragezeichen. – Treffen wir die engere Auswahl! Sie beschränkt sich auf Marville und Merling. Letzterer wurde von Dir nach der Tat am Fenster von Wehrhuts Wohnung gesehen. Er kann also nicht der sein, der über die knarrenden Dielen hin- und zurückschritt. Bleibt der schlanke, vornehme Rentier übrig. Und den, mein lieber Erwin, sehen wir nun bereits geradezu in eine Wolke von bösen Verdachtsmomenten eingehüllt. Daß er Kletterübungen am Blitzableiter, die in Deiner Küche enden, unternommen hat, beweisen die Abdrücke seiner Gummiabsätze auf dem Fensterkopf. Er kann also sehr gut, bewaffnet mit einem zu Deiner Flurtür passenden Schlüssel und einem Revolver, damals den Kanzleirat niedergeknallt haben und wieder in Deine und von da in seine Wohnung zurückgekehrt sein. Auf ihn als den Täter deuten auch andere Vorgänge hin: das Verhalten seiner Tochter, die Du antrafst, wie sie lauschend vor ihrer Flurtür stand und die Dir dann vom Fenster aus nachblickte; ferner die Geschichte mit dem Schränkchen, auf die ich nachher noch zurückkomme. In dem Schränkchen wurde Wehrhut eben aus dem Hause geschafft. – Mithin: Percy Marville erscheint hinreichend verdächtig, den Kanzleirat niedergeschossen zu haben. – Du gibst mir doch hierin recht?“

„Vollkommen!“

„Schade. Ich hätte mehr von Dir erwartet. Du bist gedankenträge. Denkst Du denn gar nicht daran, daß diese Theorie, die ich da soeben entwickelt habe, verschiedene faule Stellen hat –?! – Du hast heute vormittag die Vernehmung Marvilles hier bei Dir mitangehört. Machte er auf Dich den Eindruck eines Menschen, dessen Gewissen schwer belastet ist?“

„Nein! Auf keinen Fall! Nie und nimmer traue ich ihm einen Mord zu.“

„Ich auch nicht. Und auch Märker ist unsicher geworden. Ich war heute nachmittag bei ihm. Ich habe ihm auch die Geschichte von den knarrenden Dielen erzählt. Trotzdem erklärte er wie wir, Marville könnte der Täter nicht sein, oder seine ganze Menschenkenntnis wäre keinen Pfifferling wert. – Ich meine, wenn drei Leute, die sich den frischen Luftzug des Lebens wie wir haben tüchtig um die Nase wehen lassen, sich einig sind, daß Marville fraglos ein ernstes Geheimnis zu bewahren, aber keine Mordtat zu verheimlichen hat, so darf man darüber nicht ohne weiteres hinweggehen, besonders, wenn erwiesen ist, daß zwischen dem Rentier und dem Kanzleirat recht enge Beziehungen bestanden haben müssen und daß beider Wohnungen zwecks Austausches schneller Mitteilungen noch eine eigene telephonische Verbindung gehabt haben. Weiter erleidet meine Theorie vom vorhin auch dadurch noch einen tüchtigen Stoß, daß Marvilles Tochter, die doch offenbar in das Geheimnis miteingeweiht ist, die Verhaftung des Vaters sehr gefaßt hinnahm und daß sowohl der Rentier als auch Merling betonten, sie verweigerten nur vorläufig alle Angaben über jene Ereignisse. Und schließlich läßt sich auch die Schränkchengeschichte bei näherem Zusehen mehr als Entlastungs-, denn als Belastungsbeweis für Marville auffassen. – Ich bin heute nachmittag mit Märker nochmals in jenem Fremdenheim Teubler gewesen, wo jener Herr August Herbst, Aufkäufer der Münchener Kunsthandlung, gewohnt hat, – hm ja, genau so lange gewohnt hat, wie der Kanzleirat hier in Deinem Hause, das heißt, seit dem ersten Januar. Die Vermutung liegt also nahe, daß Herbst und Wehrhut sich gekannt haben. Hier hakte ich hinter, forschte heute die Teublerschen Dienstboten aus und erfuhr so, daß Wehrhut den Herbst recht oft besucht hat. Sie waren sogar so intim miteinander, daß Herbst befohlen hatte, den Kanzleirat selbst in seiner Abwesenheit in sein Zimmer einzulassen. – Dieses Zimmer haben wir, Märker und ich, uns gleichfalls angesehen. Sogar sehr genau. Auch das Schränkchen und die drei Kunstgegenstände, die angeblich darin verpackt waren. – Das Zimmer liegt abseits von den übrigen und hat einen besonderen Eingang vom Treppenflur. Herbst legte großen Wert darauf, gerade diesen Raum zu erhalten, – natürlich, um unbemerkt ein- und ausgehen zu können. – Nun zu dem Schränkchen. Es ist fraglos venezianische Arbeit, aus Ebenholz, reich verziert und bildet einen einzigen Behälter von etwa 1,25 Meter Höhe und Breite und 75 Zentimeter Tiefe. Ein Mensch hat darin also zusammengeduckt ganz bequem Platz.

– Ließ sich nun irgendwie nachweisen, daß die Kunstgegenstände damals nicht zusammen mit dem Schränkchen in das Zimmer Nr. 1 der Pension Teubler gelangt waren? – Ja! – Auf einem großen Kleiderspind mit Spiegeltür standen drei Holzkisten, die etwa vor zwei Wochen bereits für Herbst durch einen Dienstmann abgegeben worden waren. Ihre Größe brachte mich auf den Gedanken, daß die beiden Büsten und die Statue darin verpackt gewesen sein könnten. Jetzt waren die Kisten leer, die Deckel aber trotzdem fest aufgenagelt. Das Stubenmädchen behauptete nun, vor kurzem wären die Kisten noch ganz sicher gefüllt gewesen, und zwar hätte ihr Herr Herbst gelegentlich gesagt, jede enthielte einen sehr wertvollen Gegenstand. – Außer den drei antiken Kunstgegenständen, die in dem Ebenholzschränkchen noch eingewickelt lagen, war in dem Zimmer jedoch von derlei Sachen nichts weiter vorhanden. – Du siehst, lieber Erwin, wir kamen dem Schwindel immer mehr auf die Spur! – Ich nahm mir also nochmals das Schränkchen vor, hob die beiden sehr oberflächlich in Zeitungspapier eingewickelten Büsten und die Statue heraus und besichtigte den Boden. Und da fand ich Kratzer, die nur von den Hacken eines Menschen herrühren konnten, der sitzend in dem Schränkchen transportiert worden war! Auch die Art der Umhüllungen der Kunstgegenstände war im übrigen völlig unzureichend und nur ausgeführt, um die ganze Sache glaubwürdiger erscheinen zu lassen. – Mit einem Wort: es hätte gar nicht mehr der Aufstöberung jenes Dienstmannes, der seinerzeit die drei Kisten gebracht hatte, bedurfte, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß Marville gelogen hatte! Der Dienstmann besann sich zu allem Überfluß sehr genau auf diesen einen Auftrag und erklärte, er hätte die drei Kisten aus dem sogenannten Spukhaus aus Bäckershagen abgeholt, und sie wären recht schwer gewesen. – Jetzt darfst du wieder „famos – famos!“ rufen, Phantasiemörder –“

 

Neuntes Kapitel.

Ich hätte es wohl auch getan, wenn nicht in diesem Augenblick die Flurglocke mit schrillem Keifen dazwischengefahren wäre.

Ich eilte hinaus. Es war der Major.

Er war sehr aufgeregt.

„Das Gespenst ist im Garten,“ sagte er hastig. „Eigentlich müßte man’s doch mal zu fangen versuchen. Margot hat es eben zufällig von einem unserer Hinterfenstern aus erspäht.“

Dann standen wir drei an meinem Küchenfenster. Der Mond war gerade über den Hügeln hochgeklettert und warf sein bläuliches Licht auf die weißen Schneemassen, die dunklen Tannen, die verschneiten Lauben und die entlaubten Spalierobstreihen. Auf dem Hauptwege aber glitt ein Etwas hin und her, eine hohe Gestalt in langem, schleppendem Gewande von dunklem Stoff mit einer altertümlichen Schleierhaube auf dem Kopf. –

Glitt hin und her, machte halt, kehrte um, schwebte weiter, – immer mit hängenden Armen und Bewegungen, die man eben nicht als gehen bezeichnen kann.

Hosea verließ die Küche, kam gleich wieder zurück, öffnete das Fenster, kletterte hinaus und schwang sich wortlos hinüber auf den an der Mauer befestigten Blitzableiter.

Der Major und ich fanden keine Zeit, ihn zurückzuhalten. Als wir uns über seine Absicht klar wurden, war er schon in der Höhe des ersten Stockwerks angelangt.

Mit klopfendem Herzen, als ob ich eine spannende Szene eines Kinodramas mir ansah, verfolgte ich, weit aus dem Fenster gelehnt, den Freund und auch das Gespenst.

Dann ein leiser Aufschrei Hoseas. –

Er hatte den Halt verloren und schlug mit dumpfem Krach unten auf die vom Schnee sauber befreiten Pflastersteine dicht an der Hauswand auf, blieb ein paar Sekunden liegen, rappelte sich aber wieder auf und hinkte auf den Hintereingang zu, fand diesen bereits verschlossen und mußte daher um das Haus herum nach der Vordertür.

Das Gespenst war inzwischen verschwunden.

Ich erwartete Hosea auf der Treppe. Ich war besorgt, er könnte sich ernstlicher verletzt haben.

Er lachte mich aus. „Das rechte Knie mag etwas zerschunden sein!“ meinte er.

Im Salon zog er seinen Revolver aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch. – „Ich hätte dem Haubengeist bestimmt in die Beine geknallt, wenn ich nahe genug herangekommen wäre!“ sagte er wütend. „Meine eigene Ungeschicklichkeit ist schuld daran, daß ich wie eine überreife Pflaume herabsauste!“ –

Der Major blieb noch etwa zehn Minuten. Wir redeten ein langes und breites über das Gespenst, wobei Hosea schwor, noch sei ja nicht aller Tage Abend und er würde dem „Burschen“ schon eins auf den Pelz brennen.

Als wir wieder allein waren und in unseren Sesseln saßen, sagte er, während er sich gelassen eine neue Zigarre ansteckte:

„Meinen Unfall vorhin verdanke ich dem, der das dicke, verzinkte Drahtseil des Blitzableiters dicht unterhalb des Küchenfensters Marvilles zerschnitten oder besser durchgefeilt hat. – Ich glaube, wir wollen uns dieses kaputte Drahttau merken, lieber Erwin! Vielleicht ist es nur deshalb an einer Stelle durchschnitten, damit ähnliche Überraschungen, wie ich sie dem Herrn Geist zugedacht hatte, mißlingen!“

Hosea paffte ein paar dicke Wolken und fuhr dann fort:

„Kehren wir zum Schränkchen zurück. – Es steht jetzt also fest, daß die drei Kunstgegenstände schon früher dem Herrn August Herbst geschickt worden sind, daß also das Schränkchen ganz bestimmt zum Transport des Kanzleirats benutzt wurde! – Das bereits erwähnte Stubenmädchen hat nun bekundet, daß das Schränkchen damals von dem Chauffeur und dem Hausdiener des Fremdenheims nach Herbsts Zimmer hinaufgetragen wurde. Herbst selbst war wieder einmal verreist und kehrte erst etwa eine Stunde später zurück. – So, das wäre alles. – Was aus Wehrhut geworden ist, ahnen wir leider auch jetzt noch nicht. Es ist ja aber nur zu klar, daß Herbst ihn im Einverständnis mit Marville dann weitertransportiert hat. Wohin – mögen die Götter wissen!“

„Hm –!“ meinte ich sehr gedehnt, „sagtest Du nicht vorhin, Hosea, daß die Schränkchengeschichte eher zur Entlastung Marvilles beiträgt?! Ich finde in dem soeben Gehörten nichts, was –“

Er ließ mich nicht aussprechen. Seine Oberlippe schob sich hoch. Es war sein häßliches, ironisches Grinsen wieder. Und ich war so froh gewesen, weil ich’s an diesem Tage bisher kaum gesehen hatte.

„Ich liebe die Effekthascherei,“ meinte er. „Das Stubenmädchen hat noch mehr ausgesagt. Sie will beschwören, daß sie etwa fünf Minuten nach Ankunft des Schränkchens vor dem Hause, in dessen erstem Stock die Pension Teubler liegt, dem ihr von Ansehen sehr gut bekannten Herrn – halte Dich fest, Phantasiemörder! – Herrn Wehrhut begegnet sei, – Herrn Kanzleirat Wehrhut, der den Hut ganz im Genick gehabt hätte, da seine Stirn mit einem großen Pflaster beklebt gewesen wäre. – Na – was sagst Du jetzt?! – Es kommt aber noch besser – „Es war bereits ziemlich dunkel,“ erklärte das Mädchen weiter. „Als Herr Wehrhut mich erblickte, wandte er schnell den Kopf zur Seite und ging eilig auf den anderen Bürgersteig hinüber.“ – So, Erwin, nun weißt Du wirklich alles! Es genügt, finde ich, um einen klaren Kopf gehörig in Unordnung zu bringen! – Jedenfalls scheint also Wehrhut danach noch am Leben zu sein, und insofern ist Marville entlastet.“

Ich brachte kein Wort heraus, starrte nur Hosea an, da ich erwartete, er würde dies letzte jetzt als schlechten Scherz widerrufen. Aber er dachte gar nicht daran, fügte vielmehr mit einem trockenen, höhnischen Auflachen hinzu:

„Märker glaubt an die Wahrheit dieser Aussage des Mädchens nicht, meint, die blitzsaubere Kleine müßte bestochen sein und wäre eine sehr raffinierte Person. – Nun, ich bin anderer Ansicht.“

„Ja, aber um alles in der Welt, – wenn Wehrhut lebt, – weshalb meldet er sich dann nicht?!“ rief ich jetzt, wild mit den Armen gestikulierend. „Weshalb hält er sich verborgen, weshalb hat Herbst auf so listige Weise der Polizei zu entschlüpfen gewußt, weshalb läßt sich Marville verhaften, – oh, da wird einem ja vor lauter Fragen, die einen wie Flöhe in einem Lemberger Hotelbett anspringen, ganz dumm im Kopf!“

„Du hast ganz recht: dumm im Kopf! – Ich glaube, Dir nun jedenfalls den Beweis erbracht zu haben, Kind, daß wir hier vor einem Geheimnis stehen, dessen Aufklärung uns bisher nicht gelungen ist und vielleicht auch nicht gelingen wird!“

„Und wenn Märker doch recht hätte!“ wagte ich einzuwenden. „Wenn das Mädchen tatsächlich bestochen ist und lügt, also Wehrhut nicht gesehen hat –?!“

„Sie lügt nicht!“ sagte Hosea ruhig. „Ich habe sie mir nachher, als ich mich von Märker getrennt hatte, nochmals allein vorgenommen. Und da hat sie mir erklärt, sie wäre damals mit ihrem Schatz zusammen gewesen, und dieser hätte Wehrhut auch bemerkt, als sie ihn auf den Kanzleirat aufmerksam gemacht hätte, besonders noch auf die verbundene, bepflasterte Stirn. – Dieser „Schatz“ ist einem Unteroffizier namens Wachtler. Ich habe ihn in der Kaserne sofort aufgesucht. Er will jedes Wort beschwören, das seine Braut über diese Begegnung mit dem alten Herrn ausgesagt hat.“

„Ja – dann – dann –,“ meinte ich vollkommen kopflos, „dann allerdings dürfte es zwecklos sein, sich mit Theorien abzuquälen –“

Hosea war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab.

Unten bei Marvilles schlug die Uhr mit dem tiefen Gongton elf.

Der Menümaler blieb vor mir stehen.

„Ich muß Dich diese Nacht allein lassen, Kind,“ sagte er leise „ich habe draußen zu tun.“

„Draußen –?“

„Ja. – Denk’ mal an den Fußpfad im Schnee und an die Stange in der Tanne, auch an die kleine Laterne, die damals brannte, als ich verhaftet wurde. – Du kannst mir Deinen Pelz borgen, Erwin. Es sind wieder gut acht Grad Frost. Außerdem werde ich mir aus den Wäschevorräten Deiner Tante ein großes Laken mitnehmen – als Schneehemd.“

Ich sollte allein hier oben bleiben?! – Niemals! – Mit meinen Nerven war’s schlecht bestellt. Die hielten eine Belastungsprobe wie schlurfende Schritte und Stöhnen und heisere Schreie nicht mehr aus.

„Ich komme mit,“ erklärte ich fest. „Ich könnte doch nicht schlafen, würde fürchten, daß Dir etwas zustieße.“

Er grinste voller Ironie auf mich herab.

„Ich habe Dir aus Palmburg einen Revolver mitgebracht. Er steckt noch in meiner Manteltasche. Und wenn Du die Küchentür vom Flur aus abschließt und den Schlüssel stecken läßt, so glaube ich Dir dafür garantieren zu können, daß Du – ganz unbelästigt bleibst – ganz und gar. Höchstens die Töne, die das ganze Haus zuweilen durchdringen, die könnten sich vielleicht vernehmen lassen – vielleicht. – Ich kann Dich draußen nicht brauchen, wirklich nicht. Es ist auch besser, Du bleibst hier, – um zu kontrollieren, ob der Geist Deiner Tante auch durch verschlossene Küchentüren zu dringen vermag, – was ich nicht glaube!“

Ich schämte mich, Hosea einzugestehen, daß ich – Angst vor dem Alleinsein hatte. Ich blieb –

Hosea holte sich aus der Speisekammer eine lange Wäscheleine und befestigte sie am Fensterkreuz der Küche. Dann brach er auf. Der Mond war hinter dichtem Gewölk verschwunden. Die ersten Flocken schwebten herab. Die Kälte hatte plötzlich nachgelassen.

Ich schaute dem Freunde nach, wie er, gehüllt in das Laken, davonhuschte. Sehr bald verschwammen die unsicheren Umrisse seiner phantastischen Gestalt mit der Schneedecke und den immer lebhafter herabwirbelnden weißen, kleinen Flöckchen in eins. Hosea hatte den Weg nach der Ruine eingeschlagen –

Dann schloß ich mich im Salon ein. Den neuen Revolver legte ich auf den Tisch. Aus der Bibliothek der Tante hatte ich mir einen Roman herausgesucht. Ich wollte lesen, bis Hosea zurückkehrte oder der Morgen graute.

Der Anblick der blinkenden, geladenen Schußwaffe wirkte wie ein beruhigendes Narkotikum auf mich.

Wenigstens zunächst. Je näher aber die Mitternachtsstunde kam, desto aufmerksamer lauschte ich auf jedes Geräusch.

