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Einer von der Schmiere

 

Einer von der Schmiere.

Novelle von Walther Kabel.

Nachdr. verb.

 

Auf der geräumigen Bühne des Schützenhaussaales probte das Schauspiel- und Opernensemble des Direktors Sigurd Hallerfort an einem sonnigen Junitage für die am morgenden Sonntag stattfindende Eröffnungsvorstellung der Sommertheatersaison Konradin Kreutzers romantischer Oper „Das Nachtlager von Granada“. Aber trotzdem die Sache, wie der Kapellmeister Kurt Imada versicherte, „soweit“ ganz gut klappte und auch die durch Arien ersetzten Chöre – zu letzteren langte Hallerforts Geldbeutel nicht – nicht allzusehr den Eindruck eines Schmieren-Notbehelfs hervorriefen, trippelte der recht korpulente Herr Direktor, die Fäuste in den Taschen seines altgedienten, dünnen Sommerjacketts vergraben, unruhig zwischen dem großen Konzertflügel, der die Rolle des Orchesters vertrat, und dem Stuhle, auf dem seine Frau Gemahlin mit einem Strickstrumpf in den fettgepolsterten Händen saß, auf und ab. Und als jetzt der Bariton, der den Prinzregenten gab, mit halber Stimme und dem Textbuch dicht vor den etwas kurzsichtigen Augen, für den noch fehlenden Tenor die Partie des jungen Hirten Gomez heruntersang, nur um das Zusammenspiel zu ermöglichen, da beugte sich Sigurd Hallerfort bekümmert zu seiner Gattin herab und flüsterte ihr zu: „Aurelie, ich habe so eine düstere Ahnung – paß auf, der neue Tenor läßt uns im Stich, trotzdem er sein Eintreffen bestimmt zugesichert hat. Und was tun wir dann? … Wo bekommen wir einen Ersatz her? … Was führen wir an Stelle des Nachtlagers auf?“ – Die Stimme des kleinen dicken Herrn war zu einem wahren Grabeston herabgesunken und sein feistes, glattrasiertes Gesicht hatte sich in die für einen sorgenvollen Heldenvater gebräuchlichen Falten gelegt. Diese trübe Stimmung erschien für Sigurd Hallerfort ganz berechtigt. Denn, soviel Glück er auch mit der Zusammensetzung des übrigen Ensembles gehabt hatte, was Leistungen und niedrige Gagenforderungen – letzteres natürlich die Hauptsache! – anbetraf, mit dem ersten Tenor war er wirklich schmählich trotz seiner guten Menschenkenntnis hereingefallen! Schon nach den ersten Tagen hatte er gemerkt, daß der betreffende Mime seinen gänzlichen Mangel an Stimme und schauspielerischem Talent durch eine starke Neigung für alkoholischen Getränke in jeder Form wettzumachen suchte, und nach seinem stets etwas reichlich „angesäuselten“ Verhalten auf den Proben nicht die geringsten Garantien für die notwendige Nüchternheit bei den Aufführungen bot. Und vorgestern, als der Herr Tenor mit seiner schimmernden, rötlichen Nase in besonders animiertem Zustande seine Rolle noch mehr wie sonst grauenvoll verhunzte, da war selbst dem gemütlichen Papa Hallerfort das dicke Geduldstau gerissen, und er hatte diesen … Schandfleck seiner Truppe kurz entschlossen für immer abgelehnt. – Dann hieß es aber schleunigst Ersatz besorgen. Ein Telegramm ging an die Theateragentur Müller nach Berlin ab, in dem um einen Nachfolger – Bedingungen: „Hundert Mark Monatsgage und die Fähigkeit, auch erste Heldenrollen zu spielen“ – gebeten wurde. Gestern war dann spät abends die Antwort eingetroffen, merkwürdigerweise nicht von dem Agenten, sondern aus Köln: „Nehme Engagement an, wie von Agentur Müller vorgeschlagen. Fordere nur 50 Mark Gage pro Monat. Reise sofort ab. Bin Sonnabend vormittag mit Elfuhrzug dort. Bodo Pelter.“

Als der Direktor mit staunendem Blick das von den fünfzig Mark gelesen hatte, da kam er vorerst aus dem Kopfschütteln gar nicht heraus.

„Kinder, habt ihr so was schon mal erlebt?!“ sagte er zu den ihn umstehenden Mitgliedern seiner Gesellschaft. „Ich jedenfalls nicht! – Fünfzig Mark nur, und kommt noch sogar von Köln bis hier nach dem Osten herauf! Einfach unverständlich! – Aber,“ fügte er schmunzelnd hinzu, „nehmt euch ein Beispiel an diesem Kollegen Bodo Pelter, Kinder! Der hat noch Verständnis für die pekuniäre Lage von uns armen Direktoren!“

Da hatte der Komiker, der im Winter fest an einer großen Bühne engagiert war und diese Sommerbeschäftigung in der an dem breiten Strome idyllisch gelegenen Provinzialstadt mehr zu seiner Erholung übernommen hatte, ironisch gemeint:

„Wird dafür auch ’ne nette Nummer von Künstler sein, Direktorchen; da machen Sie sich man schon auf allerhand frohe Überraschungen gefaßt!“

Und diese nicht ganz unberechtigte Warnung fuhr Sigurd Hallerfort wie ein Stich durchs Herz und wirkte auch jetzt noch nach, als er so gedrückt seine Sorgen der treuen Gattin anvertraute.

Frau Aurelie hatte von ihrem Strickzeug gar nicht aufgeschaut. Sie huldigte einer Lebensanschauung, die in dem schönen Satz gipfelte: „Sich nur nicht unnötig aufregen!“ Und daher antwortete sie mit klassischer Ruhe:

„Abwarten, Sigurd, abwarten, und nicht den Teufel an die hier schon ohnehin grausig sezessionistisch bemalten Wände zaubern. Du weißt, meine Ahnung trügt nie: Er kommt sicher, und es wird auch kein Fehlgriff sein! … Außerdem – es ist ja gleich elf. In zehn Minuten hast Du Gewißheit.“

Das korpulente Männchen konnte nur einen bewundernden Blick auf seine bessere Hälfte werfen, die mit ihren hundertundneunzig Pfund und ihrer fatalistischen Gemütsveranlagung bisher allen Stürmen ihres vielbewegten Ehedaseins glücklich getrotzt hatte. Dann klatschte er laut in die Hände und rief auf die Bühne hinauf: „Kinder, nun macht man eine Pause, bis ich mit dem Fünfzigmark-Wundertier von der Bahn zurück bin. Wir müssen das Nachtlager ja doch noch verschiedene Male ganz durchproben, damit der Neue sich in eure Eigenheiten hineingewöhnt!“ Sprach’s, ergriff seinen großen Filzhut und verließ das Schützenhaus, um nach dem nahen Bahnhof zu eilen.

Der Bummelzug hielt. Und aufmerksam musterte Sigurd Hallerfort die aus den Abteilen dritter und vierter Klasse spärlich aussteigenden Reisenden. Aber so genau er auch die einzelnen Gesichter prüfte, – nicht eines befand sich darunter, das auch nur im entferntesten an einen gottbegnadeten Mimen für fünfzig Mark Monatsgage erinnert hätte. Dem armen Direktor sank immer mehr der Mut. Alle Unannehmlichkeiten, die der fehlende Tenor für ihn heraufbeschwören mußte, traten mit einemmale ihm wieder vor die Seele. Nochmals überflog er ängstlich suchend die Wagenreihen, mit einem stillen Stoßgebet, daß das Schicksal barmherzig sein und den Ersehnten herbeiführen möchte.

