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Der hüpfende Teufel

 

 

Der hüpfende Teufel

 

Kriminal-Roman

von

Walther Kabel

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Dresdener Straße 88–89

 

Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright 1919 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

Druck der Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der Klub der Fünfzig.

Eginhard von Blendel war gerade an der Ecke Friedrichstraße und Linden durch einen verzweifelten Sprung einem plötzlichen hinter einem Möbelwagen auftauchenden Auto glücklich entronnen, als er in dem mit etwas fragwürdiger Vornehmheit gekleideten Herrn, den er bei diesem Rettungsversuch angerempelt hatte, seinen Schulfreund Werner Lossen wiedererkannte.

„Verzeihung“, hatte der Hüne Blendel zu dem fast einen Kopf Kleineren gesagt, um dann sofort hinzuzufügen, indem er dem seit Jahren ihm aus den Augen Gekommenen beide Hände in ehrlicher Freude entgegengestreckte … „Wahrhaftig – Lossen – Du?! – Na, das nenn’ ich mal ne frohe Überraschung.“

Es war um die achte Abendstunde, und an diesem warmen Oktobertage zeigte die berühmte Kranzlerecke ein echtes Bild Berliner Großstadtlebens. Ein förmlicher Menschenwall wartete auf die Gelegenheit, ungefährdet die sich kreuzenden beiden Hauptverkehrsstraßen überschreiten zu können. Über all diese Köpfe hinweg trompetete Eginhard von Blendel seine Begrüßungsworte und zwar mit dem doppelten Erfolge, daß Werner Lossen den Freund scheu und verlegen anblickte, und einige Witzbolde in der Menge mehr oder weniger geistreiche und ebenso laute Bemerkungen über diese Wiedersehensszene machten.

Blendel hatte kaum den gequälten Gesichtsausdruck seines alten Schulkameraden erkannt, als er auch schon seinen Arm in den Lossens schob und den Freund nach der Mittelpromenade der Linden hinüberzog, wo es bedeutend ruhiger war, wenn auch hier ganze Scharen von Spaziergängern auf und abwogten.

„Hör’ mal, alter Patroklus“, sagte er dann halb scherzend, indem er mit dem sich leicht Sträubenden die Richtung nach dem Brandenburger Tor hin einschlug, „gerade entzückt scheinst Du nicht zu sein, daß der Zufall uns endlich nach – nach sechs Jahren, so viel wird es sein, wieder zusammengeführt hat. Was treibst Du eigentlich, wo hast Du Dein Domizil aufgeschlagen und wie geht es Dir überhaupt?“

Werner Lossens bleiches Gesicht hatte sich etwas gerötet. Ihm war es peinlich, daß die Vorübergehenden Blendel und ihn so prüfend musterten. Blendel hatte noch immer nicht gelernt, seine Stimme zu dämpfen. Und dieser Riesenkörper verfügte über ein Organ, um das ihn jeder Jahrmarktbudenbesitzer beneidet hätte. Es mußte beinahe so aussehen, als würde hier ein Verhafteter abgeführt …

„Sprich bitte leiser“, meinte Lossen daher leicht gereizt. „Die Menschen werden ja ringsum aufmerksam. – Im übrigen: für einen Gardeoffizier bin ich kaum der richtige Begleiter. Mein Anzug sticht gegen Dein elegantes Zivil zu sehr ab, und meine Stellung als Dekorationsmaler der Berliner Film-Gesellschaft Sphinx dürfte zu dem altadligen Baron Blendel von Blendelburg ebenfalls kaum passen.“

„Blech!“ sagte der lange Oberleutnant beinahe grob, drückte dabei aber den Arm des Freundes desto fester an sich. „Blech und Blödsinn, alter Patroklus! Und wenn Du zerlumpt mir begegnet wärest: für mich bleibst Du Werner Lossen, den alle auf unserer Penne in Kulm nur mit dem Namen des berühmten Freundes des griechischen Helden Achilles benannten – und das mit Recht! Es laufen nicht viele so anständige Kerle in der Welt herum wie Du es bist!“

„Wir haben uns sechs Jahre nicht gesehen. Da kann ich ein Lump geworden sein“, preßte Lossen bitter hervor.

Der Baron lachte schallend.

„Lump ist gut! Du und Lump …!! Dann würde eher der Mond mal am Tage scheinen, als daß … Na, kurz: die sechs Jahre haben nichts geändert, mein Alter, und deshalb tu’ mir den Gefallen und begleite mich in den Klub, wo wir in Behaglichkeit einen vernünftigen Ton miteinander reden können. – Ne, mein Lieber, keinen Widerspruch! Du kommst mit – basta! – – Auto – halt! – Steig’ ein – los, zum Donner …!! – Wie, Dein Anzug?! – Mach’ keine Faxen. Hast Du mal was von dem Klub der Fünfzig gehört …?! Dort bist du vollständig kouleurfähig!“

Die Freunde glitten in dem neuen Auto über die glatten Asphaltstraßen durch den Tiergarten dem Osten Berlins zu.

Und Lossen erzählte leise, – von seinen Enttäuschungen, von dem Ringen ums tägliche Brot, dem Tode seiner Eltern, die nie damit einverstanden gewesen waren, daß ihr einziges Kind Kunstmaler wurde.

Blendel schwieg und ließ den anderen sich das Herz einmal freireden.

Dann hielt der Kraftwagen in einer engen Seitenstraße in der Nähe des Stadtbahnhofs Tiergarten vor einem zweistöckigen Hause, das alles andere als vornehm aussah, – mehr wie ein wegen Baufälligkeit leerstehender altehrwürdiger Steinkasten.

„Ist das das Klubgebäude?“ fragte Lossen erstaunt. Er hatte von einem Klub der Fünfzig noch nie etwas gehört.

Wieder lachte der Baron laut heraus, sagte aber nichts, bezahlte den Chauffeur und schritt auf die verwitterte Haustür zu, die er dann mit einem Schlüssel öffnete, den er an silberner Kette in der Beinkleidertasche trug.

In dem kahlen Flur brannte eine Gaslampe mit halb zerbrochenem Stumpf. Links lief ein Gang nach dem Hofe zu, rechts führte eine verwahrloste Treppe in die oberen Stockwerke.

In den Gang mündeten ein paar Türen. Gelächter, Gläserklirren und die Töne eines nicht gerade erstklassigen Klaviers schalten aus den Erdgeschoßzimmern hervor.

„Gehen wir in den Olymp“, meinte der Baron. „Hier unten ist’s zu lebhaft.“

Erst im zweiten Stock machte er halt. Überall zeigte das Haus denselben Verfall und dieselbe Ärmlichkeit. Lossen war starr. Blendel hier in diesem Rattenbau?! Der elegante, millionenschwere Blendel …?! Und dies sollte ein Klubhaus sein …?!

Der Baron öffnete eine Tür und trat ein. Das Zimmer war dunkel. Er rieb ein Zündholz an und machte Licht. Als die Gasflamme puffend sich entzündete, als das gelbliche Glühlicht den Raum erhellte, stand Lossen eine Weile ganz verwirrt da.

„Bißchen eigenartig, nicht wahr?“ sagte Blendel vergnügt. „Ja, schau nur!! Wir befinden uns hier in einer getreuen Nachahmung eines Kirgisen-Wohnzeltes. Nur die Gaslaterne paßt nicht hinein. Und – Nachahmung ist auch falsch. Alles ist echt, mein Alter, alles: echter Kirgisenfilz, die Zeltwände, echt die Ruhelager, echt der Steinherd, die Tischchen und so weiter. Hat ein Sündengeld gekostet, die Geschichte! Hab’s selbst dem Klub gestiftet. Direkt aus der Kirgisensteppe importiert. Nur entlaust mußte jedes Stück werden, bevor das Zelt hier wieder aufgebaut wurde. – Setz’ Dich, Patroklus, – setz’ Dich!“

Der Baron tastete durch einen Spalt der Zeltwand hindurch nach der elektrischen Klingel. Gleich darauf erschien ein altes Männchen im schwarzen Bratenrock und vielen Kriegsdenkmünzen auf der Brust.

„Ich stelle Dir hier Herrn Leberecht Kniebel vor, unseren Hausmeister, lieber Patroklus“, sagte Blendel. „Veteran von 66 und 70–71, treu wie Du, ehrlich wie ein preußischer Finanzminister und trunkfest wie Bismarck in seinen besten Jahren! – Also – Leberecht, bringen Sie Sekt und dazu eine kalte Schüssel.“

Der Hausmeister verschwand. Eginhard von Blendel reckte sich, gähnte und warf sich dann der Länge nach auf eines der diwanähnlichen, mit Wolfsfellen bedeckten Ruhelager.

„Patroklus, mein Alter, – Du sitzt noch immer wie ein Häufchen Unglück da“, meinte er unzufrieden. „Du bist jetzt Kirgise! Also mach’s wie ich! – Hinlegen!!“ rief er im Kommandoton, als exerziere er einen Zug von Vaterlandsverteidigern. „So, – – so gefällst du mir! Hier – Zigarre gefällig? – – Du befindest Dich jetzt also in sehr geheiligten, sehr verrückten Räumen unter mehr oder minder verrückten Menschen. Der Klub der Fünfzig besteht drei Jahre. Gegründet wurde er von ein paar Künstlern und reichen Geschäftsleuten, die etwas Eigenartiges, außerhalb jeder Schablone Liegendes ins Leben rufen wollten. Mehr wie fünfzig Mitglieder darf die Vereinigung nicht haben. Erst der Tod öffnet also Anwärtern die Tür zu diesem Hause. Und der Tod hält häufig Ernte unter uns. Vorige Woche erschoß sich Menscherski, der bekannte Rennfahrer, Kinkert, der Flieger, stürzte mit seiner Luftkutsche ab, und Palzow schied aus, weil er drei Jahre Zuchthaus wegen Hochstapeleien erhielt. Ganz und gar alle unsauberen Elemente fernzuhalten, ist leider trotz der scharfen Aufnahmebedingungen nicht möglich. Jedenfalls findest Du hier an Berufen so ziemlich alles vertreten. Und alle diese Herren sind genötigt gewesen, sozusagen ein Gesellenstück abzulegen, bevor sie Mitglieder wurden. Durchschnittsmenschen gibt es unter uns nicht. Zum Teil sind es sogar Berühmtheiten. – Gesellenstück – hm, ja. Du sahst mich dabei so fragend an, scheinst wissen zu wollen, was ich denn Besonderes geleistet habe. Ich war vor zwei Jahren bei unseren Antipoden, habe auch Haiti auf meiner Weltreise besucht und dabei den Neger-Geheimbund der Mamaloi studiert, nachher eine Schrift darüber veröffentlicht. –

Doch nun zu Dir. Ich werde mal eine Weile verschwinden. Vielleicht ist Scharfer unten. Du kennst doch den Kommerzienrat vom Hörensagen, nicht wahr? Ich will ihn für Dich zu interessieren suchen. Er hat überall seine Verbindungen. Du mit Deinem Talent Dekorationsmaler einer Filmfirma – ein Unding!! Ich werde sehen, was sich machen läßt. Entschuldige mich also …“

„Einen Augenblick!“ unterbrach Lossen ihn ernst. „Es hat keinen Zweck, sich irgendwie für mich zu verwenden. Wirklich nicht!“ Der bittere, weltschmerzliche Zug grub sich wieder deutlich in tiefen Falten um des Malers Mund ein. „Ich sagte Dir ja schon unter den Linden, daß ich vielleicht ein Lump geworden bin. Für die Welt da draußen gelte ich tatsächlich für erledigt. Ich habe zwei Jahre Gefängnis hinter mir, Blendel. Das ist die Sache! Zwei Jahre wegen Diebstahls. Du bist damals wohl gerade im Auslande gewesen, als mein Prozeß eine Woche lang die Spalten aller deutschen Zeitungen füllte. Mein Name wurde durch den Schmutz geschleift. Meine Eltern starben vor Gram. Ich bin entehrt, vorbestraft, geächtet …!!“

Werner Lossen war aufgesprungen. Seine Augen schimmerten feucht vor innerem Weh.

„Laß mich also wieder gehen“, rief er mit erstickter Stimme. „Ich bin kein Verkehr mehr für den Baron Blendel.“ Er griff nach Hut und Überrock.

„Blech, Blödsinn!“ sagte der Baron, erhob sich und nahm dem Freunde die Sachen wieder ab. „Hinlegen, alter Patroklus! – Du und stehlen!! – Ah – da ist der Sekt! – Einschenken, Kniebel! – So – – auf Dein Wohl, Werner Lossen, auf unser Wiedersehen!“

Der junge Maler war auf den Rand des Ruhebettes gesunken, hatte den Kopf in beide Hände vergraben und schluchzte leise.

Blendel setzte sich neben ihn.

„Tränen sind Weibersache“, meinte er hart. „Erzähle mir die Geschichte. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man Deine Unschuld nicht beweisen könnte.“

Dann legte er Lossen den Arm um die Schulter, zog ihn wie ein Kind an sich.

„Beruhige Dich!“ sagte er weicher. „Ich bin noch immer etwas rauh und rüdig. Du weißt, mich nannten sie in Kulm Achilles! Und das war gewiß ein wenig zartbesaiteter Krieger, diese griechische Trojakämpfer, den Homer als Menschenschlächter besungen hat.“

Der Maler hob den Kopf.

„Wie wohl das tut“, meinte er leise. „Wie das tröstet! Du glaubst ohne weiteres an mich, an meine Unschuld! Meine Eltern nicht … Sie ließen mich fallen.“

„Armer Kerl! – Hier, stoß’ nun endlich mit mir an. Prosit! Auf Deine Zukunft!“

Er stürzte den Inhalt der flachen Sektschale hinunter und schleuderte sie dann in eine Ecke.

„Scherben bedeuten Glück, Lossen! – Vorwärts erzähle!“

 

2. Kapitel.

Im Kirgisenzelt.

Die Flasche Sekt war leer, als Lossen die Schilderung seines Unglücks beendet hatte.

Der Baron hütete sich während dieser halben Stunde, den Freund auch nur mit einer einzigen Frage oder Zwischenbemerkung zu unterbrechen. Der Maler hatte sich in eine Erregung hineingesprochen, die seinem Bericht nur zugutekam. Nichts vergaß er zu erwähnen. Er war jedenfalls sein eigener bester Verteidiger. Jedes seiner Worte trug den Stempel der Wahrheit. Und als er jetzt nichts mehr hinzuzufügen wußte, nahm Eginhard von Blendel seines alten Patroklus Rechte zwischen seine beiden kräftigen, wohlgepflegten Hände und sagte:

„Der Schein ist gegen Dich, das stimmt. Man mußte Dich verurteilen. Wir werden die Sache jedoch aufklären.“

Lossen hatte schon mehrmals heimlich mit verlangenden Blicken nach der Platte mit den appetitlich belegten Brötchen hingeschaut, was dem Baron nicht entgangen war.

Blendel stand daher auf und sagte:

„Ich werde mich unten nach Scharfer umsehen. Du darfst bei dieser Handwerkerarbeit nicht verkommen. Iß inzwischen ein paar Bissen.“

„Ich habe Hunger“, meinte Lossen schüchtern. „Es werden viele Bissen werden, wenn Du gestattest.“

Blendel drückte dem Freunde stumm die Hand und verließ das Zimmer, das so täuschend ähnlich in ein kirgisisches Filzzelt umgewandelt war.

Lossen legte zwei Brötchen aufeinander und begann zu essen. Er ging dabei in dem merkwürdigen Gemach auf und ab und besichtigte die alten Waffen, die hier und da an Gestellen an den Zeltwänden hingen. Dem Eingang gegenüber bemerkte er nun auch einen zweiten Vorhang. Als er ihn aufhob, gewahrte er dahinter eine Tür, die offenbar in das Nebenzimmer führte. Die Neugierde ließ ihn den Drücker ergreifen. Die Tür war unverschlossen, der Raum jedoch dunkel.

In demselben Augenblick hörte er Stimmen. Einer Eingebung folgend, ließ er den Vorhang fallen und befand sich nun zwischen Zelt und Tür im Finstern. Er scheute sich, Fremden hier zu begegnen, denen er hätte eine Erklärung abgeben müssen, wie er in das Klubhaus gelangt sei. Und Blendel konnte noch nicht zurück sein. – Verlegenheit und Menschenscheu hatten ihn das Versteck aufsuchen lassen. Und diese Regungen sollten recht seltsame, wichtige Folgen für ihn haben.

Eine schleimige, unangenehme Stimme sagte jetzt:

„Ah – ist jemand hier gewesen. Wir müssen vorsichtig sein.“

Dann eine zweite, hellere Stimme von recht energischem Klang:

„Schnell, – was wollen Sie von mir? Etwas Wichtiges?“

„Allerdings. – Mit Oltendorf geht es zu Ende. Man muß sehen, was man aus dem Zusammenbruch noch retten kann. Hier habe ich einen Brief kurz entworfen. Wir müssen versuchen, Hand auf seine Edelsteinsammlung zu legen. Das wird nicht ganz leicht sein.“

Pause. Dann die helle Stimme sehr erstaunt:

„Edelsteinsammlung?! Aber die ist doch damals …“

„Unsinn“, unterbrach ihn der mit dem heiseren Organ, „Unsinn, mein Lieber! Das ist ja gerade der Witz bei der Sache! Nur die Imitationen …“ …

Das weitere konnte Lossen nicht verstehen, da der Schleimige sehr leise flüsterte.

Der junge Maler stand wie auf Kohlen in seinem Versteck. In seinem Kopf führten die Gedanken einen wilden Tanz aus.

Oltendorf … Edelsteine … Diebstahl …!! – Mein Gott – was bedeutete das alles?! Und der Schleimige hatten mit so überzeugendem Spott dieses „Unsinn!!“ ausgesprochen, so, als ob …

Nun wieder die helle Stimme.

„Also gut. Wird gemacht. Er muß ja unter diesen Umständen klein beigegeben. – Eine tolle Geschichte! Der arme Dieb! Ne nette Enttäuschung!“

„Freilich – dafür sind zwei Jahre Loch etwas viel gewesen! Und das beste: man hat noch den Falschen erwischt. Davon bin ich überzeugt!“

„Auch das noch?! – Unglaublich! Also ein Justizirrtum.“

„Was geht’s uns an?! – Kommen Sie, ich will noch …“

Die beiden Herren, von denen Werner Lossen nur die Stimmen gehört hatte, entfernten sich wieder. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloß. Der junge Maler aber stand noch eine ganze Weile unbeweglich da. Er war wie betäubt, hatte die Rechte gegen die Stirn gepreßt, als fürchte er, der Schädel müßte ihm vor diesem Ansturm von Gedanken gesprengt werden. Wie ein Trunkener schwankte er endlich aus seinem Versteck hervor und ließ sich schwer auf eines der fellbedeckten Ruhebetten fallen. Seine Finger tasteten nach dem noch halb vollen Sektglase. Und gierig trank er wie ein Verschmachteter.

„… man hat noch den Falschen erwischt!“ – diese Worte hatten sich förmlich festgefressen in seinem Hirn. – Also auch andere Leute zweifelten an der Schuld des Juwelendiebes …!! Und doch hatte sich niemand gefunden, der für diesen Bedauernswerten eingetreten wäre – niemand – niemand!!

Nach einiger Zeit abermals draußen Stimmen. Es war der dröhnende Baß Eginhards von Blendel. Und noch eine zweite …

Lossen fuhr zusammen. Wahrhaftig – dasselbe schleimige, heisere Organ, genau dasselbe wie vorhin.

Der Baron trat ein. Hinter ihm ein etwas korpulenter Mann in tadellosem Jackenanzug.

Der Maler erhob sich, und Blendel machte die Herren miteinander bekannt.

„Kommerzienrat Scharfer – mein Freund Werner Lossen.“

Scharfer streckte Lossen die Hand hin.

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Der Baron hat mir kurz erzählt, welches Pech Sie gehabt haben. – Ich bin kein Mann von langen Worten. Wen ein Eginhard von Blendel mir empfiehlt, ist goldsicher. Kündigen Sie also Ihre Stellung bei den Filmmachern sofort. Ich werde Ihnen eine künstlerische Arbeit zuschanzen. Die Erbprinzessin von Sendlingen besitzt in dem Ostseebade Potgow eine Villa. Dort sind die Decken der Gesellschaftsräume auszumalen. Fertigen Sie also einige Skizzen an, – Seemotive natürlich, und kommen Sie damit übermorgen zu mir. Die Arbeit dürfte ein halbes Jahr dauern, und Sie werden dafür etwa achttausend Mark erhalten, vielleicht auch einen Orden, wenn Sie neben den künstlerischen auch gesellschaftliche Talente besitzen. Daran, daß Ihre Vergangenheit einen – hm, ja – einen so etwas pikanten Beigeschmack hat, stößt ihre Königliche Hoheit sich nicht.“

Lossen war zum zweitenmal wie betäubt. Die Worte Scharfers rieselten wie ein leise rauschender Wasserfall auf ihn herab. Und dabei kam alles so natürlich heraus, was der Kommerzienrat sagte, so, als ob er sich nicht im geringsten mit seinem Einfluß bei der Erbprinzessin aufspielen wollte.

Ein seltsamer Herr, dieser Scharfer, dachte Lossen. Jedenfalls aber eine Persönlichkeit trotz der etwas übertriebenen Eleganz und trotz des häßlichen, aufgeschwemmten Gesichts, in dem die dicken Lippen, die dicke Stupsnase und die zugekniffenen Augen hinter den blinkenden Kneifergläsern besonders auffielen.

Dann durchzuckte den jungen Maler die Erinnerung an das Gespräch, das Scharfer vorhin hier in demselben Raume mit dem Herrn mit der hellen, energischen Stimme gehabt hatte. Und er sagte sich: in dieses Mannes Brust wohnen zwei Seelen. Welches ist die echte? Die, die mit kaltem Spott über einen unschuldig Verurteilten vorher Glossen gemacht, oder die, die sich soeben eines armen Künstlers angenommen hatte …?!

Lossen verscheuchte diese Gedanken, stammelte ein paar Worte des Dankes und setzte sich wieder. Inzwischen hatte der Baron nach dem alten Leberecht Kniebel geklingelt und zwei weitere Flaschen Sekt bestellt.

Auch Scharfer hatte Platz genommen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, war aber noch recht frisch und beweglich trotz seines kleinen Bäuchleins.

Der Baron begann jetzt, wohl absichtlich, ein ganz allgemein gehaltenes Gespräch: Sport, Politik, Theater.

Scharfer zeigte hierbei durch manche geistvolle Bemerkung, daß unter seinem stark gelichteten Schädel ein nicht geringer Gedankenreichtum schlummerte. Für das Theater schien er am meisten übrig zu haben. Auffällig war es, daß die überlegene Ironie, die vorhin bei der kurzen Rücksprache so deutlich auch im Ton seiner Stimme zutage getreten war, sich jetzt in keiner Weise bemerkbar machte. Im Gegenteil: Lossen fühlte bald so etwas wie Sympathie für den reichen Bankier in sich aufkeimen, obwohl er Leute mit so belegten heiseren Stimmen sonst geradezu verabscheute.

Blendel sagte jetzt mit gutmütigem Spott:

„Unseres vielseitigen Kommerzienrats genaue Kenntnis der Berliner Theaterverhältnisse ist in der Hauptsache auf seine Beziehungen zu dem weiblichen Teil des Theaterpersonals zurückzuführen, lieber Patroklus. Die Förderung junger Anfängerinnen, die natürlich schön und nicht allzu eisblockmäßig sein müssen, ist sein Spezialvergnügen. Teuer, aber höchst genußreich!“

Scharfer hob abwehrend beide Hände. Dabei lächelte er so ein wenig selbstbewußt.

„Sie übertreiben, Baron. Ich bin …“

„… ein gefährlicher Schwerenöter“, vollendete Blendel lachend. „Verteidigen Sie sich nicht, Scharfer! Es hat keinen Zweck! Ich bin zum Beispiel sehr gut davon unterrichtet, daß Sie augenblicklich einer schlanken Choristin des Thalia-Theaters den Weg zu den Höhen der Kunst ebnen, einem netten Käfer, der in der Posse „Der Teufel lacht dazu …“ nur in Hosenrollen auftritt.“

Scharfers schwache Seite trat jetzt zutage. Diese Indiskretion Blendels war ihm offenbar keineswegs unangenehm. Er freute sich vielmehr zweifellos darüber, als Don Juan hingestellt zu werden, lächelte wieder mit versteckter Genugtuung und sagte:

„Ihnen entgeht wahrhaftig so leicht nichts, Baron! Ich glaubte, wenigstens diese meine kleine Zerstreuung würde geheim bleiben. – Im übrigen: ich bin mit der Fritzi Pelcherzim – ein Name zum Zungezerbrechen! – noch genauso weit, wie am ersten Tage, als ich sie kennenlernte. Die Kleine hat den lächerlichen Ehrgeiz, sich selbst emporarbeiten zu wollen. Überhaupt ein etwas eigenwilliger Charakter, sage ich Ihnen! Im Privatleben traurig, düster und melancholisch wie ein Moortümpel.“

„Netter Vergleich!“ warf Blendel ein.

Scharfer lachte gutmütig. Dann fuhr er ganz ernst fort:

„Für einen Seelenforscher wäre die Fritzi Pelcherzim ein sehr dankbares Objekt. Ich werde nicht aus ihr klug. Vielleicht lasten ihre häuslichen Verhältnisse auf ihrem Gemüt. Tolle Zustände! Aber das dürfte die Herren nicht weiter interessieren.“

Schon als der Kommerzienrat zum erstenmal den Namen Pelcherzim aussprach, war Lossen leicht zusammengefahren. – Pelcherzim …?! Pelcherzim …?! In seinem Prozeß vor der Strafkammer war der Name doch so nebenbei erwähnt worden. Aber in welchem Zusammenhange, darauf besann er sich nicht mehr. Nun zergrübelte er sich hierüber den Kopf, stierte ganz geistesabwesend vor sich hin …

Pelcherzim …? … Pelcherzim …?

„Woran denkst du, alter Patroklus?“ fragte Blendel mit seiner dröhnenden Kommandostimme.

Lossen schreckte auf.

„Ich … ich … – an die … Skizzen, die ich entwerfen muß …“, stammelte er verwirrt.

Scharfer verabschiedete sich jetzt, reichte auch dem jungen Maler wieder die Hand und ging mit einem „Auf Wiedersehen!“ hinaus.

Blendel schwieg eine Weile. Dann …

„Wie gefällt Dir Scharfer?“

„Oh – ich kenne ihn doch erst zu kurze Zeit, um …“

„Flausen – Blech!“ knurrte der Baron. „Ist er Dir unsympathisch?“

„Das kann ich nicht gerade sagen, obwohl …“

„Nun – obwohl? …“

„Ja, obwohl er mir so einiges aus dem Verkehr mit dem Theatervolk angenommen zu haben scheint. Ich meine: zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Er schauspielert so etwas.“

Blendel krümmte sich plötzlich vor Lachen zusammen.

„Schauspielern …?! Scharfer schauspielern! Aber Alterchen, – wie kommst Du darauf?! – Ausgeschlossen! Es ist eine durchaus aufrichtige Natur, hat nur eine Schwäche: die Weiber! Leider ist die bei ihm recht stark ausgebildet, also eine „starke Schwäche“, und in diesem Punkt tut er manches, was vielleicht nicht ganz selbstlos und streng ehrenhaft ist.“

Lossen wollte dem Baron nicht eingestehen, daß er Scharfer vorhin belauscht hatte. Deshalb suchte er Blendel sehr vorsichtig über den Kommerzienrat als Geschäftsmann auszuholen.

„Scharfer besitzt ein Bankgeschäft, nicht wahr?“ fragte er.

„Er ist alleiniger Inhaber der Firma „Reitbänder u. Komp.“, erwiderte Blendel mit Betonung.

„Ob er wohl auch mit Privatleuten kleinere Geschäfte macht?“

„Wie meinst du das? – Natürlich zählt er auch Privatleute zu seinen Kunden.“

„So etwas dunkle Sachen, die er nicht direkt durch die Bank erledigen lassen kann, traust Du ihm nicht zu?“

Blendel schaute den Freund mißtrauisch an.

„Ich verstehe Dich nicht. Wie kommst Du zu dieser Frage? Du mußt doch einen Grund dazu haben?“

Lossen errötete.

„Dringe nicht weiter in mich“, bat er. „Vielleicht vertraue ich mich Dir später an, wenn … wenn ich Scharfer besser beurteilen kann.“

Der Baron schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Dann hast Du also noch ein weitergehendes Interesse an dem Kommerzienrat als nur diesen Auftrag für die Erbprinzessin?! – Wozu leugnest Du das?! Du mußt Scharfer auch schon gekannt oder über ihn etwas gewußt haben, bevor ich ihn Dir vorstellte …!! Hör’ mal, alter Sohn, – wenn Du willst, daß ich Dir gründlich helfe – ich meine hinsichtlich der Ermittlung des wahren Diebes – so darfst Du hier nicht wie die Katz’ um den heißen Brei herumgehen. Verstanden!!“

Lossen senkte den Kopf und überlegte. Das dauerte nicht lange. – Ja, der Baron verdiente volle Offenheit …! Ihm durfte er nichts verheimlichen. Und daher sagte er nun, indem er Blendel frei anblickte:

„Ich habe, bevor Du mit Scharfer hier eintratst, diesen bei einem Gespräch mit einem zweiten Herrn belauscht. Und aus diesem Gespräch entnehme ich zweierlei: daß Scharfer weiß, daß der Dieb damals bei dem Rentier Oltendorf nicht die echten, sondern nur Nachahmungen der Edelsteine gestohlen hat, und zweitens, daß Scharfer aus mir unbekannten Gründen überzeugt ist, ich sein zu Unrecht verurteilt worden!“

Der Baron war förmlich hochgeschnellt, faßte sich an die Stirn und rief:

„Mensch, was redest Du da …?! Erzähle genauer! Sonst nehme ich an, Du … Du bist bekneipt oder phantasierst!“

Und Werner Lossen erzählte … – Als er fertig war, saß Blendel mit gerunzelter Stirn da und betrachtete sehr eingehend seine Lackstiefel. Nach ein paar Minuten erst schaute er auf.

„Ich bin eben zu einem Entschluß gelangt. Wir werden diese Geschichte Bellinger erzählen. Das ist was für ihn. Ich habe gleich an Bellinger gedacht, als ich Deine … Deine erste Erzählung hörte. Ich werde ihn heraufholen. Hoffentlich ist er noch nicht allzu betrunken.“

„Wer ist dieser Bellinger?“ meinte Lossen schüchtern. „Und – wäre es nicht besser, Scharfer ganz aus dem Spiel zu lassen?! Sonst verliere ich womöglich den Auftrag für die Erbprinzessin. Man kann nicht wissen …“

Blendel stand schon an der Tür.

„Keine Sorge, mein Alter! Du wirst zu Bellinger schnell Vertrauen fassen. Vorhin saß er beim Whist. Vielleicht dauert es eine Weile, ehe ich zurückkomme. Sieh Dir inzwischen die Nebenräume an. Alles Originalausstattungen, so in der Art wie mein Zelt hier.“

 

3. Kapitel.

Die tanzenden Beine.

Lossen war wieder allein. In den letzten zwei Stunden, seit er mit Blendel an der Kranzlerecke zusammengetroffen war, hatte er so viel erlebt, daß er die einzelnen Ereignisse jetzt nochmals an seinem Geiste vorüberziehen ließ, um sich mehr Klarheit über deren Wichtigkeit für seine besonderen Wünsche zu verschaffen. Am meisten interessierte ihn der Kommerzienrat. Von diesem erhoffte er ja nicht nur für ein halbes Jahr lohnende, künstlerische Beschäftigung zu erlangen, sondern erwartete von ihm auch mancherlei, was die Wiederherstellung seines ehrlichen Namens anbetraf. Scharfer mußte ja notwendig gewisse Anhaltspunkte für die Vermutung haben, daß der junge Maler damals zu Unrecht verurteilt worden war und daß der Dieb nur eine wertlose Beute bei dem Rentier Oltendorf in Gestalt von Imitationen der Edelsteine gemacht hatte. – –

Der Baron kehrte noch immer nicht zurück. Daher begab sich Lossen, der eine seltsame Unruhe verspürte, in das Nebenzimmer, nachdem er aus einer Schachtel ein Wachskerzchen, einen sogenannten Fünfminutenbrenner, angezündet hatte.

Dieser benachbarte Raum enthielt eine vollständige malaiische Bambushütte. Lossen fand diese Verwandlung der Zimmer in primitive Unterkunftsräume von halben Naturvölkern reichlich gesucht-originell.

Als er sich in der Hütte noch näher umschaute, vernahm er von links plötzlich gedämpfte Stimmen. An dieser Seite der Bambusbehausung war eine zweite niedrige Tür angebracht, die nur angelehnt war. Dahinter lag der eigentliche zweite Ausgang des Zimmers.

Der junge Maler scheute sich nicht, jetzt abermals den Versuch zu machen, auch hier den Lauscher zu spielen. Er hatte hiermit schon einmal heute abend Glück gehabt, und eine innere Stimme sagte ihm, daß in diesem seltsamen Klubhause sich nebenbei auch vielleicht noch mehr für ihn Günstiges erfahren ließe.

Er brachte das Ohr ganz dicht an die Zimmertür. In demselben Augenblick hörte er ein heiseres, höhnisches Auflachen. Das konnte wieder nur der Kommerzienrat gewesen sein, ohne Zweifel! Und zwar der Kommerzienrat, wie er ihn zuerst durch die Unterhaltung mit dem Manne mit der hellen Stimme kennengelernt hatte, eben als Mann von kaltem Herzen und kaltem beißenden Spott und Hohn.

Lossen bückte sich, bis er durch das Schlüsselloch sehen konnte. Zum Glück steckte der Schlüssel so, daß der Bart das Loch nicht vollständig verdeckte.

Da – drinnen ein heiserer Schrei. Dann das Poltern irgend eines umfallenden Möbelstückes.

Der junge Maler, durch das Unglück und die Enttäuschungen der letzten Jahre schwer an seiner Gesundheit geschädigt, begann am ganzen Körper zu zittern. Er ahnte, daß da drinnen etwas Schreckliches vorging. Aber in seiner Aufregung brauchte er eine geraume Weile dazu, um die richtige Augenstellung vor dem Schlüsselloch einzunehmen, damit er in das Zimmer hineinlugen konnte.