Ich trank in der letzten Viertelstunde dann etwa sechs Kognaks. So viel waren es bestimmt.

Die Standuhr bei Marvilles begann zu schlagen –

Wenn ich doch nur darauf bestanden hätte, Hosea begleiten zu dürfen –! Meine Hände waren ja schon ganz feucht vor Schweiß. – Auch der Alkohol nützte nichts.

– zehn – elf – zwölf –! – Wie der letzte Schlag in der Stille der Nacht nachzitterte –! Die Tonschwingungen wollten gar nicht aufhören –

Meine Hand tastete nach dem Revolver –

Wenn irgend etwas geschah, so wollte ich – durch meine Gedanken ging ein Riß –

Das – das war doch wieder das leise Schlurfen –

Oder – hatte ich mich getäuscht –?!

Ich vernahm jetzt nur das Pochen meines eigenen Herzens, saß regungslos im Sessel, ließ meine Augen abwechseln über die beiden Türen hinschweifen –

Da –

Kein Zweifel. – Im Flur – ganz deutlich – genau das leise Tappen wie damals –, hin und her, her und hin, – jetzt nichts, – dann wieder beginnend –

Mir traten Schweißperlen auf die Stirn. Sie vereinigten sich; ein Tropfen rann mir die Nase entlang. Wieder einer – an der rechten Schläfe –

Die schlurfenden Schritte machten jetzt dicht vor der in den Flur mündenden Tür halt – Ich hörte ein wimmerndes Stöhnen –

Da – da kam plötzlich wieder jene Wut über mich, wie an dem Morgen, als ich den Schürhaken packte –

Mein rechter Arm streckte sich, der Zeigefinger krümmte sich um den Abzug –

Der erste Schuß krachte – der zweite – der dritte –

Dann – Vor der wahnwitzigen, gellenden Lache, die jetzt im Flur ertönte wie das Kichern einer Schar höllischer Dämonen, sank mir der Arm schlaff herab –

Und – in demselben Augenblick brannte das Gas dunkler und dunkler, bis die drei Flammen der Krone verlöschten –

Tiefe Finsternis ringsum – Eiseskälte kroch mir über den Leib wie ein Heer feuchtkalter, schleimiger Salamander –

Finsternis und Stille – Totenstille – Im Flur nichts mehr – nichts –

Nur über mir bei Baltings wurde es jetzt lebendig. Ich hörte Türen öffnen und schließen, einige Schritte, daß die Decke leise dröhnte –

Noch etwas anderes hörte ich – ein feines Singen, Sausen, – ganz leise – und dann roch ich trotz des Tabakqualms das Widerliche ausströmenden Leuchtgases – Ich begriff plötzlich, steckte ein Streichholz an, stieg auf einen Stuhl und – die erste Flamme der Krone puffte auf, – die zweite – die dritte.

Blendende Helle – wie freudig ich sie begrüßte!

Gleich darauf schrillte meinen Flurglocke –

Ich nahm den Revolver zur Hand, zündete eine Kerze an, trat sehr zögernd in den Flur, schaute mich scheu um, schloß schnell auf und entfernte die Sicherheitskette –

Major von Balting, im Schlafrock, eine Pelzmütze auf dem Kopf, stand vor mir.

Fragen und Antworten flogen rasch hin und her. Ich verschwieg nichts –

„Durchsuchen wir die Wohnung,“ sagte er kurz.

Die Küchentür war noch genau so fest verschlossen wie vordem. – Wir fanden nichts – nichts, – nur die drei Kugellöcher in der Türfüllung und die Kugeln, die sich an der Ziegelwand des Flurs plattgeschlagen hatten und neben weißem Mörtelstaub auf den Dielen lagen.

„Eine ganz verdammte Bude,“ knurrte der Major und ließ sich einen Kognak geben.

Dann gingen wir in die Küche. Balting wollte nach Hosea Ausschau halten, der nun schon über eine Stunde draußen war. Und zu mir hatte er doch gesagt: „Wenn das Laternchen nicht brennt, bin ich bald wieder zurück.“

Wir beide standen am offenen Fenster und starrten auf das Flockengewirbel. Frau Holle schüttelte ihre Betten heute gehörig durch.

Draußen plötzlich ein – zwei schwache Knalle hintereinander, – Schüsse fraglos – aus der Richtung der Ruine –

„Hörten Sie?“ flüsterte der Major. „Das war –“

Draußen ein Schrei – undeutlich, schnell verklingend –

Balting hatte meinen Arm gepackt.

„Da geht etwas vor –,“ keuchte er förmlich. „Wir müssen hin –“

Wie unsinnig, wie zwecklos das Suchen in diesem Schneegestöber war, kam uns bald zum Bewußtsein.

In der Ruine kletterten wir über Steinhaufen, Mauerreste – der Major rief immer wieder:

„Hosea – Hosea!“ – Das Schneegestöber verschluckte auch Baltings Kommandostimme –

Eine Stunde irrten wir umher. Dann gaben wir es auf –

In meinem Salon war das erste für jeden ein Kognak – und ich bin sonst so mäßig! Heute war’s wohl schon der achte oder neunte –

Dann ließ ich für alle Fälle einen Zettel zurück: „Bin oben bei Baltings.“ Vielleicht fand sich Hosea bald ein –

Ich schlief dann auf dem Diwan in des Majors Schlafzimmer. Besser: ich lag bis zum Morgengrauen mit offenen Augen da und – verwünschte so und so oft diese ganze Erbschaft –

Um sechs Uhr wurde der Major munter. Er war ein Frühaufsteher.

Eine halbe Stunde später betraten wir meine Wohnung. Die Krone im Salon brannte noch, der Zettel für Hosea lag noch da –

„Ich werde an Märker telephonieren,“ sagte Balting. „Er soll auch gleich einen Polizeihund mitbringen.“ –

Ohne den Polizeihund Minka hätten wir Hosea Garblig nie gefunden.

Aber Minkas Nase war weit über die Provinz hinaus berühmt, und mit Recht!

In einer Schneewehe unweit der Ruine lag er. Der Pelz und der halbe Meter Schnee über ihm hatten ihn vor dem Erfrieren geschützt. Daß er nicht erstickt war, blieb ein Rätsel –

Er war bewußtlos. Am Halse hatte er blutunterlaufene Würgemale.

Im warmen Bett oben im Salon kam er bald wieder zu sich.

Mittags hatte er 39,5 Grad Fieber. Da begann für mich die neue Angst –

Es war ein Zufall, daß eine Stunde später zusammen mit dem Arzt ein Depeschenbote kam, der mir ein Telegramm von Borwin von Bock überbrachte –: „Was dort los? Von euch bisher keinerlei Nachricht.“ – Rückantwort war bezahlt. So schickte ich denn den Bescheid: „Erwarte Dich hier sofort. – Erwin.“ –

Der Sanitätsrat machte ein sehr bedenkliches Gesicht.

„In solchen Fällen kommt es auf die körperliche Widerstandskraft an,“ meinte er.

Tags darauf, gegen zehn Uhr vormittags, erschien plötzlich Freund Bock. In Zivil natürlich und mit zehn Tagen Urlaub.

Als ich ihm dann berichtet hatte, was hier alles vorgefallen war, meinte er tief gekränkt, wir hätten ihm viel früher depeschieren sollen. „Wir drei gehören doch zusammen, Erwin. Das weißt Du,“ sagte er schlicht. „Und wenn Euch der Zufall oder eine Verkettung besonderer Umstände ein so starkes Erleben beschert, durftet ihr mich nicht abseits stehen lassen.“

Auf seinen Wunsch wurde ihm Tante Hermines Schlafzimmer hergerichtet. Das erbat er mit einer Selbstverständlichkeit, als könnten ihm von den verzauberten Dämonen des großen Königs Salomo bis zum Haubengespenst[7] alle Geister gestohlen bleiben –

An diesem Tage besserte sich Hoseas Befinden zusehends. Seine Katzennatur bewährte sich aufs beste.

Über das, was er draußen im Schneegestöber erlebt hatte, äußerte er sich vorläufig in keiner Weise.

 

Zehntes Kapitel.

Die Bahn ging erst einen langen Abhang ziemlich gerade hinab, machte dann eine scharfe Krümmung nach rechts und benutzte weiter einen recht steilen Hügelrücken, um nachher in zahlreichen, weniger gefährlichen Kurven sich durch kleine Täler und Schluchten bis in die Nähe des Gemüsegartens hinzuziehen.

Der Kommißbock war nicht wenig stolz darauf, diese neue Rodelstrecke „ausgeknobelt“ zu haben. Vorläufig endete die Talfahrt für den neuen Bobschlitten, Fünfsitzer, allerdings regelmäßig schon an der ersten scharfen Kurve.

Wir sechs standen gerade in geschlossener Gruppe da, als Irmgard von Balting rief: „Ist das nicht die Tochter Hähnchens?“

„Sie ist’s!“ meinte der Menümaler. „Donnerwetter – sieht totschick aus in ihrem Rodelkostüm!“

„Finden Sie?!“ sagte die älteste Balting sehr gedehnt.

Lore Hähnchen, ihren Rodelschlitten hinter sich herziehend, umging uns. Die Herren grüßten. Sie dankte wie eine Fürstin. Und ich dachte: „Ein Weib zum Anbeißen! Die Schlosserstocher merkt der auch niemand mehr an!“

Als Lore außer Hörweite war, sagte Irmgard:

„Wenigstens hätte sie doch fragen können, ob sie unsere Bahn benutzen darf.“

„Hätte –! Sie tut’s aber nicht! Stark entwickeltes Gefühl für Selbständigkeit!“ meinte Hosea, der dem Hühnchen, wie er sie unter uns nannte, voller Interesse nachblickte.

Dann zog die Bobbesatzung bergan.

Ich war gespannt, ob Lore die Kurve glücklich nehmen würde, und blieb allein an der Kurve zurück, da ich als sechster ohnehin nicht mitfahren konnte.

Jetzt kam der kleine Schlitten wie ein Blitz dahergeschossen –

Ah – da mußte wohl ein Hindernis gelegen haben, eine Baumwurzel – ein Stein –

Ich mußte laut auflachen – Lore war mir gerade vor die Füße gerollt –

„Aller Anfang ist schwer!“ meinte ich und half ihr auf.

Sie schüttelte den Schnee ab. Ihre grauen Sphinxaugen schauten mich unangenehm durchdringend an.

„Eine Frechheit, nicht wahr, Herr Malwa?!“ sagte sie spöttisch.

Ich wußte, was sie meinte. Aber die gesellschaftliche Heuchel-Dressur ließ mich trotzdem erwidern:

„Ich verstehe nicht ganz – auf wen soll sich diese Frechheit beziehen?“

„Oh – Anmaßung klingt netter. – Auf mich natürlich! – Übrigens hätte ich Ihnen mehr Aufrichtigkeit zugetraut.“

Sie holte ihren Schlitten.

„Ich kann mir ja denken, was die drei lieben Mitschwestern adliger Abstammung gesagt haben, als ich vorhin auftauchte,“ begann sie wieder. „Schlosser schließt den Begriff des Ausgeschlossenseins von so feudalem Wintersport schließlich selbsttätig in sich ein!“ Sie höhnte wieder –: Schlosser – schließt – ausgeschlossen – schließlich, – das genügte!

Ihre Rätselaugen, in deren Tiefen es schimmerte wie die Oberfläche eines im Waldschatten liegenden smaragdgrünen Weihers, drangen wieder in die meinen. Trotz, Kampflust, Bitterkeit und Spott strahlten mich an. Und schnellatmend vor innerer Erregung fügte sie hinzu: „Es ist natürlich ein Verbrechen gegen die geheiligte Tradition, daß eines Handwerkers Tochter es wagt, junge Dame zu spielen, sogar noch eine Dame von Welt mit einem Horizont, der etwas weiter reicht, als die letzten Häuser von Bäckershagen. Seidene Dessous und manikürte Hände sollen eben wie vieles andere den besseren Ständen und – der Halbwelt vorbehalten bleiben!“

Plötzlich lachte sie hell auf. „Schade, daß ich keinen Spiegel hier habe, Herr Malwa. Ihr Gesicht ist köstlich! Wie das eines Oberzeremonienmeisters, der nicht weiß, ob er über die aus jedem Rahmen höfischer Sitte fallende Ungezwungenheit einer frischgeadelten Frau von Müller oder Meier mit einer Masse Millionen weinen oder lachen soll!“

Von der Höhe der Ton einer Trillerpfeife. Der Bob setzte sich wieder in Bewegung, kam wie ein dicker Lindwurm angerast und – warf seine fünf Reiter regelrecht dicht vor Lore Hähnchen und mir in den Schnee.

Als die fünf sich hochgerappelt hatten, sagte Lore sehr laut und bestimmt:

„Auf diese Weise werden Sie die kurze Kurve nie nehmen.“ Und es folgte ein langer Vortrag mit vielen fachtechnischen Ausdrücken, aus dem hervorging, daß das Hühnchen im Januar für zehn Tage im Riesengebirge auf einer Dreitausend-Meter-Bahn sich als Boblenkerin trainiert hatte.

Hosea, der selbst heute seinen Scherben im Auge hatte und in der weißen, anliegenden Wolljacke noch dünner aussah, stellte jetzt Lore in aller Form, obwohl sie sich natürlich längst kannten, den drei Baltings und auch dem dichtenden Kommißbock vor.

Die Majorchens waren erst kühl bis ans Herz hinan, tauten aber allmählich auf, und zwar hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil Hosea und Borwin Lore ganz als Dame behandelten.

Die nächste Bobfahrt, bei der Borwin freiwillig ausschied, wurde ein voller Erfolg. Lore bekam den Schlitten wirklich um die Ecke des Anstoßes herum, und mit hurra sausten die fünf an dem Oberleutnant und mir vorüber weiter talabwärts. –

Erst gegen halb eins brachen wir dann auf, um rechtzeitig zum Mittagessen daheim zu sein.

Lore war jetzt ganz als vollgültiges Mitglied in den Rodelklub „Spukhaus“ aufgenommen. –

Wir drei Freunde saßen eine Viertelstunde später oben im Wohnzimmer am einladend gedeckten Tisch und löffelten die Suppe, – Erbsen mit Weißbrotröstwürfeln, und sprachen natürlich über Lore. Wir waren uns völlig einig darüber, daß das junge Mädchen unsere Erwartungen weit übertroffen und uns sehr angenehm enttäuscht hatte. Hosea äußerte sich sogar ganz begeistert über Lore.

Als wir dann gerade beim Nachtisch angelangt waren, zerriß plötzlich ein gellender Schrei die in meinem Wohnzimmer gerade herrschende Stille.

Der Schrei kam aus dem Vorgarten.

Hosea hatte schnell ein Fenster geöffnet, beugte sich hinaus –

„Der Eiszapfen!“ rief er und stürmte davon.

Wir hinter ihm her. Während wir die Treppen hinabliefen, erklärte ich stoßweise –

„Hähnchen hat schon – immer – gefürchtet –, daß jemand getroffen – werden könnte –“

Wir kamen zu spät. Frau Sauerbier hatte ihre Nichte, die tatsächlich von einem herabfallenden, riesigen Eiszapfen zu Boden geschmettert worden war, bereits in ihre Wohnung getragen. Nur Hosea bekam sie zu sehen, erklärte die Wunde am Kopfe für harmlos und berichtet uns dann noch, das junge Mädchen hätte gerade von außen Fenster geputzt, als der Unfall sich ereignete. Nachher ging er sofort zu Baltings nach oben, angeblich, um sich von dem Major ein Buch zu leihen. Er blieb eine gute Viertelstunde weg.

Borwin und ich hatten uns inzwischen im Salon in den Sesseln ein kleines Verdauungsschläfchen geleistet.

Hosea machte uns schnell munter.

„Also, Kinder, – Ihr müßt heute Eure satte Trägheit schon im Interesse der Allgemeinheit etwas meistern! – Hört mich an. Ich kann euch nicht verhehlen, daß ich hier dauernd in Lebensgefahr schwebe – dauernd. Mir macht dies aber nichts aus. Ich werde schon die Augen offen halten! Sollte mir aber doch etwas widerfahren, so könnte dadurch die Aufklärung der Geheimnisse dieses Hauses stark in Frage gestellt werden. Ich muß mich Euch also in gewissem Grade anvertrauen, obwohl es für die Sache selbst besser wäre, wenn ihr ganz harmlos bliebet. – Damals, in jener Nacht, als der starke Schneefall eintrat und ich nach dem Sturz auf die Steine, woran der durchschnittene Blitzableiter schuld war, zum zweiten Mal in Pelz und Laken mich hinauswagte, fand ich trotz des Schneegestöbers die Laterne an der Stange brennend vor. Ich faßte daher hinter der Ruine nach der tiefen Schlucht zu Posto, stand dort, gedeckt durch ein paar Tannen, wohl eine gute halbe Stunde fast regungslos. Der Schnee fiel immer dichter. Weit zu sehen war unmöglich. Etwa fünf Meter vor mir lief der ausgetretene Pfad auf die hintere Gartenpforte zu, den Du ja auch kennst, Erwin. Dann tauchten plötzlich von links, also aus der Richtung des Fabrikviertels Palmburgs, sechs Gestalten auf, die lautlos durch den weichen Schnee dahergestapft kamen. Es waren Männer, teils in Mänteln, teils in dicken Joppen. Genau konnte ich sie nicht sehen, da die herabtanzenden Flocken einen wenig durchsichtigen, immerfort abrollenden Vorhang bildeten. Aber – die Leute hatten sämtlich die Gesichter mit wollenen Schals verhüllt! – Natürlich folgte ich ihnen. Sie durchschritten die Pforte und hielten auf das Haus zu –“

Hosea machte eine Pause, ging ins Wohnzimmer an das Büffet und trank einen Kognak.

Dann setzte er sich rittlings vor uns auf einen Stuhl.