Der Bahnsteig hatte sich inzwischen vollständig geleert. Nur einige Beamte waren noch bei dem Gepäckwagen des Zuges damit beschäftigt, zwei mächtige gelbe Patentkoffer auszuladen, und vor der offenen Tür eines Abteils zweiter Klasse stand ein schlanker, sehr elegant gekleideter jüngerer Herr, der auf den Bahnhofsvorsteher eifrig einsprach. Dieser schien den Fremden jetzt auf den in seiner äußeren Erscheinung unverkennbar den alten Schauspieler verratenden Hallerfort aufmerksam zu machen. Und dann kam der Unbekannte mit schnellen Schritten auf den Theaterdirektor zu und lüftete mit leichter Verbeugung seine englische flache Reisemütze.

„Herr Hallerfort, nicht wahr?“ fragte er verbindlichsten Tones.

„Allerdings – Direktor Sigurd Hallerfort,“ stammelte dieser, ganz starr vor Staunen, mit wenig Würde hervor. Denn – sollte das wirklich der Erwartete sein?! Dieser von den braunen, neuen Kopfstiefeln bis zu der Brillantnadel in der schwarzseidenen Krawatte mit einfacher, unaufdringlicher Vornehmheit gekleidete Herr, über dessen linke Wange sich zwei Schmisse wie parallele Linien hinzogen, sollte der – billige Tenor sein?! Dann war er wahrhaftig ein Wundertier, einer, der in Sigurd Hallerforts Ensemble so gar nicht hineinpaßte mit seinem frischen, jungfrohen Gesicht, aus dem nur die dunklen, tiefen Schwärmeraugen als geringer Beweis seiner Zugehörigkeit zur Künstlerzunft hervorleuchteten.

Während der noch ganz fassungslose Direktor blitzschnell das Äußere des vor ihm Stehenden kritisch in seinem Geiste verarbeitete und dabei zu dem betrübenden Resultat kam, daß so der ersehnte Bodo Pelter niemals aussehen könne, erbarmte sich seiner gerade im rechten Augenblick, um ihn vor völliger Verzweiflung zu retten, das Geschick. Denn alle Zweifel lösten sich in eitel Freude auf, als der Fremde jetzt mit seiner wohlklingenden Stimme sagte:

„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Direktor, daß Sie mich abgeholt haben. Ich bin Bodo Pelter, der erwartete Tenor!“

Zehn Minuten später betrat der strahlende Sigurd Hallerfort mit dem Wundertier den Schützenhaussaal, wo die Damen und Herren der Truppe mit nicht geringer Spannung den neuen Kollegen erwarteten. Diese zehn Minuten hatte der Direktor aufs beste dazu benutzt, um den Nachfolger des alkoholverehrenden ersten Helden mit dem guten Rechte des Brotherrn nach allem Nötigen auszufragen. Und dieses Examen war einigermaßen befriedigend ausgefallen, – selbst hinsichtlich des einen Punktes, der dem kleinen, rundlichen Herrn zunächst am wichtigsten erschien: ob der Neue auch die Rolle des Hirten Gomez in seinem Repertoire habe und leidlich beherrsche. –

Bodo Pelter wurde den Anwesenden vorgestellt, aber mit sichtlicher Zurückhaltung begrüßt, ganz entgegen der sonstigen zwanglosen Herzlichkeit, die besonders unter den Mitgliedern der Wandertruppen zu herrschen pflegt. Man wußte eben allgemein nicht recht, was man aus diesem geschniegelten Herrn, der mit dem sicheren Benehmen eines Angehörigen der besten Gesellschaft auftrat und den ein so undefinierbarer Hauch von Vornehmheit umgab, machen sollte. Der ungemütlichen Szene bereitete aber der Direktor in richtigem Taktgefühl ein schnelles Ende, indem er einfach befahl, mit der Probe des Nachtlagers wieder zu beginnen. Die Sänger verschwanden aus dem Saal und begaben sich auf die Bühne, mit ihnen der neue Tenor, der sich zwanglos an eine Kulisse lehnte und beim Schein eines trüben Lämpchens noch schnell seine Rolle überlas. – Kapellmeister Imada setzte sich an den Flügel, schüttelte seine Künstlermähne und winkte der Sopranistin zu, die die erste Arie hatte.

Jetzt war endlich Frau Aureliens Zeit gekommen. Sie brannte vor Neugier. Und während Gabrieles schmerzliches Antrittslied vom geraubten Täubchen durch den dämmerigen Saal erklang, brachte sie all ihre Gefühle in dem einen, geradezu vollendet betonten Wort zum Ausdruck, indem sie den neben ihr sitzenden Gemahl aufmunternd musterte: „Nun??!“ –

Sigurd Hallerfort erstattete mit richtigem Verständnis für den Wissensdurst seiner Gattin gehorsamst Bericht über Bodo Pelter und ergänzte das ihm selbst noch Unbekannte durch treffende Kombinationen.

„Es ist sein erstes Engagement, Aurelie, nachdem ihn besondere Verhältnisse – sicherlich Verarmung seiner Familie – zum Aufgeben seiner juristischen Laufbahn gezwungen haben. Nur weil er noch Anfänger ist, beansprucht er so wenig Gage. Ausgebildet ist er angeblich bei dem Musikprofessor Merx in Köln – nebenbei ein großartiges Institut. Und ganz abgebrannt kann er auch noch nicht sein, denn –“. Es folgten die Brillantnadel, die tadellose Kleidung und das fraglos zur Herfahrt benützte Abteil zweiter Klasse als Beweise für diese letzte Behauptung.

„Wird er auch unseren Ansprüchen genügen, wo er noch so gar keine Routine hat?!“ meinte Frau Aurelie hierauf ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit mit deutlichem Mißtrauen.

Plötzlich ertönte ein weicher, glockenreiner Tenor mit bestem Einsatz von der Bühne herab, – des jungen Hirten Gomez erste Worte beim Anblick der geliebten Gabriele:

„Wie traurig und doch wie schön ruht sie dort –“.

Da fuhren des Ehepaares Hallerfort Köpfe wie auf Kommando in die Höhe. – Was war das? Woher diese Stimme, diese herrliche, volle Stimme, die den weiten Raum mit einem Meer einschmeichelnder, schmelzender Töne erfüllte? – Auch Kapellmeister Imada hatte vor Staunen die Hände von den Tasten sinken lassen, und starrte begeistert ins das Halbdunkel der Bühne hinauf, wohin jetzt alle Blicke gerichtet waren. Dort stand Bodo Pelter, der neue Tenor, das Wundertier, – stand kühl und ruhig da, als ob diese Zeichen allgemeiner Verwunderung ihn gar nichts angingen. Dann sprang Sigurd Hallerfort von seinem Stuhl auf und schrie laut ein mehrfaches „Bravo!“ in die plötzliche Stille hinein. Der Bann war gelöst. Alles klatschte neidlosen Beifall, alles. – Man umringte den Sänger, drückte ihm die Hände, und der schlagfertige Komiker gab den Gedanken aller Ausdruck, indem er mit großartigem Pathos sagte:

„Mann, Sie haben ja Gold in der Kehle – Gold, lauteres Gold, und nicht eine Monatsgage von sage und schreibe fünfzig Silberlingen!“

Worauf der dicke Direktor sofort aus naheliegenden Gründen seine Begeisterung um die Hälfte herabschraubte und gnädig lächelnd meinte, indem er zu der bewährten Redensart seiner Gemahlin seine Zuflucht nahm:

„Abwarten, Kinder, – abwarten! Die Stimme ist gut – fraglos! Aber Herr Pelter ist doch noch Anfänger, und wer weiß, ob die Schauspielerei mit der Singerei gleichen Schritt hält!“

Doch der weitere Verlauf der Probe zeigte, daß man an den Fähigkeiten des Tenors auch nicht das geringste aussetzen konnte. Im Gegenteil – als man mit dem „Nachtlager“ endlich gegen ein Uhr fertig war, da nahm Sigurd Hallerfort das Wundertier heimlich beiseite und flüsterte ihm zu: „Ich gebe Ihnen freiwillig hundert Mark, Bodochen! Sie sollen eben sehen, daß ich ein anständiger Kerl bin. Aber sprechen Sie nicht weiter darüber – ich meine über die Zulage! Die übrige Bande fordert sonst vielleicht auch mehr, – und die verdient’s nicht!“