Dieses war hell erleuchtet. Viel konnte Lossen jedoch durch die kleine Öffnung nicht sehen. Wieder dauerte es wohl eine Minute, ehe es ihm gelang, die wenigen Einzelheiten zu unterscheiden, die er jetzt beobachten konnte. Er vermochte gerade die Mitte des Zimmers und zwar in etwa ein Meter Breite und Höhe zu überblicken. Das Gemach war offenbar modern eingerichtet. Lossen sah einen Eichenstuhl mit hoher Lehne, dahinter einen langen Tisch, der parallel zur Tür stand. Der Tisch hatte eine rote, tief herabhängende Decke.

Und dann kam das Merkwürdige, Unerklärliche …

Hinter dem Tisch tanzte ein Mensch, ein Mann offenbar auf einem nicht sichtbaren Schemel mit krampfhaften Bewegungen hin und her. Der junge Maler sah von diesem Manne nur etwa zwei Drittel des Körpers. Die Füße, Hals und Kopf lagen außerhalb des Sehfeldes des Schlüsselloches.

Der seltsame Tänzer steckte in einem Frackanzug, zuweilen stand er still. Dann begann das recht komisch wirkende Anziehen und Ausstrecken der Beine von neuem, wobei der Mann auch stets beide Arme hoch emporhob …

Lossen wunderte sich nicht weiter über dieses Bild. Daß es im Klub der Fünfzig oft recht lustig herging, war kaum anzuzweifeln. Nur eines setzte ihn in Erstaunen und Schrecken: die unheimliche Ruhe in dem Zimmer und die Tatsache, daß außer dem auf dem Schemel hin und her hopsenden befrackten Herrn sonst niemand zu bemerken war.

Der junge Maler hatte die Wachszündholzschachtel mit dem darauf befestigten brennenden Lichtchen neben sich auf den Fußboden gestellt. Da hörte er ein Geräusch hinter sich, richtete sich schnell auf und drehte sich um.

Vor ihm stand Eginhard von Blendel und ein anderer, noch sehr jung aussehender Herr.

Der Baron lachte.

„Alter Patroklus, was gibt’s denn da drinnen im Vorstandszimmer zu erspähen? Mit dem Lichtlein neben Dir wirkst Du wie ein …“ Er stockte, hatte „wie ein Einbrecher“ sagen wollen, dachte aber noch zur rechten Zeit an Lossens unglückliche Strafsache und fuhr daher fort, „… wie ein Detektiv auf der Lauer.“

Dann mit einer Handbewegung auf seinen Begleiter.

„Im übrigen: hier Herr Doktor Cesar Bellinger – mein Freund Werner Lossen.“

Bellingers Benehmen war nicht gerade sehr höflich. Er nickte dem Maler nur kurz zu, drängte ihn mit einem „Einen Augenblick!“ bei Seite und beugte sich zu dem Schlüsselloch hinab. Dabei sagte er leise:

„Ich möchte doch auch mal sehen, was Sie gesehen haben, Herr Lossen. Es muß doch recht interessant gewesen sein. Sie standen ja wie eine Statue, wie ein Diskuswerfer, der seiner eben geschleuderten Scheibe begierig nachschaut und …“

Mit einemmal richtete er sich wie ein Blitz auf, packte den Türdrücker und versuchte die Tür aufzureißen. Aber sie war offenbar von innen verschlossen.

Dann warf er sich mit voller Kraft gegen die Mitte der Flügeltür, die sofort mit einem Krach aufflog, stürmte ins Zimmer, sprang auf den großen Tisch und griff in die Tasche seiner Beinkleider.

Blendel und Lossen hatten zunächst wie Bildsäulen dagestanden. Bellinger schien wirklich plötzlich übergeschnappt zu sein. Sie begriffen ihn nicht.

Als aber die Flügel der Tür aufflogen, als sie nun beide unwillkürlich in den erleuchteten Raum hineinblickten, entfuhr ihnen fast gleichzeitig ein Ausruf des Entsetzens …

An der dreiarmigen, elektrischen Krone hing in einer kurzen Schlinge ein Mensch …

Es war der Tänzer im Frack … Und das, was Lossen für hopsende Sprünge eines fidelen Zechers gehalten hatte, waren die Todeszuckungen eines Erhängten gewesen.

Bellingers Stimme weckte Lossen und den Baron aus ihrer Betäubung.

„Vorwärts, fangt den Körper auf – ich schneide den Strick durch …!“

Der Baron eilte um den Tisch herum. Bei seiner Größe und Körperkraft war es ihm ein leichtes, den schmächtigen Erhängten hochzuheben und dann auf das Ledersofa zu legen.

Bellinger tat das Übrige, lockerte die den Hals zusammenpressende Schlinge, fühlte nach dem Puls, begann die Gegend der Halsschlagadern zu massieren und leitete dann künstliche Beatmung ein. All das geschah mit einer Selbstverständlichkeit, Überlegung und doch auch einer Schnelligkeit, die Lossen mehr noch als das jugendliche Aussehen des Doktors Bellinger in Erstaunen setzten.

Während Bellinger die Arme des Befrackten vorschriftsmäßig hob, senkte und gegen den Brustkorb drückte, forderte er Lossen in ziemlich schroffem, befehlendem Tone auf zu berichten, was er in dem Zimmer vorhin beobachtet habe.

Lossen erzählte. Aber Bellinger fuhr bald dazwischen:

„Eingehender – eingehender!! Das nützt mir nichts. Jede Kleinigkeit will ich wissen, und wenn Sie auch nur vielleicht geniest haben …“

Blendel hatte sich in einem Klubsessel neben das Sofa gesetzt. Als Lossen nun wirklich alles haarklein berichtet hatte, was hier von Wichtigkeit sein konnte, sagte der Baron, indem er auf das blaurote Gesicht des Erhängten deutete:

„Es ist der Chemiker Dr. Maletta, Patroklus, ebenfalls ein Mitglied des Klubs. Du hast wohl schon seinen Namen mal in den Zeitungen gelesen. Er besitzt ein chemisches Laboratorium und beglückt die leidende Menschheit alle zwei Jahre mit einem neuen Wundermittel. Augenblicklich vertreibt er mit Hilfe einer Riesenreklame die „Helena-Paste“ die einen Teint wie Milch und Blut geben soll.“

Der Baron wollte noch mehr hinzufügen. Aber Bellinger sagte sehr laut in seiner etwas rücksichtslosen Art:

„Mir unbegreiflich, Herr Lossen, wie Sie annehmen konnten, der Mann hier tanze auf einem Schemel hin und her …!! Zum Glück bin ich noch zur rechten Zeit gekommen. Maletta lebt.“

In der Tat bewegten sich des Chemikers Augen, und der herabhängende Unterkiefer hob sich ein wenig. Dann verschwand die herausgestreckte Zunge zwischen den dünnen Lippen, und die Atmung setzte nach einem langen Seufzer ein.

Bellinger hörte nun mit den Wiederbelebungsversuchen auf und eilte im Zimmer hin und her, kletterte wieder auf den Tisch, untersuchte den Strick, – es war eine rotseidene Portierenschnur, und rüttelte an der zweiten Tür, die jedoch von außen verschlossen war.

Lossen und der Baron schauten bald auf Bellinger, bald auf den Chemiker, dem langsamen das Bewußtsein zurückkehrte.

Dann verließ Bellinger das Zimmer und holte aus dem Kirgisenzelt eine Flasche Sekt und ein Glas.

Maletta war jetzt so weit, daß man ihn aufrichten konnte. Er trank das Sektglas offenbar unter heftigen Schluckschmerzen aus und versuchte dann irgendetwas zu sagen, wobei er Bellinger aus seinen vorquellenden Augen angstvoll anstierte. Aber er brachte nur ein Stöhnen hervor.

Mit bebender, unsicherer Hand tastete er jetzt nach seiner Brieftasche, schrieb auf eine seiner Visitenkarten mit zittrigen Buchstaben: „Ich verlange von Ihnen dreien ehrenwörtliches Stillschweigen über alles“ und reichte Bellinger dann die Karte, der sie an Blendel und Lossen weitergab.

Lossen glaubte zu träumen. Das, was er in den letzten Minuten erlebt, seit er das Wachskerzchen angezündet hatte, erschien ihm noch unwirklicher als die Geschehnisse seit seinem Wiedersehen mit dem Baron bis zu dem Zeitpunkt gerechnet, wo dieser das Kirgisenzelt in Begleitung Scharfers verlassen hatte, um Bellinger zu holen. Am seltsamsten aber war jetzt ohne Zweifel diese Bitte Malettas, daß seine Retter Stillschweigen über die letzten Vorgänge bewahren sollten, denn Lossen hatte inzwischen Zeit genug gehabt sich zu überlegen, daß es sich hier kaum um Selbstmord handeln könne. Auch Bellinger nahm wohl ein Verbrechen an. Aus seinem Verhalten ging dies deutlich hervor. Er hatte das Zimmer durchsucht, als forsche er bereits einem unbekannten Mörder nach.

Eginhard von Blendel zerriß jetzt die Visitenkarte des Chemikers in kleine Stücke, schob diese in die Westentasche und sagte kühl:

„Ganz wie Sie wollen, Doktor. Von mir aus wird niemand erfahren, daß Sie soeben die Absicht gehabt haben, auf diese wenig kavaliermäßige Weise dieses irdische Jammertal freiwillig zu verlassen.“

Maletta nickte befriedigt und blickte dann auf Bellinger und Lossen. Dieser beeilte sich, das gleiche zu versichern. Aber Bellinger tat so, als bemerke er die stumme Aufforderung des Chemikers nicht, sondern fragte, indem er ihn scharf fixierte:

„Der Baron befindet sich in einem Irrtum, nicht wahr, Herr Doktor? Sie wollten nicht selbst Ihrem Leben ein Ende machen, sondern man suchte Sie zu ermorden?“

Maletta hob abwehrend die Arme. Mit Mühe stieß er hervor:

„Nein – nein – selbst – selbst …!!“

„Sie lügen!“ meinte Bellinger schneidend. „Sie sind ja erst durch einen Schlag gegen die linke Schläfe betäubt worden, ehe der Mörder Ihnen die Schlinge über den Kopf streifte.“

Malettas Gesicht verzerrte sich vor Wut.

„Verrückt … Unsinn … Sie … sind … betrunken“, lallte er voller Ingrimm. „Selbst … ich selbst … mein Ehrenwort darauf!“

Doktor Cesar Bellinger zuckte nur die Achseln.

„Wie Sie wollen, Verehrtester! Was geht es mich an?!“

Maletta stürzte jetzt ein neues Glas Sekt hinab. Das Schlucken ging schon ohne Schwierigkeiten vonstatten.

Dann wandte er sich wieder an Bellinger:

„Ihr Ehrenwort – bitte! Ich verlange es!“

„Einem Manne, der soeben bewußt eine falsche ehrenwörtliche Erklärung abgegeben hat, verweigere ich dieses Ansinnen“, erwiderte Bellinger kalt. „Im übrigen aber: mir sind Ihre dunklen Angelegenheiten zu gleichgültig, um darüber mit anderen zu reden.“

Damit verließ er das Zimmer durch die aufgesprengte Flügeltür.

„Herr Baron“, bat Maletta nach einer Weile recht peinlichen Schweigens, „wollen Sie mir vielleicht ein Auto holen lassen? Ich möchte nach Hause. Ich werde jedenfalls diesen Selbstmordversuch nicht wiederholen.“

Blendel verbeugte sich knapp und folgte Bellinger, um das Gefährt zu besorgen.

Lossen war mit dem Chemiker allein. Dieser schaute ihn prüfend an.

„Mit wem habe ich doch die Ehre?“ fragte er dann. „Ich habe Ihren Namen wieder vergessen.“

„Lossen“, sagte der junge Maler verlegen.

„Lossen? Etwa Werner Lossen?“ meinte er unsicher, indem er ihn noch durchdringender musterte.

Lossen bejahte verlegen. Der Chemiker schien die Diebstahlsgeschichte zu kennen. Kein Wunder weiter. War es doch damals eine richtige Sensation für Berlin gewesen, dieser Prozeß mit all seinen merkwürdigen Begleitumständen.

„Wie kam es eigentlich, daß ich noch rechtzeitig abgeschnitten wurde?“ fragte Maletta nach einer Pause, während der er grübelnd vor sich hingeblickt hatte. „Befanden Sie drei sich etwa in der Malaienhütte als … als …“ Er suchte vergebens nach einer ihm geeignet erscheinenden Fortsetzung des begonnenen Satzes.

„Nein, Herr Doktor“, erwiderte Lossen der Wahrheit gemäß, „nur ich war im Nebenzimmer, und dann …“

Weiter kam Lossen nicht. Bellinger war in die offene Flügeltür getreten und hatte befehlend gerufen:

„Bitte, Herr Lossen, – ich habe für Sie ein Glas Sekt eingeschenkt. Kommen Sie …! – Sie entschuldigen uns, Herr Doktor, – guten Abend!“ fügte er ironisch hinzu.

Der junge Maler gehorchte. Im Kirgisenzelt flüsterte Bellinger ihm zu:

„Setzen Sie sich. Er wollte Sie aushorchen.“ Und laut fuhr er fort:

„Haben Sie sich schon die neue Posse im Thalia-Theater angesehen, – „Der Teufel lacht dazu“? Da tritt ein nettes, kleines Mäuschen auf, die Fritzi Pelcherzim, – in sechs verschiedenen Hosenrollen. Nur Statistin – aber schick und von einem jungen Gecken kaum zu unterscheiden.“

Der Baron trat ein.

„Ah – Ihr beide hier? – Das Auto ist vorgefahren. Ob Maletta ohne Hilfe hinabgelangen wird?“

Der gutmütige Lossen erhob sich.

„Wir wollen ihn unter die Arme nehmen“, sagte er zu Blendel.

Bellinger blieb ruhig sitzen. Als Maletta dann, von den beiden gestützt, durch das Kirgisenzelt schritt, rief er ihm zu:

„Erholen Sie sich bald, Herr Doktor! Gute Nacht!“

Die Ironie in seinen Worten war unverkennbar.

Maletta erwiderte nur:

„Gute Nacht, und – – herzlichen Dank.“

Auf der Treppe hörte Lossen plötzlich des Chemikers Stimme wie einen Hauch an seinem Ohr:

„Besuchen Sie mich morgen in aller Frühe. Sie erhalten dafür dreitausend Mark.“

Lossen war starr. – Dreitausend Mark …?! Was sollte das nun wieder?

Abermals das vorsichtige Flüstern des Chemikers:

„Werden Sie kommen?“

Der junge Maler nickte, ohne sich die Sache eigentlich lange zu überlegen.

Das Auto fuhr mit Maletta davon, dem der Baron noch schnell den Überzieher und den Hut geholt hatte.

Als Blendel und Lossen dann wieder nach oben gingen, sagte der Baron kopfschüttelnd:

„Eine tolle Geschichte! Bin neugierig, wie Bellinger darüber denkt. Selbstmord hält er für ausgeschlossen. – Toll, – wirklich toll!“

 

4. Kapitel.

Der erste Verdacht.

Der Baron sollte jedoch vorläufig nichts darüber erfahren, was Bellinger von der ganzen so seltsamen Angelegenheit hielt, da dieser auf Blendels Frage hin erklärte, die Geschichte sei für ihn abgetan. Und dabei blieb er. Hierzu stand freilich sehr im Widerspruch, daß er gleich darauf sich an Lossen wandte und fragte:

„Sie behaupten also, daß Sie in dem Vorstandszimmer ein Lachen gehört haben, welches nur von Scharfer herrühren konnte?“

„Allerdings“, meinte Lossen zögernd. „Ich möchte mit ziemlicher Bestimmtheit …“

„Schon gut!“ unterbrach Bellinger ihn, zündete sich eine Zigarette an und fuhr dann fort:

„Baron Blendel hat mich gebeten, mich mit Ihrer Angelegenheit etwas eingehender zu beschäftigen, Herr Lossen. Er will Sie rehabilitieren. Das wird nicht ganz einfach sein. Ich habe damals den Verhandlungen in der Strafkammer beigewohnt. – Übrigens: hat der Baron Ihnen schon erzählt, wer ich bin, was ich treibe? – Nein? – Nun: in der Hauptsache bin ich [ein][1] sogenannter Quartalssäufer. Tatsache! Ich war Assessor am Amtsgericht in Pankow, als die hohe Justizbehörde einsah, daß ein Mann, der vier Tage in jedem Monat nicht eine Minute nüchtern wurde, sich zum Richter nicht eigne. Ich wurde also gejagt. Geld hatte ich nicht, und so trat ich als Lohnsklave bei Rechtsanwalt Kinkel, dem berühmten Strafverteidiger, ein, der bald meine wahren Fähigkeiten entdeckt zu haben glaubte und mich noch heute als Spitzel, Detektiv, Geheimagent oder wie Sie’s sonst nennen wollen, beschäftigt. Sie, Herr Lossen, haben nun insofern großes Glück gehabt, als ich gerade gestern mein „Quartal“ wieder beendet habe, das heißt, – ich werde jetzt vier Wochen lang verhältnismäßig nüchtern bleiben. – Was nun Ihre Sache selbst angeht, so war Ihr damaliger Offizialverteidiger, der Rechtsanwalt Jakobsohn 3 – im ganzen gibt’s vier Jakobsöhne als Rechtsanwälte in Berlin – so ziemlich der ungeeignetste Mann für einen solchen Fall. Denn dieser Diebstahl ist „ein Fall“ – ohne Zweifel. Er hat mich mächtig interessiert. Ich hatte nur nicht die Zeit, mich der Geschichte richtig zu widmen. – Gießen Sie mir das Glas wieder voll, Baron! Sie sind ein sehr unaufmerksamer Gastgeber.“

Blendel saß mit recht mürrischer Miene da.

„Ich will erst wissen, was Sie von den Vorgängen im Vorstandszimmer halten“, sagte er hartnäckig. „Eher bekommen Sie keinen Tropfen.“

Bellinger stand auf. „Dann muß ich mich verabschieden, Baron. Morgen wird Ihre Neugier geringer geworden sein. – Gute Nacht, meine Herren.“

„Bleiben Sie – zum Teufel!“ rief Blendel wütend. „Sie sind der … der unglaublichste Mensch, dem ich je begegnet bin!“

„Na, – Sie irren! Maletta ist viel unglaublicher als ich. Wahrhaftig! Es war dies vorhin der dritte Mordanschlag, der auf ihn verübt worden ist, und alle dreimal hat er hoch und heilig geschworen, er wisse nichts von den Tätern.“

Bellinger hatte sich wieder gesetzt und fügte nun hinzu: „Maletta allein liefert Stoff zu einem Dutzend Kriminalromane. Warum – das erzähle ich schon noch, wenn ich die Zeit für gekommen halte. Er weiß, daß ich mich mit seiner Person beschäftige. Er hat Angst vor mir. Und ich wette, daß er Sie, Herr Lossen, morgen besuchen und durch Geld bestechen wird, mir entgegenzuarbeiten.“

Lossen war bisher unschlüssig gewesen, ob er Bellinger und dem Baron berichten solle, was Maletta ihm auf der Treppe zugeflüstert hatte. Jetzt zögerte er nicht, mit der Wahrheit herauszurücken.

Bellinger sagte daraufhin nur: „Na – habe ich nicht ganz richtig vermutet? Ich kenne doch meinen Peter Maletta!“

„Ein unsympathischer Bursche“, brummte Blendel. „Und drei Mordversuche …?! – Ich platze vor Neugier, – wenn nicht heute, – morgen bestimmt!“

„Schade! Dann kann ich Sie nicht mehr anpumpen, Baron“, meinte der Exassessor ruhig. „Bitte fügen Sie doch Ihrem Testament noch hinzu, daß Ihr Erbe auf meine stets leere Börse genau dieselbe Rücksicht zu nehmen hat, wie Sie dies stets taten.“

Lossen vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Er lächelte so selten. Aber dieser Bellinger war wirklich ein mehr als komischer Kauz, sah mit seinem glattrasierten, rosigen Gesicht wie ein Student im ersten Semester aus und besaß doch die weltweise Selbstironie des gewiegten Menschenkenners.

Der Baron schenkte die Gläser voll. Man stieß an, und Bellinger sagte dazu:

„Auf Ihr Wohl, Herr Lossen! – Wir werden jetzt also Sie mal gründlich verarzten – gründlich! So wahr ich Cesar Bellinger heiße und Quartalssäufer bin!“

Plötzlich hob er wie warnend die Hand.

„Still – keinen Laut!“ flüsterte er, indem er aufstand und nach dem Filzvorhang hinglitt, hinter dem die in die Malaienhütte führende Tür lag.

Hier stand er ein paar Sekunden regungslos und lauschte. Dann winkte er Blendel und Lossen zu und verschwand hinter der schweren Decke.

Die beiden sprangen auf und eilten hinter ihm drein.

In der Malaienhütte brannte die aus einer Riesenmuschel gefertigte Deckenlampe. Die Flügeltüren nach dem Vorstandszimmer standen noch weit offen. Und gerade unter dem Kronleuchter, an dem noch vor einer halben Stunde etwa Peter Maletta gebaumelt hatte, sagte jetzt Bellinger sehr laut zu dem ihm gegenüberstehenden und sehr bestürzt aussehenden Kommerzienrat Scharfer:

„Haben Sie hier vorhin etwas vergessen, Herr Kommerzienrat?“

Scharfer lächelte gezwungen.

„Sie verstehen es, einen zu erschrecken, Bellinger! Sie kamen ja wie ein Wirbelwind ins Zimmer gestürzt! – Ihre Frage aber begreife ich nicht. Sie sagten: „… vorhin etwas vergessen.“ – Vorhin?! – Ich betrete diesen Raum heute zum erstenmal, wirklich!“

„Zu welchem Zweck sind Sie denn eigentlich hierher gekommen?“ meinte Bellinger kopfschüttelnd.

Da wurde Scharfer ungemütlich.

„Was geht Sie das an?! Ich denke, ich kann als Vorstandsmitglied gerade in diesem Raume tun und lassen, was ich will! Ich verbitte mir von Ihnen diesen Untersuchungsrichterton, – verstanden!“

Bellinger schaute ihn prüfend an.

„Doktor Maletta ist vor kurzem im Auto nach Hause gefahren“, sagte er dann langsam. „Er fühlte sich nicht ganz wohl. Der Kragen war ihm zu eng, auch die Krawatte.“

„Sie sind betrunken!“ schnob Scharfer wütend. „Was geht mich Maletta an?! – Ich fordere Sie auf – als Vorstandsmitglied, dieses Zimmer sofort zu verlassen. Sie wissen, daß es nur dem Vorstand erlaubt ist, es zu betreten.“

Bellinger verbeugte sich.

„Entschuldigen Sie, Herr Kommerzienrat. Ich bin wirklich wieder voll …! Der verd… Sekt! – Kehren wir zu unseren geliebten Buddeln zurück, meine Herren!“ wandte er sich an Lossen und Blendel.

Der Baron folgte Bellinger nur zögernd. Er hätte gern eine Fortsetzung dieser Szene miterlebt. Bisher hatte er Scharfer alles in allem für einen tadellosen Ehrenmann gehalten. Dieser Glaube war jetzt sehr stark erschüttert worden. Bellinger hatte doch offenbar gegen den Bankier einen starken Verdacht gefaßt, was den angeblichen Selbstmord anbetraf.

Auch Lossen zauderte, ohne jedes weitere Wort davonzugehen. Er dachte an den lohnenden Auftrag in Potgow. Und deshalb sagte er sehr höflich:

„Verzeihen Sie, daß wir Sie gestört haben, Herr Kommerzienrat.“

Scharfer lachte kurz auf. Und da hätte Lossen schwören können: es war dasselbe Lachen wie vorhin, als man gleich darauf Maletta in der verzweifelten Lage aufgefunden hatte.

„Bellinger ist wieder mal fertig!“ sagte Scharfer verächtlich. „Schade um den Menschen!“ fügte er leiser hinzu. –

Als Lossen das Kirgisenzelt betrat, war der Baron nur noch allein anwesend.

„Bellinger ist auf und davon“, meinte er geheimnisvoll. „Trinken wir aus und gehen wir. Wir sollen morgen mittag um ein Uhr zu ihm kommen.“

Gleich darauf erschien jedoch Scharfer von der Malaienhütte her.

„Baron, – was ist eigentlich in dem Vorstandszimmer vorgegangen?“ fragte er erregt und atemlos. „Die Flügeltüren sind doch gewaltsam erbrochen. Daß sieht jedes Kind! Hat sich etwa Bellinger dieses Kraftstück in seiner Trunkenheit geleistet?!“

Blendel nickte nur.

„Das ist ja unerhört!“ fuhr Scharfer auf. „Wozu denn?! Der Mensch ist eine Schande für den Klub! Ich habe das schon immer gesagt. Säufer gehören nicht in unseren Kreis. Ich werde die Sache zur Sprache bringen. – Guten Abend, meine Herren.“

Als der Kommerzienrat verschwunden war, schaute der Baron den Maler mit vielsagendem Lächeln an.

„Komödie!!“ raunte er Lossen zu. „Gehen wir also! Meinen letzten Zug nach Potsdam darf ich nicht versäumen. Es ist spät geworden.“

Als die beiden Freunde auf die Straße hinaustraten, tauchte plötzlich Bellinger neben ihnen wie ein Gespenst auf.

„Wo wohnen Sie, Herr Lossen?“ fragte er schnell.

„Lindenstraße 26, zwei Treppen, bei Mörner.“

„Gut – 26 – bei Mörner! – Baron, erwarten Sie mich dort. Die Geschichte mit Maletta hat noch ein zweites Gesicht bekommen. – Fahren Sie morgens mit dem ersten Zuge – es muß sein!“

Damit eilte er davon und verschwand um die nahe Ecke.

„Ein netter Abend!!“ knurrte der Baron. „Jetzt, nachdem Bellinger zwei Klubmitgliedern sozusagen die Maske vom Gesicht gerissen hat, habe ich das Gefühl, die ganz Gesellschaft sei nicht viel mehr wert. Scheußlich! Der Klub ist mir für lange Zeit verleidet.“

„Du denkst also wirklich, daß Scharfer derjenige war, der Maletta aufgeknüpft hat?“ fragte Werner Lossen schüchtern.

„Du etwa nicht?! – Nein, wenn man sich vergegenwärtig, daß das Opfer eines Mordversuches nachher noch alles daransetzt, den Mörder zu verheimlichen, dann – dann glaubt man sich tatsächlich in einem Tollhause zu befinden!! Und dreimal soll der Chemiker bereits ähnliches durchgemacht haben?! Was mag nur dahinter stecken, welche Gründe mag er nur haben, die Geschichte als Selbstmord hinzustellen?! – Begreifst Du das, alter Patroklus?“

Lossen antwortete nicht. Seine Gedanken waren bei der Szene, als Scharfer über den Diebstahl mit dem Manne mit der hellen, energischen Stimme gesprochen hatte. Dies hatte ja für ihn weit mehr Interesse als der aufgeknüpfte Maletta. Und erst nach einer Weile erwiderte er:

„Der Kommerzienrat ist ein sehr gewandter Schauspieler. Wie ehrlich wirkte seine Entrüstung über Bellinger …! Man hätte sich leicht täuschen lassen, wenn eben nicht die Tatsachen gegen ihn gesprochen haben würden. Mir widerstrebt es jetzt geradezu, daß ein solcher Mensch sich für mich verwenden will, – ich meine bei der Erbprinzessin.“

„Unsinn!“ sagte der Baron in seiner derben Art. „Bevor nicht sichere Beweise vorliegen, daß Scharfer ein Lump ist – ich betone, sichere Beweise!! – geht dieses Intermezzo Dich nichts an. – – He – Auto – halt! – Steig ein, mein Alter. Und nun vorwärts nach Deiner Wohnung.“

Das Zimmerchen, das Lossen als „möblierter Herr“ bei der geschiedenen Frau Mörner seit einem halben Jahre inne hatte, erinnerte den Baron lebhaft an den Raum, in dem er seinen Burschen untergebracht hatte.

Der junge Maler entschuldigte sich verlegen.

„Sehr vornehm hause ich nicht, lieber Blendel, wie Du siehst. Ich könnte ja besser wohnen. Aber ich spare jeden Pfennig für meinen großen, einzigen Lebenszweck: meine Schuldlosigkeit zu beweisen!“

„Laß die Erklärungen, Alterchen! Und wenn Du in einem Stall nächtigen würdest: Du bleibst mein Patroklus!“

Die einfache Gaslampe über den kleinen Mitteltisch brannte leise brodelnd, und bei ihrem Schein saßen die Freunde noch bis gegen zwei Uhr morgens auf.

Bellinger kam nicht. Schließlich richtete Lossen für Blendel auf dem Paneelsofa ein Lager her, und sie gingen zur Ruhe, nachdem der Maler den Wecker auf sechs gestellt hatte.

 

5. Kapitel.

Eine Damenbekanntschaft.

Blendel wachte jedoch bereits um fünf Uhr morgens ganz von selbst auf. So kam es, daß er noch den ersten Vorortzug nach Potsdam glücklich auf dem Bahnhof Friedrichstraße erwischte – gerade in der allerletzten Sekunde.

Von dem Dauerlauf die Treppen empor und über den halben Bahnsteig bis zum ersten Abteil zweiter Klasse war er doch etwas außer Atem geraten. Erschöpft ließ er sich in die Polster fallen, nahm den weichen Filzhut ab und betupfte mit dem Taschentuch die Stirn.

Ihm gegenüber am anderen Fenster saß eine Dame. Sonst war das Abteil leer. Beim Einsteigen hatte er nur einen flüchtigen Blick der Mitreisenden geschenkt. Für die holde Weiblichkeit hatte Eginhard Blendel nie viel übrig gehabt. Leute wie Scharfer, die jeder Schürze nachliefen, begriff er nicht. Er hielt die Frauen für ein notwendiges Übel. Selbst als junger Leutnant war er ihnen vorsichtig aus dem Wege gegangen. Vielleicht deswegen, weil seine Mutter, die er über alles verehrt hatte, ihn schon frühzeitig immer wieder warnte: „Wirf Dich nicht weg! Spare Dir Deine Liebesfähigkeit für eine auf, die Dein Weib werden soll.“ – Aber die alte, würdige, weltkluge Dame war gestorben, ohne daß ihr Eginhard diese Eine gefunden hatte. Im Regiment nannte man ihn nur den „Mönch“. Weniger zart besaitete Kameraden sagten sogar „Eunuche“. Er lächelte dazu, wie zu vielem, womit jene ihre Zeit totschlugen. Er hatte höhere, geistige Interessen, war so halb und halb Reiseschriftsteller.

Jetzt hatte er die Augen in seiner Ecke geschlossen und „döste“ vor sich hin. – Da – was war das? – Wahrhaftig – ein Schluchzen, ein leises Weinen … Unauffällig blickte er zu seiner Reisegefährtin hinüber. Gleichzeitig merkte er, daß der Zug soeben die Station Grunewald verließ.

Die Dame weinte – weinte sogar ganz fassungslos. Ihr Körper wurde durch die Ausbrüche eines Herzeleides, das stärker war als ihr Bemühen sich zu beherrschen, förmlich hin und her geschüttelt.

Eginhard von Blendel war kaum je in Verlegenheit zu bringen. Seine gesellschaftliche Gewandtheit und Sicherheit und eine etwas derbe Schlagfertigkeit machten ihn jeder Situation gewachsen.

Jetzt peinigte ihn jedoch die Unschlüssigkeit. Was sollte er tun? – Die Fremde gar nicht beachten? Oder – war es vielleicht seine Pflicht als Kavalier, der fraglos den besseren Ständen Angehörigen seine Hilfe anzubieten?

Sein gutes Herz siegte. Er erhob sich und ging die drei Schritte zögernd nach der anderen Seite hinüber.

Die Dame, die ein blaues Herbstkostüm und dazu einen weißen Hut aus Seidenenfilz mit einer Schleiergarnierung trug, hatte den Kopf tief gesenkt und beide Hände vor das Gesicht gedrückt.

„Verzeihung, Gnädigste, – kann ich Ihnen irgendwie dienen?“ fragte Eginhard möglichst sanft. Bei seinen Stimmitteln lagen ihm die weichen Töne nicht recht.

Sie fuhr zusammen. Die Hände sanken herab, der Kopf hob sich und der Baron schaute in das tränenfeuchte Antlitz eines jungen Mädchens von eigenartigem Liebreiz, – wenigstens für seinen Geschmack!

Er liebte die sogenannten „Schönheiten“ nicht. Ein Gesicht mußte den Charakter widerspiegeln, mußte etwas an sich haben, das auf den ersten Blick als etwas Besonderes auffiel.

Hier waren es die Augen. Sie waren dunkel, groß, ganz erfüllt von einem Ausdruck tiefsten Leides jetzt. Sonst schauten sie sicherlich sehr weich und träumerisch in diese schlechte Welt …

Dann öffneten sich die frischen, roten Lippen.

„Mein Herr, Sie tun mir den größten Gefallen, wenn Sie sich nicht um mich bekümmern“, sagte die junge Dame leise. Ihre Stimme schien Eginhard Musik. Sie vibrierte wie die Saite eines Cellos, die zu einem Moll-Ton gestrichen wird.

Der Baron verbeugte sich abermals, wollte wieder an seinen Platz zurück. Aber es sollte nicht sein …

Plötzlich sank die Madonna mit den traurigen Augen wie von einem Schwächeanfall gepackt nach vorn, und Eginhard hatte gerade noch Zeit zuzugreifen und sie aufzufangen …

Sie war ohnmächtig geworden, ruhte jetzt halb an Blendels Brust, der sich neben sie gesetzt hatte, um sie besser stützen zu können.

Sie kam schnell wieder zu sich. Verwirrt, ängstlich und tief errötend starrte sie den Herrn an, der sie umschlungen hielt.

Eginhard fühlte sich ganz als treusorgender Beschützer.

„Meine Gnädigste, Sie verloren das Bewußtsein. Es war mir vergönnt, Sie vor dem Hinabgleiten von dem Polstersitze zu bewahren. – Bitte, verhalten Sie sich noch einen Augenblick still, bis Sie sich ganz erholt haben. Gestatten: Baron von Blendel.“

Sie machte sich sanft aus seiner Umschlingung los.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie einfach. Sie rückte etwas von ihm ab und fügte erklärend hinzu: „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Mein Vater ist seit gestern früh verschwunden. Ich habe ihn in Berlin gesucht.“

Sie lehnte sich matt in ihre Ecke zurück, und neue Tränen perlten über ihr blasses, übernächtigtes Gesicht.

Eginhard fühlte sich mit einemmal zu der jungen Frau ganz seltsam hingezogen. Ihre zwanglose Aufrichtigkeit gefiel ihm. Dieses Mädchen war offenbar eine Vollnatur, ein energischer, gefestigter Charakter.

„Seit gestern früh?“ fragte er daher unter Vermeidung jeder Phrase von Beileid, Bedauern oder dergleichen.

Sie trocknete schnell die Tränen.