„Ihr wißt, ich bin nicht gerade ängstlich oder schreckhaft, und abergläubisch schon gar nicht –! Ich habe in meinem Leben in den letzten acht Jahren, seit ich die doppel –“ Er hüstelte „– die doppelte Freude habe, Menükarten und Ansichtskarten entwerfen zu dürfen, so nebenbei viel durchgemacht, viel Seltsames, Abenteuerliches, auch manches, was unheimlich erschien auf den ersten Blick und nachher doch nur schwarze Lumpen waren, die etwas alltägliches verhüllten. – Das Grauen habe ich nie kennengelernt. Bis ich nach Bäckershagen kam, bis eine schneereiche Nacht mich hinauslockte. – Ich schlich also hinter den sechs Männern her. In vorsichtiger Entfernung, – so, daß ich den letzten der Reihe nur noch eben als dunklen Schatten vor mir wahrnahm. – Dann war dieser Schatten urplötzlich verschwunden. Ich war mißtrauisch, blieb stehen. In dem Moment hörte das Flockengeriesel gerade ein wenig auf. Und da, Freunde, – da reckte sich dicht vor mir, wie aus dem Boden gewachsen – das Gartengespenst empor, – der Geist mit der Haube, mit den schleppenden, dunklen Gewändern. Und unter der Haube stierte grinsend – ein Totenschädel hervor, gelb-weißlich, gräßlich gerade in dieser Umhüllung. – Ich prallte zurück, riß den Revolver aus der Tasche, zielte und rief: „Hände hoch – oder es knallt!“ – Ein Paar Arme, stoffbehängt, reckten sich höher, reckten sich meinem Gesicht zu – Ich sah zwei fleischlose Knochenhände, keine Menschenhände. – Und mit einem Mal, gerade als ich losdrückte, wurde mir der Arm, der die Waffe hielt, zur Seite geschlagen. – Zwei Schüsse verpufften in die Luft, – und die Skelettfinger umkrallten meinen Hals. – Da verlor ich das Bewußtsein –“

Hosea fuhr sich ich mit der Hand über die Stirn. Und Borwin sagte nur: „Donnerwetter!“

„Das Haubengespenst,“ berichtete Hosea dann weiter, „hat mir fraglos aufgelauert, hat mich schon beobachtet, als ich auf meinem Posten an dem Fußpfade stand, vielleicht auch schon, als ich das Haus verließ. Und der, der diese unschönen Kostümrolle mit Totenkopf und Skeletthänden spielt, weiß, daß ich nicht der harmlose Maler bin, der Angst vor Gespenstern heuchelt und Monokel und Lackschuhe mit grauen Gamaschen trägt, sondern ein nicht zu verachtender Gegner. Daher schwebe ich auch in Lebensgefahr. Ich will Euch dies nicht noch näher begründen. Ihr könnt es mir schon glauben: ich habe Beweise dafür. Vielleicht fällt mir auch mal ein Eiszapfen auf den Kopf –“

Borwin und ich hoben die Köpfe ruckartig, schauten Hosea überrascht an.

„Nein, nein,“ meinte er mit blinkendem Obergebiß sehr ironisch, „was ihr beide da soeben denkt, trifft nicht zu. Fräulein Anna Helmbach ist das Opfer eines unglücklichen Zufalls geworden – nichts weiter. – Ich wollte Euch nur zeigen, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt, einen Menschen unschädlich zu machen. – Ich habe nun an Dich einige Anliegen, geliebter Phantasiemörder. Du wirst heute daheim bleiben. Der Kommißbock und ich werden allein auf der Rodelbahn die Kavaliere spielen. – Um drei oder halb vier wird sich Märker einfinden. Du wirst ihm erzählen, was mir in jener Nacht begegnet ist. Und dann frage ihn, ob Fräulein Anna Helmbach vielleicht heimlich verheiratet ist. Weiter bitte ihn, mir die Strafakten gegen Percy Marville wegen Einbruchsdiebstahls, begangen vor sechs Jahren in Palmburg, zu besorgen. – Merke Dir das genau – verstanden?! – Ich will absichtlich nicht mit Märker zusammenkommen. Ich will versuchen, meinen Feind, den Knochenmann, wieder in Sicherheit zu wiegen. Ich werde die Rodelei betreiben, als machte sie mir wirklich Spaß. Und Du mußt unauffällig überall verbreiten, daß ich aus meinem nächtlichen Abenteuer die Lehre gezogen hätte, man solle besser nicht Haubengeistern nachspüren, und daß ich meine Finger jetzt für alle Zeit davon lassen würde. Ebenso erzähle jedem, der es hören will, daß ich demnächst abreise, daß Du Dir aber den bekannten Berliner Privatdetektiv Hans Gorski verschrieben hättest, der zur Zeit aber unabkömmlich wäre und erst nach acht Tagen eintreffen würde. Pirsche Dich auch an Frau Sauerbier, diese alte Klatschbase, heran, und erkundige Dich, weswegen wohl Lore Hähnchen gestern morgen so plötzlich hier eingetroffen ist. Vielleicht hängt dies so etwas mit der Person Merlings zusammen, den Lore ja wohl stark anschwärmen soll. Besuche auch noch heute den gestern abend eingetroffenen neuen Mieter, den Chemiker Schellhorn, mache Dir irgendein Gewerbe und schau Dich in seiner Behausung um. Ich finde, er hat sehr spärliches Mobiliar mitgebracht. Vielleicht ein armer Teufel, der die Miete schuldig bleibt. Und schließlich kannst du noch den Lehrer zu heute abend zum Skat einladen – zum Skat, vergiß das nicht! – So, das wäre alles!“

Ich wiederholte diese Aufträge der Sicherheit halber nochmals, obwohl ich mich auf mein Gedächtnis verlassen konnte, und fragte Hosea darauf:

„Hast du etwa wirklich den berühmten Gorski herbestellt? – Das dürfte ein teurer Spaß werden. Der Herr soll sich ja wie ein berühmter Operateur bezahlen lassen.“

„Der Freund Kommißbock hat so viel Geld, das er gern einen braunen Lappen wird springen lassen.“

Borwin Freiherr von Bock-Palluck nickte eifrig.

„Na also!“ meinte Hosea. „Im übrigen, lieber Borwin, sollst Du morgen früh nach Palmburg fahren und mir folgendes in aller Heimlichkeit einkaufen: eine große Flasche unverwaschbare violette Anilin-Tinte, drei dünne Gummischläuche von je drei Meter Länge, drei Gummibälle mit Ansatzschläuchen, wie man sie bei Spritzflakons verwendet, und drei Augentropfenröhrchen, auf die die langen Schläuche sich aufstreifen lassen müssen.“

Borwin und ich machten wenig geistreiche Gesichter.

„Was willst Du denn damit,“ meinte der Oberleutnant.

„Stempeln – unverwaschbar stempeln!“ lachte Hosea und stand auf. „Es ist Zeit. Der Kavalierdienst beginnt.“

Als die beiden gegangen waren, begab ich mich hinauf zu Bruchstück in die Mansarde.

Sein Zimmer, einen reinen Saal, hatte er durch Schränke geteilt. Er saß und korrigierte Hefte, gehüllt in den beißenden Rauch einer langen Pfeife. –

„Skat?“ – Sein Antlitz strahlte. „Ob ich komme? Natürlich – natürlich!“

Ich sah ihm in das heitere, harmlose Gesicht und fragte mich:

„Ob Hosea wirklich diesen Mann im Verdacht haben sollte?“

Dann fragte er etwas schüchtern:

„Hm – vor einer Stunde etwa waren der Major und Ihr Freund Garblig hier auf dem Boden; sie kamen sehr leise, blieben ein paar Minuten dort draußen an dem rechten Bodenfenster, gingen ebenso leise.“

Bodenfenster? – Der Eiszapfen fiel mir ein. Ich wurde mißtrauisch. – Wollte Bruchstück mich aushorchen –?!

Und urplötzlich fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf: Dort, wo das Eisstück heute das junge Mädchen getroffen hatte, war zweimal der Stuhl aufgestellt worden, in dem Hosea im Mittagssonnenschein, gehüllt in meinen Pelz und Decken, die frische Luft und das Jauchzen der im Vorgarten spielenden kleinen Sauerbiere genossen hatte –! Konnte sich da nicht der kurzsichtige Schulmeister geirrt und – seine Naturbombe der Unrechten auf den Kopf haben fallen lassen?!

Ich antwortete Bruchstück daher sehr vorsichtig: „Der Major wollte Hosea wohl nur die Aussicht von hier oben zeigen –“

Ich fand die Antwort sehr schlau.

Aber der Lehrer meinte: „So – so, die Aussicht!“ – Und das klang gerade so, als ob er sagte: „Schau – schau, Du lügst ungeschickt.“

Ich verabschiedete mich schnell und ging zu Sauerbiers, erkundigte mich nach dem Ergehen der armen Nichte.

Dort traf ich jenen Kriminalbeamten mit dem jungen, blühenden Gesicht, dem ich schon in Märkers Amtszimmer begegnet war.

Bei meinem Eintritt verließ er schnell die „gute Stube“ der Sauerbiers.

Ich tat, wie Hosea mir geheißen, sprach von seiner Angst vor dem Gartengespenst, seiner bevorstehenden Abreise, der Benachrichtigung des berühmten Hans Gorski, – denn der war wirklich eine internationale Berühmtheit! –, und kam schließlich auf Lore Hähnchen, zapfte die Sauerbier vorsichtig an und entfesselte eine Flut von Sätzen, die über mich hineinströmten wie eine Dusche übelduftender Wässer.

Die Sauerbier neidete Hähnchens das gute Auskommen, die feine Tochter, die Ersparnisse, das gute Essen. Und nun krochen die Verdächtigungen aus ihrem Munde wie Giftnattern in harmlosen Eidechsengewändern. Die Frau verstand es, viel anzudeuten und nichts Bestimmtes zu äußern. Jedenfalls hatte Hosea aber wieder einmal richtig vermutet: Lore war aus Dresden abgedampft, als sie kaum von ihren Eltern brieflich erfahren hatte, daß Heinz Merling verhaftet wäre.

„Es ist wohl bei der Begrüßung zwischen Eltern und Kind nicht so ganz friedlich hergegangen,“ hatte die Sauerbier gesagt. „Der eine Lehrling hat’s meiner Christel erzählt. Hähnchens wollen doch, daß die Lore sich den Merling aus dem Kopf schlägt. Und nun soll sie ganz aufgeregt erklärt haben, sie würde alles daran setzen, daß der Maler frei käme. – Mit einem Mal ist der Hähnchen dann ganz zahm geworden und hat die Lore beruhigt, er würde auch seinerseits mithelfen, daß Merlings Schuldlosigkeit bewiesen werden könnte. Da war der Frieden wiederhergestellt.“ –

Während ich noch bei Sauerbiers auf dem mit buntem Rips[8] bedeckten Plüschsessel saß, klopfte es und – Märker trat ein.

Ich sah, daß er mit der Sauerbier einen vielsagenden Blick wechselte, – wahrscheinlich des Kriminalbeamten wegen, der bei meinem Erscheinen in das Nebenzimmer gegangen war.

Ich räumte dann das Feld. Märker sollte durch mich nicht gestört werden. Er sagte mir noch, daß er sofort nachher zu mir nach oben käme. –

Als er dann mir gegenübersaß, erfuhr ich, daß Hosea ihn vorhin – also mit Hilfe des Telephons des Majors! – angeläutet und zu mir bestellt hatte.

Hosea mußte doch immer den Geheimniskrämer spielen!

Dann entledigte ich mich des Auftrags Nummer eins, schilderte Hoseas Begegnung mit dem Haubengeist und stellte hierauf die mir selbst recht sonderbar erscheinende Frage, ob Fräulein Anna Helmbach heimlich verheiratet wäre.

Märker, der stets so beherrschte Märker, zuckte zusammen, sagte dann kopfschüttelnd:

„Wahrhaftig – er weiß auch das!“

„Also stimmt die Geschichte – die Nichte ist verheiratet –?!“

Er sah mich wieder forschend an.

„Sollten Sie nur die eine Frage an mich richten, Herr Malwa?“

„Ja. Dann allerdings Sie auch bitten, ihm die Strafakten Marvilles zu verschaffen.“

„Soll er haben. Gleich morgen. – Hm – nun aber noch die Anna Helmbach. – Hat Garblig sich über das junge Mädchen noch sonstwie Ihnen gegenüber geäußert?“

Ich dachte nach. – „Nein. – Aber er hat gestern vor und nach dem Mittagessen vor den Sauerbierschen Fenstern in der Sonne gesessen und sich bei dieser Gelegenheit mit Fräulein Helmbach längere Zeit unterhalten,“ erwiderte ich dann.

„In der Sonne gesessen?!“ Der ernste Kommissar verzog spöttisch den Mund – welche Seltenheit! „In der Sonne gesessen?! Lieber Herr Malwa: wetten, daß er nur die Helmbach in der Sonne suchte? Sie ist nämlich die Frau des Kriminalbeamten Helmbach und nebenbei – Polizeiagentin. Und das wird Garblig vielleicht geahnt haben.“

 

Elftes Kapitel.

Ich geleitete Märker nachher bis zur Flurtür. Während wir noch vor der Tür einen letzten Händedruck austauschten, kam – Doris Marville im bloßen Kopf, einen schweren indischen Seidenschal um die Schultern, die Treppe herauf und ging, unseren Gruß kühl erwidernd, weiter nach dem Boden zu.

Märker rief mir noch ein: „Auf Wiedersehen!“ zu und verschwand um die Treppenbiegung.

Zum Glück hatte er nicht bemerkt, wie rot ich geworden war, als ich Doris sah.

Der Menschen Herz soll ja wohl ein wunderlich Ding sein. Und Dichter sprechen von der Liebe auf den ersten Blick. – Ich hatte, obwohl selbst Schriftsteller, nie daran geglaubt, hatte diese urplötzliche Hinneigung zu einem Wesen des anderen Geschlechts trotzdem oft genug „ausgeschlachtet“. Man sieht: Poeten sind die größten Heuchler.

Ich war mir noch nicht klar darüber, ob nicht etwa jetzt hier im Spukhause das Wunder sich bei mir vollzogen hatte, aus einem Saulus einen Paulus zu machen. Ich sträubte mich vorläufig noch mit aller Macht dagegen, mir selbst einzugestehen, daß Symptome von recht bedenklicher Art darauf hindeuteten, Doris Marville wäre mir alles andere als gleichgültig.

War’s unter diesen Umständen wunderbar, daß ich meine Flurtür erst laut zuschlug, sie dann aber sofort wieder leise öffnete, um zu lauschen, wo Doris blieb?!

Ich hörte das Knarren der Stufen bis etwa zur Mansarde hinauf. Dann kamen eilige Schritte die Treppe wieder herab.

Seltsam! Doris hatte also kehrt gemacht, nachdem sie scheinbar zwecklos bis zum Bodenraum gegangen war. Und nun lief sie wieder denselben Weg sehr hastig abwärts –

Ich zog meine Tür behutsam zu und lauschte –

Jetzt waren die Schritte auf dem Treppenabsatz dicht vor meiner Tür – Ah – zweimal knarrte die Diele –

Dann – ja, was bedeutete das?! Ich hätte doch noch hören müssen, wie die Stufen zwischen zweitem und erstem Stockwerk unter Doris eilenden Füßchen vor Wonne aufstöhnten –?! – Aber – nichts davon – nichts – völlige Stille plötzlich –

Doris mußte vor der Tür des Chemikers, des Nachfolgers des rätselhaften Herrn Wehrhut, stehen geblieben sein – noch immer stehen – noch immer –

Ich hielt die Ungewißheit nicht länger aus.

Ganz sacht öffnete ich wieder meine Tür, Millimeter für Millimeter fast –

Kein Mensch da – Leer der Treppenabsatz – leer –!

Ich faßte mir an die Stirn. – Träumte ich?! Wo war Doris – wo?! – Ach – es gab nur eine Erklärung: bei Schellhorn! Und der Chemiker mußte sie sogar erwartet haben! Hätte sie drüben geläutet, hätte ich es ja hören müssen! Mein neuer Mieter hatte also schon aufgepaßt und sie schnell eingelassen –

Mein Herz begann in ein Galopptempo überzugehen –

Wieder ein Symptom?! – Etwa Eifersucht schon –?!

Weg mit dem Gedanken! Ich hatte ja Hoseas Auftrag! Das Rendezvous wollte ich stören –

Ich lauerte noch geduldig etwa zehn Minuten hinter meiner Tür. Mein Kommen sollte nicht auffallen –

Dann ging ich hinüber – die beiden losen Dielen knarrten – sie hatten auch unter den Füßen des Mannes geknarrt, der auf den Kanzleirat geschossen hatte.

Wenn dieser Mann nun doch Percy Marville gewesen war, Doris’ Vater –?! Dann – liebte ich die Tochter eines Diebes – und Revolverhelden, milde ausgedrückt –

Das schoß mir durch den Kopf, als mein Finger den elektrischen Druckknopf suchte –

Die Glocke schrillte. Ich fuhr zusammen – Als ob sie nicht hätte schrillen müssen?! – Aber – meine Nerven taugten nichts mehr, und meine Gedanken hatten einen schlanken, vornehmen Mann im Polizeigefängnis besucht und gefragt: „Darf ich als anständiger Kerl Ihre Tochter heiraten, oder sind Sie –?“

Die Tür öffnete sich handbreit. – Die Sicherheitskette – früher bei Wehrhut fehlte sie! – blieb vorgelegt.

Schellhorns feistes Gesicht lugte durch die Spalte.

„Ah – Sie sind’s, Herr Malwa – entschuldigen Sie schon, – ich bin gerade bei einem wichtigen chemischen Experiment, das keine Unterbrechung verträgt. – Haben Sie also etwas Wichtiges?“

„Ja. Wann ist das Experiment zu Ende? – Ich werde wiederkommen.“

„In zehn Minuten.“

„Gut – auf später, Herr Doktor!“

Ich stand wieder hinter meiner Tür. Sicher mit drohenden Falten auf der Stirn.

Was sollte ich nur davon denken –?! Doris bei diesem Menschen, der hier fremd war, der aus Breslau zugezogen war?! – Vielleicht kannte sie ihn von früher her. – Das blieb immerhin ein Trost –

Ich stand und lauschte –

Da – wirklich! – Doris huschte davon, die Treppe hinab – Ich hörte Röcke rauschen – frou-frou-Seide[9]

Dann saß ich „ihm“ gegenüber. Er war mein Feind geworden. – Wie häßlich der Kerl war – und diese Frisur –! Dieses festgeklebte Haar – scheußlich! Auch das Organ so schleimig, so heiser –

„Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Malwa?“ fragte er nun, sich die Hände reibend und süßlich lächelnd.

Ein Ekel – und dazu Doris –!

Ich hatte die Antwort schon bereit.

„Sie sind Chemiker und Erfinder, Herr Doktor. Ich erwarte da als Hausbesitzer natürlich, daß Sie hier keinerlei Versuche machen, womöglich mit Explosivstoffen, durch die das Leben und die Gesundheit der anderen Mieter oder das Haus selbst irgendwie gefährdet werden könnten. – Das wollte ich Ihnen sagen. Sie werden auch eine schriftliche Erklärung dieses Inhalts abgeben müssen. Ich muß mich vorsehen.“

„Sehr gern – sehr gern!“

Das Vorderzimmer, in dem wir uns befanden, war vielleicht noch armseliger möbliert wie vorher bei Wehrhut mit den Levisohn’schen Sachen –

Während Schellhorn sehr lange an der Erklärung schrieb, schaute ich mich genau um. Aber ich entdeckte nichts Besonderes.