Darauf eilte er schleunigst in die Druckerei, wo er die Theaterzettel bestellen wollte, und ließ recht auffällig unter den Titel der für morgen anstehenden Oper drucken: „Als Gast gewonnen der berühmte Heldentenor Bodo Pelter aus Köln,“ sorgte auch dafür, daß dieselbe Nachricht mit allerlei Zusätzen versehen, so: „der seine Ausbildung bei dem hervorragenden Musikprofessor Merx genossen hat …“ noch in die Abendzeitung der Stadt hineinkam. – Inzwischen hatten sich die unverheirateten Mitglieder des Ensembles an die nicht gerade üppige Mittagstafel gesetzt, die von dem Wirt des Schützenhauses für das zusammengewürfelte Künstlervölkchen eingerichtet war, mit einem Menu, dessen zwei Gänge bare sechzig Pfennige kosteten. Der Kapellmeister Imada, der von seinem überflüssigen Fett gut einen Winter allein hätte durchhalten können, aß wie immer mit Eifer und Andacht, trotzdem der Kalbsbraten zäh und nüchtern wie gekochte Filzsohlen war. Dabei fand er aber doch noch Gelegenheit, seinen Tischnachbar über die Wohnungsverhältnisse aufzuklären.

„Zurzeit gibt’s hier nur noch ein einziges möbliertes Zimmer mit Klavier, Herr Pelter, und zwar bei der Wirtin, wo ich selbst ein Unterkommen für achtzehn Mark gefunden habe. Allerdings kostet die Bude mit Klavierbenützung dreißig Mark! Aber Sie werden sie nehmen müssen trotz des horrenden Preises, der –“ Er wollte noch mehr hinzufügen, aber das Wort blieb ihm vor freudigem Schrei im Munde stecken. Denn soeben erschien der Schützenwirt in eigener Person mit einer mächtigen gläsernen Bowle auf der Bildfläche, gefolgt von dem grinsenden Pikkolo, der auf einem Tablett die nötigen Gläser herbeischleppte. Und in dem goldgelben, perlenden Inhalt der Bowle schwammen verheißungsvoll große Ananasscheiben umher.

Der neue Kollege erhob sich, schlug leicht an sein Glas, sprach einige liebenswürdige Worte, in denen er sich als Spender der köstlichen Sektmischung verriet, und ließ seine Rede in einem Hoch auf gutes Einvernehmen und die darstellende Kunst ausklingen.

So begann für die Hallerfortsche Theatergesellschaft eine nie geahnte, glückliche Zeit, die Bodo Pelter allein zu verdanken war – die Zeit der stets gut besuchten Vorstellungen, der stets ebenso vorschußbereiten Stimmung des Direktors und der Möglichkeit, bei ganz dringender Notlage das immer hilfsbereite „Wundertier“, das tatsächlich ein Krösus sein mußte, ergiebig anpumpen zu können. –

Aber so sehr auch der bald zum Liebling des Publikums avancierte Heldentenor für die „Bande“, wie Sigurd Hallerfort sein Künstlerpersonal wenig geschmackvoll nannte, zum Segen aus den westlichen Regionen des Reiches aufgetaucht war, – in dem beschaulichen Dasein des größten Teiles der zwölftausend Einwohner der Stadt richtete er leider erhebliche Störungen an, die sich in allerhand auffallenden Erscheinungen bemerkbar machten. Ältere Familienväter, die bisher keinerlei Verschwendungssucht bei ihren besseren Hälften und bescheiden erzogenen Töchtern entdeckt hatten, mußten – innerlich wütend – unter dem Druck der weiblichen Gewalten das Vergnügungskonto bis ins Ungemessene belasten, nur damit die den „himmlischen Pelter“ anschwärmenden Damen aller Altersstufen von vierzehn bis zu …zig Jahren hinauf den Kunsttempel, zu dem der bis jetzt nur zu profanen Tanzfestlichkeiten benutzte Schützenhaussaal sich durch die göttliche Sänger- und Schauspielfertigkeit eines einzelnen aufgeschwungen hatte, in verzückter Erwartung besuchen konnten. Bräute und junge Ehefrauen, denen der Erkorene ihres Herzens früher als der „Herrlichste von allen“ erschienen war, wurden nun zu Vergleichen geradezu herausgefordert, die stets zugunsten des genialen Sängers ausfielen, gerieten so in Gedanken auf Abwege und träumten sich ein jauchzendes, von lockenden Klängen erfülltes Glück an der Seite des anderen zurecht, wurden unzufrieden und gingen mit melancholischen, ergebungsvollen Augen einher, zum stillen Schmerz der männlichen Opfer dieser epidemischen „Heldentenor-Krankheit“, die aller Voraussicht nach erst der Herbst – der von diesen Opfern jetzt heiß ersehnte Herbst, beenden würde. Auch die Herren Offiziere des Jägerbataillons, das in der Stadt in Garnison lag, mußten es zu ihrer herben Enttäuschung erleben, daß ihre Rolle bei der holden Backfischwelt vorläufig gänzlich ausgespielt war und daß gegen Bodo Pelters dunkle Träumeraugen selbst der bunte Rock nicht aufkommen konnte.

So machte sich denn die Anwesenheit des schönen Tenors überall fühlbar. – Und dieser selbst? – Er lebte jetzt nach sechs Wochen noch genau so zurückgezogen, wie in den ersten Tagen nach seiner Ankunft. Sein Benehmen gegen Kollegen und ihn begeistert umjubelndes Publikum war stets das gleiche. Aber bei all seiner zuvorkommenden Liebenswürdigkeit umgab ihn doch eine unsichtbare Schranke, die aus vorsichtiger Zurückhaltung und höflicher Zurückweisung aller Vertraulichkeiten errichtet war, und die niederzulegen niemandem glückte. Vergebens suchte besonders Frau Aurelie näheres über sein Vorleben zu erfahren, vergebens waren alle Bemühungen einiger gönnerhaften Künstlerfreunde, mit dem Opernsänger eine intimere Bekanntschaft anzuknüpfen. Er blieb für sich allein, benutzte seine freie Zeit zu weiten Spaziergängen in die Umgebung oder zu seinen Musikstudien, und wob so einen geheimnisvollen Schleier um seine Person, den niemand zu lüften vermochte. Der einige, mit dem er häufiger zusammenkam, war Kurt Imada, der rundliche Kapellmeister. Und das kam auch nur daher, weil sie beide bei der verwitweten Frau Kanzleirat Tappe wohnten, einer freundlichen Dame, die die Komödianten zunächst mit einigem Zaudern in ihre möblierten Zimmer aufgenommen halte, bald aber einsah, daß diese ihre Mieter bedeutende solider lebten als die Herren Assessoren und Referendare des Landgerichts, denen „Mutter Tappen“ nach jahrelangem, festem Brauch Unterkunft gewährte. Doch selbst der lockenumwallte Kapellmeister konnte über Bodo Pelter nicht die geringsten aufklärenden Angaben machen. Gewiß, in der letzten Zeit hatte er so mancherlei beobachtet, wenn er in dem großen Vorderzimmer, das der Tenor bewohnte, an dem am Fenster stehenden Piano saß und den anderen zu seinen Liedern begleitete. Aber dieses „Mancherlei“ hing in keiner Weise mit Bodo Pelters Vergangenheit zusammen, hätte vielmehr in der Zukunft mit einer glücklichen Verlobung enden können, wenn – das Haus da gegenüber, nein, die elengante, etwas von der Straße zurückliegende Villa nicht gerade dem Landrat und Geheimen Regierungsrat von Hohenlinden und das reizende, hinter den Portieren der meist offenen Fenster dem Sänger regelmäßig lauschenden Köpfchen nicht Käti von Hohenlinden gehört haben würde, dem unnahbaren einzigen Kind des seit Jahren verwitweten Geheimrates, und wenn nicht – hier begann die Tragik des lyrischen Abenteuers – die durch nichts abzuändernde Tragik, wie der mitfühlenden Imada sich sehr richtig sagte, Bodo Pelter hier ausgerechnet als Mitglied einer Theatergesellschaft aufgetaucht wäre, die bei etwas strenger Beurteilung ihrer ganzen Zusammensetzung immer eine – Schmiere genannt werden mußte, trotz der guten Leistungen einiger ihrer Mitglieder.