„Ja. – Vielleicht werden Sie nun denken, ich mache mir unnötige Sorgen, weil mein Vater doch vielleicht von selbst zurückkehren könnte. Aber …“

Sie beendete den Satz nicht, da wieder ein trostloses Schluchzen ihre Stimme erstickte.

Eginhard hatte tiefes Mitleid mit der Ärmsten. Er witterte hier sozusagen ein düsteres Geheimnis, und er war auch bereits entschlossen, ihr um jeden Preis beizustehen.

„Beruhigen Sie sich, meine Gnädige“, sagte er herzlich. „Der Zufall hat uns hier zusammengeführt. Vielleicht ist es also auch des Schicksals Wille, daß ich Ihren Helfer spielen soll. Ich dränge mich niemandem auf, am wenigsten Damen. Aber es gibt Fälle im Leben, in denen mir eine innere Stimme sagt, daß hier höhere Fügung mitspielt. Weisen Sie meine Hilfe nicht zurück. Ich kann ein treuer Freund sein.“

Sie hatte ihn, während er sprach, forschend gemustert. Sein gebräuntes, mageres Gesicht mit dem blonden, kurzen Schnurrbart und den grauen, klaren Augen flößte ihr Vertrauen ein. Mehr aber noch seine Worte. So hätte kein Herr geredet, der nur ein Abenteuer suchte. Hier kam alles aus ehrlich mitfühlendem Herzen.

„Sie sind Offizier?“ fragte sie leise. Unwillkürlich war ihr der Satz über die Lippen geschlüpft.

Eginhard ahnte, weshalb sie diese Frage tat. Er lächelte kaum merklich.

„Allerdings. Aber trotzdem kein Mann, der selbst den Seelenschmerz einer Frau als Anknüpfungspunkt benutzt.“

Sie wurde sehr rot.

„So war das nicht gemeint“, sagte sie verlegen. Und fuhr hastig fort: „Ich bin ganz ohne Bekannte oder Verwandte, obwohl wir bereits acht Jahre in Wannsee wohnen. Wenn Sie mir also wirklich raten wollten …“

Der Zug hielt plötzlich auf offener Strecke. Ein Schaffner lief aufgeregt nach der Lokomotive hin.

Eginhard ließ das Fenster herab und beugte sich hinaus, da die junge Dame durch die Fahrtunterbrechung sichtlich beunruhigt schien.

Da wand der Baron sich ihr wieder zu:

„Eine Kiefer ist beim Fällen über die Geleise gestürzt. Das dürfte einige Minuten Aufenthalt geben. – Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Gnädigste? Wollen wir aussteigen und zu Fuß nach Wannsee gehen. Weit haben wir’s nicht mehr. Unterwegs ließe sich leichter besprechen, was ich in Ihrem Interesse tun könnte.“

Sie zauderte, griff dann aber nach ihrem Regenschirm und erklärte:

„Gut – ich bin einverstanden.“

Das Paar, das so ohne weiteres den Weg zu Fuß fortsetzte, erregte natürlich Aufsehen, zumal Blendel bei seiner Größe ohnehin auffiel.

Im nächsten Wagen zweiter Klasse hatte ein Herr gesessen, der, als er die beiden bemerkte, schnell aufstand und ihnen gespannt nachblickte. Er lehnte sich jetzt sogar zum Fenster hinaus und murmelte irgendetwas vor sich hin.

Die Beiden schritten auf dem Waldpfade dicht am Bahndamm entlang, und als sie nun hinter einer Biegung verschwanden, machte der Herr Miene, gleichfalls auszusteigen. Aber es war zu spät. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Inzwischen hatte die Begleiterin Eginhards mit derselben charaktervollen Offenheit das Gespräch begonnen.

„Ich glaube kaum, Herr Oberleutnant, daß Sie als Offizier mir bei allem guten Willen werden helfen können. Oder aber, Sie müßten über Dinge unterrichtet sein, die ganz außerhalb Ihres Berufes liegen. Was ich brauche, ist ein Anwalt, dem man unbeschränktes Vertrauen entgegenbringen kann, der absolut verschwiegen ist und dabei für seine Bemühungen nicht gerade ein fürstliches Honorar fordert. Könnten Sie mir einen solchen Herrn empfehlen?“

Der Baron antwortete nicht gleich. Dann sagte er nachdenklich:

„Es ist wirklich seltsam: vor kaum zwölf Stunden habe ich einen alten Freund nach Jahren wieder getroffen, dem in seiner Lage auch nur mit einem Manne von besonderen Fähigkeiten gedient war. Es handelt sich um einen Unglücklichen, der zu Unrecht verurteilt worden ist und der natürlich schnellsten seinen ehrlichen Namen wiedererhalten soll. Also eine ziemlich dunkle Geschichte! Und nun bringt uns das Schicksal zusammen, und alsbald merke ich, daß auch Ihr Herzeleid ähnlicher Natur ist, – ich meine, mit einem Geheimnis oder dergleichen zusammenhängt. Meinem Freunde konnte ich schnell den richtigen Arzt nennen. Bei Ihnen, Gnädigste, versage ich leider. Einen Anwalt, wie Sie ihn wünschen, kenne ich wirklich nicht.“

Die junge Dame hatte wie erstaunt den Kopf gehoben, als ihr Begleiter seinen Freund Werner Lossen erwähnte, ohne allerdings dessen Namen zu nennen.

„Sie vermuten ganz richtig“, meinte sie dann leise. „Es handelt sich bei dem Verschwinden meines Vaters tatsächlich um eine Verkettung von Ereignissen, die ich in ihrer wahren Bedeutung bisher nicht durchschaut habe, von denen ich aber weiß, daß sie das Leben meines Vaters vergiftet haben, mich zur Einsamkeit verdammten und unser Haus zur Stätte aller möglichen unheimlichen Geschehnisse machten.“

Jetzt war es Blendel, der die Damen halb erschreckt musterte.

„Ihre Andeutungen lassen die weitgehendsten Schlüsse zu“, sagte er nach kurzer Pause. „Seien Sie aufrichtig, meine Gnädige: Sie fürchten für das Leben Ihres Vaters?“

Sie nickte unter Tränen.

„Ja – ja!“ sagte sie erregt, während sie den Blick über die Baumwipfel hinweg wie hilfeflehend in den klaren, tiefblauen Himmel richtete. „– Ja, ich fürchte das Schlimmste …! Oh mein Gott – wenn ich nur wüßte, was ich tun soll …?! Mein Vater hat mir ja so streng verboten, mich je um seine Angelegenheiten zu kümmern – was auch kommen mag! So und so oft hat er mir das gesagt … Und er war doch sonst so zärtlich, so besorgt, wir waren ja wie zwei gute Kameraden … Nur in diesem Punkte blieb er stets verschlossen. Und dabei war’s ja gerade das, was mir nie Ruhe ließ, – nie … nie …, eben das Geheimnis, das Unaufgeklärte, Dunkle, das wie ein Gespenst in unserem Hause umherschlich …“

Der Zug brauste an ihnen vorüber. Dann sprach sie weiter:

„Sie sollen wissen, wer ich bin. Ich muß mich mit jemandem aussprechen … Sonst vergehe ich vor Angst und Gram. Ich heiße Charlotte Oltendorf. Mein Vater …“

Der Baron war plötzlich stehen geblieben.

„Oltendorf – Oltendorf?“ sagte er überlaut. „Habe ich mich verhört?“

Sie schaute ihn voll steigender Unruhe an.

„Ja, – Charlotte Oltendorf“, erklärte sie. „Aber – kennen Sie etwa meinen Vater, oder …“

Eginhard Blendel hob wie beschwörend den Arm.

„Höhere Fügung!!“ sagte er mit Nachdruck. „Und all das binnen zwölf Stunden – all das!! – Denken Sie, gnädiges Fräulein: mein Freund heißt … Werner Lossen!!“

Das junge Mädchen zuckte zusammen.

„Werner Lossen …?“ stammelte sie. „… Werner Lossen …?!…“

Der Baron wiederholte ernst …: „Werner Lossen, der Maler, der zwei Jahre im Gefängnis schmachtete, – der diesen Diebstahl nie begangen hat …!!“

Charlotte Oltendorf stieg das Blut in heißer Welle ins Gesicht. Blendels letzte Worte hatte sie als stillen Vorwurf aufgefaßt.

„Ich habe stets an seiner Schuld gezweifelt“, meinte sie leise. „Ich habe das auch vor Gericht betont. Aber alles war gegen ihn …“

Dann gingen sie weiter durch den herbstlichen Wald. Die Kiefern rauschten, Eidechsen huschten über den Weg, und flinke Eichhörnchen flüchteten vor dem jungen Paare, das ihnen doch kaum Beachtung schenkte.

Charlotte Oltendorf erzählte ihre Leidensgeschichte, erzählte von der Villa dicht am Havelufer, die so still und friedlich dalag und in der doch die Gespenster umherschlichen … –

Erst als dieser Gegenstand erledigt war, wurde auch der Diebstahl zwischen den beiden nach allen Seiten hin erörtert. Das junge Mädchen betonte jedoch sofort, daß sie nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür hätte, wer in Wahrheit in jener Nacht das Schränkchen im Schlafzimmer erbrochen und die Steine geraubt haben könnte. Jedenfalls war kaum daran zu zweifeln, daß Charlotte Oltendorf von den Imitationen, falls diese wirklich existierten, keine Kenntnis hatte, was aus einigen ihrer Redewendungen mit ziemlicher Sicherheit hervorging. Schließlich faßte sich Blendel dann auch ein Herz und sagte, ohne auf die Vorfälle im Klub irgendwie einzugehen, ihm wäre zu Ohren gekommen, daß Oltendorf eine getreue Nachahmung der echten Sammlung besessen hätte. Doch Charlotte schüttelte hierzu energisch den Kopf. Sie wissen nichts davon, erklärte sie mit großer Bestimmtheit, und sie halte dies auch für ausgeschlossen, denn welchen Grund hätte ihr Vater gehabt haben können, ihr nichts von diesem Duplikat mitzuteilen?! – Ihre Worte trugen so sehr den Stempel der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, daß der Baron das Thema alsbald fallen ließ, da er einsah, er selbst sei nicht imstande, von dem jungen Mädchen irgendetwas für Lossen Nützliches zu erfahren. Das mußte er schon einem gewiegteren Fachmann überlassen. –

Vor dem Bahnhof Wannsee verabschiedete er sich, um den nächsten Zug nach Potsdam zu benutzen.

„Es bleibt also bei unserer Abmachung, gnädiges Fräulein“, sagte er nochmals. „Ist Ihr Herr Vater bis heute abend nicht zurückgekehrt oder haben Sie bis dahin keinerlei Nachricht von ihm erhalten, so geben Sie mir telefonisch nach meiner Wohnung Nachricht, – Potsdam 622, damit ich sofort Bellinger verständigen kann. Wir treffen uns dann um neun Uhr hier in Wannsee im Schultheiß-Restaurant, um alles Nötige zu besprechen. – Auf Wiedersehen, gnädiges Fräulein. Und – seien Sie guten Muts!“

Charlotte Oltendorf drückte Eginhard in aufrichtiger Dankbarkeit die Hand, indem sie einfach und natürlich erklärte:

„Ich hätte nie gedacht, daß es so selbstlose Menschen geben könnte wie Sie, Herr Baron.“

„Selbstlos?! Überschätzen Sie mich nicht! Ich hoffe ja gleichzeitig auch Werner Lossen nützen zu können.“

Das junge Mädchen nickte dem am Fenster seines Abteils Stehenden nochmals zu und verließ dann den Bahnhof. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie den Herrn nicht bemerkte, der ihren Abschied von Blendel heimlich beobachtet hatte und ihr nun in einiger Entfernung folgte.

Es war derselbe Herr, der für das Paar bereits lebhaftes Interesse gehabt hatte, als es den Zug auf offener Strecke verließ. – –

Der Baron kam eine volle Stunde zu spät zum Bataillonsexerzieren, erhielt einen bösen Anpfiff, fiel dann auch weiter durch seine Unaufmerksamkeit auf und wurde nachher von seinem Bataillonskommandeur noch besonders „vorgenommen“, mußte sich so verschiedenes sagen lassen und hatte daher wieder einmal den ganzen Kommiß so „dicke“, daß er kurz entschlossen vierzehn Tage Urlaub zur Erledigung dringender Privatangelegenheiten beantragte.

„Dann habe ich wenigstens volle Bewegungsfreiheit!“ dachte er. „Ich muß ja jetzt den Helfer für zwei Menschen spielen.“

Um ½ 12 vormittags saß er schon wieder in Zivil im Zuge und fuhr nach Berlin hinein.

 

6. Kapitel.

Die Choristin mit den Hosenrollen.

Karl-Ernst Weinreich strich sich mit verzweifelter Handbewegung das braune, leicht grünlich schillernde Haar aus der Stirn. Das Haar mußte alle vierzehn Tage sorgfältig nachgefärbt werden, ebenso der Schnurr- und der Spitzbart.

„Fis – Fis!!“ rief er mit überschnappender Stimme. „Fis, Fräulein Müller!!“

Die sechzehnjährige Schülerin zuckte ängstlich zusammen.

Da besann Weinreich sich auf sich selbst. Ida Müller bezahlte zwei Mark pro Stunde, als einzige seiner Schüler und Schülerinnen, die ohnehin nicht zahlreich waren.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich bin heute etwas nervös. Mein kranker Hals hat mir wieder eine schlaflose Nacht eingetragen“, sagte er mild und verzog sein faltiges, verlebtes Gesicht zu einem höflichen Lächeln.

Der alte Regulator an der Wand des sogenannten Salons, in dem der Musiklehrer seine Stunden abhielt, begann im Galopptempo die elfte Stunde zu schlagen. Karl-Ernst atmete auf. Gott sei Dank: die Qual war zu Ende.

Ida Müller verabschiedete sich, und ihren Platz an dem Flügel nahm ein jüngeres Mädchen ein, die knicksend ihren Lehrer mit einem ehrfürchtigen „Guten Morgen, Herr Professor“ begrüßt hatte.

Weinreich führte diesen Titel mit Recht. Wenigstens was die Verleihung als solche anbetraf. Der Fürst von Liechtenstein hatte aus Gründen, die wohl kaum in den musikalischen Leistungen des also Ausgezeichneten lagen, ihn dazu gemacht.

„Übe die Sonate nochmals durch, mein Kind. Ich komme sofort wieder“, sagte Karl-Ernst würdevoll und ging in das Nebenzimmer, das mit genau so zusammengewürfelten Möbeln ausgestattet war wie der Salon.

Dieser Raum diente als Wohn- und Speisezimmer.

Am Mitteltisch saß des Professor Stieftochter in einem billigen Morgenanzug und las einen Leihbibliotheksroman. Sie schaute nicht auf und bemerkte daher auch nicht den unfreundlichen Blick, den Weinreich über sie hinweggleiten ließ.

Er holte sich von der Anrichte die Kognakflasche, ging damit ans Fenster und goß drei Gläschen hinab. Dann trat er vor den Eckspiegel und band sich das seidene Halstuch, das er wegen seiner Mandelentzündung trug, etwas loser und genialer. Dabei räusperte er sich und sagte:

„Scharfer hat wieder an mich geschrieben. Er beklagt sich über Deine kühle Zurückweisung. Ich möchte Dich doch bitten, Dein Verhalten zu ändern.“

Er sprach sehr langsam, in väterlich-gütigem Ton. Und doch klang durch seine belegte Stimme noch etwas anderes hindurch, etwas wie eine Drohung.

Fritzi Pelcherzim klappte ihr Buch knallend zu und stand auf. Selbst die lose Morgenjacke und das unordentlich frisierte Haar vermochten ihrer eigenartigen, rassigen Schönheit keinen Abbruch zu tun. Auf einem schlanken und doch vollen, sehr biegsamen Körper saß ein Kopf von einer Linienführung, die jeden altvenezianischen Gemmenschneider begeistert hätte. Reiches, aschblondes Haar stach seltsam gegen die dunklen, langen Brauen und die mandelförmigen, lebhaften Augen ab. Die Augen waren braun, ausdrucksvoll und stets halb verdeckt von fast zu langen Wimpern. Wenn etwas in diesem Frauenantlitz störte, so war es der Zug von Energie und Entschlossenheit, der sich um den kleinen Mund deutlich ausprägte.

„Ich habe schon wiederholt erklärt, daß ich auf jede Unterstützung des Kommerzienrats bei meiner Karriere verzichte“, sagte sie kurz. „Ich verkaufe mich nicht einem alten Wüstling. Nie und nimmer! Das ist mein letztes Wort!“

Sie sah dabei ihren Vater herausfordernd, wie zum Kampf gerüstet, an.

Der Professor rieb sich die Hände, als ob ihn friere.

„Liebes Kind, Du verkennst die Absichten Scharfers. Ich besitze nicht die Mittel, Dir kostspieligen Dramatischen und Gesangsunterricht geben lassen zu können. Du wirst stets Statistin, Choristin bleiben, wenn Dir nicht eine einflußreiche Persönlichkeit die Wege ebnet. Und daher …“

„… bleibt es trotzdem bei dem, was ich eben sagte“, vollendete sie schneidend seinen Satz.

In Weinreichs Augen glomm ein unheilverkündendes Leuchten auf. Aber seine Stimme blieb wie vorher: mild, gütig, väterlich …

„Du wirst auf Scharfers Angebot eingehen, Fritzi, – Du … wirst!! Ich wünsche es, und es geschieht daher!“

Da reckte sich des jungen Weibes Gestalt höher. Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht. Ihre Augen sprühten. Ein höhnisches Auflachen entrang sich ihren Lippen.

„Wie groß ist denn die Kupplerbelohnung, die Scharfer Dir versprochen hat …?“ fragte sie kalt. „Verschachern willst Du mich, damit Du am Spieltisch wieder ein paar Nächte zubringen kannst …!! Oh – ich weiß, was Du treibst. Der Mama magst Du Sand in die Augen streuen, sie ist kurzsichtig genug …“

Sie kam nicht weiter. Seine Finger umspannten mit eisernem Druck ihr Handgelenk, daß sie vor Schmerz leise aufschrie.

„Du wirst gehorchen!“ zischte er heiser. Dann beugte er sich mehr zu ihr hin, flüsterte ihr einige Worte zu.

Die Wirkung war furchtbar. Wie vom Blitz getroffen taumelte Fritzi Pelcherzim zurück und sank völlig gebrochen auf denselben Stuhl, von dem sie sich eben erst erhoben hatte.

Karl-Ernst Weinreich stand vor ihr, strich sich mit der zarten, weißen Hand den gefärbten Spitzbart und schüttelte wie in tiefem Seelenschmerz sein Künstlerhaupt.

„Armes Kind, mußte ich wirklich erst zu diesem Mittel greifen, um Deine Zukunft lichter zu gestalten? Mußte ich wirklich Dir erst beweisen, daß ich Dein Geheimnis kenne?!“

Das junge Weib, bleich wie der Tod, saß wie versteinert da. Dann hatte sie die heuchlerischen Worte des Stiefvaters begriffen. Langsam hob sie den Kopf. Ihre Augen weiteten sich. Und ein Blick traf daraus den Musiklehrer, daß ihn vor diesem lodernden Ausdruck des Hasses ein unbehagliches Gefühl beschlich.

Nicht genug damit. Fritzi Pelcherzim sagte jetzt leise, jedes Wort betonend:

„Du glaubst gesiegt zu haben! Aber – Du hast Dich soeben gleichfalls verraten. Ich weiß jetzt genug, um …“

In diesem Moment öffnete sich die Tür nach dem Flur hin und Frau Agna Weinreich trat ein, ein kleines, armseliges Weibchen, wie eine Greisin aussehend, und doch erst Mitte der Vierzig.

Der Professor tat, als antwortete er Fritzi auf eine gleichgültige Bemerkung.

„Sehr richtig! Viel ist an dem Stück nicht dran. – Ah, dann bist Du ja auch schon von Deinen Einkäufen zurück, liebes Weib. – Was soll’s denn heute zu Mittag geben? Hoffentlich ein solides Stück Fleisch. Ich fühle mich recht schwach nach der gestrigen Nacht.“

Frau Weinreich hatte nichts bemerkt. Sie ahnte nicht, welche hochdramatische Szene hier sich soeben abgespielt hatte.

„Klopse, dachte ich“, meinte sie verschüchtert. „Zu etwas Besserem reichte das Wirtschaftsgeld nicht mehr.“

Der Professor lächelte nachsichtig.

„Gebraten esse ich sie ganz gern. Im übrigen: Fritzi hat mir soeben erklärt, daß sie Scharfers Anerbieten annimmt. Dann wird sie also bald in der Lage sein, uns täglich einen Braten auf den Tisch zu zaubern.“

Frau Agna schaute erst ihren Gatten, dann ihre Tochter ängstlich an. Aus ihren Mienen war deutlich herauszusehen, daß diese Mitteilung sie mehr erschreckte als erfreute. Es kostete sie sichtlich Überwindung, wenigstens zu erklären:

„So, so, – das ist ja sehr – sehr schön …“

Einen Augenblick stand sie wie unschlüssig da. Sie wollte offenbar noch etwas hinzufügen, machte dann jedoch kehrt und verließ das Zimmer.

Weinreich trat schnell dicht vor seine Stieftochter hin.

„Was sollte die Bemerkung vorhin?“ fragte er ganz leise. „Inwiefern weißt du jetzt genug, um – ja, um – um …?! – Führe den Satz zu Ende! Ich wünsche es.“

Fritzi Pelcherzim hatte inzwischen Zeit gefunden, zu einem endgültigen Entschluß zu gelangen.

Sie spielte jetzt die Verschüchterte, in ihr Schicksal Ergebene.

„Es war ja nur ein Rest von Auflehnung von mir“, meinte sie weinerlich. „Oh mein Gott – verrate mich nicht – bitte, bitte …!“

Verzweifelt rang sie die Hände. Sie war nicht umsonst Schauspielerin, wenn auch nur für stumme Rollen in der Masse des Chors.

Der Professor ließ sich täuschen. Er strich ihr wie liebkosend über das Haar, sagte: „Wir werden noch gute Freunde werden, Fritzichen“, und ging in den Salon zurück, – zurück zu seiner Fronarbeit, die ihn mehr als anekelte … –

Das junge Weib blieb wie versteinert, starrte vor sich hin und … lächelte, – lächelte ein Lächeln, das noch böser, noch rachsüchtiger war als der Blick, mit dem sie vorhin den Stiefvater angeschaut hatte.

Dann kam Frau Agna ins Zimmer, eilfertig wie immer, mit einer großen Küchenschürze über dem dürftigen Kleide.

Verlegen und unschlüssig tat sie so, als suche sie etwas in der Anrichte.

Dann eine scheue Frage …

„Kind, also Du willst wirklich …?“

„Ja – aber ich will mich nicht verkaufen“, erwiderte Fritzi, ohne sie aussprechen zu lassen. „Du kannst ohne Sorge sein. Der Kommerzienrat wird vielleicht sehr enttäuscht werden …“

Ein Strahlen ging über Frau Weinreichs faltiges Gesicht.

„Du bist wie er, – ich weiß es. Du hast seine Energie geerbt“, sagte sie, wie von einer Last befreit. „Du bist eine echte Pelcherzim … Und Du wirst auch Karriere machen. Weinreich kann das doch beurteilen. Und – vergiß nie, was Du ihm alles verdankst. Er sorgt für Dich wie ein richtiger Vater. Ich merke das vielleicht besser als Du. Ja, ja – widersprich nicht, Kind! Du kennst ihn nicht. Im Grunde seines Herzens ist der ein gütiger, ein guter Mensch. Ich wünschte nur, er brauchte nicht so schwer zu arbeiten. Abends, bis in den frühen Morgen hinein, noch diesen Dirigentenposten einer Kaffeehauskapelle, – das reibt auf! Wie schlecht er heute wieder aussieht …!!“

Dann huschte sie hinaus, flink wie ein Wieselchen, dieses arme, zermürbte, blinde Geschöpf.

Fritzi seufzte. Ihr Blick hing an der Tür, hinter der die Mutter verschwunden war. Dann schluchzte sie plötzlich auf, schlug die Hände vor das zarte Gesicht und weinte lautlos in sich hinein …

Die Mutter machte ihr den Entschluß, den sie vorhin gefaßt hatte, so schwer … Sie liebte die, die ihr das Leben gegeben, mit inniger Herzlichkeit. Und der Gedanke, was nun kommen würde, wie diese ärmste Betrogene die Zukunft tragen würde, war wie ein letzter Hemmschuh ihrer schweren Pläne.

Aber – es mußte sein …! Und sie dachte jetzt, indem sie die Augen trocknete:

„Ich weiß genug, um dir die Larve vom Gesicht zu reißen. Und dann wird die Welt staunen, was darunter zum Vorschein kommt!“

 

7. Kapitel.

Der falsche Mantel und Hut.

Eginhard von Blendel nahm am Bahnhof Friedrichstraße ein Auto und ließ sich nach dem Bureau des Rechtsanwalts Kinkel fahren, wo er Cesar Bellinger anzutreffen hoffte.

Der frühere Assessor war auch wirklich anwesend.

„Herr Doktor ist in seinem Zimmer“, hatte das Schreibmaschinenfräulein zu Blendel mit einem etwas rätselhaften Lächeln gesagt.

Der Baron wußte in den Räumen Bescheid, ging über den Flur und klopfte an eine Tür, an der eine Visitenkarte mit „Cesar Bellinger“ darauf hing, – nur der Name, weder Doktor juris noch Assessor a. D.. Bellinger gab auf Titel und Würden nichts.

Blendel klopfte abermals. Niemand meldete sich. Da trat er ohne weiteres ein.

Bellinger lag auf dem mit Glanzleinwand überzogenem, alten Sofa und … schlief, – schlief und schnarchte.

„He – Bellinger!!“

Der rührte sich nicht. – Den Baron durchzuckte ein böser Verdacht. Sollte Bellinger vielleicht wieder …?!

Er rüttelte ihn, rüttelte sehr kräftig.

„Verd… Bande, laßt mich schlafen! Ich bin total voll – total!“ lallte der Assessor, ohne die Augen zu öffnen.

„Bellinger!!“ brüllte der Oberleutnant jetzt mit voller Lungenkraft. „Bellinger – Feuer …!!“

Das half. Der Assessor schnellte empor, taumelte, hielt sich am nächsten Stuhl fest und stierte den Baron wie einen Geist an.

„Sie … Sie haben Pech“, stammelte er dann. „Der Kinkel, mein Brotherr, ist heute Justizrat geworden. Das habe ich – habe ich auf seine Kosten begossen – den Titel – Justizrat, – großartig, was?!“

Eginhard von Blendel schüttelte den Kopf.

„Wie kann man sich nur am Vormittag schon so bis zur Bewußtlosigkeit vollsaufen!“ meinte er mißbilligend. „Sie haben mir doch gestern versprochen, sich mit Ihrem ganzen Können dem Falle Lossen zu widmen …!“

„Versprochen bleibt versprochen, Baron!“ sagte Bellinger, indem er sich gewaltsam zusammennahm. „Was bedeuten denn die armseligen vier Flaschen Burgunder?! Lächerlich!! Warten Sie hier zehn Minuten, und Cesar Bellinger steht nüchtern zu Ihrer Verfügung, falls Sie was Dringendes zu erledigen haben.“

„Allerdings. Vielleicht genügt es, wenn ich Ihnen sage, daß ich heute früh zufällig Fräulein Charlotte Oltendorf kennengelernt habe und daß sie Ihre Hilfe gleichfalls braucht.“

„Oltendorf … Oltendorf … – Donnerwetter – großartig!! – Entschuldigen Sie also!!“

Unsicheren Schrittes ging Bellinger hinaus.

Aus den zehn Minuten wurde jedoch eine Viertelstunde. Dann trat der Assessor wieder ein – rosig, frisch, vergnügt und mit klaren Augen.

„Na – zufrieden, Baron?“ meinte er, indem er Blendel die Hand zur Begrüßung hinstreckte.

„Wie haben Sie das fertig gebracht, Bellinger? Wahrhaftig – man merkt Ihnen nichts mehr an.“

„Kalte Dusche, Magenentleerung, ein Liter heiße Milch, – – das ganze Kunststück!! – Doch nun: ans Geschäft! Bitte nehmen Sie Platz. Ich bin begierig auf Charlotte Oltendorf.“

„Bedaure. Mit der Geschichte kann ich erst abends dienen – vielleicht. Früher darf ich nicht sprechen. Möglicherweise bleibe ich auch ganz stumm. Das hängt von [den][2] Umständen ab. – So habe ich’s der jungen Dame versprechen müssen.“

„Also war Ihre Bemerkung vorhin nur Ernüchterungsmittel?! – Auch gut. – Was gibt es sonst?“

„Das fragen Sie mich? Ich denke, Sie werden viel zu erzählen haben. Sie waren doch gestern nacht offenbar schon sehr rüstig in der Sache Lossen.“

Bellinger hatte sich auf seinen Schreibtisch gesetzt und schlenkerte mit den Beinen. Jetzt zeigte er auf seine Unterschenkel, die sich wie Pendel hin und her bewegten.

„Woran erinnert Sie das, Baron?“ fragte er ganz ernst.

Eginhard von Blendel zuckte die Achseln.

„Ganz nüchtern sind Sie doch noch nicht, Bellinger.“

„Meinen Sie?! – Ich wollte Sie nur auf Maletta bringen, Herrn Doktor Peter Maletta. – War ne tolle Geschichte, nicht wahr? Der gute Lossen sieht einen Befrackten auf einem Schemel tanzen …!! – Toll – toll!“

Der Baron schaute den Assessor bittend an.

„Meine Neugier ist um hundert Prozent gestiegen, Bellinger. – War es Scharfer, der Maletta aufgeknüpft hat? Reden Sie – oder ich pumpe Ihnen keine Mark mehr!“

Der Assessor wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Wie schwer, glauben Sie, ist Maletta?“

„Körpergewicht?“ fragte Blendel verdutzt.

Bellinger nickte.

„Vielleicht 130 bis 140 Pfund“, erwiderte der Baron nach kurzem Nachdenken.

„Nun – wenn Scharfer Kraft genug besitzt, einen Mann von diesem Gewicht mit dem Kopf in eine kurze Schlinge hineinzuheben, die dicht unter einem Kronleuchter hängt, dann ist er der Mörder.“

Blendel meinte darauf unzufrieden:

„Ist das alles, was Sie mir zu sagen wissen?“

„Oh nein – nur der Anfang. – Unser Klubhaus hat Nummer 18. Wer wohnt in der dritten Etage des Nachbargebäudes Nummer 17?“

„Keine Ahnung! – Aber was soll das?“

„Werden Sie schon merken. Später! – Waren Sie schon mal auf dem Dach unseres Klubhauses?“

Da wurde der Baron ungeduldig.

„Lassen Sie diese Art von Frage- und Antwortspiel, Bellinger! Ich bin nicht in der Stimmung für solche halben Witzeleien. Die Sache Lossen ist zu ernst dazu.“

„Ganz meine Meinung! – Gut – ich kann auch weniger interessant berichten, das heißt, nüchtern erzählen. Also: Ich beschäftige mich seit längerer Zeit mit der Person Malettas, das heißt, schon bevor ich Mitglied des Klubs wurde, wo ich ihn erst persönlich kennenlernte. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch folgenden Vorfall. An einem Winterabend – es war im Januar – saß ich im Restaurant Körber in der Mohrenstraße. Wie immer herrschte dort ein ewiges Gehen und Kommen. Die Tische waren dicht besetzt. Plötzlich wurde einer der Gäste anscheinend von Krämpfen befallen und wand sich am Boden in schrecklichen Zuckungen. Ich sprang ihm als erster bei. Mit Schaum vor dem Munde rief er mir zu, als ich mich über ihn beugte …: „Westentasche … zwei Pillen – geben Sie sie mir …!“ Ich fand denn auch in der Westentasche ein Büchschen, darin eine Anzahl Pillen, und es gelang mir, ihm zwei davon in den Mund zu schieben. – In kurzem erholte er sich wieder. Er erbrach sich heftig und mein Samariterdienst machte es erforderlich, daß ich ihm mit meinem Taschentuche den Mund reinigte. Sein Verhalten war nun bei dieser Gelegenheit so merkwürdig, daß ich auf den Verdacht kam, es könnte bei ihm eine Vergiftung durch eine dritte Person vorliegen. Ich will nicht näher ausführen, wie dieser Verdacht im einzelnen in mir rege wurde. Das würde zu viel Zeit kosten. – Jedenfalls ließ ich das Taschentuch von einem mir bekannten Chemiker untersuchen. Es enthielt in den Spuren des Mageninhaltes Malettas ein besonderes Arsenikpräparat. Damit war der Beweis erbracht, daß Maletta vergiftet werden sollte. Als Täter kam ein Herr in Frage, der mit ihm an demselben Tische gesessen und bei dem ersten scheinbaren Krampfanfall sehr eilig das Lokal verlassen hatte, wie ich von dem Kellner erfuhr. Immerhin hatte dieses Erlebnis für mich damals noch nicht so viel Interesse, um mich weiter damit zu beschäftigen. – Neun Monate später, im Herbst, las ich dann in dem Berliner Skandalblättchen „Die große Trompete“ rein zufällig folgendes: Der Chemiker Dr. M. war an einem Abend auf offener Straße in einer noch wenig bebauten Gegend Schmargendorfs, des westlichen Berliner Vorortes, überfallen, niedergeschlagen und durch einen Dolchstoß an der Schulter leicht verletzt worden. Ein paar Arbeiter verfolgten den Attentäter und erwischten ihn auch nach längerer Jagd. Der Festgenommene, ein älterer Mann, spielte den Harmlosen, protestierte gegen seine Ergreifung und behauptete, er hätte mit dem Überfall nicht das geringste zu tun. Die Arbeiter, die sich ihrer Sache völlig sicher glaubten, waren dann sehr enttäuscht, daß Dr. M. mit voller Sicherheit behauptete, sie hätten tatsächlich einen Unschuldigen gefaßt. Man ließ den Alten also laufen, und die Polizei hatte keinen Grund, sich irgendwie einzumischen. Nur „Die große Trompete“ hielt die Angelegenheit für wert, darüber einen langen Artikel loszulassen, in dem sie zu beweisen suchte, daß Dr. M., „ein sehr bekannter Chemiker“, wohl absichtlich den Angreifer, eben jenen grauhaarigen Mann, den die Arbeiter festgenommen hatten, geschützt habe, indem er so tat, als sei es der Unrechte. Das genannte Revolverblatt führte denn auch allerlei an, was für die von ihm vertretene Ansicht sprach, und fügte zum Schluß hinzu, mit Dr. M. sei ja schon einmal etwas recht Dunkles in einem Berliner Restaurant passiert. – Als ich den Artikel gelesen hatte, wußte ich, daß nur Dr. Maletta gemeint sein könne. Und von dem Tage an bezeigte ich auch eine Anteilnahme für seine Person, die ihm bald auffiel und höchst unangenehm war. Zunächst prüfte ich jene beiden Vorfälle eingehend nach. Ich stellte fest, daß Maletta offenbar sowohl bei der Arsenikvergiftung als auch bei dem Straßenüberfall hatte verhüten wollen, daß die Polizei davon Kenntnis erhielt und der Schuldige verfolgt würde. Dann lernte ich ihn im Klub kennen. Unsere erste Begegnung, sozusagen auf neutralem Boden, das heißt im Klub, war recht kennzeichnend für unser gegenseitiges Verhältnis.