Der Doktor wollte sich mit mir dann offenbar noch auf eine längere Unterhaltung einlassen. Ich aber schützte dringende Geschäfte vor und ging.

Die mir entgegengestreckte Hand dieses Scheusal übersah ich –

Drüben in meinem Wohnzimmer schaute ich mir die Niederschrift Schellhorns nochmals genau an. Ich verstehe ein wenig von Handschriftendeutung.

Nein – was hatte das Ekel nur für eine Pfote! Das war ja das reine A-B-C-Schützen-Gekritzel –

Hm – oder – oder – Ein Verdacht zuckte blitzschnell in mir auf –

Abermals prüfte ich die Schrift. – Verstellt – natürlich verstellt – kein Zweifel! Und – zum Donner – diese Haken an einigen Buchstaben –, die hatte ich doch schon mal gesehen und dabei gedacht: ein gewalttätiger Charakter –! – Wo aber nur, wo –?!

Ich fand keinen Weg, der in die Vergangenheit zu der anderen Schrift, dem anderen Schreiben hinführte.

Ich gab die Sache auf – vorläufig.

Dann dachte ich wieder an Doris, an die böse Enttäuschung, daß sie – und das Scheusal sich so genau kannten, so genau – bist zum heimlichen, hastigen Besuch am Tage.

Und ich dachte weiter: Wenn Du Dich trotzdem so nach ihr sehnst, – Du bist doch Hausbesitzer, kannst leicht Dir jederzeit etwas in der Wohnung ansehen wollen –!

Dann saß ich Doris wirklich gegenüber. Ich war als Tröster, nicht als Spion zu ihr gekommen, und diese Überzeugung gab mir eine überlegene Ruhe. – Ich berichtete ihr zunächst, was ich wußte, betonte, daß das Schränkchen doch zur Fortschaffung Wehrhuts gedient hätte und daß gerade dieser Punkt in seinen dunklen Beweggründen der Polizei noch viel zu schaffen mache, kam dann auf die Tatsache zu sprechen, daß Wehrhut mit verbundener Stirn auf der Straße gesehen worden sei.

Da fragte Doris rasch: „Und über den jetzigen Aufenthalt des alten Herrn weiß man nichts?“

„Leider nein! – Immerhin ist bereits die Frage in Erwägung gezogen worden, Ihren Herrn Vater und Merling aus der Haft zu entlassen.“

Ihre Entgegnung versetzte mich in geradezu maßloses Erstaunen.

„Oh, so dankbar ich Ihnen auch bin, Herr Malwa, weil Ihr gutes Herz Sie veranlaßte, mir diese Neuigkeit nicht vorzuenthalten: unseren Wünschen entspricht es durchaus nicht, daß Herr Merling und mein Vater jetzt schon freigekommen.“

Ich starrte sie ungläubig an, meinte, mich verhört zu haben.

Sie lächelte ganz wenig. „Sie werden dies später begreifen, Herr Malwa. Fürs erste aber betrachten Sie bitte diese meine Äußerung als ein Geheimnis, das ich vertrauensvoll in Ihre Hand lege.“

Ich verlebte noch eine köstliche Stunde in ihrer Gesellschaft. Und als ich mich verabschiedete, reichte sie mir wie einem Freunde die Hand und sagte:

„Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Besuch. Ich denke, wir sind jetzt so etwas wie geheime Verbündete.“

Wie im Traum ging ich die Treppe nach oben. – In mir war ein Singen und Klingen wie köstliche Sphärenmusik –

„Wo hast Du denn gesteckt?“ begrüßte mich Hosea, der im Wohnzimmer am Ofen stand und eine lange, dicke Zigarre im Munde hatte.

Da wurde ich erst gewahr, daß ja das Gas schon brannte – Ich hatte bei Doris den Flug der Zeit völlig vergessen. – Nachdem ich von meiner Visite bei Doktor Schellhorn erzählt hatte, mußte ich notwendig auf meinen eigenmächtigen Besuch bei Doris Marville näher eingehen.

Hoseas Verhalten hatte sich geändert, als ich erklärt hatte, wie eilig Doris in der Wohnung Schellhorns verschwunden war. Er hatte seinen Platz am Ofen verlassen und sich in die Sofaecke gesetzt. Seine Augen ruhten voller Spannung auf meinen Lippen.

Etwas kleinlaut gab ich zu, daß mein mitfühlendes Herz mir einen Streich gespielt und ich Fräulein Marville anvertraut hätte, was wir von dem wiederaufgelebten Wehrhut wußten. Ich fürchtete, Hosea würde mir Vorwürfe dieserhalb machen. – Er tat es nicht, sondern sagte nur: „Recht genau erzählen – recht genau!“

Ich erwähnte daher auch die merkwürdige Äußerung der Tochter Marvilles: „daß es unseren Wünschen durchaus nicht entspricht, wenn mein Vater und Merling jetzt schon freigekommen –“

Hosea pfiff leise durch die Zähne. Dann sagte er: „Hör’ mal, Phantasiemörder, wir wollen jetzt mal über Deine kritische Urteilskraft ein wenig reden. Ist Dir bisher nicht im geringsten aufgefallen, daß ein Mann mit einer Kugel im Schädel wohl kaum vier Stunden nach seiner Verwundung vergnügt auf der Straße spazieren gehen kann, wie dies doch hier der Fall gewesen zu sein scheint –?! – Bitte, unterbrecht mich nicht! – Gewiß, es kann vorkommen, daß Kopfschüsse keine schlimmen Folgen haben. Aber jeder Arzt wird bestätigen, daß ein sofortiges Herumlaufen nach einer solchen Verletzung ausgeschlossen ist. – Was muß man daher annehmen?“

„– daß das Stubenmädchen und ihr Schatz, der Unteroffizier sich geirrt haben,“ sagte Borwin schnell. „Es war nicht der Kanzleirat, den sie gesehen haben wollen.“

„Und das Pflaster auf der Stirn?“ meinte Hosea ironisch.

Borwin und ich schwiegen.

„Kinder, – die Chemie muß hier helfen!“ sagte Hosea gönnerhaft. „Der Major glaubte einen Kugeleinschuß an dem Kopf des auf dem Läufer Liegenden vor sich zu haben. Die Wunde muß also wohl große Ähnlichkeit mit einer Einschußöffnung gehabt haben. – Ich müßte Euch nun eigentlich einen langen Vortrag über ein Gemisch verschiedener Substanzen halten, will mich aber darauf beschränken, darauf hinzuweisen, daß es ein chemisches Gemenge gibt, das äußerlich genau so aussieht wie Blei, in Wirklichkeit aber, als Kugel aus einem Revolver abgeschossen, sehr bald nach dem Verlassen des Laufes zerspringt und völlig unschädlich ist. – Ich sage: Sehr bald! Wird allerdings ein solches Geschoß aus nächster Nähe jemanden vor die Stirn geknallt, so gibt es doch eine Verletzung ab, die dann bei oberflächlicher Besichtigung leicht für einen echten Einschuß gehalten werden kann. – Daß Wehrhut mit einer derartigen Kugel Bekanntschaft gemacht hat, habe ich bereits bei meinem ersten Besuch in seiner Wohnung festgestellt. Ich fand auf dem Läufer noch winzige Reste der geplatzten Kugel und ließ sie durch Vermittlung Märkers von dem Palmburger Gerichtschemiker untersuchen. Märker kennt also diese Einzelheiten, die, wenn man sie als Grundlage für Kombinationen nimmt, recht wichtige Schlüsse ergibt. Zum Beispiel: Der ganze Überfall auf Wehrhut könnte nur vorgetäuscht sein! Es könnte also eine fein vorbereitete Komödie vorliegen, die man zu irgend welchen Zwecken in Szene gesetzt hat. – Hiergegen spricht jedoch sehr vieles. Ich will das nicht näher ausführen. Die ganze Weiterentwicklung der Sache ist jedenfalls nicht derart, daß man mit dieser Möglichkeit rechnen darf. Nein – Wehrhut sollte beseitigt werden. Daß der Überfall mißlang, daß der Kanzleirat nur für kurze Zeit ohnmächtig wurde und mit Hilfe des Schränkchens fortgeschafft werden konnte, nachdem er zusammen mit Merling zu Marvilles hinuntergelaufen war, – dies alles hat der Angreifer wahrhaftig nicht beabsichtigt! Er hatte also die Bleikugeln der Revolverpatronen nicht gegen die harmlosen Geschosse ausgetauscht, sondern ein anderer tat’s, einer, der wußte, daß man ihm nachstellte, der die Gefahr vorausahnte, gerade so wie ich jetzt ahne, daß man mir auflauert. – Und dieser andere kann nur Wehrhut selbst gewesen sein! – Spinnen wir diesen Gedanken noch weiter aus. Gehen wir auf die Ausführung der Tat näher ein! – Wir haben bereits zweifelsfrei nachgewiesen, daß der Angreifer hier aus Deiner Wohnung kam, lieber Phantasiemörder, daß er die beiden losen Dielen zum Knarren brachte, bei Wehrhut anläutete und sicherlich die Waffe schon bereit hielt. Das Folgende dürfte sich dann so abgespielt haben: Wehrhut öffnet die Tür. Er sieht einen Fremden, nicht den, den er als seinen Feind kennt. Der Fremde drängt den alten Herrn in den Flur, hebt den Arm, feuert aus kürzester Entfernung. Der Kanzleirat fällt sofort hintenüber, und der Attentäter, überzeugt, daß der Mord vollbracht ist, flieht hierhin zurück. – Ich sagte: Wehrhut sieht einen Fremden vor sich! Wäre es sein Feind gewesen, hätte er wohl Mittel und Wege gefunden, den Überfall trotz der Plötzlichkeit zu verhindern. Dieser Fremde kann nun entweder ein guter Freund des Gegners des Kanzleirats gewesen sein, oder – der Gegner selbst in einer Verkleidung. Ich nehme das letztere an und denke dabei an das Hermine Löckner-Gespenst, und zwar aus folgenden Gründen: der Mörder mußte doch immerhin damit rechnen, jemandem im Treppenhause zu begegnen, obwohl er zu der Ausführung der Tat nur ganz kurze Zeit gebrauchte. Eine solche Begegnung verlor aber alles gefährliche, wenn der Mann als Geist Hermine Löckners auftrat, da vor diesem wahrscheinlich alle Hausbewohner elend ausgerissen wären nach dem guten Vorbild des Herrn Lehrers mit dem fürchterlichen Namen Bruchstück. – Ihr seht: der Mörder ist in seiner Art ein ganz listenreicher Geselle! Ich bin überzeugt, daß er Tante Hermine spielte, als er die harmlose Kugel abfeuerte. – Der Überfall war glänzend vorbereitet, – fraglos! Nur damit hatte der „Geist“ nicht gerechnet, daß sich bei seinem kurzen Besuch bei Wehrhut in dessen Wohnung gerade der Maler Merling befand und daß – die Kugel eigentlich keine Kugel war! Der schöne Plan erhielt also von vornherein zwei üble Risse, und diese Risse klafften dann immer weiter, bis man durch sie wie ihr jetzt hindurchschauen und den Dingen auf den Grund gehen konnte. – Der Geist Hermine Löckners ist mithin kein bloßer Schabernack, um das Haus hier zu beunruhigen, sondern ein wohlüberlegtes Mittel, um den Mordversuch in möglichst geheimnisvolles Dunkel zu hüllen.“ –

„Der Mörder weiß doch ohne Zweifel, daß sein Plan mißglückt ist.“ meinte ich jetzt. „Er müßte also, wenn er nicht eben als Geist aufgetreten wäre, in größter Angst um seine Sicherheit sein. Und wenn –“

Hosea winkte mit der Hand ab.

„Zwecklose Erörterungen, Phantasiemörder! – Ich sage Dir: Der Mörder war auch derart bestürzt, als der den wahren Verlauf der Dinge erfuhr, daß er verschiedenes tat, was er besser unterlassen hätte!“

„Was denn zum Beispiel?“ fragte Borwin schnell.

„Schrei’ nicht so! Du hast mich erschreckt!“ fuhr Hosea wütend auf, dem Messer und Gabel aus der Hand gefallen waren.

Diese Wut war natürlich Komödie. Aber was dahinter steckte, brachten wir nicht heraus.

Wir gaben es schließlich auf, aus Hosea einer Erklärung herauszulocken.

Als ich dann behauptete, Hosea wisse doch fraglos, wer der Mörder sei, erwiderte er ganz ernst:

„Ich weiß es wirklich, – seit heute aber erst. Vermutet habe ich’s schon seit einigen Tagen. – Gebt Euch aber keine Mühe, den Namen von mir zu erfahren. Und – schweigt!“ –

Eine halbe Stunde später fand sich Bruchstück zum Skat ein.

Ich hatte vermutet, daß Hosea ihn nach allem möglichen ausfragen würde, Nichts davon. Nur etwas fiel mir auf.

Als Hosea einmal zum Reizen daran war, sagte er ganz leise „Coeur-Solo“ an. Bruchstück hatte ihn nicht verstanden und fragte:

„Was war’s, Herr Garblig?“

„Sie scheinen schlecht zu hören, Herr Lehrer,“ meinte Hosea lächelnd. „Für einen Jugenderzieher nicht gerade angenehm einer Rotte von fröhlich-frechen Jungens gegenüber!“

„Oh, Sie irren, Herr Garblig. Ich habe ein vorzügliches Gehör!“

„So – so. Das freut mich. Sie haben ja auch gemerkt, daß der Major und ich heute nachmittag uns von den Bodenfenstern die Aussicht angesehen haben.“

„Allerdings. Obwohl Sie beide doch leise auftraten, – was Sie wohl zugeben werden.“

„Ja – wir wollten Sie nicht stören. – Also: Coeur-Solo! – Wer bietet mehr?“

Aus diesem Gespräch war mir die Äußerung wichtig, daß der Major und Hosea „leise aufgetreten“ waren, und auch meines Freundes Erklärung: „Wir wollten Sie nicht stören.“ – Dieser Grund für einen möglichst lautlosen Besuch der Mansarde war meiner festen Überzeugung nach nicht der richtige, sondern nur eine Verlegenheitslüge. Ich wurde für Minuten sehr unaufmerksam, da ich darüber nachgrübelte, ob Hosea vielleicht tatsächlich des Eiszapfens wegen auf dem Boden gewesen war, von dessen niedrigen Fenstern aus man bequem die Dachrinne in Augenschein nehmen konnte, an der sich die riesigen Eisnadeln immer wieder bildeten, sehr zu Meister Gottliebs Ärger.

Der weitere Verlauf des Skatabends brachte nichts Bemerkenswertes.

 

Zwölftes Kapitel.

Am nächsten Morgen gegen neun Uhr erschien ein Mann, der den Hauswirt der Gasleitungen wegen zu sprechen wünschte.

Meister Hähnchen brachte ihn zu uns herauf. Wir saßen gerade beim Frühstück.

„Die Gasmesser sollen in Unordnung sein, Herr Malwa,“ erklärte Gottlieb Hähnchen.

„Ich werde selbst mit dem Kontrolleur die Wohnungen besuchen,“ meinte ich freundlich. „Lassen Sie sich ja in Ihrer Arbeit nicht stören.“

Der Kontrolleur saß nachher mit bei uns am Kaffeetisch. Er hatte mit Märker nicht die geringste Ähnlichkeit. Selbst die von scharfen Getränken rauhe Stimme verdiente Anerkennung.

„Beeilen wir uns,“ meinte der Kommissar und reichte Hosea ein flaches Paket. „Hier sind zunächst die Strafakten Percy Marville. Ich habe sie selbst noch durchgeblättert, aber nichts gefunden, was irgendwie mit den jetzigen Ereignissen in Zusammenhang zu stehen scheint.“

„Wollen sehen. Danke jedenfalls,“ erwiderte der Menümaler. „Haben Sie etwas von Wehrhut entdeckt?“

„Nein. Sowohl er als auch Herbst sind spurlos verschwunden – spurlos! Nur: auf eine telegraphische Anfrage bei der Münchener Kunsthandlung ist gestern abend der Bescheid eingetroffen, daß man dort keinen Aufkäufer namens Herbst kennt.“

„Natürlich nicht!“ sagte Hosea achselzuckend und seine Vorderhauer zeigend. „Was gedenken Sie nun mit Marville und Merling zu tun?“

„Wozu raten Sie? – Es liegt kaum noch ein Grund vor, die Verhaftung aufrecht zu erhalten. Höchstens der Blutfleck an des Malers Oberärmel.“

„Nur ein Beweis, daß Wehrhut doch noch recht schwach auf den Beinen war, als er zu Marvilles hinabging, und das Merling ihn gestützt hat, wobei der Fleck entstanden ist.“

„Und der andere Mord, der Raubmord? – Marville hat doch fraglos den Blitzableiter zum Eindringen in diese Wohnung hier benutzt. Die runden Gummistempel beweisen das. Auf faulen Pfaden ist er also doch zweifellos mal gewandelt.“

„Sagen wir „auf heimlichem Pfaden“. – Ich rate, die beiden Herren noch zu belassen, wo sie sind. Auch Fräulein Marville wünscht das.“ Und er erzählte, was ich gestern bei Schellhorn und dann bei Doris erlebt hatte.

Märker schüttelte den Kopf. „Fräulein Marville und der neue Mieter so vertraut? – Ja, was heißt denn das wieder?!“ Er war ganz ratlos.

„Wird sich schon noch aufklären. – Sie wollten doch aber noch der Einbruchsdiebstähle wegen mir etwas mitteilen?“

„Ja. – Berliner Geldschrankknacker, und zwar offenbar erstklassige Spezialisten dieser Art haben Palmburg schon häufiger einen Besuch abgestattet, ebenso auch anderen Städten der Provinz. Das geht schon seit Jahren so. Wir sind hinter diesen unwillkommenen Gästen aufs eifrigste her gewesen, – stets ohne Erfolg. Mir scheint bei manchen dieser Raubzüge eine Frau mitbeteiligt gewesen sein. Wir haben hin und wieder am Tatort Frauenhaare aufgefunden, lange rostbraunen Härchen, einzeln, auch mehrere, – jetzt wieder! – Ist das nicht merkwürdig?“

„Vielleicht eine absichtliche Irreführung –“

„Die näheren Umstände sprechen dagegen. – Wir haben diese Tatsache auch nach Berlin berichtet. Die dortige Kriminalpolizei, die doch von einem weiblichen Geldschrankspezialisten fraglos schon gehört hätte, antwortete verneinend: „Hier nichts bekannt.“ – Wollen Sie mich nicht mal auf dem Präsidium besuchen, Herr Garblig. Ich möchte Ihnen gern das Ermittlungsmaterial über diese Einbrüche vorlegen.“

„Sehr gern. – Weshalb haben Sie mir eigentlich nichts von der „Nichte“ bei Sauerbiers gesagt?“

„Haben Sie etwa keine Heimlichkeiten vor mir? – Übrigens geschah es auf Helmbachs Wunsch hin. Ich halte sehr viel von ihm.“

„Hat die Agentin etwas festgestellt?“

„Nichts – leider! Sie ist ja auch erst so kurze Zeit im Hause gewesen. – Sie haben ja sehr bald gemerkt, was hinter „Fräulein Helmbach“ steckte, Herr Garblig!“

Märker verabschiedete sich gleich darauf.