Der rundliche Kapellmeister beobachtete also und schwieg – schwieg wie das Grab. Er wollte sich die Gunst des Wundertieres auf keinen Fall verscherzen, das einen so ausgezeichneten Kognak und Rotspohn auf Lager hatte und so teure Zigarren – Fünfzehn-Pfennig-Sumatra-Einlage – rauchte. So ahnte denn niemand, daß auch in die friedliche Villa des allgewaltigen Beherrschers des umliegenden Kreises ein störender Geist, wie in so viele andere Häuser der Stadt – seinen Einzug gehalten hatte.

* * *

An einem der letzten Julitage saß Geheimrat von Hohenlinden mit seiner Tochter auf der glasüberdachten Terrasse beim Morgenkaffe. Der alte Herr mit dem grauen, wohlgepflegten Vollbart und dem etwas hochmütigen, verschlossenen Gesicht hatte ein Blatt Papier neben sich liegen, auf das er aus einem Kursbuch sorgfältig die Abfahrtzeiten verschiedener Züge vermerkte. Scheinbar war er von dieser Arbeit vollständig in Anspruch genommen. Und doch blickte er heimlich nur zu oft mit seinen klugen, aber etwas kühlen grauen Augen zu seinem einzigen Kinde hinüber, das in einem bequemen Rohrsesselchen lehnte und verträumt in die grüne Blätterpracht des sich hinter dem Hause weit hinziehenden Parkes schaute.

Käti von Hohenlinden war nicht das, was die große Menge, gedankenlos nur nach dem flüchtigen Gesamteindruck der ganzen Erscheinung urteilend, eine Schönheit nennt. Auf einem fast zu schlanken, zierlichen Körper saß ein von einer dunkelblonden, hochfrisierten Haarfülle gekrönter Kopf, unter dessen leichtgewölbter, geistvoller Stirn ein paar trauriger Augen sofort auffiel, Augen von einem unbestimmten Graublau, in denen es für jeden Frauenkenner doch wie verhaltene, nur durch trübe Lebenserfahrungen zurückgedrängte Leidenschaft schimmerte. Nase und Mund zeigten dagegen nichts Charakteristisches und wären in jedem Auslandspaß mit dem üblichen „gewöhnlich“ abgetan worden. Nur die Kinnpartie des schmalen Antlitzes verriet wieder eine starke, energische Seele, wofür auch die etwas großen, aber schlanken und wohlgeformten Hände sprachen.

Jetzt legte der Geheimrat, sich leise räuspernd, den Bleistift beiseite und sagt dann mit einer Stimme, die wie sanftes, gütiges Streicheln war:

„Woran denkst du, mein Kind?“ – Dabei ruhten aber seine Blicke seltsam forschend in dem harten Gesicht seiner Tochter.

Das junge Mädchen war leicht zusammengefahren, und eine helle Röte überflog jetzt die in der letzten Zeit häufig so blassen Wangen. Doch ihre Augen begegneten ohne Scheu denen des Vaters. Dann sagte sie müde, indem sie wie in Nachsicht mit ihren eigenen Schwächen zu lächeln versuchte:

„An die Unzulänglichkeit unseres Erdendaseins, Papa – an die Ketten, mit denen für so viele Menschenkinder das Glück in weiten Fernen angeschmiedet bleibt, so deutlich sichtbar, und doch nicht loszureißen aus den ehernen Banden, die Standesunterschied und Standesvorurteile heißen …“

„Das habe ich mir gedacht, Käti – leider – leider!“ Der Geheimrat sprach diese Worte so langsam, mit so schwerer Betonung aus.

Auf diese Erwiderung war sie nicht gefaßt gewesen. Verwirrt strich sie die Falten ihres hellen Morgenkleides über den Knien glatt, während ihr jetzt dunkelrote Glut das Antlitz färbte. – Eine ungemütliche Pause folgte. Es schien, als wagten sie beide nicht, mit der nun nicht mehr abzuwendenden Erörterung eines peinlichen Themas zu beginnen.

Dann hatte Herr von Hohenlinden sich zu einem Entschluß durchgerungen. Er konnte seine Tochter nicht länger schonen, das, was nun schon wochenlang wie ein unheimliches Gespenst, alle trauliche Gemütlichkeit bannend, durch die Räume des Hauses schlich, mußte endlich beseitigt werden.

„Käti, komm einmal her zu mir, setz’ dich neben mich – so, ganz dicht, mein Kind – ganz dicht,“ sagte er gütig und nahm dann ihre heißen Hände in die seinen. „Wir beide, Käti, wir sind doch bereits seit Jahren nicht mehr wie Vater und Tochter, sondern wie zwei gute Kameraden nebeneinander hergegangen, nicht wahr? – Du nickst so eifrig. Das freut mich. Zwischen uns besteht mithin auch nach deiner Meinung ein Verhältnis wie zwischen guten, nein, den besten Freunden, die keinerlei Geheimnis voreinander haben wollen.“

„Ich verberge dir gar nichts, Papa, worauf du als mein Kamerad Anspruch machen könntest,“ sagte sie jetzt einfach, als er nicht gleich fortfuhr.

„Aus dieser Antwort ersehe ich, daß du gerade das wichtigste im Menschenleben, die Liebe, aus dieser gegenseitigen Offenheit ausscheiden willst. – Tu’s nicht, Käti, tu’s nicht! Soll mich alten Mann denn wirklich das trostlose Empfinden packen, daß ich einsam bin, daß mein Ein und Alles sich gegen den Vater mit ihren Herzensnöten ängstlich verschließt?!“

Durch die Stimme des sonst so strengen, oft für gefühlsarm gehaltenen Geheimrats zitterte so ergreifend das Verlangen, es möchte sich nichts Fremdes zwischen ihn und sein einziges Kind drängen. Und wie eine Erlösung war’s ihm, als sich jetzt plötzlich zwei weiche Arme um seinen Hals schlangen und große, schwere Tropfen auf seine Hand fielen … Da zog er sie sacht auf seinen Schoß, bettete ihr Haupt an seiner Brust und drückte sie fest, schützend an sich. – So weinte jetzt Käti Hohenlinden sich aus. Und die ganze Seelenqual der jüngsten Tage offenbarte sich in diesen Tränen, in diesem krampfhaften Beben ihres Körpers.

Und ihr Vater schwieg und wartete. Langsam wurde sie ruhiger, trocknete endlich die feuchten Augen. Da erst begann er wieder:

„Ich weiß seit langem, wie es um dich steht, seit langem. Vateraugen sehen scharf, besonders wenn man, wie ich seit Jahren bei dir, Mutterstelle an einem geliebten Wesen vertreten hat. Ich mag das nicht alles herzählen, Kind, woran ich merkte, daß meine stolze Tochter ihr Herz an einen Schmierenschauspieler verloren hatte.“

Wie von einem Peitschenhiebe getroffen zuckte das junge Mädchen zusammen. „Vater, hab’ doch Erbarmen!“ stöhnte die Ärmste auf, und wieder perlten ihr heiße Tränen über das schamerglühte Gesicht.