„Ich bin Ihnen kein Fremder mehr“, sagte er leise zu mir. „Weswegen spüren Sie mir eigentlich nach? Ich weiß, daß Sie bei Rechtsanwalt Kinkel so etwas wie Detektiv sind. Ich bin niemandem etwas schuldig, auch weder Mörder noch Dieb. Also belästigen Sie mich nicht.“

Seine Worte sollten scherzhaft-polternd klingen. Aber ich merkte sehr wohl, daß er innerlich wütend war und auch eine gewisse Angst vor mir hatte.

Ich antwortete ungefähr folgendes:

„Ich liebe seltsame Vorfälle, Herr Doktor. Sie erkennen mich nicht wieder. Ich bin derselbe Herr, der Ihnen beisprang, als Sie im Restaurant Körber den Krampfanfall hatten. Dann las ich später in der „Trompete“ von dem Straßenattentat. Und jetzt widme ich Ihnen einen Teil meiner freien Zeit, um vielleicht Zeuge zu sein, wenn man Ihnen zum drittenmal zu Leibe geht.’

Ich hatte ebenfalls in scherzendem Tone gesprochen.

Er trat unruhig von einem Bein auf das andere. Das Lachen, das seine nächsten Worte begleitete, klang sehr gezwungen.

„He he – wahrhaftig, viel Ehre für mich, Herr Assessor, daß Sie sich derart meinetwegen bemühen. – Hm – wie stellen Sie sich denn zu den lächerlichen Behauptungen der „Trompete“, ich hätte den Attentäter absichtlich geschützt?“

Ich zuckte die Achseln.

„Bisher gar nicht. Jedenfalls witterte ich aber ein Geheimnis. Und als Detektiv kläre ich gern Geheimnisse auf, selbst wenn das Geschäft nichts einbringt.“

Da beugte er sich ganz dicht zu mir hin.

„Es bringt etwas ein, – nämlich wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie die alten Geschichten ruhen lassen, erhalten Sie tausend Mark.“

Ich lachte hell auf.

„Sie sind ein scherzhafter Herr“, sagte ich. – Dann trat Scharfer zu uns. Und Maletta ist auch nie wieder auf die Sache zurückgekommen. Trotzdem fühlte ich geradezu, daß er mich haßte und fürchtete. – –

So, Baron, das wäre also meine erste Begegnung mit dem Chemiker gewesen. Ist Ihnen nun gestern nacht vielleicht aufgefallen, wie verstört und angstvoll er gerade mich anstierte, nachdem ihm das Bewußtsein zurückgekehrt war?“

„Allerdings. Er hatte eigentlich nur Augen für Sie. Und das finde ich nach dem eben Gehörten ganz verständlich.“

„Gewiß. Ich war für ihn der gefährlichste seiner Retter. Ich kannte sein unerklärliches Bestreben bereits, Mordanschläge, die gegen ihn gerichtet waren, zu vertuschen. Er mußte sich sagen, daß dieses neue Ereignis mich sicher dazu bestimmen würde, ihn noch schärfer zu beobachten als bisher. Furcht war es, die ihn dann dazu bewog, Lossen das merkwürdige Angebot auf der Treppe zu machen. Mit einem Wort: Dieser Mann schützt tatsächlich seine Feinde oder seinen Feind, fürchtet die Möglichkeit, die Polizei könnte sich einmengen und einen der Schuldigen fassen. – Wie schwerwiegend müssen da wohl die Gründe sein, die ihn zu diesem direkt widersinnig erscheinenden Tun bestimmten …!!“

„Und Sie kennen diese Gründe, Bellinger?“

„Ehrlich gesagt: nein! Das Geheimnis ist für mich noch genau so dunkel wie an jenem Tage, als ich Maletta nachzuspüren begann. Immerhin habe ich mittlerweile doch über Maletta eine ganz hübsche Biographie zusammengetragen. Sie sollen erfahren, was ich weiß. – Maletta stammt aus Prag, ist Tscheche von Geburt. Er hat auf verschiedenen Universitäten in Deutschland studiert, sich bereits mit 21 Jahren den Doktortitel erworben und schon als Student fachwissenschaftliche Arbeiten von anerkannter Bedeutung veröffentlicht. – Dann verschwand er aus Europa für längere Zeit. Über diesen Abschnitt seines Lebens spricht er nie. Es hat mich viel Mühe gekostet herauszubekommen, daß er zehn Jahre in Südafrika bei einer Diamantenminen-Gesellschaft angestellt war. Er wurde entlassen, weil man ihn im Verdacht hatte, mit Minenarbeitern, die Edelsteine stahlen, unter einer Decke zu stecken. Vor einigen Jahren tauchte er dann hier in Berlin auf, eröffnete ein chemisches Laboratorium, gründete eine chemische Fabrik, beglückte den dümmeren Teil der Menschheit mit Heilmitteln und Schönheitswässerchen und soll heute mehrfacher Millionär sein. Daß er Junggeselle ist, wissen Sie, ebenso, daß er für seine Person ziemlich anspruchslos lebt. Aber dieses sein Leben ist nichts als eine Kette fortwährender Aufregungen. Die Außenwelt ahnt nichts davon. Man muß ihn beobachtet haben, wie ich es tat, um behaupten zu können, daß er nicht umsonst stets so bleich und nervös ist. Er befindet sich eben in ewiger Angst vor Nachstellungen. Nie geht er ohne Revolver aus. Sein Chauffeur ist ein früherer Kriminalbeamter, sein Diener war früher Schutzmann. Selbst hier im Klub wird er nie Speisen bestellen. Getränke nimmt er nur aus frisch entkorkten Flaschen zu sich. Der Zar kann nicht vorsichtiger sein als er. Und doch wissen wir jetzt, daß der Tod bereits dreimal haarscharf an ihm vorübergegangen ist. Dreimal! Und wie oft mag dies noch geschehen sein, ohne daß es zu jemandes Kenntnis gelangte …!! – Sagen Sie selbst, Baron: hatte ich gestern nicht recht, als ich behauptete, Maletta liefere Stoff zu vielen Kriminalromanen?! Vergegenwärtigen Sie sich lediglich die eine Tatsache, daß ein Mann seine Mörder stets absichtlich entwischen läßt! Ist das nicht geradezu ein Preisrätsel?! Und bedenkt man ferner, daß …“

Ein Klopfen an der Tür zwang Bellinger zu einem etwas ungeduldigen „Herein!“

Es war einer der kleinen Schreiber. Das Bürschchen reichte dem Assessor die „B. Z. am Mittag“.

„Ein Mord ist drin“, sagte der Junge wichtig. „Fräulein Harder, unsere Stenographin, meint, Sie würden den Herrn kennen, Herr Assessor, – –: Kommerzienrat Scharfer!“

Bellinger war mit einem Satz von dem Schreibtisch herunter. Und auch Eginhard von Blendel schnellte von seinem Stuhle hoch.

Der kleine Schreiber grinste geschmeichelt.

„Hier steht’s, Herr Assessor …!“ Und er zeigte auf einen längeren gesperrt gedruckten Artikel auf der ersten Seite des Blattes.

Bellinger riß ihn förmlich die Zeitung aus der Hand.

„Lesen Sie vor!“ rief der Baron.

Und der Assessor las …

Geheimnisvoller Mord!! Der Tote im Müllkasten!! Als heute morgen gegen sieben Uhr die Hausbesorgerin von Wiebelstraße Nr. 26 in den auf dem Hofe stehenden, erst am Abend vorher geleerten großen, eisernen Müllkasten Kehricht hineinschütten wollte, entdeckte sie in dem Kasten die Leiche eines elegant gekleideten Herrn. Die sofort benachrichtigte Polizei stellte fest, daß der Tote der in Berliner Gesellschaftskreisen wohlbekannte Kommerzienrat Scharfer war und daß es sich zweifellos um ein Kapitalverbrechen handelte. Scharfer hatte genau im Herzen eine breite Stichwunde, die seinen augenblicklichen Tod herbeigeführt haben muß.

Verschiedenes an diesem Morde ist seltsam und unerklärlich. – Was tat Scharfer in der nur von einfachen Leuten bewohnten Wiebelstraße? Wie gelangte er auf den Hof von Nr. 26? – Das Haus war um zehn Uhr abends, wie immer, verschlossen worden. Die Mieter sind sämtlich Leute, die sich des allerbesten Leumundes erfreuen. Niemand hatte in der Nacht verdächtigen Lärm oder dergleichen gehört. Der Portier ist nicht ein einziges Mal herausgeklingelt worden, um die Haustür zu öffnen. – Und weiter: Der Tote hatte einen Mantel an, der nicht sein Eigentum ist. Das Monogramm im schwerseidenen Futter zeigt ein verschlungenes P. M.. Dabei ist der Tote nicht beraubt worden. Alle seine Wertsachen hat man bei ihm gefunden. – Jedenfalls ist Berlin um ein sensationelles Verbrechen reicher, und unsere Polizei kann beweisen, ob sie dieser neuen, fraglos außerordentlich schwierigen Aufgabe, den Täter zu entdecken, gewachsen ist. – Wie uns unser E. K.-Berichterstatter noch kurz vor Redaktionsschluß melden konnte, hat der Ermordete den gestrigen Abend in dem Klubhause des Klubs der Fünfzig zugebracht und es erst gegen ein Uhr morgens etwa verlassen. Nach dem Gutachten des Gerichtsarztes ist Scharfer eine halbe Stunde später dem Mordinstrument zum Opfer gefallen. Die Wiebelstraße liegt keine drei Minuten von dem Klubhause entfernt. – Wir werden morgen über das Verbrechen ganz eingehend berichten.“

Bellinger hatte mitten im Zimmer stehend, den Artikel vorgelesen. Jetzt ließ er die Zeitungen sinken.

„Was sagen Sie zu dieser Überraschung, Baron?!“ fragte er kopfschüttelnd.

„Ich – ich bin sprachlos!“ meinte Blendel ganz verstört. Und fügte nach kurzer Pause hinzu: „Die gestrige Nacht werde ich nicht so bald vergessen!! Das Wiedersehen mit Lossen, der Mann am Kronleuchter, und jetzt noch der Mord: etwas viel für eine Nacht!!“

Bellinger schaute wieder in die Zeitung hinein.

„P … M!!“ murmelte er. „… P. M. – Peter Maletta!! Natürlich!“

Der Baron packte des Assessors Arm mit hartem Griff.

„Sie meinen das Monogramm …? Und Sie denken, daß vielleicht …“

„Gewiß – daß vielleicht hier der Falsche getötet worden ist – durch Ihre Schuld, Baron!“

Blendel fuhr zurück.

„Durch … durch meine Schuld …?“ stotterte er verständnislos.

Bellinger nickte und sagte:

„Sie waren es, der Maletta das Auto holte. Sie mußten ihm auch Mantel und Hut in das Auto reichen. Die Sachen hingen im Erdgeschoß im Garderobenzimmer. Sie haben eben die falschen Sachen erwischt. Maletta fuhr mit dem Paletot und dem Hute Scharfers davon. Und Scharfer mußte nachher notgedrungen, als er nach Hause wollte, Malettas schwarzen Pelerinenmantel und auch dessen weichen Filzhut benutzen. In dem Pelerinenmantel konnte der Kommerzienrat, der ziemlich eine Größe mit dem Chemiker hat, leicht für diesen gehalten werden, zumal auch der Filzhut – grau mit schwarzem Band – die Täuschung noch vollkommener machte.“

Der lange Oberleutnant sank in den nächsten Stuhl.

„Mein Gott – Sie könnten recht haben, Bellinger – wahrhaftig!“

Der Assessor warf die Zeitung auf den Schreibtisch.

„Wir wollen diese Vermutung vorläufig für uns behalten, Baron, – verstanden?!“ meinte er nachdenklich. „Wenn wir Lossen helfen wollen, müssen wir vorsichtig sein. Die Polizei kann uns womöglich unsere Kreise stören. Freie Hand nach allen Seiten – das ist die Hauptsache! – Und jetzt wollen wir zu Lossen, wenn es Ihnen recht ist. Der ist mir ja noch die Schilderung jenes Abends schuldig, als die Diamanten Oltendorf gestohlen wurden.“

 

8. Kapitel.

Die Diamanten des Rentiers.

Werner Lossen arbeitete gerade an jenen Aquarellskizzen, die er Scharfer für die Erbprinzessin vorlegen sollte, als der Baron und Bellinger bei ihm erschienen.

Gleich nach der Begrüßung sagte Blendel dann zögernd:

„Die Skizzen sind jetzt leider zwecklos, mein Alter. Der, der Dir die lohnende Beschäftigung in Potgow verschaffen wollte, lebt nicht mehr.“

Die Nachricht von Scharfers Ermordung erschütterte den jungen Maler geradezu.

„Der Ärmste!“ meinte er mitleidig. „Das Ende hat er nicht verdient, selbst wenn er es wirklich gewesen sein sollte, der Maletta in die Schlinge gehoben hat. Dann wird er wohl seine Gründe dafür gehabt haben. Maletta ist ja nach Ihren Andeutungen von gestern, Herr Bellinger, auch kein einwandfreier Charakter. Und ich habe doch Scharfer eigentlich nur von der besten Seite kennengelernt. Er wollte mir helfen, mich wieder emporzuarbeiten.“

„Gestern sprachen Sie zu dem Baron in etwas anderer Tonart“, meinte Bellinger, indem er sich in die eine Sofaecke setzte. „Da äußerten Sie, Scharfer wäre ein Heuchler – oder so was ähnliches.“

Lossen errötete.

„Ich gebe zu, daß sich das Nachteilige, was ich von dem Kommerzienrat zu wissen glaubte, inzwischen halb und halb vergessen habe. Ich dachte an ihn jetzt nur als an den Mann, der in selbstloser Weise nicht fördern wollte.“

Bellinger wehrte mit der Hand ab.

„Ist ja auch gleichgültig jetzt“, erklärte er kurz. „Von den Toten soll man nur Gutes reden. – Wollen Sie mir jetzt bitte also erzählen, was sich an jenem Abend in der Wannsee-Villa abgespielt hat. Aber recht ausführlich in den Hauptsachen.“

„Ich wurde mit Oltendorf durch eine Zeitungsannonce bekannt“, fing Lossen an, nachdem er sich neben das Sofa auf einen Stuhl gesetzt hatte. „Er suchte einen Künstler, der die Diele seiner Villa ausschmücken sollte. Ich meldete mich, und er übertrug mir die Arbeit. Wir wurden bald Freunde; auch mit Fräulein Charlotte, seinem einzigen Kinde, stand ich mich sehr gut. Nach einem Monat – ich wohnte damals in Wannsee möbliert – luden Oltendorfs mich zu einer kleinen Abendgesellschaft ein. Es war im Monat März – am 23.. Den Tag werde ich nie vergessen. Außer mir gab es nur ältere Herrschaften als Gäste, alles Familien aus Wannsee, denen der Rentier irgendwie verpflichtet war. – Halt – es war doch noch ein junges Mädchen darunter, wie mir eben einfällt. Und jetzt kann ich mir auch eine Frage selbst beantworten, die mich gestern eine Weile gequält hat, weil ich umsonst nachgrübelte, in welcher Beziehung der Name Pelcherzim zu meinem Prozesse stand. Die junge Dame damals hieß Fritzi Pelcherzim. Ihr Stiefvater, ein Musiker, war ein alter Bekannter Oltendorfs. – – Im ganzen waren wir vierzehn Personen bei Tisch. Ich hatte keine Dame, dafür aber zur Rechten einen sehr trinkfesten, alten Major a. D., der die Schuld daran trug, daß ich den Weinen etwas stark zusprach. – Da fällt mir auch der Name des Musikers ein: Professor Weinreich hieß er. – Kurz, als die Tafel aufgehoben wurde, war ich beinahe … betrunken, merkte es aber noch rechtzeitig, ging hinaus, sagte dem Stubenmädchen, ich wolle nur mal schnell nach meiner Wohnung hinüber, und begab mich in den Garten, der bis zur Havel hinabläuft. Hier schritt ich, den Hut in der Hand, auf und ab, um mich zu ernüchtern. In der Alkohollaune kam mir dann der Gedanke, ein kaltes Bad zu nehmen, damit die Weindünste sich schneller verflüchtigten. Am Flußufer im Garten stand ein Badehäuschen. Die letzten Tage war das Wetter schon sehr warm gewesen, und ich glaubte ein solches Bad meinem abgehärteten Körper selbst im März wohl zumuten zu können. Es bekam mir auch wirklich anscheinend sehr gut. Ich fühlte mich völlig frisch und kehrte in die Villa zurück. Um mir nun das nasse Haar neu zu scheiteln, schlich ich mich durch den Hintereingang unbemerkt in den ersten Stock hinauf, wo die Schlafzimmer lagen. Ich wollte des Rentiers Kamm und Bürste benutzen, fand die Sachen auch, ordnete mein Haar vor dem Spiegel des Wäscheschrankes und gedachte dann die unteren Räume wieder aufzusuchen. Plötzlich bekam ich jedoch einen Schwindelanfall, und mir wurde so jämmerlich zumute, daß ich es vorzog, nun wirklich nach Hause zu gehen, wo ich mich dann sofort zu Bett begab. Ich schlief bis in den hellen Morgen hinein. Zwei Kriminalbeamte weckten mich und nahmen mich sofort mit, weil ich verdächtig war, die Edelsteinsammlung Oltendorfs, die dieser in seinem Schlafzimmer in einem Schränkchen aufbewahrte, in der verflossenen Nacht gestohlen zu haben. Mein Unglück wurde, daß der Rentier mir kurz vorher die Diamanten gezeigt hatte, daß ich den Inhalt des Schränkchens also kannte, und daß das Stubenmädchen mich beobachtet hatte, wie ich in das Schlafzimmer schlüpfte. – Niemand glaubte mir, daß ich ein Bad genommen und mir nur das Haar hatte scheiteln wollen. Die Richter waren überzeugt, ich hätte nach einem vorher genau zurechtgelegten Plane gehandelt. Die Umstände waren gegen mich – ich wurde verurteilt …!! Und ich bin unschuldig, Herr Bellinger, – so wahr mir Gott helfe!“

„Hätte ich in der Strafkammer als Beisitzer gesessen: ich würde Sie auch für schuldig befunden haben“, meinte Bellinger ehrlich. „Sie haben recht: die Umstände waren gegen Sie! Alles deutete darauf hin, daß Sie das Bad nur erfunden hatten. Ich besinne mich jetzt auf die Verhandlung recht genau. Ihre Schilderung hat mein Gedächtnis aufgefrischt.“

Der Assessor streichelte sich gedankenvoll das runde Kinn. Nach einer Weile fuhr er dann fort:

„Ich hätte Sie verurteilt – als Richter. Der Privatmann Cesar Bellinger, der Lohnsklave eines Anwalts, der sogenannte Detektiv, würde anders entschieden haben. Zum gewiegten Verbrecher fehlen Ihnen die Haupteigenschaften. Das hätte auch die Strafkammer berücksichtigen müssen.“ Er lächelte dazu auf ganz besondere Weise. Aber weder Lossen noch der Baron achteten darauf. „Da Sie nun einmal jedoch das Unglück gehabt haben, das Opfer einer Reihe von ungünstigen Zufällen zu werden, müssen wir zusehen, daß wir die Sache wieder einrenken. – Sie haben vor Gericht damals alles abgestritten, und die Edelsteine sind auch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Was hat eigentlich die Polizei getan, um auch den Raub wieder zurückzuerhalten?“

„Mich ständig beobachtet. Auch jetzt werde ich fraglos noch überwacht. – In einem Punkte sind Sie übrigens falsch unterrichtet, Herr Bellinger. Wenn auch nicht alle Edelsteine zum Vorschein gekommen sind: drei Exemplare der aus vierzig Stücken bestehenden Sammlung wurden, noch während ich im Gefängnis saß, bei einem Hehler zufällig bei einer Haussuchung vorgefunden. Es waren Exemplare von bedeutender Größe, jedoch von nicht ganz tadelloser Reinheit. Die Beschlagnahme eines Teiles der Diebesbeute hat den Eifer der Behörden neu aufgestachelt. Der Rentier hatte ja auch dreitausend Mark Belohnung ausgesetzt für die Wiederherbeischaffung der Diamanten. Besonders war es ein Kriminalwachtmeister, der immer wieder versucht hat, mich zu einem sogenannten Geständnis zu bewegen, das heißt, ich sollte angeben, wo ich die Beute versteckt hätte. Er kam auch verschiedentlich ins Gefängnis zu mir, machte sich auch nach Verbüßung meiner Strafe an mich heran. Er war ein gemütlicher Mann. Schließlich schien er selbst an meiner Schuld zu zweifeln. Jetzt habe ich gut ein Jahr lang nichts mehr von ihm gehört.“

Der Baron hatte schon vorher Lossen ins Wort fallen wollen. Nun meinte er eifrig:

„Bellinger, geben Sie als Fachmann mal genau acht, was ich jetzt sage: drei Diamanten sind wiederaufgetaucht!! Und doch hat Scharfer gestern im Kirgisenzelt zu dem Manne mit der hellen Stimme geäußert, die echten Steine wären damals überhaupt nicht gestohlen worden. – Ist das nicht sehr merkwürdig?“

„Genau dasselbe habe ich mir auch schon überlegt, Baron. Scharfer ist leider nicht mehr imstande, uns Aufschluß zu geben. Suchen wir also den Mann mit der hellen Stimme. Vielleicht weiß der von dem Kommerzienrat so einiges, was für uns wichtig ist. – Unser Klub hat fünfzig Mitglieder. Wer kommt von diesen in Betracht? Sie kennen ja die Herren besser als ich, da Sie schon länger zu den Fünfzig gehören.“

Eginhard von Blendel dachte nach.

„Helle, energische Stimme …? – Ja, da ist schwer eine Auswahl zu treffen“, meinte er.

Bellinger nickte. „Allerdings. Aber es gibt doch eine Möglichkeit, den Richtigen herauszufinden. Lossen muß jetzt häufiger in den Klub mitgenommen werden. – Würden Sie die Stimme wiedererkennen?“ wandte er sich an den jungen Maler.

„Ich glaube ja.“

„Nun also …! Dann wäre es Ihre Aufgabe, Baron, Lossen Gelegenheit zu geben, Stimmprüfer zu spielen. Damit wollen wir unsere Tätigkeit beginnen. Inzwischen überlege ich mir schon, wie man die Geschichte weiter anpackt. – Noch eins, Herr Lossen. Die Polizei hat sich doch wahrscheinlich große Mühe gegeben festzustellen, wie die drei Steine in den Besitz jenes Hehlers gelangt sind, nicht wahr? Ist in dieser Beziehung etwas ermittelt worden?“

„So gut wie nichts. Ich weiß es von dem Kriminalwachtmeister. Der Hehler hat behauptet, die Diamanten erst am Tage vor der Beschlagnahme durch die Polizei von einem Unbekannten erhalten zu haben. Dieser wollte nach zwei Tagen wiederkommen, wenn der Hehler die Steine hatte abschätzen lassen. Dann sollte er auch sein Geld erhalten. Der Unbekannte soll ein älterer, kleiner Herrn mit grauem Vollbart, goldener Brille und einem kürzeren Bein, also lahm, gewesen sein. Diese Beschreibung mag natürlich von dem Hehler ganz willkürlich aus der Luft gegriffen sein. Wenigstens bezweifelte der Kriminalwachtmeister sehr stark diese Angaben.“

Abermals flog ein seltsames Lächeln um Bellingers Mund. – Lossen hatte noch hinzugefügt:

„Der Hehler sitzt wohl zur Zeit noch im Zuchthaus. Er hatte eine ganze Menge auf dem Kerbholz.“

Der Assessor stand auf.

„Ich habe Hunger. Wollen wir irgendwo gemeinsam speisen?“

Lossen lehnte ab. Er hätte bereits gegessen. Blendel dagegen war einverstanden. Man verabredete noch, daß der Maler sich gegen ½ 8 abends im Bureau bei Bellinger einfinden solle, falls eben Charlotte Oltendorf des Assessors Hilfe in Anspruch nehmen wollte.

Werner Lossen, der jetzt erst erfuhr, auf welche Weise Blendel die Tochter des Rentiers kennengelernt hatte, war sehr zufrieden damit, daß auch seine Sache dann gleich mit Fräulein Oltendorf durchgesprochen werden sollte, wie Bellinger dies vorgeschlagen hatte.

Dann verabschiedeten sich die beiden, und der jungen Maler machte sich langsam fertig, um wieder an seine Arbeitsstelle zu gehen. – Nur gut, dachte er, daß ich der Filmgesellschaft noch nicht gekündigt habe. Dann säße ich jetzt ohne Beschäftigung da.

 

9. Kapitel.

Ein neuer Freund.

Als er schon den Hut aufhatte, klopfte es. Auf das kurze „Herein!“ erschien ein kleines, schmächtiges Männchen in der Tür, sehr bescheiden angezogen, im ganzen eine so unscheinbare Persönlichkeit, daß er sicher nirgends auffiel.

Lossen zuckte bei dem Anblick dieses Besuches ängstlich zusammen und wechselte die Farbe.

„Guten Tag, Herr Lossen“, sagte Kriminalwachtmeister Schippel höflich. „Gestatten Sie, daß ich nähertrete und – haben Sie für mich ein wenig Zeit?“

„Bitte!“ erwiderte der Maler nicht gerade sehr freundlich. „Für Sie muß ich ja wohl Zeit haben.“

„Oh – nicht diesen Ton, Herr Lossen! Ich komme nicht als Beamter, mehr als … Freund, als wohlmeinender Freund.“

„So? Dann darf ich ehrlich sein. Ich muß in den Dienst.“

„Ich begleite Sie ein Stück, wenn es Ihnen recht ist.“

Auf der Straße begann Schippel dann, nachdem er sich eine lange Holländer angezündet hatte:

„Wer sind die beiden Herren, die vorhin bei Ihnen waren?“

Lossen gab die gewünschte Auskunft. Und Schippel meinte darauf:

„Ah, Herr Assessor Bellinger, der bei Rechtsanwalt Kinkel die Strafsachen bearbeitet. – Lange kennen Sie ihn noch nicht, – nicht wahr?“

„Das werden Sie ebenso gut wissen wie ich“, sagte Lossen bitter. „Ich merke ja, ich stehe noch immer unter Polizeiaufsicht.“

„Zu Ihrem Glück“, erklärte der Beamte mit besonderer Betonung, indem er seinen Nickelkneifer höher an die Augen schob.

Lossen blickte ihn erstaunt an.

„Zu meinem Glück? Wie soll ich das verstehen?“

„Davon nachher. – Bellinger und der Baron sind Klubbekannte. Hat der Oberleutnant Sie mit dem Assessor zusammengeführt? Und etwa zu dem Zweck, daß Bellinger dafür sorgt, Sie zu rehabilitieren?“

„Sie scheinen gut unterrichtet zu sein“, erwiderte Lossen widerwillig.

„Vermutungen von mir, nichts weiter. Sie betonten ja, der Baron wäre Ihr bester Freund, den Sie gestern erst zufällig wiedergetroffen hätten.“

Schippel schwieg eine Weile. Dann erklärte er mit einer gewissen Vertraulichkeit:

„Sehen Sie, Herr Lossen, ich habe Ihren Fall stets im Auge behalten. Nicht etwa der Belohnung wegen, die Herr Oltendorf ausgesetzt hat – nein! Mit irdischen Glücksgütern bin ich reichlich versorgt. Ich brauche nicht für Geld den Spitzel, den Schnüffler zu spielen. Gewiß, ich beziehe mein Gehalt. Aber das gebe ich … – Doch welches Interesse haben Sie für diese Dinge?! Wozu rede ich davon?! – Kurz – mich bewogen andere Gründe, Ihre Sache weiter zu verfolgen. Erst hielt auch ich Sie für schuldig. Dann tauchten die drei Steine auf. Ich kam zu Ihnen ins Gefängnis. Und da habe ich damals die Überzeugung – wenigstens so halb und halb – gewonnen, Sie könnten doch nicht der Dieb gewesen sein.“

Er schwieg und rauchte schnell ein paar Züge.

Lossen fühlte geradezu, daß der Beamte tatsächlich mehr als Freund zu ihm sprach. In Schippels Stimme war so ein besonderer, warmer Unterton. Aber der Maler, durch die Schicksalsschläge mißtrauisch gemacht, wollte doch nicht sofort an die Aufrichtigkeit dieser freundschaftlichen Teilnahme glauben. Er fürchtete, Schippel könnte ihn vielleicht lediglich ausforschen wollen. Und daher sagte er jetzt schnell und mit feinem Spott:

„So – also halb und halb hatten Sie die Überzeugung gewonnen …!! Immerhin etwas! Es wäre mir aber lieber, Sie besäßen die Beweise, die dazu genügten, um ein Wiederaufnahmeverfahren für mich durchzusetzen.“

„Seien Sie doch nicht so bitter!“ meinte Schippel wiederum kopfschüttelnd. „Es wird schon alles noch gut werden. Nur Geduld …!!“

Lossen horchte hoch auf.

„Erwecken Sie nicht Hoffnungen in mir, die ja zu schön sind, um in Erfüllung gehen zu können“, sagte er in steigender Erregung. „Es wäre bodenlos schlecht von Ihnen, wenn Sie mich täuschen würden. Sie wissen ja nicht, was es heißt, vorbestraft zu sein – unschuldig hinter den grauen Mauern gesessen zu haben!!“

„Meinen Sie …?! – Vielleicht weiß ich es doch!!“ erwiderte der Kriminalwachtmeister langsam. „Doch – das ist eine besondere Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie Ihnen gelegentlich. – Zurück zu Ihnen! Sie haben recht: es wäre eine bodenlose Schlechtigkeit, wenn ich trügerische Hoffnungen in Ihnen wecken wollte. Das würde ich nie fertig bekommen. – Nein: Sie dürfen wirklich hoffen!! Sehen Sie einmal her. Was ist dies hier?“

Auf Schippels flacher Hand glänzten fünf wasserklare Diamanten, sprühten und gleißten, strahlten ganze Lichtbüschel in allen Farben aus …

„Mein Gott … etwas Steine aus Oltendorfs Sammlung?“ entfuhr es Lossen.

Ein paar Vorübergehende wurden aufmerksam, blieben stehen und schauten neugierig auf die beiden Männer, die die Umwelt ganz vergessen zu haben schienen.

„Kommen Sie!“ sagte Schippel leise, „Kommen Sie! Man beobachtet uns…“ Dann schob er die Hand mit den Edelsteinen wieder in die Tasche.

„Es sind Diamanten aus Oltendorfs Sammlung“, fuhr er fort. „Die Steine hatten sämtlich einen besonderen Schliff und kleine Kennzeichen. Der Rentier weiß jedoch nichts davon, daß bereits acht seiner Lieblinge wieder aufgetaucht sind. Die Polizei will erst die ganze Sammlung zusammen haben. Jedenfalls beweisen diese fünf Steine, die Sie eben sahen, Ihre Schuldlosigkeit vollständig.“

Lossen stand wie angewurzelt da. In seinen Augen strahlte ein helles Licht auf.

„Endlich – endlich!!“ jubelte er, indem er Schippels Arm mit hartem Griff drückte. „Wie soll ich Ihnen nur danken …!! Wie soll ich …“

„Beruhigen sollen Sie sich“, lächelte der kleine Mann gütig.

„Ah – mag meine Arbeit heute auf mich warten!“ sprudelte Lossen hervor. „Ich feiere heute …! Gehen wir in ein kleines Kaffeehaus, Herr Schippel, wo wir uns ungestört aussprechen können. Sie müssen mir sagen, auf welche Weise …“

„Gut – gehen wir!“ unterbrach der andere ihn. „Ich kenne hier in der Nähe ein Lokal, wo es vorzüglichen Kuchen gibt. Ich liebe Süßigkeiten und … Hunde.“

In der kleinen Konditorei fanden sie einen Fensterplatz, wo sie wirklich ganz ungestört waren.

Die Besitzerin, eine dralle, rosige Witwe, behandelte Schippel wie einen regierenden Fürsten.