„Wir werden jetzt wenigstens zum Schein noch die übrigen Wohnungen besuchen müssen, Herr Malwa,“ sagte er noch zu mir.

Wir gingen. Borwin aber fuhr nach Palmburg, um für Hosea die Einkäufe zu erledigen.

Als ich wieder nach oben kam, saß der Menümaler am Schreibtisch im Wohnzimmer und hatte jenen Brief in der Hand, den Wehrhut damals an den Auktionator Levisohn geschrieben hatte, den Brief, der morgens geschrieben sein sollte und doch erst am anderen Morgen Levisohn erreichte. Auf der Schreibtischplatte aber lag die schriftliche Erklärung Doktor Schellhorns.

Inzwischen war es zehn Uhr geworden. Wir hatten uns für den Vormittag mit den Damen verabredet, und es war Zeit, uns sportmäßig anzuziehen. Vorher aber erklärte Hosea noch:

„Ich gehe heute abend ins Palmburger Schauspielhaus. Es gib Hauptmanns Diebskomödie „Der Biberpelz“. Leider habe ich für Euch beide keine Billets mehr bekommen können.“

Ich war überrascht. – Hosea wollte ins Theater! Dahinter steckte wieder etwas. Aber – zu fragen wagte ich nicht! –

Gegen elf erschien der dichtende Kommißbock auf der Rodelbahn. Ich wurde also „sechstes Rad am Wagen“, schützte Geschäftsbriefe vor und wanderte nach Hause.

Unterwegs überlegte ich mir mancherlei. – Um mich herum war’s so friedlich, so still, so winterlich schön. Ich hatte absichtlich einen weiten Bogen gemacht, der mich schließlich dorthin führte, wo wir, Hosea und ich, damals von dem Feldweg auf den festgetretenen Fußpfad gelangt waren.

Allerlei überlegte ich mir –

Ich hatte wohl Hosea heute sehr genau beobachtet. Er war zart und aufmerksam zu Lore wie zu einem geliebten Schwesterlein. Seine Stimme war weich, wenn er zu ihr sprach, seine Augen schienen das blühende, lebensprühende, reizende Geschöpf zu streicheln. –

Sollte Hosea etwa hier sein Herz verloren haben?! – Undenkbar! Ich kannte seine Ansichten über die Frauen. Trotz seiner 28 Jahre war er bereits Junggeselle aus Überzeugung.

Ich wurde wieder einmal nicht klug aus ihm. Er gab den Menschen ja ständig Rätsel auf –

Und Irmgard von Balting, die es doch anfänglich offenbar auf den „reichen“ Maler Hosea Garblig abgesehen gehabt hatte?! – Nun, diese „Leidenschaft“ war sofort verraucht, als Borwin von Bock-Palluck auftauchte, Oberleutnant, Freiherr und Millionär.

Aber – Irmgard, dieser seelenlose Schmetterling, der Merling so schnell davongeflattert war, als die ersten rauhen Winde diese Liebe – nein, nicht Liebe – diese Verstandesspekulation trafen, hatte bei unserem lieben Kommißbock wenig Glück.

Der fühlte sich mehr zu Asta hingezogen. Vielleicht, weil sie schriftstellerte, weil sie für seine Gedichten und Novellen, die er im Selbstverlag mit einigen zehntausend Mark Unkosten hatte erscheinen lassen und die nun in den Kaufhäusern in den Kisten: „Jedes Buch nur 90 Pfennig“ verkauft wurden, sofort das größte Interesse gezeigt hatte und er mit ihr über seine weiteren schöpferischen Absichten sprechen konnte –

Ich stutzte plötzlich. Ich stand an jener Stelle, wo mich Hosea damals auf den festgetretenen, schmalen Pfad aufmerksam gemacht hatte.

Der Pfad! – Ihn waren die sechs Männer entlanggekommen, die Hosea damals in jener Nacht beobachtet und verfolgt hatte. –

Damals hatte es geschneit – die ganze Nacht durch. Bruchstücks Futterplatz für seine gefiederten Lieblinge war verschwunden gewesen, verschwunden waren alle Fußtapfen im Schnee, – alles hatte eine glatte, weiße, reine Fläche gebildet –

Also hätte auch der Pfad im Schnee begraben sein müssen, – noch heute, – wenn eben nicht dieselben Leute schon wieder des öfteren denselben Weg hin und zurück gemacht hatten –

Der Pfad war da. Nicht der frühere. Nicht so festgestampft von schweren, häufigen Schritten. Ein neuer war’s, der etwa in derselben Richtung verlief –

Bald stand ich auf jener Anhöhe, von der aus ich meinen Besitz und die Umgebung überblicken konnte.

In den Trümmern der Ruine bemerkte ich zwei Gestalten –

Ich habe sehr gute Augen – sehr gute –

Es waren Hähnchen und – Doris –

Ich begann zu traben. Natürlich nur, weil ich warm werden wollte. – Sehr bald konnte ich Doris dann begrüßen, auch Meister Gottlieb, der sich zum Glück sofort verabschiedete und in seine Werkstatt ging. Wir beide aber hatten so allerlei zu besprechen. Ich wollte gern von Doris selbst hören, weshalb ihr Vater damals verurteilt worden war. Mit aller Zartheit berührte ich das heikle Thema. Sie war sofort bereit, mir jene Vorfälle zu schildern.

„Die unselige Geschichte ist bald erzählt,“ begann sie ohne Scheu. „Im Provinzialmuseum in Palmburg werden in einem kleinen Raume wertvolle, hier in der Provinz gemachte antike Goldfunde – Spangen, Ringe, Haarpfeile und anderes, aufbewahrt. Als wir noch in Palmburg wohnten, wo mein Vater eine Kunsthandlung besaß, pflegte er sehr häufig das Museum zu besuchen. Er arbeitete damals an einem Werke über altgermanische Waffenschmiedekunst. – Eines Nachmittags wurde mein Vater dann verhaftet, und zwar unter der Beschuldigung, am Vormittag aus dem sogenannten Goldzimmer durch Zertrümmern der dicken Glasscheibe eines der Kästen antiken Schmuck im Werte von einigen tausend Mark entwendet zu haben. Später bekundeten dann zwei Zeugen, Handwerker, die außen am Fenster des Goldzimmers eine Reparatur vorgenommen hatten, daß sie beobachtet hätten, wie mein Vater den Diebstahl begangen hätte. Sie beschworen dies auch in der Hauptverhandlung. Außerdem wurde mein Vater aber noch dadurch schwer belastet, daß bei einer Haussuchung bei uns in einer großen Vase versteckt zwei der geraubten Goldringe aufgefunden worden waren, die natürlich nur absichtlich von dem wirklichen Diebe oder einem Helfershelfer dort hingelegt sein konnten. – Das ist der Sachverhalt. – Trotz seines tadellosen Rufes und trotz seiner angesehenen Stellung wurde mein Vater auf jene sogenannten Beweise hin verurteilt, wobei die Richter ihm sein hartnäckiges Leugnen so sehr verargt haben, daß die Strafe recht hoch ausfiel. Die Strafkammer, vor der der Prozeß stattfand, nahm an, daß mein Vater in blinder Sammlergier zum Diebe geworden wäre. – Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis kannten wir beide, Vater und ich – meine Mutter starb aus Gram über dieses Verhängnis! – nur ein Ziel: den wahren Schuldigen zu ermitteln. – Aber das hielt schwer, sehr schwer. Und nun wohnen wir bereits fünf Jahre hier im Spukhause; die Menschen weichen uns aus; wir leben nur für uns. – Einzig und allein Ihre Tante, Herr Malwa, hat nie an der Schuldlosigkeit meines Vaters gezweifelt. Ich vermisse sie sehr. Sie war mir eine aufrichtige mütterliche Freundin.“

„Das höre ich gern, gnädiges Fräulein, sehr gern!“

„Sie hat auch hin und wieder von Ihnen gesprochen, Herr Malwa. Ich kenne auch das Zerwürfnis, das zwischen Ihren Eltern und Fräulein Löckner bestand. Selbst das weiß ich, daß Herr Garblig einmal Ihre Tante besucht hat.“

„So – auch das?! Nun, der arme Hosea hat damals wohl sehr vagabundenmäßig ausgesehen. Ihm fehlte das Reisegeld, und er fuhr als Viehtreiber im Güterzuge nach Palmburg.“

„Hat er Ihnen das erzählt?“

Ich wurde aufmerksam.

„Allerdings. Meinen Sie, daß er etwa wieder mal aus irgendeinem Grunde geflunkert hat –?“

Sie schaute zur Seite.

„Ersparen Sie mir die Antwort, bittet – Jedenfalls war er hier und hat an Ihnen als wahrer Freund gehandelt, – leider nichts erreicht. Ihre Tante sprach mit mir darüber ganz offen.“

Wir machten jetzt kehrt.

Ich war schweigsam geworden. Bei dieser Geschichte, dieser Reise Hoseas nach Palmburg zur Tante Hermine stimmte wieder etwas nicht. Aber was –?!

Mit freundlichem Lächeln verabschiedete Doris sich dann vor dem Hause von mir.

 

Dreizehntes Kapitel.

Als wir nach Tisch in den Sesseln und der Sofaecke Frau Gustes vorzüglichen Rinderbraten behaglich verdauten, öffnete der bisher auffallend schweigsame Hosea endlich den Mund und sagte:

„Der armen Kleinen muß etwas sehr Unangenehmes begegnet sein. Sie hat mich gehörig über unseren Fall ausgefragt, natürlich des Malers wegen. Besonders interessierte sie sich für den Geist der Tante Hermine.“

Er meinte Lore Hähnchen mit der „armen Kleinen“, und Borwin lachte nun und drohte ihm mit dem Finger:

„Ei – ei – was Unangenehmes! Na, Du hast sie ja wenigstens ordentlich getröstet, Hosea!“

Also war es auch dem Kommißbock aufgefallen, daß Hosea sich dem Hühnchen sehr stark gewidmet hatte. –

Gleich darauf kam Bruchstück. Er hatte es eilig, wollte zum Nachmittagsunterricht.

„Herr Garblig, ich wollte nur noch wegen des Eiszapfens etwas bemerken,“ sagte er leise und geheimnisvoll, – natürlich geheimnisvoll; er war ja einer meiner Mieter! – „Ich habe mir die Bruchstelle, wo die Hauptmasse sich losgelöst hat, heute früh genau angesehen. Und da glaube ich, festgestellt zu haben, daß mit einem scharfen Instrument gegen den Eiszapfen mehrere Schläge oder Stöße geführt worden sind. Das erweckt den Verdacht, daß – daß – hm ja –“

Hosea unterbrach ihn hier.

„Vorwärts – ohne Scheu heraus mit der Plempe! – Also – „daß der Eiszapfen absichtlich losgebrochen worden ist, damit er unten jemandem auf den Schädel fliege,“ – das ist doch des Pudels Kern oder die Plempe?!“

„Allerdings! Und ich möchte nicht unterlassen, auch noch darauf hinzuweisen, daß ich, bevor Sie und der Herr Major auf den Boden kamen, noch den leisen, schleichenden Schritt eines einzelnen Menschen gehört habe und dann vier dumpfe Schläge – vielleicht die Stöße gegen den Eiszapfen.“

„Richtig, richtig,“ meinte Hosea, liebenswürdig lächelnd. „Sie machten uns ja gestern auf Ihr vorzügliches Gehör aufmerksam.“

„Mit Recht, Herr Garblig, mit Recht. – Doch nun muß ich fort, meine Herren. – Empfehle mich allerseits.“

Als die Flurtür zuklappte, sagte Hosea:

„Schlauer Fuchs!“ Weiter nichts.

Ich glaubte zu wissen, was er meinte. Und ich erklärte:

„Also der Lehrer hat dieses Attentat inszeniert – Und nun kommt er so recht harmlos zu uns und will uns auf eine falsche Spur bringen!“

„Ein geriebener Schuft!“ bestätigte der Kommißbock empört.

„Ja – ein sehr geriebener Schuft!“ wiederholte Hosea. Aber sein Gesicht war eine Fratze, auf der es von Hohn, Spott und Triumph wetterleuchtete.

Ich wurde unsicher. Sollte sich dieses „Schlauer Fuchs!“ gar nicht auf den Schulmeister bezogen haben –?!

Um drei Uhr ging’s wieder nach der Rodelbahn

Lore Hähnchen hatte offenbar geheimen Kummer. Aber nicht Merlings wegen, denn als ich ihr bei guter Gelegenheit leise sagte, Heinz Merling würde vielleicht bald aus der Haft entlassen werden, sah sie mich mit so merkwürdig leerem Blick an und erwiderte nur: „Da wird sich Irmgard von Balting vielleicht freuen – vielleicht!“ Und sie lächelte bitter und geringschätzig.

Weiber sind ja nun alle gute Komödianten. Aber ich hätte doch wetten mögen: Merling war ihr gleichgültig geworden! – Vielleicht war Hosea daran schuld. Ich wußte ja von Berlin her: wenn er wollte, hatte er an jedem Finger gleich zehn. Aber – er wollte eben nicht –

Auf dem Rückweg blieb ich absichtlich mit Irmgard zurück. – Ich kann nun einmal nicht anders: ich muß Vorsehung spielen! – Bietet sich dazu eine Gelegenheit, würde ich mir gewissenlos vorkommen, wollte ich sie versäumen. – Hosea sagt, ich hätte einen Charakter wie Maschinenöl: ich schmiere den Schicksalswagen anderer ein, damit die Karre glatter läuft.

Also ich redete Irmgard etwas ins Gewissen.

Natürlich fiel ich nicht mit der Tür ins Haus. Ich muß die Sache wohl ganz schlau angestellt haben, denn sie „schnappte“ nicht etwa „ein“, – nein – sie begann zu – weinen –

Sie war doch wohl nicht so schlecht, so oberflächlich und berechnend, wie ich geglaubt hatte.

„Ich bin eine Natur, die leicht zur Eifersucht neigt. Ich wußte bis dahin nicht, daß Merling mit Marvilles verkehrte. Und Doris Marville – ich überschätze mich nicht! – hat vor mir nicht nur den Reichtum voraus –!“

Da gewann die Sache freilich ein anderes Aussehen.

Und Irmgard fügte noch hinzu: „Eifersucht war der erste Anstoß. Und der andere – Komödie, für die Meinen berechnet! Ich bin stolz. Ich gönne niemandem einen Blick in mein Inneres. – Sie haben eine ganz besondere Art, Herr Malwa. Sonst wäre ich auch Ihnen gegenüber stumm geblieben.“

Ich war zufrieden mit mir. –

Um sechs Uhr fuhr Hosea nach der Stadt. Der Biberpelz begann um halb acht.

Um sieben brachte uns Fritz Weigand das Abendrot.

Nach Tisch besprachen wir den Diebstahl im Museum und studierten gemeinsam die Akten Marville. Die Stunden gingen schnell hin. Borwin gähnte bereits verstohlen.

Dann glaubte ich im Flur ein leises Geräusch zu hören – so etwa, als wenn jemand mit dem Fuß gegen die dort stehende Kleidergarderobe gestoßen hätte.

Borwin lachte jetzt laut.

„Ein Prozeß?! – Ein Skandal ist’s, sag’ ich Dir, Phantasiemörder, – ein Skandal –!“

Er saß der Tür am nächsten, war schon bei dem ersten „Skandal“ aufgestanden und hatte sich sprungbereit zusammengeduckt.

Ich ahnte, was er vorhatte, – erhob mich gleichfalls, indem ich als Waffe eine leere Rotweinflasche am Halse packte und wie eine Keule bereithielt –

„Du gibst mir doch recht – nicht wahr? Eine solche Art von Richtern muß raus – raus –“

Und beim dritten „raus“ kam der lange Satz zur Tür – ein famoser Weitsprung –

Die Tür flog auf, und Borwin stürmte in den Flur.

Ich hinterdrein.

Durch die weit offene Tür strömte genügend Licht in den etwa sieben Meter langen Gang, um in der Ecke zwischen Mauer und einem Kleiderschrank links von uns eine Gestalt, einen Mann, zu erkennen, der sich dicht in den Winkel geschmiegt hatte.

Borwin war ganz in seinem Element.

„Heraus da – vorwärts! – Etwas hurtig, – und hier vorbei an mir ins Zimmer. – Los – zum Donner! Oder wollen Sie probieren, ob ich Sie mit dem Revolver treffe –?!“

Langsam löste sich die Gestalt aus der Ecke, kam auf uns zu –

Ein schmächtiges Bürschchen – Ah – aber mit einer schwarzen Larve vor dem Gesicht –

Ich glaubte, ein trockenes, qualvolles Aufschluchzen zu hören. Vielleicht hatte ich mich aber auch getäuscht –

Dann saß unser Gefangener – er hatte vor Schreck und Angst umzusinken gedroht – uns gegenüber, und zwar auf dem Schreibtischsessel der Tante Hermine.

Er hatte einen schwarzen, weichen Filzhut auf, trug eine dicke Winterjoppe, um den Hals einen wollenden Schal, blaue, sehr weite Leinenhosen, wie sie die Schlosserlehrlinge zu tragen pflegen, und dazu – was mich noch mehr stutzig machte als die schwarze Maske, zierliche, hohe Knopfstiefel mit Lackbesatz, – sehr elegante – Damenschuhe –!

Borwin begann jetzt das Verhör.

„Wer sind Sie?“

Keine Antwort. Nur abermals das trockene Schluchzen. Ich hatte mich also doch nicht getäuscht.