„Verarge mir meine Offenheit nicht, mein Kind,“ meinte er weich und drückte sie zärtlich an sich. „Aber ich muß die Situation ohne Beschönigung in den richtigen grellen Farbenkontrasten zeichnen, damit du dich wiederfindest. Bedenke: du, die Tochter einer Prinzessin aus dem alten Hause Wallerstein, einer Frau, die ich mir erst nach vielen widerwärtigen Kämpfen durch einen Gewaltstreich erringen konnte, trotzdem ich selbst von altem Adel war und vor einer aussichtsvollen Karriere stand – du verliebst dich in das Äußere und den schmeichelnden Tenor eines Menschen, der nicht einmal ein anerkannter Künstler genannt werden kann. – Unterbrich mich nicht, Käti! Gewiß, dieser Herr Bodo Pelter hat auch auf mich in seinem ganzen Betragen einen guten Eindruck gemacht. Aber das, wofür er sich ausgibt, ist er nicht. Ich habe in Köln vertraulich bei einer Auskunftei angefragt. Es existiert dort kein „berühmter Heldentenor“ dieses Namens, wie hier täglich auf dem Theaterzettel zu lesen ist. Im Gegenteil, Bodo Pelter ist in der alten Bischofsstadt am Rhein eine gänzlich – gänzlich unbekannte Große. Auch sonst weiß man in Fachkreisen nichts von ihm. Wir haben es demnach trotz dem geheimnisvollen Nimbus, mit dem er sich zu umgeben versteht, mit einem Sänger niedrigster Sorte zu tun, der sich nicht einmal scheut, für seine Person frech ganz erlogene Reklame zu machen. Und daran ändern weder seine tadellose Kleidung noch seine gewinnenden Manieren etwas. Wahrscheinlich ist’s ein verbummelter Student – so von der Sorte meines Korpsbruders von Gutzeit, den du ja im vorigen Jahre in Berlin als Kabarettmitglied bewundern konntest, und der schleunigst die Gelegenheit benutzte, mich ordentlich anzuborgen.“

Der Geheimrat schwieg eine Weile, als ob er seine Worte erst so recht auf seiner Tochter verirrten Seele einwirken lassen wollte. Dann fuhr er fort, indem er begütigend ihre Hände streichelte: „Demnach, Käti, muß dieser Sache ein schnelles Ende bereitet werden. Du weißt doch, seit dem Tode deiner Mutter, die den völligen Bruch mit ihrer Familie, den ich durch ihre Entführung heraufbeschwor – leichtsinnig heraufbeschwor, nie überwunden hat und langsam trotz all meiner Liebe dahinsiechte, ist mir der Aufenthalt hier in dieser Stadt, in diesem Hause, wo mich alles an die Tote gemahnt, zur Qual geworden. Und nur das Pflichtbewußtsein ließ mich bisher von der Einreichung meines Abschiedsgesuches Abstand nehmen. Jetzt, mein Kind, bin ich nun wirklich um meine Pensionierung eingekommen, und mein Urlaub, den ich übermorgen antrete, wird nichts anderes als die Übergangszeit für mein völliges Scheiden aus dem Staatsdienste sein. Wir werden hierher nicht mehr zurückkehren. Die wenigen Abschiedsbesuche können wir bis zu unsere Abreise noch bequem erledigen. Und heute habend, auf der Gesellschaft bei Rautenheims, ist mir die beste Gelegenheit gegeben, den Gutsbesitzern des Kreises in einer kurzen Rede Lebewohl zu sagen. Ich hoffe, daß das Badeleben in Helgoland dir dann deine volle Ruhe wiedergeben wird.“

Käti Hohenlinden machte sich jetzt sanft aus den Armen des Vaters frei, stand auf und lehnte sich an die kalte Steinbrüstung der Terrasse, schaute lange in die leise rauschenden Bäume des Parkes hinaus. Und das Wispern der Blätter, dieses unaufhörliche Raunen des grünen, beweglichen Meeres lenkte ihre Gedanken zu stiller, entsagender Klarheit hinüber. – Als sie sich wieder umwandte und an den Kaffeetisch zurückkam, lag um ihren Mund ein hochmütiger, fast ironischer Zug, der die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Geheimrat so recht hervortreten ließ.

„Vielleicht habe ich zuviel von dem heißblütigen Temperament der Mama geerbt,“ sagte sie dann ernst und schaute ihren Vater dabei ohne Scheu an. „Sonst hätte ich mich wohl nie soweit verloren, sonst wäre mein Herz, das noch nie gesprochen hat, auch diesem mich geradezu faszinierenden Sänger gegenüber still geblieben und der kühlen Vernunft gehorsam gewesen.“

Herr von Hohenlinden hatte bei dieser zweifellos beabsichtigten Anspielung auf die von seiner verstorbenen Gemahlin in Herzensangelegenheiten bewiesene Selbständigkeit wie erschreckt den Kopf etwas gehoben. Und seine Finger, die gewohnheitsmäßig spielend durch den grauen Vollbart glitten, schlossen sich plötzlich zur Faust. – Wie? Wollte seine Tochter es etwa wagen, sich gegen seinen Willen aufzulehnen? – Zuzutrauen war es ihr schon. Er kannte sie als einen Charakter, der von dem einmal zu einem erstrebten Ziele eingeschlagenen Wege auch nicht einen Fußbreit abwich. Dabei war sie noch volljährig, besaß von der Mutter ein großes Vermögen und – das Schlimmste – auch das leidenschaftliche, leicht entflammte Naturell.

Doch des Landrats Befürchtungen erwiesen sich als unnötig. Käti schien die ängstliche Spannung, die sich in der ganzen Haltung ihres Vaters ausdrückte, richtig zu deuten, und fuhr daher schnell fort:

„Die schweren Jahre, die ich, kaum den Kinderjahren entwachsenes Mädchen, infolge der tiefsinnigen Gemütsveranlagung der Mama durchmachen mußte, Jahre, in denen jedes kindliche Spiel, jedes Lachen verboten war, haben mich vor der Zeit innerlich ausgereift. Und daher, Pa, bin ich auch in dieser Liebe nicht wie ein schwärmendes Backfischchen blindlings hineingetaumelt, o nein! Ich habe mir immer etwas auf meine Menschenkenntnis eingebildet. Bodo Pelter gehörte meines Erachtens mit seinem ganzen Auftreten, seinem Äußeren und seiner Lebensführung in die Hallerfortsche Truppe ebensowenig hinein, wie – sagen wir, wie ich in das Lesekränzchen der Damen des hiesigen Landgerichts. Gewiß – ich habe mit ihm nie ein Wort gewechselt, habe ihn nur von fern beobachten können. Trotzdem war ich mir meiner Sache ziemlich sicher. Ich werde dir ofenbaren, Pa, wofür ich Bodo Pelter gehalten habe: Tatsächlich für einen Sänger, der in Köln einen Namen und nur aus einer unberechenbaren Laune sich hierher für den Sommer verirrt hat – für einen Menschen aus guter Familie, dem noch eine Zukunft mit dieser berückenden Stimme bevorsteht. Das nahm ich bis jetzt an. Und nur deshalb hat es zu dieser – Herzensverirrung kommen können, nur deshalb! Denn – weshalb hätte ich an diesen Bodo Pelter als Bewerber um meine Hand nicht denken sollen? Sind nicht unzählige Ehen schon geschlossen worden, in denen der eine Teil nicht ebenbürtig war? Und hatte ich nicht allen Grund, mich über die stets vor anderen so feinfühlig verborgenen Beachtung zu freuen, die er, der Vielgehuldigte, gerade mir schenkte – mir, der der Spiegel täglich sagt, daß mein Gesicht nichts Besonderes an Schönheit aufzuweisen hat? – Das ist meine Verteidigung. Und jetzt, wo du mir die Augen über den wahren Wert dieser mir trotz alledem immer noch etwas rätselhaften Persönlichkeit geöffnet hast, wo Pelter für mich zum gewöhnlichen Schmierenschauspieler herabgesunken ist, der seinen Namen einen falschen Glorienschein zu geben sich nicht scheut, – jetzt kann ich dir nur danken, Pa, daß du so treu für mein Seelenheil gesorgt hast. Bodo Pelter ist für mich abgetan. Auch darin kennst du deine Tochter: Wenn ich mir etwas vornehme, so halte ich auch durch. Und ich werde vergessen, trotzdem ich fühle, daß ich für einen anderen Mann nie wieder wärmer empfinden kann. Dieser Bodo Pelter ist für mich das Schicksal, wie die arme Mama es für dich war.“ –

Dann griff ihre Hand nach der elektrischen Birne, die von der Hängelampe herabhing. Und dem eintreten Mädchen befahl sie gleichmütig wie immer, den Kaffeetisch abzuräumen.