„Man nennt mich hier nur den Millionenrentier“, lachte er vergnügt. „Was ich wirklich bin, ahnt niemand.“

Nachdem der lieblich und kräftig duftende Kaffee vor ihnen stand, begann der Beamte mit gedämpfter Stimme:

„Die fünf Diamanten sind auf eine recht seltsame Art in meinen Besitz gelangt. Ich war vor einer Woche dabei, als eine heimliche Spielhölle – von dieser Sorte Zerstreuungsstätten gibt es in Berlin ja leider eine Unzahl – ausgehoben wurde. Wir überraschten die Jeubrüder denn auch bei der besten Arbeit. Aber die Bande hatte ihre Vorsichtsmaßregeln getroffen. Die Hälfte entwischte uns durch eine geheime Tür, und wir behielten als Andenken an sie nur ihre Mäntel, Überzieher, Stöcke, Schirme und Hüte in den Händen. In einem seidegefütterten Sportpaletot eines der Entflohenen fand ich dann nichts weiter als die fünf Diamanten – eingenäht in das Futter der rechten Achselhöhle. – Ein feines Versteck, nicht wahr?! – Aber Thomas Schippel hat es doch ausbaldowert. Leider aber nichts weiter. Ich hätte zu gern gewußt, wem der Paletot gehörte. Aber – darüber war nichts zu erfahren – nichts, trotz all meiner Bemühungen! Trotzdem freute ich mich über den Fund. Wußte ich doch, daß Sie, Herr Lossen, die Steine als zu der Diebesbeute gehörige Stücke nicht weitergegeben haben konnten. – Ich will Ihnen das näher erklären. Damals bei der Gerichtsverhandlung gegen Sie hat der Staatsanwalt sehr fein ausgeführt, Sie hätten ohne Frage einen Komplicen gehabt, der Ihnen sofort in der Diebstahlsnacht den Raub abnahm und ihn in Sicherheit brachte. Sie wurden ja gleich am nächsten Vormittag verhaftet, und Ihre Wirtin in Wannsee hatte beschworen, daß Sie gegen zwölf Uhr nachts heimgekehrt wären und Ihr Zimmer nicht mehr verlassen hätten. Falls Sie die Edelsteine also nicht irgendwo in Wannsee vergraben hatten, mußten Sie notwendig einen Freund gehabt haben, der die Beute gleich nach Berlin schaffte, wo sie ja am leichtesten in Geld umzusetzen war. Die Polizei hatte dann mit Hunden die ganze Umgebung Wannsees abgesucht. Und der Polizeihund Cesar, eine wahre Perle seiner Art, war es, der Ihre Spuren von der Oltendorfschen Villa bis nach Ihrer Wohnung verfolgte und so bewies, daß Sie offenbar tatsächlich auf dem kürzesten Wege in der Nacht vorher heimgekehrt waren, mithin den Raub nicht gut irgendwo verscharrt haben konnten. Deshalb hatte dann auch der Staatsanwalt bei seiner Anklagerede von dem Komplicen gesprochen. – Nun, wenn es einen solchen gegeben hätte, dann war ja auch eine Erklärung dafür gefunden, daß drei der gestohlenen Diamanten auftauchten, während Sie noch im Gefängnis saßen. Dann hatte eben Ihr Mitwisser die Steine zu veräußern gesucht. So dachte auch ich. Aber als ich Ihnen in Ihrer Zelle gegenübertrat, als ich diesen völlig gebrochenen, verbitterten Gefangenen vor mir sah, der mir mit Tränen in den Augen beteuerte, er wäre unschuldig, der beim Andenken seiner aus Gram gestorbenen Eltern schwor, nichts mit dem Diebstahl zu tun zu haben, da ging in meinem Innern eine Wandlung vor sich. Ich begann an Ihrer Schuld zu zweifeln – sogar sehr ernstlich. Und ich faßte den Entschluß, es mich etwas kosten zu lassen, den Fall Lossen völlig aufzuklären. Nicht als Beamter, sondern als Privatmann ließ ich Sie ständig durch Leute, die ich bezahlte, überwachen. Auch nicht eine Minute in diesen zwei Jahren seit Ihrer Entlassung aus der Strafanstalt sind Sie unbeobachtet geblieben. Gewiß, – es war eine harte Geduldsprobe für mich. Anderseits machte es nicht viel Schwierigkeiten, die Leute, mit denen Sie gelegentlich zusammenkamen – nähere Bekannte hatten Sie ja nicht! – auf Herz und Nieren zu prüfen, ob vielleicht dieser Komplice darunter war, von dem ich doch annehmen mußte, daß Sie mal mit ihm zusammentreffen würden. Ihr Tun und Treiben lag also wie ein offenes Buch vor mir. Und diese Ihre Lebensführung war derart, daß ich mir sagte: Lossen muß ein ehrlicher Mensch sein! – Dann vor sechs Tagen die Diamanten im Sportpaletot …! Die gaben den Ausschlag!“

Schippel trank seine Tasse leer. Und der junge Maler fragte nun gespannt, da es ihm zu lange dauerte, bis der kleine Herr weitersprach:

„Inwiefern den Ausschlag? – So reden Sie doch!“

„Es ist schon häufiger vorgekommen, daß ein Bestohlener gar nicht bestohlen worden ist. Ich habe, als ich erst an Ihrer Schuld zu zweifeln begann, die Möglichkeit ins Auge gefaßt, Oltendorf könnte vielleicht gewußt haben, daß das Stubenmädchen Sie in seinem Schlafzimmer beobachtet hat, und unter schlauer Ausnutzung dieses Sie belastenden Umstandes den ganzen Diebstahl nur erfunden und die bisher beschlagnahmten acht Steine selbst in Verkehr gebracht haben.“

Lossen saß ganz sprachlos da. An diese Möglichkeit hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Aber sofort fielen ihm auch verschiedene Tatsachen ein, die diese Annahme Schippels nur zu sehr widerlegten.

Er schüttelte den Kopf und sagte zu dem ihn erwartungsvoll anblickenden Beamten:

„Nein – ich glaube Oltendorf doch besser zu kennen! Er hätte mich so kalten Blutes nie ins Unglück gestürzt. Und – wozu sollte er wohl diesen Diebstahl erfunden haben? Wozu?! Die Sammlung war ja nicht einmal versichert!! Sonst hätte man vielleicht daran denken können, er habe sich die Versicherungssumme erschwindeln und nebenbei noch die Steine behalten wollen.“

Schippel lächelte schlau.

„Hm – und wenn es nun mit Oltendorfs Reichtum nicht so weit her war, wie es schien, wenn er … seinen Gläubigern die Sammlung entziehen wollte …?!“

… Gläubiger …!! – Das eine Wort war’s, das Werner Lossen plötzlich die Szene im Kirgisenzelt ins Gedächtnis zurückrief. Scharfer hatte ja zu dem Manne mit der hellen Stimme davon gesprochen, daß es mit Oltendorf zu Ende gehe, daß dessen pekuniärer Zusammenbruch nahe bevorstehe und daß er beabsichtige, Hand auf die Edelsteinsammlung zu legen.

Und wie der junge Maler sich jetzt auf alle Einzelheiten des belauschten Gesprächs besann, da fiel ihm auch ein, daß Scharfer ja auch behauptet hatte, nur die Imitationen wären damals gestohlen worden – nur die Imitationen …!! – Ja, Schippel könnte mithin doch auf der richtigen Fährte sein …! Oltendorf hatte selbst den Dieb gespielt, hatte damit eines der verruchtesten Verbrechen begangen, die es nur geben konnte: einen Schuldlosen ins Gefängnis geschickt!

Schippel war ein sehr guter Menschenkenner. Und dazu gehörte, daß er aus dem Mienenspiel anderer deren Gedanken teilweise erraten konnte. Er hatte Lossens Gesicht genau beobachtet. Jetzt fragte er:

„Sie haben sich zu meiner Ansicht bekehrt, nicht wahr?“

Da streckte Werner Lossen ihm die Hand über den Tisch hin.

„Ja – voll und ganz! Und ich verschreibe mich Ihnen von diesem Augenblick an mit Leib und Seele. Hören Sie, was ich gestern im Klub der Fünfzig erlebte. Bellinger und mein Freund Blendel werden sicher ganz einverstanden sein, daß ich Sie ins Vertrauen ziehe.“

So erfuhr Schippel alles, was sich seit der Begegnung Blendels und Lossens an der Kranzlerecke ereignet hatte, – alles, auch die heutigen Vereinbarungen, die die drei in Lossens Wohnung getroffen hatten.

Schippel notierte sich verschiedenes, fragte nach dieser oder jener Einzelheit und erklärte dann:

„Also Bellinger ist hinter Maletta her?! Und Bellinger soll jetzt auch Ihnen und Fräulein Oltendorf helfen …?! Da hat er etwas reichlich Arbeit. – Übrigens: diese Geschichte mit den verwechselten Kleidungsstücken, – daß Scharfer Malettas Mantel anhatte, ist äußerst wichtig. Ich begreife nicht, daß Bellinger von Ihnen und dem Baron verlangen konnte, hierüber vorläufig zu schweigen. – Hm – er wird seine Gründe haben.“

Lossen dachte: „Sieh da – der Kriminalbeamte ist auf den Privatdetektiv so etwas eifersüchtig! Konkurrenzneid …!“

Schippel setzte eine frische Holländer in Brand, sog den Rauch mit Behagen ein und sagte dann:

„Doppelt genäht hält besser! Zwei Fachleute arbeiten also jetzt an Ihrer Rehabilitation, lieber Herr Lossen. Ich möchte Ihnen nun vorschlagen, Bellinger sowohl als auch Ihrem Freunde Blendel gegenüber zu verschweigen, daß ich gleichfalls für Sie tätig bin. Glauben Sie mir, – es ist besser so! – Geben Sie mir Ihr Wort, daß die beiden nichts davon erfahren, was heute zwischen uns besprochen worden ist – nichts!“

Wieder dachte Lossen: „Konkurrenzneid …!!“ Laut aber sagte er:

„Sie haben mein Wort! Ich bin Ihnen schon jetzt zu so großem Danke verpflichtet, daß ich jeden Ihrer Wünsche aufs genaueste erfüllen werde.“

„Gut. Es soll Ihr Schade nicht sein. – Jetzt wollen wir aufbrechen. Ich habe heute noch viel zu erledigen. Sie sollen bald wieder von mir hören.“

Lossen kam zwei Stunden zu spät an seine Arbeitsstätte. Und heute pfiff er zum erstenmal seit Jahren ein Liedchen vor sich hin, während er an der Rückwand eines Turmverlieses für ein neues Filmdrama herumpinselte.

 

10. Kapitel.

Der Chauffeur Malettas.

Nachdem Thomas Schippel sich von Lossen getrennt hatte, nahm er ein Auto und fuhr nach dem nordwestlichen Stadtteile Berlins, nach Moabit. In der Turmstraße stieg er aus, bezahlte und verschwand in einem Hause einer engen Nebengasse.

Das Haus war alt und hatte ein sehr niedriges Erdgeschoß. Hier öffnete Schippel mit einem Sicherheitsschlüssel eine Tür, die direkt vom Flur in ein Vorderzimmer führte. Dieses, sehr bescheiden ausgestattet, diente ihm eigentlich nur als Umkleideraum. Für seine Wirtin und die Hausbewohner war er ein armer Klavierspieler, der kläglich sein Brot in Kneipen niedrigsten Ranges verdiente. Polizeilich gemeldet war er als Albert Müller. Aber selbst auf dem Polizeirevier wußte man nicht, wer sich hinter dem Sammelnamen Müller verbarg.

Schippel hatte die Tür hinter sich wieder verschlossen und begann sich nun umzukleiden. Aus einem großen Koffer mit zwei Patentschlössern holte er einen Chauffeuranzug hervor. Auch der Kneifer und der graue Bart sowie die tadellos gearbeitete Perücke verschwanden. – –

In der dritten Querstraße nach Norden zu lag die chemische Fabrik Doktor Malettas. Er selbst wohnte dicht daneben in einem Hause, das auch die Bureaus und das Laboratorium beherbergte.

Peter Maletta saß mit weit ausgestreckten Beinen in einem Klubsessel seines einfachen, aber gediegen eingerichteten Herrenzimmers. Er hatte sich von dem „Selbstmordversuch“ der vergangenen Nacht noch immer nicht ganz erholt, obwohl er bis gegen zwei Uhr nachmittags geschlafen hatte.

Zu dem eleganten, braunen Hausjackett aus Sammet trug er heute ein weißseidenes Tuch um den Hals geschlungen. Einen Kragen konnte er noch nicht benutzen.

Der Diener trat ein.

„Franz ist noch immer nicht da“, meldete er.

Dieser frühere Schutzmann war ein Riese und mußte die Kräfte eines Bären besitzen. Sein blaurotes Gesicht und die etwas schwimmenden Augen verrieten, daß er dem Alkohol nicht abgeneigt war.

„Eine – eine Unverschämtheit von Franz, sich einfach ohne Erlaubnis stundenlang in der Stadt herumzutreiben!“ fuhr Maletta mit krächzender Stimme auf. „Ich brauche ihn … Er soll sofort …“

Hinter dem Diener erschien der Erwartete.

„Bin schon da, Herr Doktor“, sagte Thomas Schippel gelassen.

Malettas verzerrtes Gesicht glättete sich.

„Endlich! – Lassen Sie uns allein, Wilhelm!“

Der Diener verschwand mit einer knappen Verbeugung.

„Zum Henker, – wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, Franz?“ meinte der Chemiker, indem er aufstand und mit erregten Schritten das Zimmer zu durchqueren begann. „Habe ich Sie deswegen als Chauffeur angestellt, damit Sie nie da sind, wenn man Sie mal haben will?!“

Er hatte sich vorhin nur gewaltsam zusammengenommen, als Schippel eintrat. Jetzt fuchtelte er schon wieder wild mit den Armen hin und her, seine dünnen Lippen zuckten und auf den Backenknochen brannten in dem bleichen Gesicht zwei rote Flecken.

„Da – setzen Sie sich! Ich habe mit Ihnen zu reden“, fuhr er fort, ohne Schippels Antwort abzuwarten.

Der Kriminalbeamte, der jetzt als Chauffeur um gut zehn Jahre jünger aussah, nahm mit größter Selbstverständlichkeit in dem zweiten Klubsessel an der anderen Seite des Mitteltisches Platz. Bei dem eigenartigen Verhältnis, in dem er zu seinem Dienstherrn stand, konnte er sich das schon erlauben.

Maletta blieb vor ihm stehen und sagte flüsternden Tones, während seine Hände sich dabei krampfhaft ballten und öffneten:

„Ich habe schon wieder einen Erpresserbrief erhalten!! Denken Sie – den zweiten innerhalb acht Tagen! Die verfl… Bande überschüttet mich jetzt förmlich mit ihren zarten Aufmerksamkeiten!! Hier ist der Brief. Er kam heute um zwei Uhr nachmittags durch einen Eilboten ins Haus.“

Er schwenkte das Schreiben hin und her. „Wieder mit Maschine getippt, – und wieder steht darin, daß man mich aufhängen wird, wenn ich nicht mit hunderttausend Mark herausrücke, – also genau derselbe Inhalt wie in dem Briefe vor fünf Tagen!“

Malettas vorquellende, helle Augen leuchteten mit einemmal in höhnischer Genugtuung.

„Sie sind mir im übrigen ein feiner Schutzengel, mein Herr Franz Schiller!!“ meinte er, indem er sein Halstuch abriß. „Sie haben sich glänzend bewährt. Da – sehen Sie …!! Wissen Sie, was dieser rote Streifen um meinen Hals bedeutet?!“

„Allerdings!“ erwiderte der Kriminalbeamte, der sich bei dem Chemiker unter dem Namen Franz Schiller seinerzeit vorgestellt hatte, gleichmütig. „Der Streifen sagt mir, daß die Briefschreiber oder der Briefschreiber seine in dem letzten Schreiben enthaltene Drohung wahrgemacht hat.“

Maletta stampfte mit dem Fuße auf.

„Ja – ja – so ist’s!“ zischte er, zitternd in der Erinnerung an das Furchtbare, das er in der verflossenen Nacht erlebt hatte. „Und dieses Mal ist der Tod nur zu dicht an mir vorbeigestreift, – so dicht, wie noch nie!“

„Ihre eigene Schuld!“ meinte Schippel achselzuckend. „Mir dürfen Sie deswegen keine Vorwürfe machen. Wenn Sie volles Vertrauen zu mir hätten, würde es mir ein leichtes sein, diesen Halunken das Handwerk für immer zu legen, die von Tag zu Tag frecher werden. Aber – Sie bleiben ja bei Ihrer Weigerung, mich ganz einzuweihen, zeigen mir nicht mal die Erpresserbriefe, benehmen sich so, als ob …“

„Schweigen Sie!“ rief Maletta dazwischen. „Ich habe Sie unter bestimmten Bedingungen zu meinem Schutz engagiert. Sie sollen lediglich auf alles Verdächtige achtgeben, sollen stets die Augen offenhalten, besonders hier im Hause und in der Fabrik. Ich habe meine Gründe, weshalb ich allein denen nachforsche, die mich schon wie eine Zitrone ausgequetscht haben und immer noch weiter ausquetschen. Der Tag der Rache wird schon noch kommen …!“ Sein Gesicht hatte sich vor ohnmächtigem Grimm zu einer Fratze verzerrt und seine Brust hob und senkte sich in keuchenden Atemzügen.

Es dauerte eine Weile, bis er sich leidlich beruhigt hatte. Schippel verharrte währenddessen in abwartendem Schweigen.

Dann begann der Chemiker wieder, nachdem er sich in den zweiten Klubsessel geworfen hatte:

„Immerhin sollen Sie dieses Mal von mir ganz genau erfahren, Franz, wie sich diese furchtbare Geschichte abgespielt hat. Ich will dann nachher ein paar Fragen an Sie als früheren Kriminalbeamten richten, der leichter als ich etwas derartiges überschaut und es richtiger beurteilt. – Ich war gestern abend im Klub. Sie wissen – Klub der Fünfzig. Dort fühlte ich mich nach dem Drohbriefe, der mir vor fünf Tagen zuging, noch am sichersten. Ich saß unten in einem der Parterrezimmer und las Zeitungen. Es war so gegen zwölf Uhr, als Kommerzienrat Scharfer an mich herantrat und mir zuflüsterte, daß Doktor Bellinger – ich habe Ihnen den Namen wohl schon mal genannt – mich in einer dringenden Angelegenheit unauffällig oben im Vorstandszimmer zu sprechen wünsche. Nun – gerade entzückt war ich über diese Botschaft nicht. Bellinger pumpt Leute nur zu gern an. Trotzdem ging ich in den zweiten Stock hinauf. Das Vorstandszimmer liegt zur Linken, und man muß erst die Bibliothek passieren, bevor man hineingelangt. Außerdem kann man auch noch durch das Kirgisenzelt und die Malaienhütte hinein. Dieser Weg wird aber nie benutzt. – Die Bibliothek war dunkel. Ich ließ daher die Tür nach dem Treppenflur hinter mir offen, damit ich nicht irgendwo gegenrannte. Als ich das Vorstandszimmer betrat, war es scheinbar leer. Der Kronleuchter brannte. Ich sah mich suchend um, und plötzlich schlüpfte hinter dem großen Aktenschrank ein Mann hervor, der eine schwarze Maske vor dem Gesicht hatte. Ich prallte entsetzt zurück. Ich ahnte, daß ich in eine Falle geraten war. Da fragte der Maskierte auch schon: „Wollen Sie die Hunderttausend zahlen – ja oder nein?!“ Ich tastete nach meinem Revolver und sprang gleichzeitig hinter den großen Tisch. – Nein – ich wollte springen! Der Andere war schneller, lachte heiser auf, holte mit einem kurzen Gegenstande – was es war, weiß ich nicht – aus, traf meine linke Schläfe – – und knüpfte mich, den Bewußtlosen, an einer roten Portierenschnur am Kronleuchter auf. Als ich wieder zu mir kam, sah ich zuerst Bellinger vor mir, dann erkannte ich den Baron von Blendel und einen dritten Herrn, einen Maler Lossen, wie ich nachher erfuhr. Daß ich gerettet, das heißt rechtzeitig abgeschnitten wurde, habe ich Bellinger zu verdanken.“ – Maletta erzählte nun im einzelnen, wie es gekommen war, daß die Herren ihn noch gerade im letzten Augenblick aus seiner verzweifelten Lage befreit hatten. Dann fügte er hinzu: „Ich möchte Sie nun fragen, Schiller, ob Sie es für möglich halten, daß Scharfer und Bellinger an diesem Attentat auf mich irgendwie beteiligt sind. Scharfer hat mir doch bestellt, ich solle ins Vorstandszimmer kommen, wo der Assessor mich erwarte.“

Der Chauffeur dachte einen Augenblick nach.

„Bellinger scheidet hier wohl aus“, sagte er dann langsam. „Wäre er mit dem Maskierten im Bunde gewesen, so hätte er Sie doch nicht nachher abgeschnitten und auch nicht so eifrig Wiederbelebungsversuche angestellt. Nein – ich denke, Scharfer hat hier allein mitgeholfen, Sie in das Vorstandszimmer zu locken. Schade, daß er über diese Sache nicht mehr befragt werden kann.“ Bei den letzten Worten schaute Schippel seinen Dienstherrn unauffällig prüfend an.

„Nicht mehr befragt werden kann?“ meinte Maletta erstaunt. „Wie soll ich das verstehen?“

„Weil er nicht mehr lebt“, sagte Schippel einfach.

Der Chemiker erstarrte förmlich zur Bildsäule, schnappte dann nach Luft, brachte aber kein Wort heraus.

„Scharfer ist in der vergangenen Nacht ermordet worden“, erklärte der Kriminalbeamte mit erhobener Stimme. „Sie haben bis in den Tag hineingeschlafen. Sonst wüßten Sie wohl schon davon. Die B. Z. am Mittag hat bereits einen Artikel über dieses neueste Berliner Sensationsverbrechen gebracht.“

Er holte dabei aus seiner Lederjacke eine Zeitung hervor und reichte sie Maletta über den Tisch hin.

Der Chemiker griff ganz mechanisch danach. Er war leichenblaß, und sein Körper wurde jetzt von einem nervösen Zittern hin und her geschüttelt.

Nachdem er dann den Artikel überflogen hatte, sagte er kaum vernehmlich: „Reichen Sie mir einen Kognak, Schiller – aber gleich ein halbes Weinglas voll. – Entsetzlich – – ermordet …!!“

Gierig goß er den Alkohol hinunter. Dann ging er schwankend zu dem fellbedeckten Diwan und legte sich nieder.

„Ich muß mich zunächst mal von dem Schreck erholen, Franz. Bitte – kommen Sie nach einer Stunde wieder. – Halt – noch eins! Ich verlange von Ihnen Ihr Wort darauf, daß Sie zu niemandem über das sprechen, was ich Ihnen über das Attentat von gestern mitgeteilt habe – zu niemandem, unter keinen Umständen!! Ich fürchte, daß die Ermordung Scharfers auch dieses Attentat, das ich vor meine Retter als einen Selbstmordversuch hingestellt habe, zur Kenntnis der Polizei bringen wird. Und diese soll bei der Annahme bleiben, ich hätte mir selbst das Leben nehmen wollen. Die Sache geht nur mich etwas an, und ich, ich ganz allein will die Schuldigen entdecken und bestrafen, so bestrafen, wie …“ Er schwieg plötzlich, um dann fortzufahren: „Gehen Sie, Schiller, gehen Sie …!! Ich bin total erschöpft.“

Der Chauffeur hatte gerade die Tür geöffnet, als der Diener sich an ihm vorbeidrängte.

„Herr Doktor, ein Herr wünscht Sie zu sprechen“, meldete er. „Ich soll diesen Brief von ihm abgeben. Er wartet draußen.“

Mißtrauisch richtete Maletta sich auf dem Diwan auf, riß den Briefumschlag auseinander, runzelte finster die Stirn, überlegte und sagte dann:

„Gut – lassen Sie den Herrn ein, Wilhelm. – Ihr beide bleibt aber dicht hinter der Tür stehen. Wenn ich laut huste, stürmt ihr ins Zimmer. Ihr wißt ja schon Bescheid.“

Maletta setzte sich in den einen Klubsessel, so daß er das Gesicht nach der Tür gerichtet hatte, durch die der Besucher eintreten mußte. Vor sich auf den Tisch legte er seinen kleinen Taschenrevolver und deckte die B. Z. am Mittag darüber, die Schippel-Schiller nicht wieder zu sich gesteckt hatte.

Der Besucher durchschritt die Tür, die der Diener vor ihm öffnete.

Maletta stutzte. Dann glitt ein Ausdruck des Erkennens über sein bleiches Gesicht.

„Oltendorf, ich hätte Dich wahrhaftig kaum wiedererkannt!“ flüsterte er, um nicht von seiner Schutzwache draußen verstanden zu werden. Dann fügte er hinzu: „Was willst Du von mir? Habe ich Dir nicht verboten, zu mir zu kommen …?!“ Und in schnell wachsender Erregung sprudelte er nun hervor: „Du bist für mich nichts als ein Schreckbild, das mich an die Vergangenheit erinnert. Ich habe diese Vergangenheit durch Fleiß und durch meine Intelligenz glücklich ausgelöscht, nehme eine hochgeachtete Stellung ein, verkehre in den besten Kreisen! Soll vielleicht durch Dich all das zusammenstürzen, was ich mühsam errichtet habe, legst Du es darauf an, mich durch Deinen Besuch bloßzustellen?! Was willst Du – sprich!! Habt Ihr das Wild noch immer nicht genug gehetzt, kennt Ihr denn kein Erbarmen, Ihr Vampire, Ihr Bestien, Ihr … Schufte …!“

Seine leise Stimme schnappte über. Ganz atemlos schwieg er jetzt, während seine rechte Hand ständig unter der Zeitung am Revolverkolben lag.

Oltendorf sah nicht wie ein Mann aus, den man zu fürchten brauchte. Sein fahles, glattrasiertes, von Falten vielfach durchfurchtes Gesicht zeigte einen müden, fast verzweifelten Ausdruck, seine Haltung war die eines völlig gebrochenen Menschen.

Zu den haßerfüllten Angriffen Malettas lächelte er jetzt traurig, zuckte die Achseln und erwiderte, indem er sich in den Klubsessel niederließ, den vorhin Schippel innegehabt hatte:

„Immer wieder dasselbe Lied …!! Was soll ich mich noch verteidigen?! Du glaubst mir ja doch nicht! – Ich will Dir nicht schaden, Maletta, – so wahr mir Gott helfe. Ich gehe sofort wieder, habe nur eine Bitte an Dich …“

„Sprich leiser!“ unterbrach der Chemiker ihn ärgerlich. „Hier haben die Wände Ohren …“ –

Fünf Minuten später geleitete Maletta den Gast bis in den Flur.

Als Thomas Schippel durch das Schlüsselloch beobachtet hatte, daß der Besuch aufbrach, war er schnell mit dem Diener von der Tür fortgeschlüpft und dann durch eine andere Tür in das Herrenzimmer geeilt, wo er glücklich den Brief erwischte, den der unbekannte Gast seines Dienstherrn durch Wilhelm hineingeschickt hatte. Er warf nur einen hastigen Blick auf die wenigen Worte:

„Ich muß dich sprechen! Muß …!! Denk’ an Kimberley.

Oltendorf“,

und huschte wieder hinaus, indem er den Brief auf den Mitteltisch zurückwarf.

Da trat auch schon Maletta ein, blieb in der Tür stehen und rief nach dem Diener.

„Wilhelm – der Franz soll sofort zu mir kommen.“ –

Schippel war wieder mit dem Chemiker allein. Aber er hatte doch noch Zeit gefunden, dem Diener zuzuraunen:

„Hinter dem Manne her, der eben fortging … Ich beschäftige Maletta eine halbe Stunde …“ –

Peter Maletta sagte zu Franz Schiller:

„Es geht mir jetzt besser. Wir können die Sache nun weiter erörtern, von der wir vorhin sprachen.“

Schippel merkte sehr bald, daß der Chemiker ihn nur gerufen hatte, um zu verhüten, daß der Fremde nicht etwa von „Franz Schiller“ verfolgt würde. Maletta redete eigentlich nur um das furchtbare Erlebnis sozusagen herum. Er wollte Schippel festhalten. Das war lediglich seine Absicht. Nach etwa fünf Minuten spielte er dann abermals den Erschöpften. Doch jetzt lag es in des Kriminalbeamten Interesse, daß der Chemiker ihn nicht fortschickte. Wilhelm mußte Zeit gelassen werden, seinen Auftrag auszuführen, während Maletta wieder nicht merken durfte, daß der Diener nicht anwesend war.

Und daher erklärte Schippel nun sehr ernst:

„Nehmen Sie sich noch einen Augenblick zusammen, Herr Doktor. Ich muß die Unterredung noch fortsetzen, da die Möglichkeit besteht, daß die Kriminalpolizei hier sehr bald erscheint.“

Maletta wurde grün im Gesicht vor Schreck.

„Was – wie – Kriminalpolizei …?! – Warum …?“

„Scharfers wegen“, unterbrach Schippel den mühsam die Worte Hervorstotternden.

Es entwickelte sich nun zwischen den Beiden ein Frage- und Antwortspiel, das von dem Chauffeur sehr geschickt endlos in die Länge gereckt wurde.

Maletta war bald vor Ungeduld geradezu wütend.

„Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort wie mit der Zange herausziehen!!“ kreischte er. „Was soll das?! Wollen Sie mich denn vollends verrückt machen …!!“

„Wozu die Aufregung, Herr Doktor?!“ meinte Schippel, den Beleidigten markierend. „Alles geschieht doch nur zu Ihrem Besten. Sie müssen sich doch darüber klar werden, ob Sie später vielleicht vor Gericht im Falle Scharfer einen Meineid leisten wollen. Die Polizei wird sicher schon wissen, daß der Kommerzienrat Ihren Mantel und Hut trug, als er ermordet wurde. Und sie wird dies natürlich sofort aufklären wollen. Unter diesen Umständen wäre es doch gut, wenn Sie sich rechtzeitig überlegten, was Sie auszusagen gedenken. Werden Sie wirklich den … den Selbstmordversuch verschweigen können, wo es sich jetzt doch um die Untersuchung eines Kapitalverbrechens handelt?“

Maletta wollte etwas erwidern. Da wurde jedoch an die Tür geklopft. Der Diener trat ein und fragte, ob der Herr Doktor Kaffee wünsche.

Schippel und Wilhelm tauschten einen schnellen Blick aus. – Maletta aber befahl, ihm den Kaffee in sein Arbeitszimmer zu stellen.

Wilhelm verschwand. Und der Chemiker erklärte nun:

„Ich werde mir noch überlegen, was ich sage und was ich nicht sage. Ich beabsichtige jedenfalls, nur die Fragen zu beantworten, die von der Polizei an mich gerichtet werden. – Sie aber, Schiller, geben mir Ihr Wort, zu schweigen!!“

„Gern, – falls ich nicht gerade Zeuge oder dergleichen spielen muß.“

„Wer sollte wohl auf Ihr Zeugnis Wert legen? Und worauf sollte sich dieses beziehen?!“ meinte der Chemiker ruhig. „So – und nun lassen Sie mich allein“, fügte er hinzu.

Im Flur wartete Wilhelm auf Schippel. Schnell flüsterte er ihm zu:

„Ich traf zufällig einen Bekannten, den Geheimpolizisten Mischke. Der ist nun hinter „ihm“ her.“

Schippel nickte befriedigt und ging weiter.

 

11. Kapitel.

Der Mann auf dem Dache.

Eginhard von Blendel und der Assessor hatten im Weinrestaurant Traube gut und reichlich gegessen, und Bellinger hatte dabei noch reichlicher getrunken.

Während der üppigen Mahlzeit, die Blendel nachher für beide bezahlte, war zwischen ihnen abermals der Fall Lossen und auch der Mord an dem Kommerzienrat nach allen Seiten hin erörtert worden.

Blendel war bei diesem Gespräch eingefallen, daß der Assessor vorher das Nachbargebäude des Klubhauses erwähnt und auch eine Bemerkung über das Dach des letzteren gemacht hatte.

„Was wollten Sie eigentlich mit diesen Andeutungen, Bellinger?“ fragte er gespannt. „Dahinter steckt doch etwas Besonderes?“

„Allerdings. – Ich kann Ihnen über die gestrige Nacht noch manches Interessante berichten. Ich hatte gleich gegen Scharfer Verdacht geschöpft, daß er entweder allein oder zusammen mit einem Komplicen den Chemiker aufgeknüpft hätte. Daher verschwand ich auch so schnell aus dem Kirgisenzelt. An den Mittäter Scharfers dachte ich nur deswegen, weil es mir doch sehr unwahrscheinlich vorkam, daß des Kommerzienrats Kräfte dazu genügt hätten, den betäubten Maletta in die Schlinge zu heben. Im weiteren Verfolg dieses Gedankens sagte ich mir, der Komplice könne dann nur, falls er nicht auch Mitglied des Klubs war, auf dem Wege über die Dächer in das Klubhaus gelangt sein, da das Gebäude ja nur den einen Vordereingang hat und Scharfer es wohl kaum gewagt haben würde, seinen Helfershelfer durch diesen hineinschlüpfen zu lassen. Ich wußte nun, daß es leicht war, vom Dache des Nebenhauses Nr. 17 auf das des Klubgebäudes zu kommen. Beide Dächer sind flach und liegen in einer Höhe. Ich habe mir von dort oben mal ein nächtliches Manöver eines Zeppelins über Berlin angesehen. – Mein erster Gang führte mich also auf den Hausboden. Ich erstieg die Treppen im Dunkeln, und sofort wurde ich dann gewahr, daß die Dachluke offenstand, die über dem Gange zwischen den Bodenkammern liegt. Eine leiterähnliche Treppe geht nach der Luke empor. Als ich den Kopf über den Lukenrand hinausstrecken wollte, wurde ich plötzlich von oben leiser angerufen. – „Scharfer, sind Sie’s?“ fragte eine undeutliche Stimme. Da erblickte ich denn auch gegen den sternenklaren Nachthimmel in deutlichen Umrissen den weit vorgebeugten Oberkörper eines Mannes, dessen Gesicht mit einer Maske verhüllt war. In demselben Moment schaltete der Unbekannte für Sekunden eine elektrische Taschenlampe ein. Der weiße Lichtkegel traf voll mein Gesicht. Der Mann über mir stieß einen Fluch aus und verschwand. Ich ihm nach … Ich sah, wie er in der Dachluke von Nr. 17 untertauchte. Als ich hinzukam, war der Lukendeckel jedoch bereits niedergelassen und von innen verschlossen. Um dem Manne nun die Flucht auf die Straße unmöglich zu machen und ihn vielleicht beim Verlassen des Hauses abzufassen, eilte ich die Treppen hinunter und stellte mich vor dem Nebenhause auf Posten. Dort begegneten wir uns ja auch, als Sie und Lossen heimwärts gingen. Ich hielt meine Beobachtungen für so wichtig, daß ich Lossen nach seiner Wohnung fragte, wo ich Ihnen beiden das Ergebnis dieser Jagd auf den Maskierten mitzuteilen gedachte. Nachher fand ich hierzu jedoch keine Zeit. Ich blieb wohl eine Stunde vor dem Nachbarhause, mich gegenüber in einem Torwege verborgen haltend, auf der Lauer. Inzwischen verließen mehrere Herren, teils einzeln, teils zu mehreren das Klubgebäude, ohne mich zu bemerken. Scharfer wird sich wohl darunter befunden haben. Ich erkannte ihn nicht, da er ja Malettas Mantel und Hut trug. Schließlich gab ich meinen Beobachtungsposten auf, betrat wieder den Klub, traf hier aber niemanden mehr an. Nur unser Hausmeister räumte im Erdgeschoß noch die Gläser weg. Ich sagte zu ihm, ich hätte oben etwas vergessen und ging auf den Boden, um die Luke zu verschließen. Aber sie war bereits herabgelassen, und die Eisenkrampe hatte man regelrecht durch das Schloß verwahrt. Dies konnte nur Scharfer in der Zwischenzeit getan haben. – Hierauf begab ich mich in meine Wohnung. Es war mittlerweile drei Uhr morgens geworden, und ich fühlte mich müde zum Umsinken. – – So, Baron, das ist die … Dachgeschichte. Nun noch zu meiner anderen Bemerkung Ihnen gegenüber: wer in der dritten Etage von Nr. 17 wohnt. – Sie werden erstaunt sein: Scharfer hat dort für eine seiner zahlreichen Freundinnen, eine Ballettratte vom Theater des Westens, ein molliges Nest eingerichtet. Kein Wunder also, daß er von Nr. 17 die Schlüssel hatte und den Maskierten dort einlassen konnte …!!“

„Donnerwetter!!“ entfuhr es Blendel. „Hören Sie, bester Bellinger, da haben Sie ja wirklich schon eine vollständige Beweiskette gegen Scharfer zusammen! Er ist fraglos an dem Attentat auf Maletta beteiligt, fraglos …! – Hm – ob Sie dies alles der Polizei verschweigen dürfen, Bellinger, die jetzt sicher schon an der Arbeit ist, den Mörder Scharfers aufzuspüren …?! Das wird kaum möglich sein. Ihre Beobachtungen sind zu wichtig.“

Der Assessor wiegte den Kopf wie zweifelnd hin und her.