Da sprang der Gefangene plötzlich auf –

Hut und Maske riß er sich ab –

Ein geisterbleiches Gesicht, ein in dieser Blässe noch reizenderes –

Lore – Lore Hähnchen –

Dann sank sie in den Stuhl zurück, schlug die Hände vor das verstörte Antlitz und weinte – weinte –

Borwin warf mir einen Blick zu – der sprach Dutzende von Fragen aus –

Langsam wurde das verzweifelte Weinen wieder zu einem gelegentlichen Schluchzen –

„Sie sehen uns auf das peinlichste überrascht, gnädiges Fräulein,“ sagte Borwin nun sehr förmlich. „Was wollten Sie hier, und – wie sind Sie eigentlich hier in die Wohnung hineingelangt?“

Die Tränen versiegten ganz und die Hände sanken herab. Lore schaute Borwin mit einem Blick an, in dem nichts mehr von Angst und Verzweiflung zu lesen war, – nur noch eine feste, trotzige Entschlossenheit.

„Daß ich nicht stehlen wollte, werden Sie mir ja wohl glauben, Herr Baron!“ erwiderte sie und die Stimme zitterte nur ganz wenig. „Im übrigen verweigere ich jede Antwort!“

„Nun – wie Sie hier in den Flur gelangt sind, das ist für uns kein Geheimnis mehr. Sie sind am Blitzableiter hochgeklettert. Den Weg haben schon andere vor Ihnen benutzt.“

„Nun ja denn – ich bin an dem Blitzableiter hochgeklettert. – Und was ich hier wollte: ich hoffte, Sie belauschen zu können, hoffte, hier Dinge zu erfahren, die mir endlich Klarheit geben konnten, ob ein Mann, der mir einst etwas galt, zu Recht in Untersuchungshaft sich befindet.“

Lore erhob sich schnell.

„Dann darf ich also wohl gehen?“ fragte sie gespannt.

„Bitte sehr. – Ich werde nur das Gas im Flur anzünden und Ihnen ein Licht mitgeben.“ –

Wir hörten Lore die knarrenden Stufen hinabgehen, sahen den Schein der flackernden Kerze, die in einem schmiedeeisernen, einen dienenden Pudel darstellenden Leuchter steckte, schwächer und schwächer werden.

 

Vierzehntes Kapitel.

Wir brauchten auf Hosea nicht mehr lange zu warten. Kaum war er im Zimmer, als er schon sagte:

„Lore Hähnchen war hier. Ich rieche ihr Parfüm.“ – Dann mußte ich ihm erzählen, wie wir Lore abgefaßt hatten.

Plötzlich schlug die Flurglocke an. Es war Meister Gottlieb, vollständig verstört. – „Meine Tochter ist verschwunden!“ Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.

Hosea führte ganz allein die Unterhaltung mit dem verängstigten Manne, tröstete ihn und meinte, Fräulein Lore sei vielleicht bei Bekannten. – Als Hähnchen wieder gegangen war, sagte Hosea ernst: „Lore wird nie wieder zurückkehren!“ – Über die Gründe für diese Annahme schwieg er sich aus, nahm jetzt vielmehr die Schläuche und die Flasche mit violetter Tinte, die Borwin ihm hatte besorgen müssen, und verschwand im Korridor. Nach einer Viertelstunde erschien er wieder und befahl uns, die Stelle im Flur vor der Kleidergarderobe nicht mehr zu betreten. Darauf gingen wir zur Ruhe. Während Hosea sich gerade den Kragen abknöpfte, machte er mir ein Zeichen und deutete auf die Tür nach dem Korridor hin. Mit einem Mal nahm er seinen Revolver aus der Nachttischschublade und stürmte hinaus, indem er die Tür hinter sich zuwarf.

Zwei Minuten später trat – der Chemiker Schellhorn – das Ekel, das Scheusal! – ein, bewacht von dem vergnügt grinsenden Hosea.

Borwin kam jetzt auch in etwas spärlicher Toilette herbei.

Hosea erklärte nun mit übertriebener Förmlichkeit:

„Die Herren gestatten, daß ich Sie miteinander bekannt mache: Meine Freunde Malwa und Freiherr von Bock-Palluck – Herr Doktor Schellhorn – oder auch Herr Herbst – oder Herr Kanzleirat Wehrhut, – ganz nach Belieben, nur jedes Mal etwas anders aussehend.“

Borwins und mein Gesicht müssen in diesem Augenblick ungeheuer geistreich im Ausdruck gewesen sein –!

Jedenfalls war Hosea selten eine Überraschung so geglückt wie diese.

Jetzt sagte er: „Bitte, meine Herren, – wir wollen es uns gemütlich machen und Platz nehmen. – Borwin, Du holst wohl für Herrn Doktor Schellhorn-Herbst-Wehrhut einen nassen Schwamm, damit er sich die violette Tinte vom Halse abwischen kann.“

Der Mann mit den drei Namen lachte und meinte:

„Eine niederträchtige Erfindung von Ihnen, Herr G –“

Hosea fiel ihm schnell ins Wort, sah ihn dabei sehr scharf an:

„Garblig heiße ich, wie Sie ja schon wissen, – Garblig!“

„Gut – gut, – also eine ganz verteufelte Erfindung, diese Tintenspritze. Ich trat natürlich ahnungslos auf die Bälle, die gefüllt unter dem Läufer lagen, – und hatte schon die Bekanntschaft mit drei Strahlen Flüssigkeit gemacht!“

Auch Hosea lachte.

„Ja, es war ein ganz guter Gedanke! – Ihr Anzug hat leider auch etwas abbekommen. Ich werde ihn Ihnen ersetzen.“

Dann mußte ich noch ein paar Flaschen Rotwein entkorken, Zigarren bereitstellen und die Gläser füllen.

„Zum Wohle, meine Herren,“ sagte Hosea. „Trinken wir auf den Erfolg!“

Ich horchte auf. Aber Hosea fügte nichts weiter hinzu –

Dann begann er: „Es ist an der Zeit, einen teilweisen Rückblick über die Ereignisse zu halten, die sich in diesem Hause abgespielt haben, – einen teilweisen! – Fangen wir mit der Verurteilung Marvilles an. Dieser untadelige Ehrenmann litt schwer unter dem Makel, der seinem Namen anhaftete. Er hatte nur einen Wunsch: den Beweis seiner Schuldlosigkeit zu erbringen. In aller Stille stellte er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis Ermittlungen an, um denen auf die Spur zu kommen, die ihn als Dieb der Verachtung seiner Mitmenschen preisgegeben hatten. Aus ganz bestimmten Gründen zog er dann in das Spukhaus ein. Er hoffte, hier weitere Erfolge zu haben. Aber er hatte sich den geheimen Feldzug gegen die dunklen Mächte, deren Opfer er geworden war, doch zu leicht vorgestellt. Jahre gingen hin, ohne daß er einen Schritt vorwärtskam. Gewiß: er beobachtete hier allerlei Merkwürdiges, ahnte, was und wer dahinter als treibende Kraft steckte, konnte aber für seinen Verdacht keinerlei ernsthaften Beweise beibringen. Im Laufe der Zeit war er nun der Hausbesitzerin, dem alten Fräulein Löckner, nähergetreten. Diese hatte wieder ein Interesse daran, den Spukgeistern dieses Hauses hinter ihre Schliche zu kommen, da sie durch den Haubengeist und die unheimlichen Töne pekuniär schwer geschädigt wurde. Sie mußte die Wohnungen sehr billig ablassen, nur, um die Mieter zum Bleiben zu bewegen. So kam es, daß Fräulein Löckner und Percy Marville sich zusammentaten und – einen Berliner Detektiv damit beauftragten, hier in der Maske eines harmlosen Kanzleirats Nachforschungen anzustellen. Dieser Detektiv, Herr Karl Marx, sitzt jetzt dort in der Sofaecke. – Er hielt es für gut, hier in einer Doppelrolle aufzutreten, was seinen Absichten nur förderlich sein konnte. Daher zog am 1. Januar in das Teublersche Fremdenheim Palmburg ein Herr Herbst ein, während die hier gerade leerstehende Wohnung der Kanzleirat gemietet hatte. – Herr Wehrhut, alias Marx, merkte nun bald, mit wie gefährlichen Gegnern der es zu tun hatte, fürchtete, daß ein Revolver eines seiner Feinde wirklich mal losgehen könnte, und verstand es, die Patronen dieser Waffe gegen ganz harmlose auszutauschen. Die Identität zwischen Wehrhut und Doktor Schellhorn verriet mir später der Brief an Levisohn und Schellhorns Handschrift, auch des Chemikers Frisur, die er trug, um die Stirnwunde zu verbergen.“

Hosea schwieg, gähnte und fuhr dann fort: „Gehen wir jetzt zu Bett. Morgen – besser – heute vormittag kommt die große Abrechnung, und zwar hier in diesem Zimmer. Ich habe dazu noch allerlei Vorbereitungen zu treffen.“

Marx verabschiedete sich mit einem: „Auf Wiedersehen bei der – Abrechnung!“ –

Um sieben Uhr morgens weckte mich Hosea und reichte mir die neueste Palmburger Zeitung. – „Lies den Artikel: „Einbruch in die Bureaus der landwirtschaftlichen Darlehenskasse“.“ – Dieser Artikel lautete:

„In der verflossenen Nacht oder besser am vorigen Abend, wahrscheinlich zwischen neun und elf Uhr, haben Einbrecher den Tresor der landwirtschaftlichen Darlehenskasse gesprengt und gegen 18 000 Mark in Banknoten erbeutet. Es handelt sich schon wieder um die Tat mit allen modernen Hilfsmitteln ausgestatteter Geldschrankknacker. Angesichts der in letzter Zeit sich stark häufenden Einbrüche dieser Art muß man sich fragen, ob unsere Kriminalpolizei wirklich auf der Höhe ist. Wir können im Interesse der Allgemeinheit nur betonen, daß die Bürgerschaft Anspruch darauf hat, diesen Zustand der Unsicherheit schleunigst beendet zu sehen. Reicht unser Polizeiapparat dazu nicht aus, so wende man sich an die Berliner Kriminalpolizei, die gern einen Beamten entsenden wird, dem größere Erfahrungen zur Seite stehen.“ –

Hosea hatte dann bis zur Stunde der Abrechnung bis zehn Uhr noch sehr viel zu tun. So war er noch bei Doris, telephonierte mit Märker und erledigte anderes, wovon er Borwin um mir nichts sagte. Ich gebe zu, daß wir beide über die wahren Zusammenhänge all der merkwürdigen Geschehnisse noch ganz im Unklaren waren und der großen Stunde daher mit nervöser Spannung entgegensahen. –

Um zehn Uhr fanden sich dann nacheinander alle Personen ein, die im Hause wohnten, außerdem aber noch eine ältere, einfache Frau, Witwe Kaulke, die frühere Aufwärterin der Tante Hermine. Hosea und Märker kamen recht spät – als letzte; jedenfalls lange, nachdem Hähnchens bereits auf den bereitgestellten Stühlen Platz genommen hatten.

Dann übertrug Hosea das Wort an den Detektiv Marx, der sich an die Türfüllung nach dem Salon hin lehnte und sofort begann:

„Ich trete hier als Ankläger auf. – Jahre sind es her, da wurde ein Bürger unserer Stadt wegen Diebstahls verurteilt. Marville gelang es, festzustellen, daß die beiden Hauptbelastungszeugen, zwei Schlossergesellen, zu einem Manne in engen Beziehungen standen, der am Tage des Museumsdiebstahls an einer altertümlichen Truhe im Hause Marvilles den kunstvollen Verschluß hatte in Ordnung bringen sollen, und nur dieser Mann konnte es gewesen sein, der die bei Marville vorgefundenen Goldsachen in der Absicht eingeschmuggelt hatte, den Verdacht gegen den Kunsthändler noch zu verstärken, damit die wahren Diebe frei ausgingen. – Und dieser Mann sind Sie, Gottlieb Hähnchen!“

Alle Köpfe flogen herum.

Aber Hähnchen lächelte nur: „Sie belieben zu scherzen, Herr Doktor Schellhorn.“

„Ich bewundere Ihre Unverfrorenheit,“ sagte Marx in kalter Verachtung. „Sie werden bald einen anderen Ton anschlagen –! Auf jenen Mann, auf den Schlossermeister Hähnchen, fiel damals nicht der geringste Verdacht. Nach außen hin ein harmloser Handwerker, angesehen, ja beliebt, und sehr geschickt in seinem Fach, hat Hähnchen aber nicht nur diese eine Schuld auf seine Seele geladen. – Jetzt ist er entlarvt. Und das kam so. Um seine Schuldlosigkeit zu beweisen, bezog Marville dieses Haus. Er wollte den Menschen ständig im Auge behalten, der an seinem Unglück die Hauptschuld trug, den er für den geistigen Urheber des verruchten Planes hielt, dessen Opfer er geworden. Er merkte jedoch sehr bald, daß er es mit einem außerordentlich verschlagenen Menschen zu tun hatte, der wahrscheinlich auch ahnte, weshalb Marville in das Spukhaus gekommen war. Jedenfalls war Hähnchen und nicht minder seine Frau in allem so vorsichtig, daß man ihnen nicht beikommen konnte. Marville hatte wohl auch zu wenig Erfahrung in solchen Dingen, um bei seinen Nachforschungen auch nur einigermaßen Erfolg zu haben, die lediglich den Zweck hatten, Beweismaterial dafür zu sammeln, daß es mit des Schlossermeisters Ehrenhaftigkeit nicht weit her sei und daß er noch immer mit jenen beiden meineidigen Belastungszeugen in Verkehr stehe. – Die Eigentümlichkeit dieses Hauses kennt nun ein jeder von Ihnen, meine Herrschaften, – den Spuk, das Gespenst im Garten und die unheimlichen Töne. Die Vorbesitzerin, Fräulein Löckner, hatte ein sehr großes Interesse daran, diese Dinge aufzuklären, und kam mit Marville überein, gemeinsam einen Detektiv zu beauftragen, für sie beide in Tätigkeit zu treten. Dieser Detektiv bin ich.“

Marx führte nun weiter aus, wie er eines Abends, als Hähnchens nicht daheim waren, mit Nachschlüsseln in deren Wohnung eingedrungen war und die Patronen des Revolvers vertauscht hatte, nachdem der Meister an den Tagen vorher verschiedentlich in den Bergen von ihm bei Schießübungen belauscht worden war, bei denen Hähnchen sich einer Scheibe in Form des Oberkörpers eines Mannes bedient hätte, wodurch in dem Detektiv der Verdacht an ein gegen ihn geplantes Attentat noch reger geworden wäre.

Kurz vorher war nun Fräulein Löckner – so berichtete Marx weiter – durch Selbstmord aus dem Leben geschieden. Marville hatte sofort geargwöhnt, daß es hierbei nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, und auch er, der angebliche Kanzleirat Wehrhut, hatte ihm hierin beigepflichtet. Um für diese unsichere Vermutung festere Unterlagen zu schaffen, waren beide, Marx und Marville, verschiedentlich mit Hilfe des Blitzableiters in die leere Wohnung eingestiegen, zu der Hähnchen die Schlüssel in Verwahrung hatte, und hatten dort immer wieder nach Beweisen für ihren Verdacht gesucht, ohne sich jedoch darüber klar werden zu können, wie Hähnchen, falls wirklich hier ein Mord vorlag, diesen bewerkstelligt hatte. Tatsache war ja, das alles auf einen Selbstmord hindeutete: die Tante war in dem von innen verschlossenen und völlig gaserfüllten Schlafzimmer auf dem Diwan liegend aufgefunden worden. – So standen die Dinge, als der Lehrer Bruchstück nachts im Treppenhause vor der Hauswirtin Tür deren „Geist“ erblickte. Dieses Begebnis sprach sich schnell im Hause herum, und besonders Hähnchens waren es, die immer wieder die Spötter warnten und meinten, mit solchen Dingen sei nicht zu scherzen.

Marx erzählte nun genau die Vorgänge an jenem Nachmittag, als es bei ihm geläutet hatte, während gerade der Maler Merling sich bei ihm befand. – „Ich öffnete die Flurtür, – prallte sofort zurück – Vor mir stand – Hermine Löckner, besser, – ihr Geist! Und dieser streckte mich durch einen Schuß zu Boden, – freilich durch einen harmlosen Schuß, der mir nur die Stirnhaut zerfetzte –“

Der Detektiv ging jetzt zu der Geschichte von dem Schränkchen über, wie er auf diese Weise glücklich aus dem Hause geschafft werden konnte, und wie später durch den Brief an Levisohn, den Möbelverleiher und Auktionator, die Wohnung des verschwundenen Wehrhut schnell geräumt werden konnte, damit dort der Chemiker Schellhorn einziehen konnte.

„Dieser Mordversuch,“ fuhr Marx fort, „den der „Geist“ mit Hähnchens Revolver und den präparierten Patronen verübt hatte, war die Schlinge, in der der ehrenhafte Meister Gottlieb sich selbst gefangen hatte. Nun hatten wir ihn fest, nun konnte der Beweis erbracht werden, was in Wahrheit hinter diesem großen Heuchler steckte. Gewiß, ich hätte auch so die Hand auf ihn legen können, hätte nicht mehr als Chemiker Schellhorn hier aufzutreten brauchen! Aber wir wollten Hähnchen eben gleich ganz vernichtend treffen, wollten ihm nun auch noch, wenn möglich, den Mord an Fräulein Löckner nachweisen, gegen den die äußeren Umstände zwar sprachen, für den es aber anderseits auch eine ganze Menge von Anhaltspunkten gab, so besonders die Tatsachen, daß das alte Fräulein auch nicht den geringsten Grund gehabt hatte, sich selbst zu entleiben, und daß in dem Nachlaß der Verstorbenen nur sehr geringe Barmittel aufgefunden worden waren, während sie ihrer ganzen Lebensführung nach außer dem Hause noch andere Einnahmen gehabt haben mußte. – Die Verhaftung Marvilles und Merlings, die unausbleiblich schien, lernten wir Eingeweihten bald von einem uns lediglich günstigen Standpunkt aus betrachten. Hähnchen mußte gerade dadurch, daß der Verdacht des Attentats sich auf diese beiden Herren gelenkt hatte, sich sicherer fühlen und konnte vielleicht nunmehr irgendeine Dummheit begehen, die ihn auch zu dem angeblichen Selbstmord in Verbindung brachte. Deshalb beschloß ich, das Spukhaus abermals in einer neuen Verkleidung zu beziehen. – Inzwischen war hier nun aber als Gast des neuen Hausbesitzers ein Herr erschienen, der mir von Berlin her von Ansehen gut bekannt war und von dem ich wußte, daß er, obwohl von Beruf Kunstmaler, mit Leidenschaft gerade außergewöhnlichen Geschehnissen nachzuspüren pflegte. Und diesen Herren bitte ich jetzt, an meiner Stelle das Wort zur weiteren Enthüllung der Geheimnisse dieses Hauses zu ergreifen.“

Marx verbeugte sich leicht und nahm auf dem Stuhl Hosea Garbligs Platz, während Hosea sich nunmehr an den Türrahmen lehnte.