* * *

Am Nachmittag desselben Tages holte ein leichter Jagdwagen vier Mitglieder des Hallerfortschen Ensembles nach dem zwei Meilen entfernten Schlosse Rautenheim ab, wo sie durch einige musikalische und humoristische Vorträge die zu der großen Abendgesellschaft geladenen Gäste unterhalten sollten. Diese Überraschung war des steinreichen Herrn von Rautenheim ureigenste Idee und bisher aufs strengste geheim gehalten worden. Der überall beliebte Schloßherr hoffte auf diese Weise die althergebrachte Schablone der hier in der Gegend üblichen Diners und Soupers einmal durch die Darbietung etwas großstädtischer, rein geistiger Genüsse angenehm zu unterbrechen. Und für den stets auf dessen Vorteil bedachten Hallerfort hatte diese zeitweilige Entführung seiner besten Kräfte einen netten Gewinn abgeworfen, den er aber großmütig mit den vier Auserwählten teilte.

Die Fahrt nachdem Herrensitze Rautenheim ging auf dem hohen, parallel zu dem breiten Strome hinlaufenden Deiche entlang und versetzte drei der Auserkorenen durch die Schönheit der stets wechselnden Landschaftsbilder in eine gehobene Stimmung, die ihre späteren Aufgabe nur zugute kommen konnte. Nur Bodo Pelter lehnte in sich gekehrt in seiner Wagenecke, hing seinen Gedanken nach und hörte kaum, was die anderen um ihn her sprachen. Mit ihm war in der letzten Zeit überhaupt eine auffallende Veränderung vor sich gegangen. Er, der sonst seine vornehme Ruhe nie verlor, zeigte sich leicht reizbar, brauste häufig ohne genügenden Grund auf, war bald ausgelassen lustig, bald wieder weltschmerzlich angehaucht – kurz, der Bodo Pelter, der vor ungefähr zwei Monaten seinen Einzug in die Provinzstadt gehalten hatte, war er nicht mehr. Und soeben überlegte er, jetzt zum soundsovielsten Male, wie er dem drohenden Verhängnis entfliehen und seinen Engagementsvertrag hier baldmöglichst lösen konnte. Denn so ging das nicht mehr weiter mit ihm! Eine seltene Unrast hatte ihn gepackt, der Schlaf floh ihn und eine von Tag zu Tag sich steigernde Nervosität peinigte ihn bis zur Unerträglichkeit. Im Wachen und in seinen wirren Träumen schwebte ihn immer dasselbe ernste Mädchengesicht vor Augen, weckte seine Sehnsucht nach einem großen, unendlichen Glück stets von neuem. Ihm, dem die Kunst bisher alles gewesen, der achtlos an den Frauen vorübergegangen war, mußte gerade hier unter diesen – diesen Umständen ein Weib begegnen, das seine schlummernden Leidenschaften in Aufruhr brachte und seine ganze Natur mit einem Schlag verwandelte – gerade hier – hier! Und das war sein Verhängnis! Es hieß: Käti von Hohenlinden.

* * *

Langsam füllte sich der große, mit den Ahnenbildern derer von Rautenheim geschmückte Saal. Die beiden altehrwürdigen, lichterbesteckten Kristallkronleuchter verbreiteten eine weiche, vornehme Helle, und ihr Kerzenschein schillerte in den Geschmeiden der Damen, den Ordenssternen der Herren und den goldgestickten Waffenröcken der Offiziere wieder, gab all den erwartungsvollen Gesichtern jene feinabgetönte warme Farbe, wie keine moderne Gas- oder elektrische Beleuchtung hervorzaubern kann. Zwanglos nahm die den ersten Kreisen von Stadt und Land angehörige Gesellschaft jetzt auf den in weiten Reihen angeordneten Stühlen Platz.

Käti von Hohenlinden, die neben der Dame des Hauses in einer der ersten Stuhlreihen saß, durchzuckte es wie ein freudiger Schreck, als sie auf dem Programm den Namen Bodo Pelter gleich zu oberst entdeckte. Wie ein Wink des Schicksals kam ihr jetzt dieses letzte Wiedersehen vor, das sie nie – nie zu erhoffen gewagt hatte. Ja, wie ein Wink des Schicksals! Vielleicht war ihr hier endlich einmal Gelegenheit gegeben, persönlich einige Worte mit dem Sänger zu wechseln, sich die Gewißheit zu verschaffen, die sie nach den martervollen Stunden dieses Tages haben mußte um jeden Preis.

Denn so sehr Käti auch am Morgen dem Vater gegenüber diese Herzensangelegenheit als erledigt hingestellt hatte, so sehr sie selbst in jener Sekunde, als sie dieses „Bodo Pelter ist für mich abgetan“ aussprach, von der Wahrheit dieser Worte überzeugt war – nachher in der Stille ihres traulichen Damensalons stürmten immer mehr Gedanken auf sie ein, die ihre Vorsätze erschütterten und endlich zu Fall brachten.

Und diese Gedanken beschäftigten sich, in einem unermüdlichen Kreise stets zu ihren Ausgangspunkt zurückkehrend, mit der Frage, welcher Art nur das Geheimnis sein konnte, in das Bodo Pelters Person gehüllt sein mußte – mußte! Denn das junge Mädchen hatte sich durch seinen Verkehr in der Reichshauptstadt, in der der Geheimrat während des Winters regelmäßig einige Wochen zubrachte, durch die reich entwickelte Geselligkeit hier in der Provinzstadt und besonders durch weite Reisen im Auslande eine fast untrügliche Fähigkeit, Menschen schon nach ihrem äußeren Sichgeben zu beurteilen, erworben und an vielen lehrreichen Objekten, hauptsächlich unter der Herrenwelt, weiter fortgebildet. Und dieses Talent sollte sie gerade jetzt bei diesem einem Manne so vollständig im Stich gelassen haben? fragte sich Käti, in ihrem Salon unruhig auf- und abwandernd, immer wieder. – Und nochmals hatte sie sich all das vor Augen geführt, was sie zu dem Schluß gebracht hatte, Bodo Pelter müsse in der Kunst eine besondere, höhere Stelle einnehmen, als sein Auftreten hier auf der Sommerbühne es vermuten ließ. Da gaben doch seine elegante Kleidung, seine Manieren, die vornehme Ruhe seiner Bewegungen, auch dem Unbeteiligten, genug zu denken, wie Käti dies daraus ersehen hatte, daß viele ihrer Bekannten eine ähnliche Meinung von der wirklichen Stellung des Sängers vertraten, wie sie selbst es tat. Nein – nein, da gab es sicherlich noch ungelöste Rätsel, flüsterte eine hoffnungsfreudige Stimme in ihr, da steckt in der Schale, diesem scheinbaren Berufe eines Schmierenschauspielers, ein edlerer Kern.

Und dieses Sinnen und Grübeln hatte das junge Mädchen nicht mehr losgelassen. Daraus hervor wuchs aber bei Käti von Hohenlinden immer fester die eine Überzeugung: daß sie Bodo Pelter namenlos, unsäglich liebe, und daß das Leben ihr ohne ihn nichts – nichts mehr zu bieten habe.