„So unrecht haben Sie nicht, Baron“, meinte er. „Ich habe mir bereits selbst gesagt, daß es sehr schwer sein dürfte, diesen „Selbstmordversuch“ mit seinen Begleitumständen zu unterschlagen. – Na – warten wir ab. Natürlich: werden wir als Zeugen vernommen, dann müssen wir reden. Einen Meineid dürfen wir uns Malettas wegen nicht leisten. Er muß Ihnen und Lossen dann das Ehrenwort zurückgeben, mit dem Sie beide sich zum Schweigen verpflichtet haben. Die veränderten Umstände – eben der Tod Scharfers – machen das erforderlich, wie er selbst einsehen wird.“

Bellinger stand auf. „Ich werde mal mein Bureau anklingeln und bestellen, daß ich heute nicht mehr hinkomme. Ich habe besseres zu tun.“

In der Telephonzelle erledigte der Assessor dann jedoch zwei Gespräche. Erst ließ er sich mit dem Anwaltsbureau verbinden, darauf mit dem Klubhause.

Hier meldete sich Leberecht Kniebel.

Bellinger nannte mit verstellter Stimme den Namen eines anderen Klubmitgliedes, eines Herrn, der zur Zeit gleichfalls in der „Traube“ saß.

„Kniebel, ist jemand im Klub anwesend?“ fragte der Assessor.

„Nein. Aber soeben ist ein Kriminalkommissar wegen des Kommerzienrates erschienen. Er will mich gerade darüber vernehmen, was Herr Scharfer gestern hier getrieben hat.“

Bellinger hängte schon den Hörer weg und kehrte zu Blendel zurück.

„Wir wollen schnell zahlen, Baron“, sagte er. „Mir ist da eben eingefallen, daß es zweckmäßig wäre, die Dächer näher zu besichtigen. Vielleicht findet man etwas …“

Blendel hatte sehr bald die Rechnung beglichen, und dann fuhren die beiden Herren sofort in einem Auto nach dem Klub, wo sie den Kriminalkommissar Sakschinski und einen Unterbeamten noch mit der Vernehmung Leberecht Kniebels beschäftigt fanden.

Bellinger hatte dem Baron verschwiegen, daß er wußte, wen man im Klubhause antreffen würde. Er spielte jetzt Blendel gegenüber den nicht gerade angenehm Überraschten.

„Wir haben Pech“, flüsterte er ihm zu. „Jetzt wird sich ja gleich zeigen, ob wir Farbe bekennen müssen, was den „Selbstmordversuch“ anbetrifft.“

Der Kommissar hatte sich den beiden Herren vorgestellt und hinzugefügt:

„Es ist mir sehr lieb, daß ich gerade Sie jetzt gleich über einiges befragen kann, was den Fall Scharfer angeht. Der Kommerzienrat war gestern Nacht im Klub. Er hat sich nun zu dem Hausmeister etwa gegen Mitternacht recht erregt über Sie ausgelassen, Herr Assessor, weil Sie oben im Vorstandszimmer eine Tür gewaltsam erbrochen hatten. Dann sind Sie recht spät nochmals in den Klub gekommen, als die übrigen Herren alle schon fort waren.“

Bellinger lächelte ein wenig.

„Soll ich ehrlich sein, Herr Kommissar“, meinte er etwas ironischen Tones. „In Ermangelung eines anderen, auf den Ihr Verdacht fallen kann, Scharfer umgebracht zu haben, denken Sie jetzt an mich als den, der vielleicht … vielleicht – na, Sie wissen schon, was ich sagen will. Aber Sie befinden sich sehr arg auf dem Holzwege. Um jeden Argwohn gegen mich sofort zu zerstreuen, darf ich – nein, muß ich Ihnen eine längere Geschichte erzählen, deren Wahrheit mir der Herr Baron Blendel hier in allen Punkten bestätigen wird.“

Der Assessor berichtete knapp und übersichtlich alles, was mit dem Attentat auf Maletta zusammenhing. Nur davon sprach er nicht, daß er bemüht war, genügend Beweise zu sammeln, um für Lossen ein Wiederaufnahmeverfahren durchzusetzen.

Der Kommissar konnte vor Überraschung nur immer wieder den Kopf schütteln.

„Wer hätte das gedacht!!“ meinte er, als Bellinger mit seiner Schilderung fertig war. „Scharfer – ein so geachteter Mann, und im Bunde mit Leuten, die über die Dächer sich anderswo einschleichen …!!“

Dann dachte er eine Weile nach.

„Sie erwähnten da vorhin den Namen Lossen so nebenbei. Ist dies vielleicht der Maler Werner Lossen …?“

„Ja!“ erwiderte jetzt an des Assessors Stelle der Baron. „Lossen ist mein bester Freund. Und wenn sein Name Ihnen, Herr Kommissar, wegen des Diebstahls der Oltendorfschen Diamanten im Gedächtnis geblieben ist, so möchte ich hier betonen, daß ich Lossen für schuldlos halte.“

„Andere vielleicht auch“, meinte Sakschinski mit besonderer Betonung. Dann erhob er sich, winkte dem Unterbeamten zu, der die Aussage Bellingers mitstenographiert hatte, und verabschiedete sich, indem er erklärte:

„Meine Pflicht ruft mich anderswohin. Wir sind Ihnen, Herr Assessor, jedenfalls zu sehr großem Danke verpflichtet. Wenn Sie uns auch nicht gerade einen Fingerzeig haben geben können, wo der Mörder zu suchen ist, so wissen wir doch jetzt über Scharfer mancherlei recht Wertvolles. – Auf Wiedersehen, meine Herren.“

Sakschinski und der Kriminalbeamte Mix gingen langsam und eifrig miteinander flüsternd dem Stadtbahnhof Tiergarten zu. Es war jetzt fünf Uhr nachmittags geworden, und die Straßen zeigten sich recht belebt.

Dann trat ein Dienstmann auf die beiden zu, der ihnen schon vom Klubhause aus gefolgt war.

„Thomas Schippel“, sagte er leise. „Ich hatte mich auf dem Präsidium erkundigt, wo ich Sie treffen konnte, Herr Kommissar. Gehen Sie dort drüben in die Weißbierstube. Ich komme nach. Mix soll dem Baron und dem Assessor auf der Spur bleiben, sobald diese den Klub verlassen.“

Die Kneipe war leer, und die beiden Beamten konnten daher ganz ungestört sich aussprechen.

„Wir haben uns lange nicht gesehen, Schippel“, begann Sakschinski. „Sie sollen ja jetzt, wie mir Kollege Werner im Vertrauen erzählte, beurlaubt und als Chauffeur irgendwo im Dienst sein.“ –

„Ja, bei Doktor Maletta.“

„Bei Maletta? Wirklich?! – Hören Sie, das ist ja hochinteressant.“

Schippel nickte. „Sehr interessant – auch für mich! – Wir haben dienstlich noch nicht zusammengearbeitet, Herr Kommissar. Jetzt werden wir häufiger uns verabreden müssen, da Ihnen ja der Fall Scharfer übertragen ist, und ich Ihnen so manchen Wink geben kann. – Ich sah den Baron und Bellinger das Klubhaus betreten. Haben Sie von den Herren in der Sache Scharfer Neues erfahren?“

„Freilich. Sehr wichtiges sogar, und zwar von dem Assessor, der ja bei Rechtsanwalt Kinkel uns so etwas ins Handwerk pfuscht.“

„Auch über den Mordversuch an Maletta etwas?“

„Ah – Sie wissen?! – Ja, Bellinger hat mir die ganze Geschichte mitgeteilt – diese geradezu unglaubliche Geschichte.“

„Bitte, erzählen Sie mir sie wieder, Herr Kommissar. Ich möchte vergleichen. Maletta hat mir ebenfalls seinen … Selbstmordversuch geschildert.“

Als Sakschinski mit seinem Bericht zu Ende war, meinte Schippel nachdenklich:

„Bellingers und Malettas Angaben ergänzen sich. Scharfer scheint also den Chemiker dem maskierten Henker wirklich unter dem Vorwand in die Hände gespielt zu haben, daß der Assessor ihn – Maletta – zu sprechen wünsche.“

„Natürlich ist es so – natürlich!“ erklärte der Kommissar eifrig. „Und der Verdacht liegt unter diesen Umständen sehr nahe, daß Maletta der Mörder des Kommerzienrates ist. Grund genug zu dieser Tat wird er wohl gehabt haben. Ich werde daher auch …“

„Der Chemiker ist der Mörder nicht“, unterbrach Schippel den Kommissar mit Nachdruck. „Als ich ihm heute nachmittag den Tod Scharfers mitteilte, benahm er sich so, wie sich nur ein Mensch benehmen kann, dem eine solche Kunde völlig überraschend kommt. Außerdem hat Malettas Diener Wilhelm, der, nebenbei bemerkt, früher Schutzmann war und ganz auf meiner Seite steht, wie immer im Nebengemach von Malettas Schlafzimmer bei offener Tür geschlafen. Der Chemiker kam kurz nach zwölf Uhr im Auto nach Hause und legte sich sofort zu Bett, nachdem ihm Wilhelm noch eine Kompresse gegen … Halsschmerzen hatte zurecht machen müssen. Er hat sein Schlafzimmer dann erst heute gegen zwei Uhr nachmittags verlassen.“

Sakschinski schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Also auch mit Maletta ist es nichts!! Wo nehme ich nur den Mörder her, Schippel? Helfen Sie mir! Ich tappe völlig im Dunkeln.“

„Ich werde helfen. Verlassen Sie sich ganz auf mich. Sie können es ruhig tun, Herr Kommissar. Der Täter wird ermittelt werden!“

„Hören Sie, das klingt ja so, als ob …“

„Dringen Sie bitte nicht weiter in mich. Ich würde doch nichts sagen. Über eine erst halbfertige Sache rede ich nie.“

„Ich weiß, – Kollege Werner hat mir von Ihnen erzählt. Man nennt Sie den „kleinen Schweiger“, im Gegensatz zu Moltke, dem „großen Schweiger“. Selbst Werner ahnt ja auch nicht im geringsten, weshalb Sie bei Maletta Chauffeur geworden sind. Er meint, der Ehrgeiz spiele da mit. Sie wollen sich auszeichnen, um es weiterzubringen. Stimmt das?“

„Ganz im Vertrauen: es stimmt teilweise. – Kennen Sie meine Lebensgeschichte, Herr Kommissar?“

„Ich besinne mich so etwas, daß …“

„Sie sollen sie erfahren! Wir fechten ja jetzt Schulter an Schulter, und zwar gegen außerordentlich gefährliche Gesellen! Da ist Offenheit am Platze! Außerdem wird es ja nicht mehr lange dauern, bis alle Welt wissen darf, weshalb Thomas Schippel als Chauffeur auftrat.“

Der Kriminalwachtmeister tat erst einen langen Schluck aus seinem Glase, bevor er begann:

„Ich stamme aus guter Familie. Mein Vater war Landgerichtsdirektor. Ich sollte später auch mal Jurist werden. Aber ich war zu träge auf der Schule, blieb auf Prima sitzen und machte dann noch dumme, wenn auch harmlose Streiche, so daß ich das Gymnasium verlassen mußte. Da starb mein Vater. Vermögen war nicht vorhanden, und meine Mutter ließ mich Justizanwärter werden. Ich hätte es so bis zum Gerichtssekretär bringen können. Aber es kam anders. Ich hatte gerade mein Jahr abgedient, als ich in meiner damaligen Stellung einem Herrn einen Dienst erwies – rein aus Gefälligkeit. Ich gestattete ihm Einsicht in Akten. Das war streng verboten, und – die Folgen blieben nicht aus. Es handelte sich um einen Prozeß, den jener Herr gewann, weil ich mir jene dienstliche Verfehlung aus Gutmütigkeit hatte zuschulden kommen lassen. Die Gegenpartei erhielt Kenntnis von jener Einsichtnahme in die Akten, und ich wurde nicht nur disziplinarisch bestraft, das heißt mußte aus dem Justizdienst ausscheiden, sondern wanderte noch für acht Tage ins Gefängnis. Mein Leben war damit verpfuscht. Ich versuchte bald dieses, bald jenes, bis ich in ein Detektivinstitut eintrat. Hier zeichnete ich mich aus, die Polizei wurde auf mich aufmerksam, und trotz meiner Vorstrafe wurde ich als Kriminalbeamter wieder in den Staatsdienst übernommen. Ich brachte es bis zum Wachtmeister. Mein Gönner, der Leiter der Berliner Kriminalpolizei, wollte mich nun gern zum Kommissar befördern. Aber dazu war nötig, daß ich mich besonders hervortat. – So standen die Sachen vor etwa zwei Jahren. Da begegnete ich im Trubel unserer Millionenstadt zufällig dem Manne wieder, der an meiner Verurteilung allein schuld war, der seinerzeit kaltherzig einen jungen, unerfahrenen Menschen aus persönlichen Gründen ins Gefängnis gebracht hatte. Und eine Verkettung besonderer Umstände ließen nun in mir die Hoffnung aufleben, durch denselben Mann in die Höhe zu kommen, der mich einst gestürzt hatte. – Mehr kann ich heute noch nicht sagen. Sie werden aber wohl nicht lange zu warten brauchen, Herr Kommissar, bis ich Ihnen auch den Namen dieses Mannes nennen darf. Heute noch nicht. Sie wissen …: der kleine Schweiger …!“

„Schicksalswalten!“ meinte Sakschinski, indem er Schippel etwas scheu von der Seite ansah. Er hatte schon viel von diesem stillen, ruhigen Menschen gehört, der zahlreiche Erfolge aufzuweisen hatte, aber stets bescheiden sich im Hintergrunde hielt.

Schippel trug jetzt als Dienstmann einen rötlichen, kurzen Vollbart. Auch dieser konnte nicht den Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit verhüllen, der sich auf dem Gesicht des unscheinbaren Mannes ausprägte.

Jedenfalls wußte der Kommissar seine Sache in guten Händen. Und daher scheute er sich auch nicht, sich nun an seinen Untergebenen mit der Frage zu wenden:

„Sagen Sie mir, Schippel, – was soll ich jetzt zunächst tun? – Sie sind doch der von uns beiden, der den Fall Scharfer besser überschaut.“

„Verhaften Sie den Rentier Oltendorf“, erwiderte Schippel ohne Zögern. „Mit diesem Streich wollen wir den Kampf beginnen. Es muß aber ganz unauffällig geschehen, und niemand darf davon außer unseren Beamten etwas erfahren.“

Sakschinski hatte diese Antwort nie erwartet.

„Oltendorf?“ meinte er erstaunt. „Ja – was hat der denn mit dem Falle Scharfer zu tun?“

„Er war heute nachmittag bei Maletta, ist ein alter Bekannter von ihm. Und seine Tochter will ihn durch Bellinger suchen lassen, da er seit vorgestern verschwunden ist. Ich glaube, er will flüchten. Er hat sich seinen ehrwürdigen, langen Vollbart abrasieren lassen, trägt jetzt vor ganz gesunden Augen eine dunkle Brille und sieht wie einer aus, der vom Leben nichts mehr erhofft. – Ich werde Ihnen den Kriminalschutzmann Mischke aufs Präsidium schicken. Der ist nämlich hinter Oltendorf her und wird wohl dessen Schlupfwinkel herausfinden. Haben Sie den Rentier fest, so telephonieren Sie mich an. Moabit 612.“

„Gut. Auf Ihrer Verantwortung hin. – Noch etwas?“

„Nein. – Ich muß jetzt auch aufbrechen. Maletta kommt um sieben Uhr aus der Fabrik zurück. Er soll mich nicht vermissen.“

Gleich darauf verließ Schippel die Weißbierstube. Sakschinski aber blieb noch eine Weile sitzen und dachte angestrengt über alles das nach, was er heute in der neuesten Mordsache festgestellt oder aber von dem kleinen Wachtmeister erfahren hatte. Doch die ganzen Zusammenhänge waren dunkel wie eine schwüle Gewitternacht. – –

Zwei Stunden später wurde Oltendorf in einem möblierten Zimmer im Norden Berlins verhaftet, das er unter falschem Namen für eine Woche als angeblich von Hamburg Zugereister gemietet hatte.

 

12. Kapitel.

Ein Abend in Wannsee.

Eginhard von Blendel war, wie verabredet, von Charlotte Oltendorf um acht Uhr abends telephonisch benachrichtigt worden, daß in der bewußten Sache eine Wendung zum Besseren nicht eingetreten wäre.

Daher trafen sich die Beteiligten nachher im Schultheiß-Restaurant in Wannsee. Der Abend war so warm, daß man im Freien sitzen konnte. Bellinger hatte einen abseits stehenden Tisch gewählt, an dem die vier Personen unbeobachtet sich aussprechen konnten.

Die Begrüßung zwischen Lossen und der Tochter des Rentiers war auf beiden Seiten merklich verlegen. Blendel half ihnen aber geschickt darüber hinweg, indem er sagte:

„Fräulein Oltendorf nimmt das wärmste Interesse an Dir, mein alter Patroklus. Hoffen wir, daß wir sowohl ihre als auch Deine Angelegenheit zu einem glücklichen Ende führen.“

Nachdem der Kellner die beiden Flaschen Mosel gebracht hatte, die von dem Baron bestellt worden waren, wandte sich Bellinger, der dem Anlaß dieser Zusammenkunft entsprechend sein heiteres, rosiges Gesicht in ernste Falten zu legen versuchte, an Charlotte und bat sie, nunmehr auch ihm das zu wiederholen, was sie am Morgen dem Baron anvertraut hatte.

Bisher hatte das junge Mädchen Bellinger nicht recht beachtet, da das Wiedersehen mit Lossen und die wortreiche Liebenswürdigkeit Blendels ihre Aufmerksamkeit voll in Anspruch genommen hatte. Erst jetzt schien sie den Assessor genauer zu mustern. Wenigstens sah Lossen, daß sich ihr Gesichtsausdruck auffallend veränderte. Ihre Augen weiteten sich für einen Moment, und ihre Mienen spiegelten deutlich ein heftiges Erschrecken wider.

Der junge Maler, der sich heute seit der Rücksprache mit Thomas Schippel vorgenommen hatte, besonders die Tochter Oltendorfs genau zu beobachten, da sie ja vielleicht Mitwisserin des von ihrem Vater möglicherweise nur erdichteten Diebstahls sein konnte, wußte nicht, was er von diesem Benehmen Charlottes halten sollte, zumal er bald noch andere Wahrnehmungen machte, die ganz zweifellos dafür sprachen, daß das junge Mädchen gegen Bellingers Personen zum mindesten eine gewisse Abneigung verspüren müsse.

Schon daß sie jetzt auf des Assessors Bitte hin einige Zeit verstreichen ließ und wie unschlüssig vor sich hinblickte, war etwas auffällig. Dann erwiderte sie langsam, und fraglos wog sie jedes Wort genau ab:

„Ich habe den Herren ja schon meinen Dank dafür ausgesprochen, daß Sie mich in den Bemühungen unterstützen wollen, meinen Vater aufzufinden. Leider habe ich nun heute, wohl infolge der Aufregungen und der schlaflos verbrachten Nacht, so starker Migräne, daß ich mich ganz kurz fassen muß. Ich hoffe aber, auch dieses Wenige wird Ihnen, Herr Assessor, genügen. Sie sollen ja nur davon überzeugt werden, daß ich nicht grundlos in so großer Sorge um meinen Vater bin. – Ich bin das einzige Kind meiner Eltern. Meine Mutter starb sehr früh, und da mein Vater als Bergingenieur viel im Auslande beschäftigt war, wurde ich bei Verwandten in Hamburg erzogen. Vor mehreren Jahren kehrte mein Vater dann nach recht langer Abwesenheit aus Südafrika zurück, erwarb die Villa hier in Wannsee und nahm mich zu sich. Er traf dann einen Bekannten aus früherer Zeit, den Musikprofessor Weinreich, mit dem er zunächst häufig zusammenkam. Das gute Verhältnis zwischen beiden erfuhr jedoch eine Trübung, und schließlich fand sich der Professor bei uns überhaupt nicht mehr ein, mit dessen Stieftochter, einem Fräulein Fritzi Pelcherzim, ich nur einige Male zusammen war, da unsere ganzen Lebensanschauungen doch zu sehr auseinandergingen. Vergebens fragte ich meinen Vater des öfteren, weshalb Weinreich sich bei uns nicht mehr blicken ließ. Er erwiderte mir, und zwar auch später bei ähnlichen Anlässen in ungewöhnlich schroffem Ton, ich solle mich nicht um seine Angelegenheiten kümmern.“

Lossen hatte jetzt wieder eine neue Beobachtung gemacht. Als Charlotte Oltendorf den Namen Weinreich erwähnte, schaute sie unauffällig prüfend Bellinger an, wie wenn sie erwartete, aus seinen Mienen etwas Besonderes herauslesen zu können. Doch des Assessors junges, frisches Gesicht behielt denselben Ausdruck teilnehmender Aufmerksamkeit bei, und er unterbrach mit keinerlei Zwischenbemerkung die Erzählerin, die auch fernerhin jedesmal, wenn sie den Professor in ihrem Bericht anführte, mit schnellem Blick Bellingers Antlitz streifte.

„Nach der Entzweiung mit Weinreich“, hatte Charlotte inzwischen weitergesprochen, „verschlechterte sich der Gemütszustand meines Vaters zusehends. Verschiedentlich merkte ich, wie mein Vater noch spät abends heimlich einen Gast empfing, den er stets an der Straßenpforte erwartete. Dieser Besuch regte meinen armen Vater stets in einer Weise auf, daß er noch tagelang hinterher wie ein Schwerkranker umherschlich oder aber Wutanfälle bekam, für die keine Veranlassung vorhanden zu sein schien. Wiederholt habe ich auch laute, streitende Stimmen aus Papas Zimmer bis in die Erdgeschoßräume dringen gehört, wo ich mich auf seinen Befehl an diesen unheilvollen Abenden aufhalten mußte, während er dann die Dienstboten dann stets bis Mitternacht beurlaubt hatte. Einmal hörte ich sogar oben einen dumpfen Knall wie einen Schuß. Als ich hinaufeilen wollte, da ich irgend ein schreckliches Vorkommnis befürchtete, fand ich die Türen nach dem Treppenflur von außen versperrt: ich war in den Parterrezimmern eingeschlossen. – Dieses Ereignis rückte mir diese heimlichen Besuche in ein ganz neues Licht. Meine Phantasie malte sich Dinge aus, die selbst in meinen Träumen neu auflebten. Ich glaubte jetzt meinen Vater von Feinden umringt, die ihm das Leben verbitterten. Klarheit über all dies Geheimnisvolle, das sich bei uns abspielte, gewann ich nicht. Nur feststellen konnte ich, wie mein Vater von Tag zu Tag düsterer, schwermütiger und menschenscheuer wurde. Auf unserem Hause lastete es beständig wie Gewitterschwüle. Dann wieder ein neues Moment: ich merkte, daß unsere Vermögensverhältnisse sich verschlechterten. Mein Vater begann sparsamer zu leben, und bald erklärte er mir auch, er habe an der Börse beträchtliche Summen verloren, die ihn dazu zwängen, unseren Haushalt ganz einfach einzurichten. Nun – es ging fortan bei uns nicht nur einfach, sondern sogar ärmlich zu. Oft fehlte es am nötigsten. Ich war gezwungen, meinen Schmuck zu veräußern, verschwieg dies aber meinem Vater, der zumeist in finsterem Brüten in seinem Zimmer saß. So verging ein Vierteljahr. Vor einigen Tagen brachte der Postbote dann meinem Vater einen Brief, dessen Adresse mit Schreibmaschine geschrieben war. Ich muß noch erwähnen, daß ich diese Briefe mit den graublauen Umschlägen schon kannte. Erhielt mein Vater einen solchen, so wußte ich, daß an einem der nächsten Abende der geheimnisvolle Gast sich wieder einfinden würde, dann war seine Stimmung noch trüber als sonst. Ich hatte dies sehr bald herausgemerkt. – Wir saßen gerade am Kaffeetisch, als jener Brief ihm ausgehändigt wurde. Er wurde beim Lesen leichenblaß, stierte eine Weile vor sich hin, erhob sich dann und ging wortlos hinaus. – Seit vorgestern habe ich ihn dann nicht wiedergesehen. Unsere alte Köchin erzählte mir nachher, Vater habe sich vorgestern früh auf sein Zimmer begeben, sei eine Weile dort geblieben und dann ausgegangen, als wolle er einen Spaziergang machen. Als er zum Mittagessen sich nicht wiedereinfand, als auch der Nachmittag verstrich, ohne daß er zurückkehrte, steigerte sich meine Unruhe und wurde bald zu einem beklemmenden Angstgefühl. Dieses trieb mich dann schließlich gegen sieben Uhr abends aus dem Hause. Auf dem Bahnhof erfuhr ich von einem mir näher bekannten Beamten, daß mein Vater morgens nach Berlin gefahren wäre. Dort hatte er nun eigentlich nur einen Menschen, den er aufsuchen konnte: Weinreich! Sonst kannte er niemanden. – Ich benutzte den nächsten Zug nach Berlin, eilte zu Weinreichs, bekam dort aber von Frau Weinreich den Bescheid, mein Vater sei seit Monaten nicht mehr bei ihnen gewesen. Der Professor selbst und Fräulein Fritzi waren nicht daheim. – Was sollte ich tun? Blasse Furcht ängstigte mich. Meine durch das häusliche Ungemach ohnehin schwer in Mitleidenschaft gezogenen Nerven versagten jetzt ganz. Erst trieb es mich wieder nach Wannsee hinaus. Vater war noch nicht zu Hause. Ich also wieder zurück nach Berlin. Papa liebte gute Musik und bevorzugte die Konzerte in der Philharmonie. Vielleicht war er dort, um sich zu zerstreuen, wie er dies manchmal früher getan hatte. Es fand gerade ein Konzert statt, und ich klammerte mich an diese unsinnige Hoffnung. Natürlich entdeckte ich ihn in dem Riesensaale nicht. Dann fiel mir ein, daß wir mitunter in einem Kaffee in der Nähe des Zoologischen Gartens gewesen waren. Auch dort suchte ich ihn vergeblich. Als ich wieder auf die Straße hinaustrat, wurde ich ohnmächtig vor Aufregung und Erschöpfung. Man brachte mich nach der nächsten Unfallstation, und dort blieb ich, bis ich morgens wieder nach Wannsee hinausfahren konnte. Im Stadtbahnzuge lernte ich dann Herrn Baron von Blendel kennen. – Daheim hatte sich nichts geändert. Kein Lebenszeichen von meinem Vater, nichts – nichts! Nur einen jener Unglücksbriefe, graublauer Umschlag mit Maschinenschrift, fand ich vor.“

Erst jetzt regte sich Bellinger.

„Haben Sie den Brief geöffnet?“ fragte er schnell. Und es schien Lossen so, als ob die Stimme des Assessors etwas beunruhigt klang.

„Nein, das wagte ich nicht“, erwiderte Charlotte Oltendorf seufzend. „Aber ich habe ihn mitgebracht, um Sie, Herr Assessor, um Rat zu bitten, ob ich mir Kenntnis von seinem Inhalt verschaffen soll.“

Bellinger überlegte. „Warten Sie noch bis morgen früh, gnädiges Fräulein“, sagte er dann. „Ist Ihr Herr Vater dann noch nicht heimgekehrt, so dürfen Sie das Schreiben mit gutem Gewissen lesen und auch mir es zur Verfügung stellen. Vielleicht gibt es uns Anhaltspunkte, was wir in dieser Sache unternehmen können. – Wollen Sie mir den Brief bitte einmal zeigen?“

Es war jetzt so dunkel geworden und der Lichtschein der Gartenbeleuchtung drang nur so schwach bis zu dem abseits stehenden Tische hin, daß Lossen sich nicht recht erklären konnte, was es für Bellinger an dem geschlossenen Umschlag zu sehen gab, dessen Aufschrift er doch kaum hätte entziffern können.

Der Assessor nahm den Brief, stand auf und ging ein paar Schritte nach der nächsten Laterne hin. Und jetzt bemerkte der junge Maler etwas, wofür er keinerlei Erklärung fand: nur weil er so scharf auf Bellinger achtgab, sah er genau, wie dieser den Brief blitzschnell unter den Aufschlag seines Jacketts schob und die Hand dann wieder hervorzog. Und in dieser Hand hielt er zwar einem dem ersten äußerlich völlig ähnlichen Brief, trotzdem hätte Lossen aber schwören mögen, daß der Assessor soeben das an Oltendorf gerichtete Schreiben gegen ein anderes vertauscht hatte, – ein Verdacht, der gleich darauf bei dem Maler noch verstärkt wurde. Der Assessor kehrte jetzt nämlich, nachdem er anscheinend die Aufschrift sich angesehen hatte, an den Tisch zurück und sagte zu Charlotte Oltendorf:

„Gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache anders überlegt. Vielleicht ist es doch besser, wir öffnen diesen Brief sofort. – Sind Sie einverstanden?“

Dabei übergab er dem jungen Mädchen das Schreiben. – Charlotte antwortete mit einem Kopfnicken. Blendel reichte ihr sein Taschenmesser und Lossen holte seine Fünfminutenbrenner hervor, von denen er einen entzündete. Der Lichtlein genügte.

„Das Schreiben enttäuscht mich sehr“, erklärte Charlotte jetzt, indem sie es vor Bellinger auf den Tisch legte. „Es ist nur eine Offerte eines Möbelgeschäfts. Da – sehen Sie selbst!“

„Allerdings“, erklärte der Assessor gedehnt. „Schade – auch ich hatte mir von dem Briefe mehr versprochen. – Nun – dann muß ich der Angelegenheit auch so zu Leibe gehen“, fügte er hinzu. „Es dürfte zweckdienlich sein, daß ich gleich morgen die Bekanntschaft des Herrn Weinreich zu machen suche. Vielleicht läßt sich von dem etwas erfahren. – Wo wohnt der Professor, dieser ehemalige Freund Ihres Herrn Vaters?“

Charlotte nannte Straße und Hausnummer, die Bellinger sich auf seine Manschette aufschrieb, dann entschuldigte er sich. Er wolle nur einmal einen Bekannten antelephonieren. Beinahe hätte er dies vergessen. – Er ging in das Restaurant hinein und kam erst nach etwa zehn Minuten zurück.

Inzwischen hatte aber zwischen dem jungen Mädchen und dem Baron folgendes Gespräch stattgefunden. Blendel war es, der Charlotte fragte:

„War es vielleicht Absicht von Ihnen, daß Sie Bellinger einiges von dem verschwiegen, was Sie mir heute früh erzählt haben? Oder ist es Ihnen nur entfallen, daß sie einmal einen jener heftigen Auftritte zwischen Ihrem Vater und seinen heimlichen Besuchern belauschten und dabei die Stimme des Professors erkannt zu haben glaubten? – Ich wollte Sie in des Assessors Gegenwart nicht daran erinnern, da ich eben nicht wußte, ob Sie nicht Ihre Gründe für …“

„Ja, ich habe meine Gründe hierfür“, hatte Charlotte etwas unsicher erwiderte. Und nach einer Pause hatte sie hinzugefügt: „Herr Baron, und auch Sie, Herr Lossen, ich muß sie beide bitten, Herrn Bellinger gegenüber nichts von dieser meiner beschränkten Offenheit zu erwähnen. Überhaupt, – ob der Assessor der geeignete Berater für mich ist, möchte ich bezweifeln.“

Sie war sichtlich erregt, und daß nervöse Spiel ihrer Hände wollte nicht aufhören.

Blendel wußte mit der letzten Bemerkung seines Schützlings nichts anzufangen.

„Wieso „bezweifeln“?“ meinte er erstaunt. „Bellinger ist eine anerkannte, erstklassige Kraft als Privatdetektiv.“

Da mischte sich Lossen ein.

„Schnell, gnädiges Fräulein, – beantworten Sie mir eine Frage: Kannten Sie Bellinger schon, bevor Blendel ihn Ihnen heute vorstellte?“

„Ja“, erklärte sie tief aufatmend. „Ja – von Ansehen! – Zu Ihnen beiden, meine Herren, will ich ganz ehrlich sein. Ich muß ja jemanden haben, der mir hilft …: Bellinger und Weinreich kennen sich! Ich habe den Assessor, ohne daß er es weiß, hier in Wannsee zweimal abends im Garten unserer Villa beobachtet, wo er fraglos auf Weinreich wartete, der sicherlich oben bei meinem Vater war. Und – beachten Sie dies sehr: Bellinger hat doch vorhin so getan, als sei ihm der Professor ganz fremd!“

Der Baron konnte nur verständnislos den Kopf schütteln. Werner Lossen dagegen sagte sofort:

„Bellingers Verhalten erscheint auch mir nicht ganz einwandfrei. Aber lassen wir ihn nichts merken. Ich bringe Ihnen morgen früh einen anderen Berater, gnädiges Fräulein. – Der Assessor taucht da hinten auf. Tun wir ganz harmlos.“

Bellinger trat an den Tisch.

„So, das Telephongespräch wäre erledigt. – Wir können dann wohl aufbrechen. Ich habe noch in Berlin zu tun. Was aber Ihre Sache anbetrifft, gnädiges Fräulein, so ruht sie in guten Händen. Wollen sehen, ob Weinreich nicht über Ihren Vater mehr weiß als Sie selbst. Ich bin sehr gespannt auf diesen Herrn Musikprofessor.“

Die drei Herren begleiteten das junge Mädchen noch bis nach Hause und fuhren dann mit der Stadtbahn nach Berlin hinein.

 

13. Kapitel.

Auf Cesar Bellingers Fährte.

Im Zuge sprach man von gleichgültigen Dingen. Erst auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo die drei ausstiegen, fragte Blendel den Assessor, wie er eigentlich über die Angelegenheit Oltendorf denke. Bellinger erwiderte, er könne jetzt noch gar nichts darüber sagen.