 

Fünfzehntes Kapitel.

Die Gottlieb Hähnchen zunächst Sitzenden waren längst von dem bleich und in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl hockenden Manne abgerückt.

Hähnchen hatte jetzt dicke Schweißperlen auf der Stirn. Er schaute nicht auf, war wie versteinert –

„Herr Marx hat schon angedeutet, daß ich alles Seltsame liebe,“ begann Hosea. „So ist es auch. Andere sammeln Spazierstöcke, Reitpeitschen, Uhren und so weiter. Ich habe eine Leidenschaft für das Ungewöhnliche. Und was hier im Hause vorging, war recht ungewöhnlich. – Ich war an demselben Tage in Palmburg eingetroffen, als Herr Hähnchen gegen einen menschlichen Kopf eine Kugel abfeuerte, die keine Kugel war. Im „feurigen Roß“, der Stammkneipe einiger Mieter dieses Hauses, hatte ich genaueres über das Attentat gehört, auch davon, daß der „Tote“ verschwunden und ein Schränkchen abgeholt worden war. Ich fuhr nach Palmburg zurück und stellte durch Nachforschungen an den beiden einzigen Autohaltestellen den Chauffeur fest, der das Schränkchen hatte tragen helfen und es nach der Pension Teubler gebracht hatte. – Nachdem ich mich schon etwas über das Schränkchen informiert hatte, kehrte ich mit der Elektrischen nach Bäckershagen zurück und umschlich das Spukhaus. Es war etwas nach elf Uhr, als ich auf dem Fenstervorhang eines erleuchteten Hinterfensters des Erdgeschosses den Schatten einer Frau für einen Moment wahrnahm. Bei dieser Frau fiel mir die hohe, altertümliche Frisur auf. Dieselbe Frisur sah ich später auf dem Ölgebilde der Hermine Löckner. Nach einer Weile erschien der Schatten der Frau wieder für einen Augenblick auf dem Vorhang – jetzt aber ohne die hohe Frisur, und der Kopf sah mir jetzt verteufelt nach einem Männerkopf aus. – Das war doch schon ganz interessant für den Anfang! – Dann wurde ich zum Glück verhaftet und gezwungen, einen warmen Raum aufzusuchen. Mittags sprach ich meinen Freund Malwa auf dem Polizeipräsidium, wo ich auch Herrn[10] Märker kennenlernte. Nachher war ich dann wieder hinter dem Schränkchen her, besuchte auch Herrn Märker nochmals und hielt dann meinen Einzug in das Geister-Palais hier.“

Die Art, wie Hosea das erzählte, war geradezu köstlich. Es war ein leichter Plauderton mit allen Schattierungen von offensichtlichem Spott bis zu feinster Ironie.

„Ich fand meinen Freund Malwa ein wenig verstört und er hatte auch wirklich schon in der ersten Nacht im neuen Heim so allerlei erlebt, morgens dann den Geist seiner Tante dort am Schreibtisch sitzen sehen. – Nun – über diesen Geist wußte ich schon etwas Bescheid. Der Schatten auf dem Fenstervorhang, einmal mit, dann ohne Perücke, war vielsagend genug. Ich dachte: schau, schau, Meister Hähnchen produziert sich hier als Gespenst. Gucken wir ihm daher ein wenig auf die Finger! – Ich ließ mir von Malwa seine Erlebnisse in diesem Hause ganz genau erzählen. Hierbei fiel mir auf, daß das Ehepaar Hähnchen sich offenbar alle Mühe gegeben hatte, meinen Freund sofort durch die Andeutungen über den Spuk und durch die Erwähnung, daß Fräulein Löckner durch Selbstmord geendet hatte, einzuschüchtern, was ihnen ja auch leidlich gelungen ist. – Wenn Meister Hähnchen ein wenig mißtrauischer gewesen wäre, so hätte er eigentlich schon aus der Widmung, die ich auf die schnell entworfene Porträtskizze schrieb, etwas Argwohn schöpfen müssen. Aber die Worte „dem guten Geiste des Spukhauses zur Erinnerung!“ kamen ihm ganz harmlos vor, waren es aber durchaus nicht. – Dann beschäftigte ich mich in Gedanken hauptsächlich mit dem Attentat auf Wehrhut. Ich gebe zu, daß ich zunächst wirklich annahm, daß Marville und der Maler dabei eine recht verdächtige Rolle gespielt hätten. Doch das Schränkchen belehrte mich schnell eines besseren. Ich merkte, daß Wehrhut und Herbst ein und dieselbe Person waren, und ein Zettel in Geheimschrift, der Malwa zugesteckt wurde, zeigte mir die Beziehungen zwischen Marvilles und Wehrhut in einem ganz eigenartigen Licht infolge einer geheimen Telephonverbindung zwischen den beiden Wohnungen. Hatte schon die Doppelrolle jenes Wehrhut-Herbst die Vermutung in mir auftauchen lassen, hier könnte ein Detektiv an der Arbeit sein, so wurden das Telephon und der Fund einiger Reste der präparierten Kugel auf dem Flurläufer ausschlaggebend. – Natürlich ein Detektiv, sagte ich mir. Und ich erinnerte mich daran, daß Frau Hähnchen zu meinem Freunde Malwa von Marville als dem Herrn gesprochen hatte, der nicht in dies anständige Haus hineingehöre. Näheres hierüber wußte mir auch der Herr Major zu berichten. – Kurz – Marville war vorbestraft, beteuerte aber stets seine Unschuld und – konnte daher ganz gut sich den Detektiv im eigenen Interesse verschrieben haben. – Dann aber – und dies ist sehr wichtig! – stellte ich durch ein Experiment fest, daß der Attentäter aus der leeren Wohnung der verstorbenen Hausbesitzerin gekommen und nach dem Schuß dorthin auch zurückgekehrt war. Die Schlüssel zu dieser Wohnung hatten Hähnchens in Verwahrung. Und dieser Umstand gab den Anlaß, daß ich der Frage nähertrat, ob nicht vielleicht gar Meister Gottlieb der Schütze gewesen sein könne. Auf den ersten Blick schien dies ausgeschlossen zu sein. Dann dachte ich an den Blitzableiter, der an der Rückfront des Hauses hochläuft. Vielleicht hatte Hähnchen nicht geschlafen, sondern war auf diesem Wege in die leere Wohnung geklettert, um von dort aus über den Flur zu Wehrhut zu gelangen. Ich verwarf diese Annahme schnell wieder. Am Tage wäre eine solche Kletterpartie zu gefährlich gewesen; jeden Moment hätte Hähnchen dabei von einem der Einwohner überrascht werden können. – Ich hatte nun auch den Fensterkopf in der Küche untersucht und darauf eigenartige Spuren gefunden, runde Stempel von Gummiabsätzen, die mir nachher bewiesen, daß Marville fraglos mal, wahrscheinlich nachts, mit Hilfe des Blitzableiters in Fräulein Löckners Wohnung eingedrungen war. Ich merkte mir das, was von Spuren vorhanden war, sehr genau und schüttete dann, bevor wir, Malwa und ich, gleich am ersten Abend nach meiner Ankunft zu Baltings gingen, auf das Fensterbrett der Küche eine dünne Schicht Ofenasche. Als wir dann von Baltings in unser Heim zurückkehrten, schloß ich selbst die Flurtür ab und legte die Sicherheitskette vor. Kam das Gespenst in dieser Nacht, so konnte es nicht durch die Flurtür eindringen und mußte, wenn es den Blitzableiter benutzte, in dem Aschenstaube des Fensterbrettes notwendig Spuren hinterlassen. – Und – es kam! Wir hörten es im Korridor umherschlurfen, während wir im Salon saßen und ich mir alle Mühe gab, mich möglichst als Angsthasen durch laute, zweckentsprechende Reden hinzustellen. Außerdem hörten wir aber auch jene unheimlichen Töne, deren Ursprung sich niemand zu erklären vermochte. – Am nächsten Morgen lag die dünne Aschenschicht unberührt da. Somit – geben Sie acht, meine Herrschaften! – hatte ich den Beweis erbracht, daß – es zu der Wohnung noch einen zweiten geheimen Zugang geben müsse! – Und dieser zweite Zugang, den zu finden ich mich redlich bemüht habe, den ich aber erst heute fand! –, ließ mich wieder an Hähnchen denken als an den Geist der Tante und auch als den Attentäter, – denn Marville und Merling hatte ich bereits von der Liste der hier in Betracht kommenden Personen gestrichen. Daß er der verkleidete Geist gewesen war, der in dieser Wohnung im Flur umhergewandert war, – also Hähnchen, unterlag für mich keinem Zweifel mehr. Und wenn er als Gespenst mit Hilfe eines verborgenen Zugangs in die Wohnung hineingelangt war, konnte er auch derjenige sein, der zwei Dielen zum Knarren gebracht hatte und nach dem Schuß schnell wieder in die Wohnung geschlüpft war, die man ruhig hätte durchsuchen können, ohne etwas Lebendes darin zu finden. – Mein Verdacht gegen Hähnchen nahm also immer bestimmtere Formen an.“

Hier räusperte sich Hosea, um dann mit zerknirschter Miene zu erklären:

„Ich habe mir nun die größte Mühe gegeben, niemand etwas von diesem Verdacht, der schon halb Gewißheit war, merken zu lassen, habe so getan, als ob ich allen möglichen Leuten mißtraute, habe Wahres und Falsches gemischt in meinen Bemerkungen, um sowohl Freund Malwa als auch sonst jeden irrezuführen, während ich doch in Wirklichkeit nur ein Ziel im Auge hatte: Gottlieb Hähnchen, – der jetzt wieder dort sehr bleich dasitzt und wohl überzeugt ist, daß er das Spiel verloren hat. – Ich muß hier nun einschalten, daß ich aus den Kontobüchern der Hermine Löckner ersehen hatte, daß das alte Fräulein noch eine größere Summe in Staatspapieren besessen haben müsse. Diese Papiere fehlten jedoch im Nachlaß, so daß man unter Berücksichtigung der Charakterveranlagung und der ganzen Lebensführung der Tante sehr leicht zu dem Schluß kommen mußte, dieser Selbstmord verdiene ein großes Fragezeichen. – Als ich dies Malwa gegenüber äußerte, ließ er seinen Rasierapparat am Morgen nach dem Besuche bei Baltings fallen. Zwei Stunden später kam Märker zu uns und teilte uns mit, daß Herbst entwischt wäre. Ich hatte das vorausgesehen, ebenso auch, daß Herbst-Wehrhut hier wieder als neuer Mieter in anderer Maske auftauchen würde, da nur zu diesem Zweck das Mobiliar Wehrhuts auf einen ein wenig gefälschten Brief hin – gefälscht, was die Zeit der Abfassung anbetrifft! – so schnell abgeholt worden sein konnte. Märker vernahm dann hier Marville und Merling, wobei er ersterem erklärte, es wäre in diesem Hause auch noch ein Raubmord begangen worden, – was Marville jedoch so ruhig mitanhörte, daß ich mir sofort sagte, auch er müsse den Verdacht hegen, Fräulein Löckner wäre absichtlich durch Gas getötet worden. Er und Merling blieben bei der Vernehmung dabei, „vorläufig“ sich nicht äußern zu können, und – wurden verhaftet, was sie wieder in keiner Weise zu beunruhigen schien, für mich ein weiterer, wenn auch bereits unnötiger Beweis ihres reinen Gewissens und ihres Einverständnisses mit dem Detektiv Wehrhut-Herbst. – Malwa und ich machten dann einen Spaziergang, wobei ich meinem Freunde einen im Schnee fest eingetretenen Fußpfad zeigte und eine Stange. Beide waren mir schon am ersten Abend aufgefallen, als ich das Haus umschlich, und damals hatte an der Stange eine kleine Laterne gebrannt. Bei der Rückkehr begegneten wir Herrn Bruchstück, der damals die mir hochinteressante Bemerkung machte, Hähnchens hätten es hintertrieben, daß er sich einen Hund halten dürfe. Der Hund mit seiner feinen Nase wäre Hähnchens eben in Rücksicht auf die Ruine leicht gefährlich geworden, da diese auch ihr besonderes Geheimnis hatte. – An diesem Tage geschah noch mancherlei: Doktor Schellhorn mietete die Wohnung Wehrhuts, die Nichte der Frau Sauerbier, in Wahrheit Polizeiagentin Helmbach, meldete sich an, ich selbst fuhr nach Palmburg und stellt fest, daß Wehrhut wenige Stunden nach seiner „Ermordung“ mit einem Pflaster auf der Stirn auf der Straße gesehen worden war, hatte nun also den untrüglichen Beweis dafür, daß alle meine Kombinationen stimmten, was dieses Attentat und den wahren Beruf Wehrhuts und des Herrn Herbst anbetraf, und erfuhr zu allem Überfluß noch von Märker, daß der ihm entschlüpfte Aufkäufer der Münchner Kunsthandlung, als der Kommissar mit ihm in der Pension Teubler verhandelte, starke Migräne gehabt und daher ein nasses Tuch um den Kopf getragen hätte. Die Migräne mußte aber der Stirnwunde wegen erfunden werden. – Der Abend dieses Tages war aber doch am ereignisreichsten: ich sah zum ersten Male das Haubengespenst im Garten und – stürzte von dem Blitzableiter ab, den sehr wahrscheinlich Meister Hähnchen durchschnitten haben dürfte, um mir einen Denkzettel zu geben – das heißt, mich entweder ganz oder doch für einige Zeit unschädlich zu machen, weil er eben mittlerweile eingesehen hatte, daß ich nicht der Feigling war, den ich spielte, und ich ihm gefährlich dünkte. Ebenso bin ich davon überzeugt, daß er ahnte, ich würde an demselben Abend noch in den Garten kommen und mich nach dem Haubengespenst umtun. Mir ist damals eine regelrechte Falle gestellt worden. Man wollte mich ermorden, – ich sage „man“, da das Haubengespenst nicht etwa auch Hähnchen war, sondern – seine kräftige Walküre von Gattin. – Während ich dann draußen im Freien im Schneegestöber sechs Männer mit verhüllten Gesichtern den Weg nach der Ruine einschlagen sah, hatte Malwa oben im Salon genau um die Mitternachtsstunde ein abermaliges Erlebnis mit dem schlurfenden Geist, dem er gern eine Revolverkugel auf den Pelz brennen wollte. Er durchlöcherte aber nur die Türfüllung und wurde an weiteren mutigen Taten dadurch gehindert, daß das Gaslicht plötzlich erlosch. – Und dieses Versagen der Beleuchtung empfehle ich, nicht vergessen zu wollen. Ich komme noch später darauf zurück.“

Hosea strich sich über die Stirn.

„Wo war ich doch stehengeblieben –? – Richtig – Haubengespenst! – Es würgte mich, – natürlich nicht mit den Skelettfingern, – nein, die Totenarme und der Schädel waren nur Requisiten der kraftstrotzenden Frau Guste, über deren Kochkünste ich mich so oft ehrlich gefreut habe. Totenschädel, Skelettarme und das Kleid des Geistes der Tante sowie die Perücke liegen dort in jenem Pappkarton, den wir vorhin mitgebracht haben. – Minka rettete mich. Und Malwa depeschierte nach unserem gemeinsamen Freunde von Bock-Palluck. – Ich erholte mich schnell. Nun hatte ich auch eine persönliche Rechnung mit den zwei Geistern wettzumachen. Nun sollte die Spukkomödie hier schleunigst ein Ende finden. – Ich tat jedoch so, als hätte ich jede Lust verloren, mich weiter in Dinge zu mischen, die mich scheinbar nichts angingen. Wir wurden Rodler. Hierbei lernten wir Lore Hähnchen kennen. Weswegen sie von Dresden so schnell nach Hause geeilt war, will ich übergehen. Jedenfalls spielt sie hier eine nicht unwichtige Rolle. – Ich komme nun zu dem Eiszapfen, der der „Nichte“ Frau Sauerbiers auf den Kopf fiel. Ich hatte mir zusammen mit dem Major die Bruchstelle an der Dachrinne angesehen und natürlich sofort bemerkt, daß das Eisstück absichtlich abgebrochen worden war, mir auch gesagt, daß es nur die Frau treffen sollte, die Hähnchen ebenso gut wie ich als Polizeiagentin erkannt hatte und die er ebenfalls verscheuchen wollte als eine ihm höchst unbequeme Aufpasserin. Von Bruchstück erfuhr ich, daß er auf dem Hausboden vor dem Absturz des Eiszapfens schleichende Schritte und dumpfe Schläge gehört hatte. Und Fritz Weigand wieder versicherte, Hähnchen wäre zur Zeit des Unfalls weder in der Werkstatt noch in der Wohnung gewesen. Das genügte mir. Ich wußte nun, wie gefährlich Hähnchen war, wie raffiniert, – und daher wollte ich ihm beweisen, daß ich noch schlauer war. Ich gedachte den Stein dadurch ins Rollen zu bringen, daß ich Meister Gottlieb – stempelte, wenn er als Geist im Flur umherschlurfte, – so stempelte, daß alles Leugnen ihm nichts half, daß ich ihn in die Presse nehmen und dann langsam alles aus ihm herausquetschen konnte. – Dann brach der gestrige Tag an. Morgens kam Märker. Er hatte die Strafakten Marville mit. Er erzählte von den zahlreichen Geldschrankeinbrüchen und langen Frauenhaaren, die man dann und wann, nicht immer, am Tatort gefunden hätte, – Haare von einer eigentümlichen rotbraunen Farbe. Und solche Haare hat – Frau Hähnchen! Das schoß mir sofort durch den Kopf! Ja, Frau Hähnchen, dieses starke Weib, von deren Fingerkraft ich bereits am eigenen Leibe Beweise erhalten hatte! Und weiter fiel mir nun Schlag auf Schlag ein: die sechs Männer mit den verhüllten Gesichtern, der vielbegangene Pfad im Schnee, der vom Fabrikviertel Palmburgs bis in die Nähe der Ruine läuft, das Laternchen an der Stange, fraglos ein Signal, und der Umstand, daß Hähnchen Schlosser ist! Und gerade dieses Handwerk stellt ja die meisten Rekruten für die Garde der Geldschrankknacker! – Märker vermutete, Berliner Einbrecher gäben hier Gastrollen; ich dagegen, daß es eine einheimische Verbrecherbande war, daß diese hier im Hause ihre Zusammenkünfte abhielt, und daß das Ehepaar Hähnchen sozusagen die Leiter des Ganzen wären. Und als ich nun hörte, daß Hähnchens abends das Palmburger Schauspielhaus besuchen wollten, da – verschaffte ich mir gleichfalls ein Billett. Ich wollte die beiden eben auch nicht einen Moment mehr aus den Augen lassen. – Während des ersten Aktes verschwanden sie. Ich auch. Ich schlich ihnen nach. Sie waren ganz ahnungslos. So wurde ich Zeuge, wie in die landwirtschaftliche Darlehenskasse ein Einbruch verübt wurde. Vier Männer standen draußen Schmiere. Ich markierte den Trunkenen, torkelte an ihnen vorüber zur nächsten Polizeiwache. Das weitere hat Märker besorgt. Die vier Schmieresteher und die zwei, die Hähnchens geholfen hatten, sind in der vergangenen Nacht verhaftet worden. Hähnchens ließ man ungeschoren. Ich wollte es so. Ich kam vor ihnen nach Hause, – kurz nachdem Ihre Tochter, Gottlieb Hähnchen, in einer Verkleidung in diese Wohnung sich eingeschlichen hatte, um uns zu belauschen, – uns, von denen sie vermutete, daß sie aus unseren Gesprächen vielleicht Gewißheit darüber erlangen könnte, ob – ihre Eltern wirklich Verbrecher wären!“

Hähnchen, seit langem schon wieder ein wahres Bild des Jammers, hob den Kopf. Und dann streckte er flehend die Hände nach Hosea aus und rief:

„Lore – Lore, – sagen Sie mir um Gottes Barmherzigkeit willen, – wo ist sie – wo – wo?!“

Er liebte sein Kind. Diese Töne ärgster Seelenqual, peinigender Ungewißheit schnitten mir ins Herz.