Diese Klarheit über ihren Herzenszustand, die sich ihr plötzlich mit erschütternder Gewalt aufgedrängt hatte, rief zugleich auch wieder jene zielsichere Energie bei ihr wach, die selbst davor nicht zurückschreckte, gegen alle Gesetze der Wohlerzogenheit, gegen ihre eigene scheue Zurückhaltung und unter Opferung ihres durch die Erziehung ihr eingeimpften Stolzes sich über die Person des Geliebten bei diesem selbst Aufschluß zu verschaffen. Sie würde an ihn schreiben, ohne ihren Namen zu nennen, würde ihm offen und ohne Rückhalt im Vertrauen auf ein nachsichtiges Verstehen mitteilen, daß er einer gequälten Menschenseele den Frieden wiedergeben könne, wenn er ihr die Wahrheit über sich selbst schenken wolle. Und aus seiner Antwort, die sie postlagernd nach Hamburg, wohin sie ja auf dem Wege nach Helgoland kommen mußten, erbitten würde unter irgendeiner Chiffre, konnte sie dann ersehen, ob sie sich wirklich in ihm getäuscht hatte, würde sie auch erkennen, wie sein Charakter mit seiner äußeren, so sehr sympathischen Erscheinung sich deckte. – Das weitere? – Ja, darüber machte sie sich vorläufig noch keinerlei Kopfzerbrechen. Sie würde es bei einem günstigen Ausfall ihrer Anfrage schon irgendwie einzuleiten wissen, um ihn persönlich kennen zu lernen.

Zu diesem Entschluß, dessen Ausführung sie jedoch wegen der Vorbereitungen für die Rautenheimsche Gesellschaft hinausschieben mußte, hatte Käti von Hohenlinden sich nach langem innerem Kampfe durchgerungen. – Und jetzt führte ihr ein günstiges Geschick den Geliebten nochmals in den Weg. Wie geistesabwesend starrte sie noch immer auf das Programm, auf den Namen hin.

Sie überlegte. – Nein, diese Gelegenheit durfte sie nicht unbenutzt vorübergehen lassen, diesem Wink des Schicksals mußte sie gehorchen. Und schon hatte sie einen Plan entworfen, wie sie Bodo Pelter allein sprechen konnte. Was kam es ihr in ihrer Herzensverfassung darauf an, daß er ihr Verhalten vielleicht für unweiblich, für aufdringlich erachten könnte? War er wirklich ein Angehöriger der besten Gesellschaft, besaß er ebenso einen zu gerechter Beurteilung der ganzen Sachlage fähigen Charakter, so mußte er bei diesem großen Interesse für ihre Person, das sie aus so vielen kleinen Anzeichen herausgemerkt hatte, auch für ihr etwas ungewöhnliches Benehmen genug Entschuldigungsgründe finden. Und – hatte sie es tatsächlich wider ihr Erwarten mit einem Manne zu tun, der für ihre Zukunft nicht in Betracht kommen konnte, so würde sie den Ausgang dieser Unterredung schon derart einzurichten wissen, daß sie unbeschadet daraus hervorging. Außerdem – übermorgen verließ sie ja die Stadt bereits für immer. Und wer weiß, ob Bodo Pelter dann ihren Weg je wieder kreuzen würde. –

Der helle Ton einer Glocke führte ihr Denken wieder in die Wirklichkeit zurück. Herr von Rautenheim betrat die kleine provisorisch aufgebaute Bühne, deren Kulissen durch dichte Gruppen hoher, seltener Pflanzen aus dem Wintergarten ersetzt wurden, und stellte vor dem noch geschlossenen Vorhang die vier Künstler seinen Gästen vor. Dann intonierte Kurt Imada auf dem Flügel als Einleitung die Ouvertüre zu Richard Wagners „Rienzi“. Und dann – wieder ein Glockenzeichen –, der Vorhang rauschte zur Seite und sicher und mit einem ruhigen Blick über seine Zuhörer hin stieg Bodo Pelter von dem hinter dem Saal gelegenen Wintergarten aus die Stufen zum Podium empor.

Jetzt, in dem wie angegossen sitzenden, eleganten Frackanzug kam seine schlanke, vornehme Erscheinung erst so recht zur Geltung. Und Käti Hohenlindens Herz begann plötzlich zu hämmern, ihre Augen ließen nicht ab von ihm, durchforschten das geliebte Gesicht mit der ängstlichen Sorgfalt eines Menschen, der aus den Zügen eines anderen sein Schicksal herauslesen will.

Dann begann er zu singen. Es war ein einfaches Schumannsches Lied, das er vielleicht absichtlich gewählt hatte, um seine einschmeichelnde, gefühlvolle Vortragskunst und seine weiche, modulationsfähige Stimme noch deutlicher hervortreten zu lassen. Totenstille herrschte in dem weiten Saal. Und fast alle durchzuckte bei diesen Tönen derselbe Gedanke: Der da war ein Künstler, war es, und wenn er sich auch dazu hergegeben hatte, in dem Hallerfortschen Ensemble mitzuwirken. – Und auch Bodo Pelter fühlte, daß er nie so gut disponiert gewesen war, noch nie so sehr seine ganze Sehnsucht nach Glück in die schlichten Worte dieses Liedes hineingelegt hatte.

Käti Hohenlinden waren die Augen längst feucht von den nur mit aller Mühe zurückgehaltenen Tränen geworden. Sie empfand es ja so deutlich: er sang nur für sie – nur … Das sagten ihr seine Blicke, die immer wieder verstohlen zu ihr hinglitten, sie umschmeichelten, umwarben. – Völlig weltentrückt lauschte sie. Und ihre einzigen Gedanken, zu denen sie fähig war, bestärkten nur ihren Entschluß: Sie mußte ihn sprechen, mußte –, so durften sie nicht auseinandergehen – so nicht, wo noch alles ungeklärt zwischen ihnen lag. –

Als Bodo Pelter, nachdem er noch mit zwei weiteren Vorträgen stets dieselben Beifallsstürme entfesselt hatte, in den Wintergarten zurückkehrte, wo Herr von Rautenheim für die Künstler ein gemütliches Plätzchen hatte herrichten lassen, erwartete ihn ein in eine dunkelgrüne Livree gekleideter, alter, grauhaariger Kutscher, den er von Ansehen nur zu gut kannte, da er ihn häufig das elegante Gefährt des Geheimrats von Hohenlinden hatte lenken sehen. Der Alte winkte ihn beiseite und reichte ihm ein vielfach zusammengelegtes Billett, das mit Lichttalg sorgfältig versiegelt war.

„Das gnädige Fräulein schickt’s durch mich, weil ich reinen Mund zu halten weiß,“ sagte er flüsternd. „Sie möchten’s nur gleich lesen.“ – Darauf verschwand er wieder.

Und klopfenden Herzens schritt Bodo Pelter tief in den dämmernden Wintergarten hinein. Der helle Kies der schmalen Wege knirschte leise unter seinen Füßen. Und die schwüle, feuchtwarme, von Blütendüften aller Art gesättigte Luft legte sich ihm wie eine Last jetzt plötzlich auf die Brust. – Oder war’s die Erregung, die ihm mit einemmal so sehr den Atem benahm, war’s die freudige Erwartung, die kaum auszudenkende Hoffnung, die ihm diese von Käti von Hohenlinden stammende Botschaft eingegeben hatte? – Unter einem der in dem Grün verstreut aufgehängten bunten Lämpchen blieb er stehen, riß das Billett mit den brennenden Fingern auseinander, las – las mehrmals, ehe er begriff: „Ich muß Sie sprechen. Erwarten Sie mich am Ausgang nach dem Park zu sofort.“ –

Und dann stand sie ihm gegenüber in dem Zauberlicht des schweigenden Wintergartens. Nur der Springbrunnen in der Nähe plätscherte leise, und von fernher drangen aus dem Saal einzelne Töne eines Walzerliedes herüber, das der Bariton soeben vortrug. Sie hatte die Schleppe ihres weißen Kleides über den Arm genommen, in ihrem Gesicht flammte eine helle Glut, und ihre Stimme zitterte leicht, als sie jetzt stockend begann:

„Mein Herr, ich habe seit längerer Zeit für ihr Talent mich interessiert. Wollen Sie mir eine Frage beantworten: Wie kommt es, daß Sie mit Ihren reichen Stimmitteln, mit Ihrer Begabung in unserer Provinzstadt hier auftreten, – wie können sie es zulassen, daß Sie auf dem Theaterzettel als „der berühmte Heldentenor“ aus Köln hingestellt werden, wo Sie doch dort niemand kennt?“

„Mein gnädiges Fräulein,“ entgegnete er ohne langes Besinnen und schaute ihr dabei mit stiller Zärtlichkeit in die Augen, „Direktor Hallerfort hat jenen Zusatz zu meinem Namen ohne mein Wissen veröffentlicht. Und als es dann erst einmal geschehen war, konnte ich kaum einen Widerruf verlangen, wenn ich seine Kasse nicht empfindlich schädigen wollte. Nur meine Gutmütigkeit ließ mich über diese mir selbst mehr wie peinliche Unwahrheit hinwegsehen, eine Unwahrheit, die allerdings auch ein Körnchen Tatsächliches enthält. Denn ich stamme aus Köln, und – ob mein Tenor auf das schmückende Beiwort „berühmt“ Anspruch machen darf, müssen Sie selbst, gnädiges Fräulein, am besten beurteilen können.“

Und dann sprach er weiter, sprach sich endlich die Seele frei, beichtete ihr alles – alles. Und ihr klangen seine Worte schöner wie Engelsmusik –, eben wie die Erfüllung ihrer heimlichen, heißen Wünsche. Jetzt wußte sie: Das Glück war für sie doch nicht mit ehernen Banden in weiten Fernen angeschmiedet. Ihre Menschenkenntnis hatte sie nicht getäuscht.

Als Käti dann in den Saal sich heimlich zurückschlich und ihren Platz neben Frau von Rautenheim wieder einnahm, erwiderte sie auf die besorgte Frage der Hausfrau, ob sich ihr Befinden schon gebessert habe, mit einem seligen, verträumten Lächeln:

„Ja, jetzt geht es mir wieder gut, – sogar so gut, wie es mir noch nie gegangen ist.“ –

* * *

Am nächsten Nachmittag schreibt Bodo Pelter, nachdem er von seinem Besuch in der Villa des Geheimrats in glücklichster Stimmung zurückgekehrt ist, an die Frau Geheime Justizrätin Marianne Pelter in Köln folgenden Brief:

„Mein liebes, altes, treues Muttchen!

Getreu dem Übereinkommen, das wir beide vor meiner Abreise geschlossen haben, teile ich Dir erst jetzt, nach erfolgter Entscheidung, näheres über den Ausfall dieses „leichtsinnigen“ Unterfangens, wie Du es stets nanntest, mit. Eines kann ich Dir gleich, um Dich auf das Folgende vorzubereiten, sagen, zu Deiner Beruhigung sagen, Du wirst aus allen Wolken fallen, fraglos! Denn diesem Abschluß meiner Reise in den fernen Osten hätte ich nie vorausgeahnt, nie! – Als ich Dir im Frühjahr, durch einen unwiderstehlichen Hang zur Bühne mich hingezogen fühlend, schonend beibrachte, daß ich, um meine künstlerischen Fähigkeiten vor einem völligen Aufgeben meines Berufes erst einmal praktisch zu erproben, einen längeren Urlaub zu einem Engagement auf einer Provinzbühne, wo mich niemand kennt, benutzen wollte, da hast Du mich täglich unter Tränen gebeten, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen. Du hast an meine Kindesliebe appelliert, hast mir vorgehalten, daß ich als Dein einziges Kind mich Deinen Wünschen fügen müsse, hast mich daran erinnert, daß ich einer Familie entstamme, die dem Staate bisher eine Anzahl höchster Beamten und namhafter Juristen geliefert hat, hast mir Deine Abneigung gegen alles, was Schauspieler und Sänger heißt, so unumwunden eingestanden, und doch, ich blieb hart, weil mich der durch meine gelegentlichen Erfolge bei allerhand Wohltätigkeitsfesten geweckte Ehrgeiz, einmal ein großer Künstler zu werden, taub gegen alle Vorstellungen machte. So schieden wir beinahe in Unfrieden. Zwei Monate sind seitdem verflossen. Nur wenige kurze Briefe hast Du inzwischen von mir erhalten, ich von Dir lange liebevolle Schreiben, in denen Du mich immer wieder warntest, meine Laufbahn zu wechseln.

Zunächst nun zu dem Resultat meines hiesigen Aufenthalts in künstlerischer Beziehung. Und da muß ich Dir ehrlich eingestehen: „Wäre nicht das andere dazwischen gekommen, nichts hätte mich daran hindern können, mich ganz der Bühne zu widmen. Denn ich habe hier wohlverdiente Triumphe gefeiert, habe gemerkt, daß ich weit über den Durchschnitt begabt bin. Das ist wirklich keine Selbstüberhebung, liebes Muttchen, wirklich nicht! Mündlich werde ich diesen scheinbaren Eigendünkel vor Dir aufs beste verteidigen können, schriftlich dauert es mir zu lange. Ich brenne ja darauf, Dir das „andere“ mitzuteilen, was bewirkt hat, daß Bodo Pelter für die Kunst verloren geht.

Muttchen, ich, Dein großer Junge, der bisher ein so begeisterter Ehefeind war, ich habe mich heute verlobt, verlobt mit der einzigen Tochter des Landrats von Hohenlinden. Wie das alles gekommen ist, Muttchen, das ist ein ganzer, langer Roman, den ich Dir in Helgoland erzählen will, wohin Du sofort abreisen mußt und wohin ich nach einer Woche gleichfalls eintreffe. Dort in Helgoland wirst Du dann Deine Schwiegertochter kennen lernen, die mit ihrem Vater morgen dies herrliche Provinznest für immer verläßt. Nur das eine will ich noch kurz zu Deiner Aufklärung beifügen: Kein Mensch hat hier geahnt, wer ich in Wirklichkeit bin. Ich habe mein Inkognito bis gestern tadellos gewahrt. Gestern aber – da habe ich meinem süßen Lieb ehrlich eingestanden, daß hinter dem Heldentenor des Hallerfortschen Ensembles in Wirklichkeit der Gerichtsassessor Dr. jur. Bodo Pelter steckt, und da ist meine Käti mir einfach mit einem Jubelruf um den Hals geflogen.

Der Geheimrat von Hohenlinden hat dann heute – vor einer halben Stunde, uns seinen Segen gegeben, nachdem ich auch ihm die Wahrheit über meine Person gebeichtet hatte. Wir haben nun beschlossen, daß ich zunächst noch einige Tage hier bleiben und dann erst nach Helgoland nachkommen soll. So wird niemand von den braven Leuten der Provinzstadt mein Verschwinden mit der Abreise meines Schwiegervaters in Zusammenhang bringen können. Und wenn unsere Verlobung dann veröffentlicht wird, mögen die Bekannten von Hohenlindens sich nur ruhig darüber die Köpfe zerbrechen, wie man sich diese beiden gleichen Namen, den des Heldentenors und des Assessors und glücklichen Bräutigams erklären soll. Uns Beteiligten ist es sehr gleichgültig, auch wenn der wahre Sachverhalt trotz unserer Vorsichtsmaßregeln ans Tageslicht kommen sollte.

Meinen bisherigen Brotherrn aber, den Direktor Hallerfort, werde ich natürlich für die vorzeitige Auflösung des Engagementsvertrages, die ich durch irgendeine leichte Erkrankung begründen will, entsprechend entschädigen. Und dann reise ich von hier ab, zur Trauer aller Damen, zur Trauer unseres Kapellmeisters Imada, der sicher meine guten Zigarren sehr vermissen wird. Und in Helgoland taucht auf Dein Dich liebender, Dir wiedergegebener Sohn Bodo, Heldentenor a. D., jetzt überaus glücklicher Bräutigam.“

 

Anmerkung: 

Entspricht der Zeitungs-Novelle: Der Heldentenor