Es war mittlerweile elf Uhr geworden. An der Ecke Linden-Friedrichstraße verabschiedete Bellinger sich dann. Er hätte noch eine Verabredung. – Als Blendel dem Maler vorschlug, in den Klub zu gehen, erklärte Bellinger, er würde sich dort vielleicht auch noch einfinden.

Hierauf trennte man sich. Der Baron und Lossen nahmen ein Auto und waren zehn Minuten später vor dem Klubhause angelangt. Während Blendel den Chauffeur bezahlte, strich an dem jungen Maler ganz dicht ein kleiner Herr vorbei, der ihm leise zuraunte: „Achtung – Schippel!!“ und ihm sehr gewandt einen Zettel in die Hand drückte.

Lossen fand denn auch gleich darauf in der Garderobe des Klubs Gelegenheit, den Zettel zu lesen, ohne daß der Baron auf ihn aufmerksam wurde.

„Ich erwarte Sie draußen. Schützen Sie Müdigkeit vor“

stand auf dem aus einem Notizbuch herausgerissenem Blatt.

Nichts kam Lossen gelegener als diese Nachricht. Ja, er mußte Schippel sprechen, und zwar recht bald. Der Kriminalbeamte sollte ungesäumt erfahren, was sich draußen im Schultheiß-Restaurant in Wannsee abgespielt hatte.

Der Baron nahm den Freund jetzt, nachdem sie Überzieher und Hüte in der Garderobe untergebracht hatten, unter den Arm und sagte:

„Alter Patroklus, Du sollst jetzt also hier „Stimmprüfer“ spielen, sollst versuchen, den Mann mit dem hellen, energischen Organ vielleicht aus den anwesenden Klubmitgliedern herauszufinden.“

Inzwischen hatte Lossen sich überlegt, wie er sich am besten schnell wieder entfernen könne.

„Würdest Du es mir sehr verargen, wenn ich Dich bäte, auf meine Gesellschaft heute doch lieber zu verzichten?“ meinte er. „Ich bin müde zum Umsinken – wirklich! Ich fühle es jetzt erst. Ich möchte nach Hause mich ausschlafen.“

Blendel ließ sich wirklich überzeugen, daß Lossen heute doch nicht mehr dazu imstande war, die Suche nach dem Herrn mit der hellen Stimme zu beginnen. – Die Freunde verabredeten morgen gemeinsam zu Mittag zu essen, und der Baron geleitete Lossen dann noch bis an die Haustür.

„Das haben Sie gut gemacht“, begrüßte Schippel den jungen Maler draußen auf der Straße in einiger Entfernung von dem Klubhause. „Wir wollen durch den Tiergarten gehen. – Erzählen Sie – wie ist denn die große Besprechung in Wannsee verlaufen? Sie hat doch stattgefunden, da Oltendorf noch nicht wieder heimgekehrt sein kann. – Ich sage … „nicht kann“! Er ist nämlich verhaftet worden.“

Lossen blieb stehen. „Verhaftet …? Ja – wie … wie …“

„Hübsche Neuigkeit, nicht wahr?“ unterbrach Schippel ihn. „Gehen wir weiter. – Also: erzählen Sie! Nachher berichte ich so einiges über Oltendorf.“

Als der Maler dann von seinem Verdacht sprach, daß Bellinger den Brief vertauscht haben könnte, nickte Schippel und meinte:

„Gut beobachtet, lieber Freund, – sehr gut. – Fahren Sie fort …!“

Und Lossen berichtete nun weiter von dem Gespräch, das zwischen Charlotte Oltendorf, Blendel und ihm geführt worden war, während Bellinger telephonierte.

„Ich wollte erst Fräulein Oltendorf gegenüber sehr vorsichtig und zurückhaltend sein“, erklärte er. „Als ich aber sah, wie schwer sie litt, wie sehr sie um ihren Vater in Sorge war, da konnte ich mir nicht denken, daß Sie eine Ahnung davon hätte, was es mit dem Diamantendiebstahl eigentlich auf sich hat. Sie ist zweifellos ein durchaus aufrichtiger Charakter. Und deshalb nahm ich sozusagen ihre Partei und bestätigte, daß auch ich Bellinger nicht so ganz traue. Ich weiß nicht – ich bin heute abend an ihm wirklich irre geworden.“

„Was sagte denn eigentlich Blendel dazu, daß Bellinger nicht nur den Professor Weinreich kennt, sondern sogar auf diesen im Garten der Oltendorfschen Villa gewartet hat?“ fragte Schippel gespannt.

„– „Vielleicht ist dieser Quartalssäufer gar ein Schuft, der ein doppeltes Spiel treibt. Dann hätte ich den Bock zum Gärtner gemacht!“ – Das waren Blendels Worte.“

Der Kriminalwachtmeister schwieg eine Weile.

„Wie leicht man doch jemanden verkennt!“ sagte er dann.

Lossen merkte nicht die Zweideutigkeit dieser Redewendung. – Und der Beamte fuhr fort: „Ihre Mitteilungen sind für mich außerordentlich wichtig. – Wollen Sie mal eine Nacht opfern, um eine Berliner Spielhölle kennenzulernen?“

Der junge Maler war schon an allerlei Überraschungen von Seiten Schippels gewöhnt. Erst wußte er nicht recht, was er dort sollte. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß der Beamte ja in einer solchen Spielhölle in einem zurückgelassenen Sportpaletot die Diamanten gefunden hatte. Und so erwiderte er denn bereitwilligst:

„Sehr gern. – Aber – Sie wollten mich noch über Oltendorfs Verhaftung etwas aufklären. Was liegt denn gegen ihn vor?“

„Vorläufig nur, daß er unter falschem Namen sich hier in Berlin eingemietet hat, daß er keinerlei Ausweispapiere besitzt und sich hartnäckig weigert einzugestehen, wer er ist. Jedenfalls ahnt er noch nicht, daß die Polizei genau weiß, wen sie vor sich hat.“

Lossen schob sich plötzlich den Hut mehr nach hinten, so daß die Stirn freilag.

„Mir wird von alledem so dumm, als ginge mir ein Mühlenrad im Kopf herum“, deklamierte er mit einem tiefen Seufzer. „Tatsächlich – ich finde mich aus all diesen seltsamen Vorgängen nicht mehr heraus. Insbesondere habe ich so gar keine Ahnung davon, was Sie eigentlich beabsichtigen, Herr Schippel. Ich tappe völlig im Dunkeln umher. Und das Gefühl ist nicht gerade angenehm. Außerdem möchte ich noch hervorheben, daß ich Sie vielleicht auch so etwas unterstützen könnte, wenn Sie den Schleier ein wenig lüften wollten.“

„Hm – eigentlich haben Sie nicht so ganz unrecht“, erklärte der Beamte. „Uns bleibt noch reichlich Zeit, ehe wir nach der Spielhölle aufbrechen können. Ich muß vorher außerdem auch noch so einige kleine Veränderungen an meinem Äußeren vornehmen. Wenn ich Sie nun also zunächst in meinen Schlupfwinkel führe, so rechne ich natürlich auf Ihre Verschwiegenheit. Überhaupt: trauen Sie niemanden, schweigen Sie nach Möglichkeit oder – reden Sie um die Sache herum, nach der man Sie fragt.“

Mit der elektrischen Straßenbahn fuhren sie dann nach Moabit, – nach Schippels „Theatergarderobe“, wie er das bescheidene Erdgeschoßzimmer in der Nähe der chemischen Fabrik Malettas nannte.

Während er sich hier in einen jüngeren Herrn mit aufgedrehtem dunklen Schnurrbart verwandelte, gab er dem gespannt lauschenden Maler zunächst einen Überblick über seine Vergangenheit. Er erzählte dasselbe, was er auch dem Kommissar Sakschinski mitgeteilt hatte.

„Sie sehen also, lieber Freund, – auch ich habe bereits Bekanntschaft mit dem Gefängnis gemacht. Wir sind also sozusagen Leidensgefährten“, fügte er ernst hinzu.

„Und – wer ist jener Mann, der Sie so mitleidslos anzeigte?“ fragte Lossen schnell. „Darf ich es erfahren?“

„Jener Mann war damals Gerichtsreferendar. Eine Weibergeschichte spielte mit. Er haßte mich als den begünstigten Nebenbuhler. Das Gefängnis wäre mir erspart geblieben. Bellinger sorgte dafür, daß ich auch gerichtlich bestraft wurde.“

„Ah – Bellinger!! Dieser Bellinger!! – Jetzt glaube ich schon so mancherlei zu verstehen, was mir noch unklar war.“

„Meinen Sie?!“ Schippels Stimme klang leicht ironisch. „Was denn zum Beispiel?“ fuhr er fort, indem er eine Scheitelperücke vor dem hohen Stehspiegel über den Kopf zog.

„Nun – das der Assessor eine fragwürdige Persönlichkeit und vielleicht gar der Mörder Scharfers ist.“

Schippel lachte. „Sie gehen gleich ordentlich ins Zeug! Ebenso gut könnten Sie behaupten, ich hätte dies Verbrechen auf dem Gewissen. Bisher besteht auch nicht der geringste Beweis für diese Ihre Annahme. Und, offen gestanden, ich glaube auch nicht, daß Bellinger irgend einen Grund gehabt hat, sich der Gefahr auszusetzen, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Im Gegenteil: niemand schlachtet die Henne, die goldene Eier legt. – Der Assessor wird wohl den Kommerzienrat ebenso ergiebig angepumpt haben wie zum Beispiel Ihren Freund Blendel. Und da wir nun schon einmal auf Bellingers pekuniäre Verhältnisse gekommen sind, will ich Ihnen auch gleich mitteilen, weshalb mir der Assessor so etwas als stark dunkle Existenz erschienen ist. Ich begegnete ihm zufällig hier in Berlin auf der Straße. Das war so ungefähr zu derselben Zeit, als Sie, Herr Lossen, Ihre Strafe verbüßt hatten. Er sah rosig, jung und heiter wie immer aus und war äußerlich fast gar nicht verändert. Da ich gerade nichts Besseres vorhatte, folgte ich ihm. Er ging zu Rechtsanwalt Kinkel ins Bureau. Bald hatte ich dann festgestellt, wo er wohnte, daß er so etwas wie ein studierter Privatdetektiv war und sehr flott lebte – sehr!! Überall wo etwas los war, fand man Cesar Bellinger. Auch in Spielhöllen. Sogar sehr oft. Und er hatte zumeist Pech, der arme Assessor, verspielte erhebliche Summen, obwohl er von seinem Anwalt nur 300 Mark monatliches Gehalt bezog und sonst keinerlei Zuschüsse hatte. – Ja, lieber Freund, – diese Spielverluste und sein sonstiger nicht gerade billiger Lebenswandel machten mir ihn ein wenig interessant, um mich ganz harmlos auszudrücken. Ich wollte doch zu gern herausbekommen, aus welchen Nebenquellen er all das Geld schöpfte, das er mit leichter Hand ausgab. Leider ist ja nun die freie Zeit eines Kriminalbeamten recht karg bemessen, und Monate vergingen, bevor ich eine Beobachtung machte, die mir auffiel. In den Kreisen, in denen Bellinger nach Mitternacht verkehrte, war ich auch auf einen Herrn aufmerksam geworden, der stets mit „Herr Professor“ angeredet wurde. Es war ein sehr großer, stattlicher Mann, und eigentlich sah er gar nicht wie ein Musiklehrer aus. Und doch verdiente er durch Klavierstunden einen Teil des Geldes, das er und die Seinen zum Lebensunterhalt brauchten, – einen Teil!! Wo das übrige herkam, war unerfindlich. Und dieser Herr Professor Weinreich stand nun zu Bellinger in recht eigentümlichen Beziehungen. Sie taten so, als ob sie sich kaum kannten, sprachen nie miteinander, wenn sie sich am Spieltisch begegneten. Nur ihre Augen, die einander verstohlen grüßten, verrieten sie, außerdem auch zwei Zettel, die sie sich in zwei verschiedenen Nächten unauffällig zusteckten, was ich mit meinen Luchsaugen sehr wohl bemerkte. – Ich sagte mir hiernach, daß die beiden fraglos doch Dinge treiben müßten, die das Licht des Tages zu scheuen hätten. Wozu sonst diese Heimlichkeiten, wozu diese Vorsicht im Verkehr miteinander?! – Etwa zu derselben Zeit geschah es nun, daß in der „großen Trompete“ jener Artikel über Malettas erschien, der angeblich Bellinger dazu veranlaßte, sich mit dem Chemiker näher zu beschäftigen. Auch ich las dieses Machwerk sensationslüsterner Revolverjournalistik, auch mich reizte das Rätsel, das Malettas seltsames Verhalten seinen Widersachern gegenüber jedem denkenden Menschen aufgab. Der Zufall wollte es, daß mir dann ein Bekannter auf einem Rennen in Hoppegarten Maletta als den Fabrikanten der damals mit ungeheurer Reklame vertriebenen Hühneraugensalbe „Fix weg!“ zeigte und daß ich an demselben Tage Zeuge wurde, wie Bellinger sehr geschickt im Gedränge dem Chemiker einen Brief in die Manteltasche schob. Ich witterte sofort so etwas wie ein verbrecherisches Dreikleeblatt: Weinreich, Bellinger und Maletta, – nahm eben an, daß Bellinger mit dem Chemiker aus bestimmten Gründen sich ebenfalls ganz heimlich verständigte. – Es war dann nicht lediglich der Ehrgeiz, der mich bei Maletta Chauffeur werden ließ. Nein, ich wollte auch dem Assessor, meinem Feinde von einst, die Maske der Ehrbarkeit vom Gesicht reißen. Ich ließ mich von meiner Behörde beurlauben, brachte noch bei meinem neuen Herrn einen früheren Schutzmann, einen trotz seiner Vorliebe für den Alkohol sehr hellen Kopf, als Diener unter, alles in der Hoffnung, gerade im Hause Malettas am leichtesten sowohl über die dunklen Geldquellen Bellingers und Weinreichs als auch über deren Beziehungen zu einander und zu dem Chemiker und schließlich auch über des letzteren Gründe für sein Vertuschungssystem hinsichtlich der Attentate einiges zu erfahren. Daß ich mich nebenbei auch noch Ihrer Sache gewidmet habe, sagte ich Ihnen bereits, lieber Herr Lossen. – Nun, zunächst hatte ich bei Maletta so gut wie gar keinen Erfolg. Ich stellte nur fest, daß er sich – und deswegen hatte er ja auch einen Chauffeur gesucht, der früher Kriminalbeamter gewesen war – in beständiger Angst um sein kostbares Leben befand. Er umgab sich mit einem wahren Wall von Sicherheitsmaßregeln, und mein Kollege Wilhelm, der Diener, und ich müssen noch heute eine ganze Menge von Vorschriften genau beachten, die Maletta uns erteilt hat. Gleich bei unserem Dienstantritt hatte er uns erklärt, wir müßten ihm für das hohe Gehalt, daß er uns zahlte, sowohl blindlings gehorchen als auch nie fragen, weshalb er so sehr auf den Schutz seiner Person bedacht sei. Tatsächlich passierte ihm auch nichts, seitdem er uns als Leibgarde angestellt hatte. In dem Gefühl genügender Sicherheit lebte er förmlich auf, bis dann vor einer Woche etwa ein Brief ihn in hellste Aufregung versetzte. Bisher hatte ich nichts davon geahnt, daß mein Dienstherr von Erpressern heimgesucht wurde. Jetzt teilte er mir in seiner Angst den Inhalt des Briefes mit. Man drohte ihm mit Erhängen, wenn er nicht hunderttausend Mark hergebe. Ich bat ihn, mir das Schreiben zu zeigen. Er lehnte in grober Weise ab. Na – und dann trat wirklich ein, was ich geradezu für unmöglich gehalten hatte: Maletta wurde aufgeknüpft – aufgeknüpft in einem bewohnten Hause, und entging nur mit knapper Not dem Tode.“

Thomas Schippel war jetzt mit der Verwandlung seines Äußeren fertig, beschaute sich noch sehr eingehend vor dem Spiegel und sagte dann:

„So, wir wollen aufbrechen. Unterwegs erzähle ich weiter.“

Ein Auto entführte die beiden Verbündeten gleich darauf nach dem Berliner Westen. Während der Fahrt berichtete Schippel, was er heute nachmittag von Maletta über die Ausführung des neuesten Attentats durch den Maskierten erfahren und was anderseits Bellinger in der verflossenen Nacht im Klubhause noch erlebt hatte: die Begegnung mit dem Maskierten auf dem Dache und dessen Flucht in das Nebenhaus.

„Es ist nun bereits von dem in der Mordsache Scharfer die Untersuchung führenden Kommissar festgestellt worden“, fügte Schippel hinzu, „daß die Angaben Bellingers tatsächlich stimmen. Er hat wirklich vor dem Klubhause Posten gestanden und das Nebengebäude beobachtet, um das Entschlüpfen des Maskierten zu vereiteln, ist dann gegen halb zwei Uhr morgens nochmals im Klub erschienen, wo der Hausmeister noch aufräumte, und hat auf dem Boden die Bodenluke verschließen wollen. Bellinger – und dies wollte ich Ihnen beweisen, lieber Freund – kann also gar nicht Scharfers Mörder sein. Der Kommerzienrat ist nach der Angabe des Gerichtsarztes etwa um halb zwei Uhr früh erstochen worden. Um die Leiche in das verschlossene Haus und in den Müllkasten zu schaffen – angenommen, daß Scharfer außerhalb jenes Hauses den Tod gefunden hat – hätte eine lange Zeit gehört, ebenso auch im anderen Falle dazu, den Kommerzienrat in jenes Haus hineinzulocken. Und Bellinger ist ja, wie ich schon erwähnte, um halb zwei Uhr morgens im Klub von dem Hausmeister gesehen worden, also zu einer Zeit, wo Scharfer gerade der Mordwaffe zum Opfer fiel.“

Schippel beugte sich in dem Auto jetzt nach unten, um, geschützt vor der Zugluft, sich eine Zigarre anzuzünden.

Der junge Maler aber saß still in seiner Ecke und konnte nur immer wieder den Kopf schütteln.

„Denken Sie wirklich, Herr Schippel, daß ich mich jetzt besser in diesem Wirrsal zurechtfinde“, sagte er kleinlaut. „Keine Spur …!! Das Mühlrad in meinem Schädel dreht sich nur noch schneller …!“

„Warten Sie ab! Es wird schon mal stillstehen, und zwar bald!“ meinte Schippel tröstend.

 

14. Kapitel.

Das Heim des hüpfenden Teufels.

Gleich darauf hielt das Auto in einer stillen, älteren Straße von Berlin W.

Schippel und Lossen mußten noch zu Fuß ein paar Häuser weitergehen.

„So, da wären wir“, erklärte der Kriminalbeamte dann, indem er vor einem in tiefer Dunkelheit daliegenden, villenartigen Gebäude stehen blieb, das einen ziemlich großen Vorgarten hatte. „Nun hören Sie genau hin, was ich Ihnen sage. Ich bin der Filmregisseur Joseph Schwiedowski der Wiener Filmfabrik „Komet“, halte mich seit drei Tagen in Berlin zu Geschäftszwecken auf, habe Sie bei Ihrer Firma kennengelernt, bin Ihnen heute auf dem Nachhausewege begegnet und habe Sie aufgefordert, Ihr Glück ein wenig im Hasard[3] zu versuchen. Das Einlaßwort für diese Spielhalle habe ich, Joseph Schwiedowski, von einem Filmschauspieler erfahren. – – So, das zu Ihrer Aufklärung für den Fall, daß Sie hier einen Bekannten treffen sollten. Also nicht vergessen: Joseph Schwiedowski – Komet – Geschäfte – Einlaßwort von Filmschauspieler!“

Lossen zuckte die Achseln. „All das wird sehr überflüssig sein, Herr Schippel. Wem sollte ich hier wohl begegnen?! Ich kenne ja so wenige Herren, die …“

„Abwarten!“ meinte der Kriminalbeamte vielsagend.

Lossen wollte noch etwas fragen, als neben ihnen ein schlanker Herr auftauchte, – sehr elegant gekleidet, aber auch noch sehr jung.

Er lüftete den weichen Filzhut, verbeugte sich und sagte mit auffallend heller, dabei aber vor Erregung leicht zitternder Stimme:

„Meine Herren, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun. Ich weiß bestimmt, daß ein Bekannter von mir sich dort in jener Villa zurzeit befindet, wo man heimlich dem Glücksspiel huldigt. Ich muß diesen Bekannten unbedingt sofort sprechen – sofort! Da ich nun annehme, daß Sie mit der Art und Weise vertraut sind, wie man Zutritt zu dem Hause erlangt, würden Sie mich sehr verpflichten, wenn Sie mich mitnehmen wollten. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht etwa Polizeispitzel oder dergleichen bin. Eine reine Privatangelegenheit ist’s, um die es sich handelt. – Gestatten: mein Name ist Fritz Pelzer.“

Schippel sah sich den Fremden jetzt erst etwas genauer an. Dieser war wirklich noch sehr jung, auffallend hübsch und gehörte fraglos zu den besseren Gesellschaftskreisen.

Dieses prüfende Mustern des jungen Stutzers von Seiten Schippels dauerte eine ganze Weile. Dann sagte der Kriminalbeamte plötzlich:

„Gut – kommen Sie mit.“

Die drei gingen durch die offene Gitterpforte, passierten den Vorgarten, bogen um die in tiefer Dunkelheit daliegende Villa herum und machten vor dem Hintereingang halt. Hier klopfte Schippel sechsmal gegen die eichene Tür, worauf sich ein kleines Schiebefenster öffnete.

„Gott zum Gruß, liebe Erna“, sprach der Kriminalbeamte leise in das Fensterchen hinein.

Dann erst tat sich die Tür auf, die ein dicker Herr mit mächtiger Glatze den Besuchern geöffnet hatte.

Schippel nickte dem Dicken zu und ging dann ohne weiteres den matt erleuchteten Flur entlang, klopfte hier abermals an eine Tür zur Rechten sechsmal an und verschaffte sich so, ohne von den beiden Türhüter durch Fragen belästigt zu werden, Zutritt zu den drei Zimmern, die der dicke Kahlköpfige als Mieter der Villa hier einen geheimen Spielklub zur Verfügung gestellt hatte. Im ersten Zimmer wurde abgelegt. Hier befand sich auch ein reichhaltiges kaltes Büffet.

Lossen und Fritz Pelzer handelten zunächst wie die Automaten. Sie taten, was Schippel tat, hingen ihre Sachen an den langen Garderobenständer, tranken gemeinsam am Büfett einen Likör, der ihnen von der für jung zurechtgeschminkten Frau des Dicken gereicht wurde, und betraten dann das zweite Zimmer.

Hier sowohl als in dem dritten Raume waren um zwei große Tische einige dreißig Herren versammelt. Es wurde hauptsächlich Roulette gespielt, auch getempelt. Zigarrenqualm hing in schweren Schwaden in der Luft. Gesprochen wurde nicht viel. Goldgeld klimperte, Papiergeld raschelte. Dazwischen knallte ein Sektpfropfen, stieß einer der Spieler eine Verwünschung aus … Und die kleine, weiße, satanische Elfenbeinkugel des Roulettes sprang, hopste, wirbelte wie ein richtiger übermütig-höhnisch hüpfender Teufel, der all die Männer hier in den Krallen hielt …

Lossen war dieses Bild so neu, daß er verwundert bald hierhin bald dorthin blickte. Niemand kümmerte sich um die neuen Gäste.

Schippel warf einen Hundertmarkschein auf den Roulettetisch – über die Schulter eines Herrn hinweg, der vor ihm saß, den Kopf in die Hand gestützt.

Der junge Maler staunte über die Sicherheit, mit der der Kriminalbeamte sich benahm.

Da schlug jemand Lossen leicht auf die Schulter. Er fuhr erschreckt herum und sah in … Bellingers vergnügt grinsendes Gesicht.

„Wie kommen Sie hierher?“ fragte der Assessor. „Ei, ei …!! Auch auf Abwegen! Das sollte Blendel wissen!!“

Lossen beeilte sich, daß ihm von Schippel Eingepaukte herunterzustammeln.

Zwei neue Besucher betraten das Zimmer. In dem einen erkannte Lossen sofort den Professor Weinreich, dessen hohe, kräftige Gestalt mit dem verwitterten Gesicht und dem gefärbten Bart ihm noch von Oltendorfs her – von jenem Unglücksabend – in der Erinnerung geblieben war. Der andere war zweifellos ein Schauspieler. Dieser hatte Bellinger kaum erblickt, als er mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukam.

„Freund meiner Seele – acht Tage haben wir uns nicht gesehen, seit damals, als wir dem aus einer Horde Geheimpolizisten bestehenden Arme der sogenannten Staatsgewalt noch glücklich entwischten, leider aber unsere Mäntel und Hüte den „Greifern“ überlassen mußten …! Mein Paletot war ja nicht mehr viel wert, aber der Deine …!! Oh, der war ein Meisterstück der Schneiderkunst, und das Seidenfutter ein Gedicht …!!“

Bellinger drückte dem Bekannten lachen die Hand.

„Ihre Vergleiche sind kühn, Orfano, weiß Gott! – Ja – um meinen Paletot tut es mir leid – sehr leid sogar.“

Schippel hatte diese Begrüßung mitangehört – jedes Wort … In sein Gesicht war mit einemmal ein Ausdruck höchster Spannung getreten.

Dann fuhr Bellinger auch schon fort:

„Na – ich hoffe zuversichtlich, daß die Polizei die nicht abgeholten Kleidungsstücke, deren Besitzer sie zu ihrer Trauer nicht ermitteln konnte, versteigern läßt. Dann werde ich einen Mann hinschicken, der auf meinen Sportpaletot bieten muß – und wenn es tausend Mark wären!“

Schippel gegenüber am Fenster lehnte der jugendliche Fritz Pelzer, eine Zigarette im Mundwinkel. Der Beamte beobachtete auch diesen Herrn unauffällig. Pelzers lebhafte Augen waren mit besonderem Ausdruck auf Bellinger gerichtet. Haß und erbitterte Feindseligkeit glaubte Schippel darin zu bemerken.

Als Bellinger jetzt wieder an den Spieltisch trat – er hatte von Weinreich keinerlei Notiz genommen – kam Pelzer langsam auf ihn zu, stellte sich dicht hinter ihn und flüsterte ihm etwas zu.

Der Assessor erbleichte. In demselben Augenblick passierte zweierlei.

Weinreich hatte den jungen Pelzer eben erst bemerkt, war zusammengezuckt und dann auf den Fremden zugeeilt – mit verzerrtem Gesicht, offenbar in höchster Wut.

Da schrillte eine an der Wand angebrachte elektrische Glocke. Es war ein Alarmsignal für die Spieler, daß Gefahr im Anzuge sei. Wildeste Aufregung entstand. Einer der Herren stürzte nach dem Einschalter des elektrischen Lichtes. Aber Schippel hatte sich davor aufgepflanzt und stieß ihn zurück.

Kriminalbeamte drangen ins Zimmer, allen voran Kommissar Sakschinski, der sofort rief:

„Ich erkläre Sie sämtlich für verhaftet! Das Haus ist umstellt!“

Lossen war neben Schippel getreten.

„Eine nette Bescherung“, flüsterte er bestürzt.

„So?! – Im Gegenteil, – alles klappt, wie ich es mit Sakschinski verabredet habe. Nur etwas später hätte der Kommissar erscheinen können.“

Schippels Augen wanderten eilfertig hin und her.

Ah – Bellinger warf sein zusammengeballtes Taschentuch heimlich unter den Tisch … Und dort – – wahrhaftig – dort saß Fritz Pelzer und … weinte … weinte ganz verzweifelt …

Schippel lächelte und machte Lossen auf das unmännlich Benehmen des jungen Stutzers aufmerksam. Dann fuhr er fort:

„Wir gehen ruhig mit zur Polizeiwache …“

Diejenigen der Anwesenden, die sich genügend ausweisen konnten, wurden entlassen. Nur Bellinger, Weinreich und drei andere mußten außer Schippel, Lossen und Pelzer den Beamten folgen.

Der Assessor und Weinreich protestierten laut gegen diese Maßregel. Pelzer schluchzte und flehte Sakschinski an, ihn laufen zu lassen. Inzwischen hatte Schippel unauffällig das Taschentuch Bellingers aufgehoben und zu sich gesteckt.

Vor der Villa hielten zwei Autos. In dem einen wurden Bellinger, der Professor, Pelzer und Schippel untergebracht. Das andere benutzten Sakschinski, Lossen und jener Schauspieler Orfano, der von des Assessors elegantem Paletot gesprochen hatte.

Beide Kraftwagen fuhren jedoch nicht zur nächsten Polizeiwache, sondern nach dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz.

Dort wurden vier der Mitgenommenen in ein Zimmer geführt und von einem Kriminalbeamten überwacht. Sie durften kein Wort miteinander sprechen.

Der Nebenraum war das Dienstzimmer Sakschinskis. Hier befanden sich außer dem Kommissar noch Schippel und Lossen.

„Sind Sie mit mir zufrieden, Schippel?“ fragte Sakschinski.

„Sehr! – Jetzt können wir wohl beginnen. Es wird sicher sehr dramatisch zugehen, zumal ich selbst noch besondere Überraschungen in dieser Nacht erlebt habe, – nein, nicht eine, – mehrere sogar! – Also dann zunächst Herr Fritz Pelzer, – eine sehr interessante Persönlichkeit!!“

Pelzer mußte vor dem grünverhangenen, großen Tische Platz nehmen. Er machte einen vollständig gebrochenen Eindruck. Und jetzt sah auch Lossen, daß der kleine Anflug von Schnurrbart auf Pelzers Oberlippe fraglos mit einem Farbstift hervorgezaubert worden war. Die Tränen hatten die Farbe in zwei dunklen Strichen bis zum Kinn herablaufen lassen.

Schippel begann das Verhör.

„Sie weigern sich also, Herr Pelzer, Ihre Wohnung anzugeben. Ausweispapiere besitzen Sie nicht. – Ziehen Sie sich aus. Ich muß eine Körpervisitation bei Ihnen vornehmen.“

Pelzer schnellte empor, wurde erst blaß, dann feuerrot, sank plötzlich in die Knie und rief:

„Alles – alles: nur das nicht! Haben Sie Erbarmen mit mir …!!“

Schippel blieb hart. „Vorwärts – keine Faxen!“

Er stand auf und ging zur Tür, rief in das Nebenzimmer hinein:

„Herr Professor Weinreich! – Bitte!“

Weinreich kam sehr zögernd.

„Kennen Sie diesen Herrn?“ Schippel wies auf Pelzer.

Der Professor verneinte.

„Merkwürdig!“ sagte der Kriminalwachtmeister. „In der Spielhölle schossen sie auf ihn zu mit zornrotem Gesicht!! – Was wollten Sie von Pelzer?“

Weinreich wurde verlegen. – Und Schippel fuhr mit erhobener Stimme fort, sich an den jungen Stutzer wendend:

„Fräulein Fritzi Pelcherzim, ich habe Sie schon vor der Villa erkannt. Sie tragen dieselbe Herrenkleidung, wie in einer Ihrer Rollen in der Posse „Der Teufel lacht dazu …“ Und Ihr Schnurrbärtchen unter der Nase ist ein wenig verlaufen …“

Das junge Mädchen begann wieder zu schluchzen.

„Sie können vorläufig abtreten“, sagte Schippel nun zu dem Professor. „Sie kommen schon noch nachher heran … – So gehen Sie doch …!!“ fügte er befehlend hinzu.

Weinreichs Augen ruhten starr auf dem tränenfeuchten Gesicht seiner Stieftochter. Sein Mund war so fest zusammengepreßt, daß die Lippen nur eine schmale Linie bildeten. In seinen Zügen arbeitete es unter der Einwirkung einer starken inneren Erregung. Seine Rechte streichelte zitternd den gefärbten Bart.

Und er blieb trotz Schippels barschem Tone …

„Fritzi“, sagte er plötzlich, „was wolltest Du bei … bei den Spielern …?! Gedenkst Du etwa …“

Der Kriminalwachtmeister war mit einem Satz neben ihm, packte ihn am Ärmel und rief, – nein brüllte …

„Hinaus mit Ihnen, – hinaus …!!“

Aber Karl-Ernst Weinreich schüttelte den kleinen Mann mit Leichtigkeit von sich ab. Seine Augen flammten auf, seine geballte Faust hob sich …

„Rühren Sie mich nicht an, Sie Knirps …!!“ zischte er. „Mit Ihresgleichen werde ich schon noch fertig …!“

Auch Sakschinski hatte sich erhoben, wollte sich gerade einmischen, als er verdutzt nach Schippel hinschaute. Der lächelte – wahrhaftig! – lächelte ironisch den Musikprofessor an, neben dem er sich wie ein Kind ausnahm. Jetzt winkte er dem Kommissar mit den Augen zu, als wollte er sagen: „Lassen Sie mich nur machen!“

Und Sakschinski wußte nun, daß der kleine Mann mit voller Absicht diese Szene heraufbeschworen hatte.

Gerade dieses ironische Lächeln Schippels war es, das die Wut Weinreichs so schnell verrauchen ließ. Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Etwas wie Unsicherheit und versteckte Angst prägte sich jetzt in seinen Zügen aus.

So standen sich die beiden eine Weile schweigend gegenüber.

„Gehen Sie!“ befahl Schippel wieder, diesmal fast liebenswürdig. „Ich freue mich, Sie auch mal von einer anderen Seite kennengelernt zu haben.“

Weinreich zuckte die Achseln, machte kehrt und verließ das Zimmer, nachdem er noch einen drohenden, haßerfüllten Blick auf seine Stieftochter geworfen hatte.

 

15. Kapitel.

Der böse Geist.

Schippel schritt jetzt auf Fritzi Pelcherzim zu, legte ihr begütigend die Hand auf die Schulter und sagte:

„Liebes Fräulein, wir wollen uns in aller Freundschaft ein wenig unterhalten. Aber – Sie müssen nicht zu lügen versuchen. Das könnte Ihnen sehr schaden. – So, nun hören Sie mal genau hin. – Ihr Stiefvater ist doch mit dem Assessor Bellinger befreundet, nicht wahr?“

Fritzi nickte matt, indem sie die Tränen trocknete und dabei versuchte, den herabgeflossenen Schnurrbart wegzureiben. Die Eitelkeit war bei ihr schon wieder erwacht.

„Also befreundet …“ fuhr Schippel fort. „Woher wissen Sie das? Verkehrte Bellinger bei Ihren Eltern?“

Das junge, schöne Weib wurde verlegen. „Nein“, meinte sie zögernd. „Bei uns zu Hause war der Assessor nie. Ich … ich …“ Die Augen wurden ihr schon wieder feucht.