Hosea blieb hart.

„Sie werden es schon noch erfahren. – Lore Hähnchen suchte hier bei uns Gewißheit. Sie ahnte, daß wir hinter dem Spuk her waren. – Sie hatte gestern morgen das in einem Winkel des Kleiderschrankes ihrer Mutter versteckte Kleid gefunden, das der Geist Tante Hermines trug, dazu eine graue, hochfrisierte Perücke, ein Kästchen Schminke und eine lange, spitze Wachsnase. – Da war der erste Argwohn in ihr aufgestiegen, daß ihre Eltern Dinge treiben könnten, die das Licht des Tages scheuten. – Sie war gestern sehr bedrückt, wie ich merkte. Und sie fragte immer wieder nach dem Gespenst der Tante, versuchte mich auszuhorchen. Abends, als sie allein war, hat sie dann die ganze Wohnung durchstöbert. So entdeckte sie in dem kleinen Hinterzimmer, der Schlafstube ihrer Eltern, unter einem Linoleumteppich eine Falltür, unter der eine Treppe in die Tiefe führte. Mutig wagte sie sich mit einer Laterne hinab, fand so einen gemauerten Gang, der unter dem Hause entlangläuft, stellte fest, daß am anderen Ende dieses Ganges wieder eine schmale Treppe in einem Schacht emporführte und vor einer zweiten Falltür, die mit einem besonderen Mechanismus versehen war, aufhörte. Diese zweite Falltür ist der geheime Zugang zu dieser Wohnung und befindet sich gegenüber der Flurtür dicht an der Außenmauer im Fußboden des Flures. Der Schacht aber geht in dem alten Mauerrest entlang, an denen sich das Spukhaus anzulegen scheint. – Ich will hier gleich bemerken, daß die Falltür so sorgfältig gearbeitet ist, daß ich sie bei meinem Suchen nach dem zweiten Eingang nie bemerkt habe. – Aber Lore fand noch mehr. Von dem Gang unter dem Hause zweigte nach rechts ein anderer ab, der sich bald zu einem großen Gelaß erweiterte. Hier standen allerlei Maschinen, auch ein Benzinmotor als Antrieb für diese, – Maschinen, mit denen Hähnchen die tadellosesten Einbruchswerkzeuge herstellte, – hier standen Schränke und Tische und Betten, – hier war also eine geheime Werkstatt und gleichzeitig ein Schlupfwinkel für lichtscheues Gesindel. – Dieser Seitengang endete vor einer Steintreppe von wenigen Stufen. Darüber lag eine schwere, eiserne Falltür in einer viereckigen Öffnung der Decke des Ganges. Als Lore die Eisentür endlich nach oben zu aufgedrückt hatte, strömte ihr eisige Kälte entgegen: die Tür lag mitten in einem Dickicht der Ruine! – Dies alles stellte Lore fest. Und dann kam sie durch den Schacht in diese Wohnung, nachdem sie sich für alle Fälle verkleidet hatte. Meine beiden Freunde faßten den nächtlichen Besuch jedoch ab. Lore tat, als wäre sie mit Hilfe des Blitzableiters eingestiegen. Sie wollte die Eltern nicht verraten. Dann ging sie – die Treppe hinab, den Weg, den alle gehen. – Aber – sie hatte nicht daran gedacht, daß sie weder in die Wohnung ihrer Eltern hineingelangen, da sie keinen Schlüssel zu der Flurtür mitgenommen hatte, noch ins Freie konnte, da ja beide Haustüren verschlossen waren. Sie war im Treppenhaus eingesperrt. – Während sie dann frostzitternd auf einer der untersten Stufen saß, während sie auf Vater und Mutter wartete, überlegte sie sich all das, was sie gesehen hatte. Ihre Gedanken vermag ich hier nicht wiederzugeben. Jedenfalls kam sie zu dem Entschluß, sich Doris Marville anzuvertrauen. Und ihr hatte sie dann mitgeteilt, was sie in den Tiefen der Erde gefunden hatte, von ihr hat sie Antwort auf die Frage verlangt, ob ihre Eltern wirklich das seien, was sie vermute –: Verbrecher! – Doris Marville hat nichts beschönigt. Und nun liegt Lore Hähnchen schwer krank in der Wohnung Marvilles. – Dies alles erfuhr Doktor Schellhorn oder Marx, wie wir ihn nennen wollen, von Doris durch das geheime Telephon, und Marx hat es mir heute morgen erzählt, nachdem Fräulein Marville ihm hierzu die Erlaubnis gegeben hatte. Ich schickte Fräulein Marville heute einen Brief, bat sie, Lore mitzubringen, da ich hoffte, diese würde ihre Eltern am leichtesten zu einem reumütigen Geständnis bewegen können. Aber – Lore ist krank –“

 

Sechzehntes Kapitel.

Hosea konnte nicht weitersprechen.

Gottlieb Hähnchens jammervolles Weinen füllte das Zimmer mit Tönen, die einem die Nerven vibrieren machten. Er hatte die Hände vor das Gesicht gelegt, und sein Körper bäumte und wand sich unter dem Ansturm trostloser Gedanken.

Dann rief er – heiser, fast heulend:

„Ich will zu meinem Kinde, – ich will –“

„Nein,“ sagte Hosea ernst. „Sie werden Lore wohl nicht mehr wiedersehen, – nie mehr!“

„Ah – tot – tot?!“ brüllte er auf.

„Nein – nur für ihre Eltern gestorben!“

Er verstand sofort und wie von einem Keulenschlag getroffen, zuckte er zusammen. – Und wie ein Irrer sprach er tonlos vor sich hin:

„Für sie taten wir alles – nur für sie, unsere Einzige! Sie sollte hoch hinaus über uns, sollte reich sein, einen vornehmen Mann heiraten. – Alles – alles – für sie! – Und nun – nun – gestorben für uns, ihre Eltern, – ge – storben –“

Kraftlos saß er auf seinem Stuhl, stierte ins Leere –

Und Hosea begann wieder:

„Vorhin, als man hier auf mich und Marx wartete, sind wir beide in den unterirdischen Räumen gewesen und haben durch den Schacht nachher den Flur hier betreten. Wir haben in einem Schrank nicht nur für 50 000 Mark Wertpapiere, die fraglos Fräulein Löckner gehörten, gefunden, sondern noch andere wertvolle Diebesbeute, so auch das gestern aus dem gesprengten Tresor der landwirtschaftlichen Darlehenskasse geraubte Geld. – Frau Hähnchen hat dann Verdacht geschöpft, als wir uns hier nicht blicken ließen. Sie kam in ihre Wohnung und – lief den dort postierten Kriminalbeamten in die Arme. Sie ist bereits unterwegs nach dem Polizeipräsidium. – Nun noch zu dem Morde an Hermine Löckner. Ich bin darauf gekommen, in welcher Weise er ausgeführt sein kann, als der Geist damals das Gaslicht dadurch auslöschte, daß er den Haupthahn im Flur schloß, alsbald aber wieder öffnete. Malwa wurde damals durch das Summen des nunmehr ausströmenden Gases hierauf aufmerksam. – Dies gab mir einen Fingerzeig. An jenem Abend, als Hermine Löckner vor ihrem „Selbstmord“ noch Gäste bei sich hatte, hat die Aufwartefrau bedient. Sie sitzt dort und wird meine Angaben bestätigen. Ich erfuhr von ihr, daß damals viel süße Schnäpse getrunken worden seien, wie ja überhaupt Tante Hermine einem guten Tropfen nicht abgeneigt war. – Die Gäste und die Aufwartefrau gingen gegen elf Uhr. Fräulein Löckner ist dann, nachdem sie sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatte, infolge des Alkoholgenusses noch angekleidet auf dem Diwan eingeschlafen, während das Gas brannte. Ein Zufall mag Hähnchen gerade da durch den Schacht in die Wohnung geführt haben. Er wird das tiefe Atmen des schlafenden alten Fräuleins gehört haben, hat den Haupthahn umgedreht, so daß die Flammen der Krone im Schlafzimmer ausgingen, hat den Hahn wieder anders gestellt, – und der Mord war geschehen, das Gas strömte aus den offenen Hähnen aus, füllte die Schlafstube, erstickte das Opfer. – Gottlieb Hähnchen, habe ich recht?“

„Ja!“

Es war ein klares, festes Ja. – Und der Mörder stand jetzt auf, sagte:

„Ich gebe alles zu! Alles hat sich so zugetragen, wie Herr Garblig es hier ausgeführt hat – alles – alles, nicht nur dieser – Mord. – Das Haubengespenst sollte die Leute nachts von der Ruine fernhalten, dasselbe bezweckten die Tellereisen am Tage, die ich in dem Gemäuer aufstellte. Die unheimlichen Geräusche entstanden durch das Kreischen der Stahlbearbeitungsmaschinen, deren Töne sich durch den Gang bis unter das Haus fortpflanzten. Und den Geist der Tante spielte ich vor Bruchstück, um das Attentat auf Wehrhut vorzubereiten, um diesen Mord in einer Verkleidung begehen zu können, die jeden, der mir zufällig begegnete, verscheuchte. Meine Frau war eingeweiht. Sie hat Herrn Malwa damals so lange in der ersten Etage festgehalten, bis oben der Schuß fiel. So sollte alles in ein möglichst geheimnisvolles Dunkel gehüllt werden. – Ich werde nichts leugnen – nichts, denn ich habe mein Kind verloren, für das ich sündigte, für das wir sündigten – aus Elternehrgeiz, aus Liebe –“

Er weinte wieder, wurde nun abgeführt, folgte seiner Frau ins Polizeigefängnis.

Das Drama hier in meinem Wohnzimmer war zu Ende –

Und doch ergriff Hosea nochmals das Wort.

„Ich möchte noch eins hinzufügen,“ sagte er. „Wenn diese Entlarvung des verbrecherischen Paares so gut geglückt ist, so haben wir das in der Hauptsache dem stillen Wirken unserer Kriminalpolizei zu verdanken. Ich war eigentlich nur deren ausführendes Werkzeug, handelte stets nach vorheriger Verabredung mit Kommissar Märker. – So, meine Herrschaften, nun wollen wir auseinandergehen, wollen daran denken: Wo viel Liebe, da ist auch viel Vergebung! – Und was Hähnchens getan haben, war – zu viel Liebe!“

Mittags waren wir drei Freunde und der Detektiv Marx zu Marvilles eingeladen; außer uns wurde noch Merling gebeten, der aber dankend ablehnen mußte, da Baltings ihn bereits mit Beschlag belegt hatten. –

Marville erklärte, sofort mit Doris und Lore, wenn es der Zustand der letzteren erlaube, verreisen zu wollen – nach irgendeinem Winterkurort der Schweiz. –

Das Leben mischt seine Karten gar wunderbar –

Gerade jetzt hörten wir draußen im Flur die Telephonglocke schrillen.

Marville eilte hinaus. Als er zurückkehrte, schien er mir eine Schattierung bleicher.

„Das Ehepaar hat sich im Polizeigefängnis vergiftet,“ sagte er leise. „Kommissar Märker war am Apparat. Er meinte, vielleicht wäre dies eine annehmbare, wenn auch gewaltsame und für die Tochter recht erschütternde Lösung.“

Eine ganze Weile herrschte nachdenkliches Schweigen.

„Eine schwere Aufgabe, dies Lore mitzuteilen,“ sagte Marville dann. „Armes Kind, – auf Dein Leben werden diese Ereignisse schwer zu bannende Schatten werfen.“

Hosea schaute Marville in herzlicher Zuneigung an.

„Eine bessere neue Heimat als hier bei Ihnen konnte Lore kaum finden. Wo so viel wahre Herzensgüte wohnt, wird auch diese vom Sturm des Lebens zerzauste Blüte sich wiederaufrichten.“

Doris streckte Hosea jetzt die Hand hin.

„Sie möchten stets nur bei anderen anerkennen, was Sie selbst in weit höherem Maße besitzen: Herzensgüte! – Weshalb so viele Menschen nur so ängstlich ihr wahres Gesicht zu verbergen trachten, – ich meine nicht die schlechten, sondern gerade die guten?! – Weshalb nur?!“

Marx, der sich schon wieder in den eigentlichen Herrn Marx zurückverwandelt hatte, lächelte fein.

„Es lebt sich weit bequemer mit ein paar Gesichtern, gnädiges Fräulein! Auch interessanter!“ meinte er. –

Die tiefere Bedeutung dieser Bemerkung verstand ich damals noch nicht, – erst zwei Monate später wurde sie mir klar.

Da ich hier lediglich das habe erzählen wollen, was das Haus des Hasses an Geheimnissen barg und wie diese aufgeklärt wurden, könnte ich bereits schließen. Immerhin will ich noch ganz kurz erwähnen, daß Marvilles mit Lore wirklich in die Schweiz reisten, daß auch Hosea und Borwin nur noch wenige Tage blieben und ich dann ganz allein war in dem alten Haus, allein mit meinen Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit und meiner Sehnsucht nach Doris, der ich erst nur jeden vierten Tag, schließlich täglich zweimal lange Briefe schickte. Auch Doris verbrauchte recht viel Briefpapier, und ich durfte wohl annehmen, daß ich zu Marvilles bald in noch engere Beziehungen treten würde.

Hosea beschränkte sich auf kurze Postkarten im Depeschenstil. Borwin dagegen, der sehr bald den Abschied genommen hatte und nun ausschließlich dichtender Kommißbock a. D. geworden war, war fleißiger. Von ihm erfuhr ich, daß Hosea bereits wieder etwas gefunden hatte, das seinem Hange für das Außergewöhnliche entsprach, und einen in den Zeitungen viel erörterten Diebstahl wichtiger politischer Dokumente aufzuklären suchte.

Zum Osterfeste hatte ich die lieben Kerle aber wieder bei mir, konnte mich ihnen jedoch nicht viel widmen, da Marvilles inzwischen zurückgekehrt waren und ich mir alle Mühe gab, baldigst ein Paar Verlobungsringe kaufen zu dürfen.

Lore Hähnchen – ihr standen die dunklen Kleider und der stille Ernst in Miene und Wesen vorzüglich! – und Hosea kamen mir bald stark verdächtig vor.

Und – wirklich: Ostern brachte einen „Rekord“ an Verlobungen, wie Major von Balting sagte.

Vier Brautpaare –! Das alte Haus schmunzelte! Die Geister, die jetzt in seinen Mauern ihr Wesen trieben, ließ es sich gern gefallen.

Als die Verlobungsanzeigen entworfen wurden, kam für mich die große Überraschung! (Marvilles und Lore waren schon eingeweiht!)

Wir saßen im Marvilles Arbeitszimmer. Hosea reichte mir das Blatt, auf dem er seinen Entwurf gemacht hatte: „Die Verlobung seines Mündels Eleonore Hähnchen mit –“

Und dann: nicht Hosea Garblig stand da, sondern – Hans Gorski – Gerichtsassessor a. D. Hans Gorski –

Die Phrase paßt wieder vorzüglich: Mir fiel es wie Schuppen von den Augen –! Ich dachte an Borwins Bemerkungen über Doppelgänger, an die des Detektivs Marx über „das interessantere Leben mit ein paar Gesichtern –!“

Ich starrte auf das Blatt – Doris schmiegte sich an mich, sagte –:

„Marx wußte damals sehr bald, wer der Menümaler eigentlich war. – Und Dich hätte doch das Monokel auf die richtige Spur bringen müssen –“

Ich nickte. „Allerdings. – Er trug es mit einer Fertigkeit, die mich in Erstaunen setzte –“

Die Sache wurde nicht weiter erörtert, denn die „oberen“ Brautpaare, Merling und Irmgard, Borwin und Asta kamen und holten uns zum gemeinsamen Spaziergang ab –

Es ging hinaus in den lachenden Sonnenschein des Frühlingstages –

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. Barse = alte Bezeichnung für Barsche.
  2. Krinoline = Reifrock.
  3. Menage = geschlossenes Gefäß zum Transport von Mahlzeiten, auch „Henkelmann“ oder „Kochgeschirr“.
  4. Tesching = kleine Handfeuerwaffe.
  5. Nabob bezeichnet einen Menschen mit großem Reichtum und Einfluß, abgeleitet von einem historischen Herrschertitel in Südasien: Nawab.
  6. Dieser Satz: „Er wollte aber alles anderen als besonderes Verdienst zuschreiben, …“ ist etwas unglücklich formuliert, wenngleich auch nicht falsch. Sinngemäß ist damit gemeint: Er wollte aber alles [den] anderen [Leuten/Beamten] als besonderes Verdienst zuschreiben, …“.
  7. „Haubengespenst“ – „Hauben-Gespenst“ – beide Schreibweisen vorhanden, alles auf „Haubengespenst“ geändert.
  8. Stoff, der in Ripsbindung gewebt ist, bei der eine längs- oder querlaufende, gerippte Oberflächenstruktur erzeugt wird. Ripsgewebe ist steif, abriebs- und reißfest und wird daher z. B. als Möbelbezugsstoff verwendet.
  9. Froufrou = französisch für rascheln, knistern.
  10. In der Vorlage ist die Abfolge einiger Seiten durcheinandergeraten. Folgerichtig muß man dort lesen: Seite 145; 151; 147, 148; 149; 150; 146; 152.