Schippel wartete geduldig, bis Fritzi sich zu dem Entschluß durchgekämpft hatte, wirklich die volle Wahrheit zu sagen.

Und nun brach bei ihr all das so lange zurückgedrängte Leid, eine Seelenpein hervor, verdichtete sich zu Worten, die sich förmlich überstürzten.

„Was zaudere ich noch?! – Hat es einen Zweck?! Ich ahne ja, daß alles jetzt an den Tag kommen wird. – Ja, ich werde aufrichtig sein. Sie brauchen nicht mehr zu fürchten, daß ich Ausflüchte mache. Ich habe genug gelitten – übergenug!! Die eine Minute, wo Eitelkeit, Putzsucht und Genußgier stärker waren als das Gute, das meine arme Mutter in meine heranreifende Seele einzupflanzen suchte, hat sich bitter gerächt …“

Sie schwieg wie erschöpft. Ihre Blicke aber hafteten noch immer auf den blinkenden, funkelnden Steinen, die auf Schippels flacher Hand lagen und die er aus der Tasche genommen hatte, als er darauf wartete, daß Fritzi Pelcherzim weitersprechen sollte.

Es war von ihm nur ein Trick gewesen, daß er die Edelsteine hervorholte und sie so hielt, daß das junge Weib sie bemerken mußte, – ein Versuch, nichts weiter, ein Versuch, der auch fehlschlagen konnte. Aber er gelang.

Weder Sakschinski noch Lossen hatten auf das Tun des kleinen Beamten achtgegeben. Sie saßen so, daß sie die vorgestreckte Hand mit den funkelnden Diamanten nicht sehen konnten. Schippel steckte die Steine jetzt auch wieder in die Tasche. – Und Fritzi sprach weiter:

„Mein Stiefvater ist stets ein schwacher Charakter gewesen. Aber schlecht – schlecht haben ihn erst andere gemacht. In Kimberley in Südafrika, der großen Minenstadt, besaß er einen Musiksalon und hätte auf ehrliche Weise viel Geld verdienen können. Ich war damals noch zu jung, um die Vorgänge richtig beurteilen zu können, die uns von dort forttrieben, weiß auch nichts genaueres über jene Zeit. Jedenfalls aber unterlag Weinreich zweifellos schon damals der Versuchung, schnell und leicht auf eine Weise reich zu werden, die nicht ehrenhaft war. Hier in Berlin war es dann wohl lediglich der Einfluß meiner herzensguten Mutter, die ihn zunächst auf dem geraden Wege hielt. Dies wurde plötzlich anders. Meine Mutter war nur zu blind. Sie hatte Weinreich noch immer sehr lieb. Aber ich merkte, daß er auf Abwege geraten war; mir trugen Kollegen und Kolleginnen vom Theater dies und jenes zu, bis ich dann begann, Weinreich heimlich nachzuspionieren. Ich wollte wissen, was er trieb, ich wollte eine Waffe gegen ihn in der Hand haben. Bald merkte ich, wer sein böser Geist war, der ihn verführt hatte: Bellinger!! – Ganz heimlich trafen die beiden sich, stets in der Dunkelheit, – hier und dort, – wie … wie Verbrecher! Dabei erwähnte mein Stiefvater daheim niemals den Namen des Assessors. Er umgab sich mit Lüge und Trug, um die Nächte außerhalb des Hauses zubringen zu können, redete uns vor, er sei Dirigent einer Kaffeehauskapelle! Alles Lüge, wie ich feststellte. Spieler war er – leidenschaftlicher Spieler, der zusammen mit Bellinger überall zu finden war, wo dem Hasard gehuldigt wurde. Wir daheim darbten, während er Hunderte verlor. Dann wieder überschüttete er uns ein paar Tage mit Geld, sagte, er hätte eine Komposition verkauft. Ja – verkaufen wollte er etwas, – mich – mich, – meine Schönheit, meine Jugend!! Kupplerlohn suchte er sich zu verdienen, und jener Kommerzienrat Scharfer, der in der verflossenen Nacht ermordet worden ist, sollte … der Zahlende sein. Ich wollte nicht – wollte nicht …!! – Heute mittag hatte es zwischen uns eine Szene gegeben, die mich dann zu dem Entschluß brachte, noch tiefer in das Geheimnis einzudringen, das die Beziehungen zwischen Weinreich und Bellinger umgab. Meiner Mutter wollte ich die Augen öffnen, und wir beiden Frauen sollten dann – das war meine Absicht! – ihn zwingen, dieses Leben aufzugeben. Zwingen …!! Dazu gehörte aber, daß ich ihn ganz in meine Hand bekam. Um dies zu erreichen, ließ ich mich mit in die Spielhölle nehmen. Nur deswegen …!“

Sie schwieg. – Schippel nickte ihr aufmunternd zu.

„Brav von Ihnen, Fräulein Pelcherzim, daß Sie so offen sind“, meinte er. „Aber – hm ja – etwas fehlt noch …: die Sache mit den Diamanten!“ Er drückte sich absichtlich so ungenau aus. Er wußte bisher ja nur, daß sie die Edelsteine in seiner Hand wie eine blitzende Warnung und Mahnung angestarrt hatte. Etwas mußte sie also von den gleißenden Diamanten erfahren haben – etwas! Wie viel – das entzog sich seiner Kenntnis.

Fritzi Pelcherzim blickte Schippel ängstlich an.

„Die Sache mit den Diamanten …“ wiederholte sie leise. Dann hob sie die gefalteten Hände nach Lossen hin: „Vergeben Sie mir, ich flehe Sie an …!! Ich habe ja bereut, so furchtbar bereut! Aber ich wagte nicht, die Wahrheit einzugestehen. So … wanderten Sie statt meiner ins Gefängnis! Ich war’s ja, die damals an jenem Gesellschaftsabend bei Oltendorf die Edelsteine stahl …! Ich wußte, wo sie verwahrt wurden. Charlotte Oltendorf hatte es mir anvertraut. Ich war eitel, putzte mich gern. Und mußte doch in so billigen Fähnchen umherlaufen. Schon als Kind hat jeder funkelnde Schmuck mich förmlich hypnotisiert. Stundenlang habe ich vor den Schaufenstern der Juweliergeschäfte gestanden. – An jenem Abend trug Charlotte Oltendorf Ringe, Ohrgehänge und eine Brosche, die meinen Neid, meine Gier, ähnliches zu besitzen, bis zur halben Unzurechnungsfähigkeit steigerten. Außerdem hatte ich bei Tisch Sekt getrunken. Ich befand mich in einem doppelten Rausch, als ich die Treppe emporeilte, das Schränkchen mit einem in des Rentiers Schlafzimmer unter einer Waffensammlung hängenden indischen Hauschwerte erbrach, und die vierzig Edelsteine aus dem schwarzausgeschlagenen Kasten herausnahm und zu mir steckte. Erst zu Hause kam ich zur Besinnung. Schon da packte mich die Reue. Schlaflos verbrachte ich den Rest der Nacht; ich irrte wie eine halb Wahnsinnige bis zum Nachmittag umher, sagte mir, daß nur ich als Diebin verfolgt werden würde, weil ich ja gewußt hatte, wo die Diamanten lagen. Nachmittags brachte die Zeitung schon die Nachricht von Ihrer Verhaftung, Herr Lossen. Wäre ich nicht so jämmerlich feige gewesen, so … – Doch was nützt jetzt meine Selbsterkenntnis …?! Sie Ärmster litten für mich, und ich – ich hatte nicht einmal von meinem Verbrechen einen Vorteil! Ich wagte nicht, die Steine zu veräußern, wußte auch gar nicht, wie ich das anfangen sollte. Ich hatte die Diamanten in meinem kleinen Zimmerchen versteckt, – oben auf dem Kachelofen. – Und dort werden Sie sie heute abend wohl gefunden haben“, wandte sie sich wieder an Schippel. „Denn ich nehme an, Sie waren bei uns und haben Haussuchung abgehalten. Morgens befanden sich die Steine jedenfalls noch in ihrem Versteck. Also können Sie doch nur …“

Schippel hob abwehrend die Hand.

„Sie irren sich, Fräulein Pelcherzim“, sagte er hastig. „Sie irren sich …!! Wenn die Diamanten morgens noch auf dem Ofen lagen, so liegen sie noch dort, und dann – dann haben Sie damals nicht die echten Steine gestohlen, sondern … Imitationen! Einen Teil der echten Steine trage ich hier in meiner Tasche bei mir.“

Fritzi Pelcherzim starrte den Beamten ganz entgeistert an.

„Imitationen …?! – Imitationen?! – Ja – das – das ist doch …“

Wieder winkte Schippel ab. „Zerbrechen Sie sich nicht umsonst den Kopf. Sie werden schon noch rechtzeitig Aufklärung erhalten. Wir dürfen unsere Unterhaltung nicht zu lange ausdehnen. Andere wollen auch noch gern heran …!“ Dabei deutete er nach dem Nebenzimmer. „Ich möchte noch gern über einen Punkt mit Ihnen reden“, fuhr er nachdenklich fort. „Ob Ihr Stiefvater wohl ahnt, daß Sie damals der Versuchung unterlegen sind?“

„Ja – er weiß es. Ich war mir hierüber jedoch bis heute mittag im unklaren. Da erst, während wir so heftig wie noch nie bisher aneinander geraten waren, flüsterte er mir zu: „Du bist eine Diebin! Du hast Oltendorfs Edelsteine gestohlen! Du wirst Scharfers Anerbieten annehmen, – – oder …!!“ – Aber ich machte diesen seinen scheinbaren Sieg schnell wett. Ich dachte daran, daß er ja mein Mitschuldiger war. Er hatte geduldet, daß ein Schuldloser verurteilt wurde. Ich wollte ihm dies auch vorhalten, als meine Mutter hinzukam und der häßlichen Szene ein Ende machte.“

Schippel sagte jetzt leise wie zu sich selber sprechend: „So, so – er wußte es!! Recht wichtig …!“ Dann zu Fritzi Pelcherzim: „Sie dürfen nun gehen, liebes Fräulein. Aber sorgen Sie mir dafür, daß die Imitationen nicht verschwinden. Ein Beamter wird Sie bis auf die Straße geleiten.“

Fritzi wollte noch etwas fragen. Aber Schippel führte sie schnell auf den Korridor hinaus.

Als er wieder zurückkehrte, fand er Lossen und den Kommissar in lebhaftem Gespräch mitten im Zimmer stehen.

Der junge Maler streckte ihm beide Hände entgegen.

„Wie soll ich Ihnen danken, Herr Schippel“, stammelte er geradezu freudetrunken. „Ich werde Ihnen nie vergessen …“

„Schon gut – schon gut!“ unterbrach Schippel ihn halb verlegen. „Setzen Sie sich wieder. Jetzt kommt Herr Professor Weinreich an die Reihe. Auch diese Unterhaltung wird ganz interessant werden.“ – –

Weinreich fühlte sich offenbar sehr unbehaglich. Er schaute den kleinen Herrn unsicher an, rutschte unruhig auf seinem Stuhle hin und her und fragte schließlich, als Schippel ihn nur durchdringend fixierte, ohne das Verhör zu beginnen:

„Wo ist denn meine Stieftochter geblieben?“

„Die hat eine Zelle unseres Polizeigefängnisses bezogen“, erklärte Schippel. „Es tut mir leid, Ihnen eröffnen zu müssen, daß Fräulein Pelcherzim … eine Diebin ist. Sie hat soeben hier eingestanden, daß sie damals die Oltendorfschen Diamanten gestohlen hat.“

Weinreich fiel in diese Grube auch wirklich hinein, spielte den tief geknickten, empörten Stiefvater unter einem Schwall von Phrasen und warf mit dem Ausdruck „ungeratenes Kind“ nur so herum, bis Schippel ihm mit einem energischen: „Schweigen Sie endlich, Sie Heuchler!“ das Wort abschnitt.

„Schweigen Sie!! Sie haben ja längst gewußt, daß Ihre Stieftochter den Diebstahl begangen hat – den ersten Diebstahl. Sie haben es ihr gestern vorgehalten, um sie Scharfer gegenüber gefügig zu machen. Und Ihnen war auch längst bekannt, daß Fritzi Pelcherzim nur … Imitationen, Simili-Steine, eben eine Nachahmung der echten Sammlung, erbeutet hatte. Ihre Stieftochter verbarg den Raub auf dem Ofen in ihrem Zimmer. Dort fanden Sie ihn, als Sie, was häufiger vorgekommen sein dürfte, die Sachen Fräulein Fritzis durchschnüffelten. Natürlich haben Sie damals im ersten Augenblick frohlockend gehofft, die echten Steine vor sich zu sehen, haben sicherlich schleunigst ein paar davon an sich genommen und zu veräußern versucht, um Ihre allzeit leere Kasse zu füllen. Aber zu Ihrer großen Enttäuschung erfuhren Sie da von irgendeinem Hehler oder dergleichen, daß es nur Simili-Diamanten wären. Deshalb ließen Sie die Beute auch ruhig auf dem Ofen liegen, – eben weil sie für Sie wertlos war. – Den ersten Diebstahl beging also Fritzi Pelcherzim, – den zweiten, den an den echten Steinen, – Sie, nur Sie und kein anderer! Sie wußten ja, daß Oltendorf die echte Sammlung noch besitzen müsse, und das weitere brachten Sie mit Ihrer verbrecherischen Findigkeit schon zuwege!“

Schippel schlug mit dieser Anschuldigung nur „auf den Strauch“. Er hatte dem Professor soeben einen neuen Fallstrick gelegt.

Weinreich verfärbte sich denn auch, sprang auf, hob die Rechte theatralisch wie zum Schwur und rief:

„Auf der Stelle soll mich hier der Schlag rühren, wenn Sie recht haben! Die echten Steine befinden sich noch in Oltendorfs Besitz, wenn er es auch noch so sehr zu leugnen sucht!“

„So?! In Oltendorfs Besitz?! Und – was ist das hier?“ Schippel hatte die Edelsteine wieder aus der Tasche geholt und hielt sie Weinreich auf der flachen Hand hin.

Der Professor lachte auf. „Na also – da sind Sie ja, – wenn auch nur einige! Oltendorf hat sie Ihnen gegeben, oder aber Sie haben sie bei ihm beschlagnahmt.“

Schippel merkte, daß Weinreich jetzt nicht heuchelte. Und das genügte ihm.

„Sie wissen wirklich nichts davon, daß bei Oltendorf noch ein zweiter Diebstahl verübt worden ist, bei dem die echten Diamanten dem Spitzbuben in die Hände fielen?“ fragte er kurz.

„Ich habe bis zu diesem Augenblick angenommen, der Rentier besäße die echte Sammlung noch“, erwiderte der Professor feierlich.

In diesem Moment schnellte Werner Lossen von seinem Stuhle hoch, reckte den Arm gegen Weinreich aus und sagte in heftiger Erregung:

„Ah – jetzt erkenne ich …“

Aber Schippel fuhr dazwischen. „Kein Wort weiter, Herr Lossen …!! Kein Wort …! Nehmen Sie wieder Platz …!“

Weinreich war sehr bleich geworden.

„Ahnen Sie, wie der Schluß des Satzes lauten sollte, den ich Herrn Lossen nicht beenden ließ?“ fragte der Kriminalwachtmeister schnell den Professor.

Dieser suchte den Erstaunten zu spielen.

„Wie sollte ich wohl?“ meinte er sehr unsicher.

„Nun – Bellinger, Ihr Intimus, dürfte Ihnen doch wohl erzählt haben, daß Herr Lossen im Kirgisenzelt zwei Leute belauscht hat, von denen der eine heiser war. Und dieser Mann mit der heiseren Stimme wußte, daß bei Oltendorf damals dem Diebe nur die Imitationen in die Hände gefallen waren und sagte zu dem anderen, man müsse zusehen, daß man die echten Steine noch aus dem Zusammenbruch rette. Und diesen Heiseren hat Herr Lossen soeben an der Stimme wieder erkannt. Sie waren der Heisere, – Sie, Herr Weinreich, der Sie stark erkältet sind!“

Der Professor stieß ein schrilles Lachen aus.

„Sie phantasieren wohl, – he?! – Bellinger mein Freund …?! – Ich kenne ihn nur ganz oberflächlich. Und im Klub der Fünfzig bin ich noch nie gewesen.“

„Ihr Lügen hilft Ihnen nichts“, sagte Schippel kalt. „Sie sind entlarvt! Ihre Stieftochter weiß mehr als Sie ahnen …!“

Weinreich blickte wieder so unsicher wie vordem auf seinen kleinen Peiniger. Er fand nicht so schnell eine passende Erwiderung. – Schippel verlangte auch keine Antwort.

„Ich will ehrlicher sein als Sie“, fuhr er fort. „Von den Oltendorfschen echten Diamanten sind bereits vor einiger Zeit eine Anzahl beschlagnahmt worden. Die ersten bei einem Hehler. Die zweite Serie fand ich eingenäht in einem eleganten Sportpaletot, der vor einigen Tagen in einer von uns ausgehobenen Spielhölle von einem der uns leider entwischen Jeubrüder zurückgelassen war. Bis heute vor anderthalb Stunden ahnte ich noch nicht, wem dieses Kleidungsstück gehörte. Jetzt weiß ich’s! Und heute kam dann abermals ein Teil der Edelsteine des Rentiers in meinen Besitz. Einer der Spieler warf beim Erscheinen der Polizei in der Villa ein zusammengeballtes Taschentuch weg. Darin waren vier Diamanten eingewickelt – die schönsten der Sammlung.“

Schippel brauchte nichts mehr zu sagen. Weinreich hatte sich auf seinem Stuhl kerzengerade aufgerichtet. Seine Augen waren ganz weit geworden.

„Bellinger?“ fragte er keuchend.

Der Kriminalbeamte nickte nur.

„Ah – so ein Schuft – so ein Schuft!!“ zischte der Professor.

 

16. Kapitel.

Auf Tod und Leben.

Schippel wartete jedoch vergeblich darauf, daß Weinreich in seiner Wut gegen den Assessor sich zu irgend welchen unvorsichtigen Äußerungen hinreißen lassen würde. Es blieb bei dem zweimaligen „Schuft!“ …

„Gedenken Sie Bellinger noch weiter zu schonen?“ fragte Schippel dann.

Der Professor hatte inzwischen Zeit gefunden, mit sich über sein ferneres Verhalten ins klare zu kommen.

Er zuckte die Achseln. „Schonen?! Wie meinen Sie das?!“ sagte er langsam.

Der kleine Wachtmeister sah ein, daß Weinreich doch nicht so leicht zu überlisten war.

„Sie geben den Kampf also noch nicht auf?!“ erklärte er wie in aufrichtigem Bedauern. „Es wäre besser für Sie, alles zu gestehen.“ Und nach einer Pause: „Ich ahne, weswegen Sie Bellinger nicht verraten wollen. Er kennt so manches aus Ihrer jüngsten Vergangenheit, was noch gefährlicher als ein Diebstahl ist.“

Aber der Professor blieb auch diesen Andeutungen gegenüber jetzt völlig gleichgültig.

„Sie sprechen in Rätseln“, sagte er ironisch.

Schippel wurde ungeduldig. Er holte zu einem großen Schlage aus.

„Ihr Freund Bellinger hat es glänzend verstanden, den Verdacht, bei der Aufknüpfung Malettas im Vorstandszimmer mitgewirkt zu haben, auf Scharfer zu lenken“, meinte er. „Indem er Wahres und Erdichtetes zusammenmischte, brachte er die Annahme zustande, daß der Kommerzienrat den Mann mit der Maske in das Klubhaus einließ, der den Chemiker an dem Kronleuchter aufhing. Aber einen Fehler beging der Assessor doch: er hätte das Nachbarhaus aus dem Spiel lassen sollen, in dem tatsächlich eine Freundin Scharfers wohnt. Dadurch wurde ich erst darauf gebracht, mich auch mal in dem anderen Nebenhause des Klubgebäudes, das über das Dach ebenso leicht zu erreichen ist, umzusehen. Heute abend tat ich’s. Und ich stellte fest, daß dort ein Herr, der eine fatale Ähnlichkeit mit Ihnen nach Aussage des Wirtes hat, vor vier Wochen eine Dachkammer unter dem Namen Friedrichs gemietet hatte. In dieser Dachkammer fand ich außer einer bereits recht schlechten Schreibmaschine – Friedrichs hatte sich als Schriftsteller ausgegeben – im Ofen unter der Asche ein breites, langes Dolchmesser. Hier ist es …“

Er zog die Waffe schnell aus der Brusttasche und hielt sie Weinreich hin.

Dieser Überfall gelang. Der Professor wurde leichenblaß. Dicke Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Seine zitternden Hände fuhren unruhig hin und her, seine Zunge netzte immer wieder die zuckenden Lippen.

Schippel hatte sich erhoben, war dicht vor ihn hingetreten.

„Weinreich“, sagte er eindringlich, „Sie sehen – das Spiel ist aus! Legen Sie ein Geständnis ab, Mann, – seien Sie vernünftig! Ich weiß, daß Sie Scharfer nicht haben ermorden wollen. Der Dolchstoß galt Maletta.“

Da raffte der Professor nochmals all seine Energie zusammen.

„Sie sind verrückt, Herr!“ meinte er. „Lassen Sie mich mit dem Unsinn in Ruhe.“

Schippel nahm ihm diese Grobheit nicht weiter übel.

„Sie sollen Ihren Intimus ganz kennen lernen“, sagte er eindringlich. „Setzen Sie sich dort hinter jenen Aktenständer, der zu diesem Zweck schon häufiger benutzt ist – als Wandschirm. Aber verraten Sie durch nichts Ihre Anwesenheit.“

Weinreich zögerte erst, murmelte dann etwas von „unnötiger, lächerlicher Komödie“ und verschwand hinter dem Aktenregal, das auf der Rückseite mit grauer Leinwand bespannt war.

Schippel holte jetzt Bellinger herein. Dieser trat sehr selbstbewußt auf. Als er Lossen bemerkte, stutzte er, sagte aber nichts.

„Ich habe soeben den Professor verhört“, begann Schippel, indem er sehr getreu den Aufgeregten spielte. „Der hat mir ja nette Dinge von Ihnen erzählt. Nun – Sie können sich auf eine stattliche Reihe von Strafjahren gefaßt machen. Wer hätte geahnt, daß die Attentate auf Maletta diese Aufklärung finden würden!!“

Er erreichte seinen Zweck. Bellinger verlor seine selbstbewußte Haltung etwas.

„Was sage ich – Strafjahre!“ fuhr Schippel in einem Atem fort. „Es geht um Ihren Kopf! Weinreich bezichtigt Sie auch das Mordes an dem Kommerzienrat.“

Der Assessor versuchte es jetzt mit Frechheit.

„Sie sind anscheinend nicht ganz nüchtern“, meinte er höhnisch. „Ich verlange, sofort entlassen zu werden. Es liegt nicht der geringste Grund vor …“

Da hatte Schippel abermals das Dolchmesser aus der Tasche gezogen und hielt es Bellinger dicht vor die Augen.

„Schweigen Sie!“ rief er drohend. „Ich werde Ihnen alle Ihre Schandtaten aufzählen. Der Professor war klug genug, ein umfassendes Geständnis abzulegen. Ich aber bin seit vielen Monaten hinter Ihnen her.“

Bei dem Anblick der Waffe glitt es wie ein blitzschnelles Erschrecken über des Assessors auch jetzt noch so jugendlich-rosiges Gesicht. Aber er mußte wirklich Nerven wie selten ein Mensch haben. Seine Züge nahmen ebenso schnell einen hochmütig-abweisenden Ausdruck an.

„Wer sind Sie eigentlich?“ fragte er sehr von oben herab. Und zu Sakschinski gewendet: „Herr Kommissar, ich werde mich über diese Behandlung beschweren. Bin ich ein hergelaufener Strolch, daß ich …“

Schippel fiel ihm ins Wort. Er sprach sehr laut und deutlich.

„Ich bin der ehemalige Justizanwärter, jetzige Kriminalwachtmeister Thomas Schippel, nebenbei auch noch … Chauffeur bei Doktor Maletta …!!“ Und er legte das Dolchmesser mit Nachdruck neben sich auf den Tisch.

Dieser Eröffnungen wirkten stärker als alle Anschuldigungen und als die Mordwaffe. Der Assessor bückte sich plötzlich und zog die Senkel eines seiner Lackschnürschuhe fester. Es war nur ein Trick, um die Blässe seines Gesichtes zu verbergen.

Schippel warf Sakschinski einen vielsagenden Blick zu. Die beiden Beamten verstanden sich. Bellinger wußte jetzt, mit welchem Gegner er es zu tun hatte und daß hier eine alte Rechnung zwischen ihm und dem früheren Justizanwärter ausgeglichen werden sollte.

„Ich will Ihnen genauer schildern, was damals in der Mordnacht sich alles abgespielt hat, Herr Assessor Bellinger“, begann der kleine Mann abermals. „Auch die Zusammenhänge der einzelnen Ereignisse werde ich klarstellen. Dann werden Sie wohl Ihr Benehmen etwas ändern. Das Geständnis des Professors enthüllte uns ja nur einen Teil der Wahrheit. Aber es genügte trotzdem vollauf. – Weinreich und Sie sind gemeine Erpresser. Weiter nichts. Aber Erpresser einer ganz besonderen Art. Sie haben Ihrem Opfer – ich spreche zunächst von Maletta – nicht nur gedroht, sondern diesen Ihren Drohungen auch durch Taten Nachdruck gegeben – eben durch Attentate. Von diesen kommen die früheren hier nicht in Betracht, vielmehr nur die letzte Geschichte im Vorstandszimmer des Klubs der Fünfzig. Wenn ich diese Angriffe auf Malettas Leben und Gesundheit mit Attentaten bezeichnete, so trifft dies nicht ganz das Richtige. Denn töten wollten Sie beide ihn nicht, nur merken sollte er, daß es Ihnen mit Ihren Drohungen auch ernst war und daß das Damoklesschwert überall und in jedem Augenblick über ihm schwebte. Als Chauffeur und Sicherheitswächter des Chemikers erlangte ich Kenntnis davon, was ihm sein Leben verbitterte und warum er sich in steter Todesangst befand. Ich wußte auch, daß er häufiger mit Schreibmaschine geschriebene Briefe erhielt – Erpresserbriefe, und daß er bereits Unsummen seinen Peinigern ausgezahlt hatte. Aber umsonst waren alle meine Vorstellungen, mir doch die Briefe zu zeigen. Ebensowenig vertraute er sich mir völlig an. Dann kam der heutige Tag, – nein, der gestrige, denn die Uhr zeigt ja bereits die dritte Morgenstunde. Maletta erzählte mir ganz eingehend, was mit ihm im Vorstandszimmer des Klubs geschehen war. Doch auch jetzt wollte er nicht, daß ich zu tief in die Einzelheiten dieser Erpresseraffäre eindringe.

Mir war ja schon längst klar geworden, daß nicht einzig und allein die Drohungen mit Mord und Totschlag den Chemiker zur Hergabe von Geld veranlaßten. Nein, die, die ihn ausquetschen wie eine armselige, verteidigungsunfähige, saftreiche Frucht, mußten aus Malettas Vergangenheit Dinge kennen, deren Bekanntwerden er ebensosehr fürchtete wie die Attentate. Bis heute, nein, gestern abend, wußte ich nun über die ganze Angelegenheit eigentlich so gut wie nichts. Wer die Erpresser waren, was in den Briefen stand und weshalb Maletta besonders seine Widersacher zu schonen suchte, ahnte ich nicht. Genauer ausgedrückt: ich hatte so meine Vermutungen, die aber doch alle ganz haltlos in der Luft schwebten. Da war ich endlich dieses ermüdenden, ergebnislosen Spiels satt, erklärte Maletta, daß ich noch immer Kriminalbeamter wäre und ihn verhaften müßte, wenn er nicht endlich mit der vollen Wahrheit herausrücke. Er sträubte sich, tobte, fluchte. Es half alles nichts. Ich bekam ihn doch klein. So erfuhr ich denn, was ich wissen wollte, so lieferte er mir auch die Erpresserbriefe aus, zeigte mir auch das Büchlein, in dem er die Summen notiert hatte, die Ihnen beiden in die Hände geflossen und dann wieder im Hasard schnell draufgegangen waren. Im ganzen hat er Ihnen und Weinreich bisher 825 000 Mark gezahlt. – Ich erfuhr, was ich wissen wollte. Aber eines konnte mir auch Maletta nicht sagen: wer die Erpresser waren. – Er hatte den Rentier Oltendorf im Verdacht, den er von früher her kannte, besaß jedoch keinerlei Beweise gegen ihn. Kurz: als ich heute nacht in die Spielhölle kam, – und ich bin absichtlich nach vorheriger genauer Vereinbarung mit Herrn Kommissar Sakschinski in die Villa gegangen – hatte ich weder gegen den Professor noch gegen Sie irgend welches Belastungsmaterial hinsichtlich der Erpressergeschichte in den Händen.

Nachdem die Polizei in die Villa eingedrungen war, suchten sie, Cesar Bellinger, sich zweier Gegenstände heimlich zu entledigen: eines zusammengeballten Taschentuches und im Auto, das uns hier nach dem Präsidium brachte, eines Briefes. Letzteren schoben Sie zwischen die Polster. Sie rechneten nicht mit meinen Luchsaugen. Der Brief ist jetzt in meinem Besitz.“

Schippel machte eine Pause und sah Bellinger durchdringend an. Es war nicht mehr der rosige, elegante Herr Assessor, der dort auf dem Stuhle saß. Es war ein Mann, dessen bleichem Gesicht man es anmerkte, wie sehr er sich sein verbrecherisches Hirn zergrübelte, um die Schlinge abzustreifen, die ihn bereits um den Hals lag.

Und Schippel fuhr fort: „Der Brief ist derselbe, den Sie im Schultheiß-Restaurant sehr geschickt gegen einen anderen, harmloseren, ausgetauscht haben. Sehr geschickt – doch nicht geschickt genug, wie Sie jetzt sehen. – Hier ist der Brief. Ich werde ihn Ihnen vorlesen. Er ist mit Schreibmaschine geschrieben, derselben schadhaften Maschine, mit der auch die Erpresserbriefe an Maletta getippt worden sind. – Das war eine große Unvorsichtigkeit von Ihnen und Weinreich. Eine Maschine, bei der das kleine A und O stets unter die Linie zu stehen kommen und die das S und L schräg stellt, sollte man für solche Zwecke nicht benutzen. – Der Brief lautet:

„Oltendorf, meine Geduld ist erschöpft. Ich habe Dich vor vier Tagen zu einer Unterredung bestellt. Du bist nicht erschienen. Du magst es noch so sehr leugnen: die echten Diamanten befinden sich noch in Deinem Besitz! Du spielst nur den armen Mann. Du willst plötzlich einmal verschwinden, um dann anderswo in der Verborgenheit in Ruhe und Behaglichkeit leben zu können. Ich erkläre Dir daher zum letzten Mal heute: Lieferst Du mir nicht die Hälfte der Edelsteine aus, so gehe ich hin und zeige Dich an, daß Du geduldet hast, daß ein Unschuldiger ins Gefängnis wanderte, und daß Du als Zeuge einen Meineid leistetest, als Du angabst, Dir wäre Deine Diamantensammlung gestohlen worden. Und es waren doch nur die Imitationen, die Du zum Schutz gegen Diebe hattest anfertigen lassen. – Also zum letzten Mal: heraus mit der Hälfte, oder …!! – W.“

„Daß dieses W. „Weinreich“ bedeutet, brauche ich wohl nicht hervorzuheben“, fuhr Schippel fort. „Nun zu der Frage, warum Sie diesen Brief, Herr Assessor Bellinger, im Schultheiß-Garten gegen einen anderen auswechselten. Als Weinreich dieses Schreiben tippte, wußten Sie beide noch nicht, daß Oltendorf verschwunden war. Kaum hatten Sie, Cesar Bellinger, Sie famoser Helfer und Beschützer aller Bedrängten, hiervon Kenntnis erhalten, als Sie sich auch schon sehr richtig sagten, daß Sie dieses gefährliche Schreiben, welches infolge Oltendorfs Verschwinden nur zu leicht in unrechte Hände geraten konnte, wieder ansichbringen müßten. Das taten sie dann auch. Aber im Auto heute nacht suchten Sie es wieder loszuwerden. So gelangte es in meine Tasche. Und als ich es mir vorhin in aller Eile ansah, als ich erkannte, daß ich es mit derselben fehlerhaften Schrift wie bei Malettas Briefen zu tun hatte, da sah ich mit einem Mal klar! Das Dunkel hatte sich gelichtet. – Nun – wie stellen Sie sich zunächst zu diesen Einzelheiten?“

„Gar nicht! Alles Blödsinn!“ erwiderte Bellinger. Aber der Ton seiner Stimme war unsicher und zaghaft. Und die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn mehrten sich zusehends.

„Gut. Sie werden schon noch andere Saiten aufziehen“, meinte Schippel gelassen. „Wir kommen jetzt zu dem Vorfall im Vorstandszimmer. Vor einer Woche etwa hatte der Chemiker wieder einen Drohbrief erhalten. Er sollte gleich auf einmal mit 100 000 Mark rausrücken, sonst würde er gehängt werden, stand darin. – Ihr Mitschuldiger Weinreich hatte sich nun im Nebenhause des Klubgebäudes eine Dachkammer als Absteigequartier gemietet. Dort fand ich außer dem Dolchmesser auch die fehlerhafte Schreibmaschine, die auszuprobieren ich leider keine Zeit hatte. Hätte ich es getan, so würde ich schon vor neun Stunden gewußt haben, wer Maletta als Zitrone benutzte. 100 000 Mark sollte der Chemiker hergeben. Etwas viel auf einmal. Sie beide mußten sich sagen, daß es schon einer sehr kräftigen Art von Überredung bedürfen würde, um ihn gefügig zu machen. Daher haben Sie mit dem Professor verabredet, Maletta im Vorstandszimmer in eine Falle zu locken. Sie ließen den sehr muskulösen Weinreich über das Dach in das Klubhaus ein, versteckten ihn im Vorstandszimmer und schickten Scharfer dann zu Maletta, damit der Kommerzienrat das Opfer dem Henker zuführe. Sie hatten jedoch ebensowenig wie ihr Komplice wirklich die Absicht, den Chemiker zu töten. Ich habe mir die rote Stelle am Halse Malettas angesehen. Der Strick war so gelegt, daß es langer Minuten bedurft hätte, ehe der Aufgeknüpfte gestorben wäre. Nein – der Chemiker sollte am Leben bleiben. Eine noch brauchbare Zitrone vernichtet man nicht! Daher waren Sie es auch, der so schnell erkannte, daß der verrückte Tänzer im Vorstandszimmer, den Lossen durch das Schlüsselloch beobachtet hatte, ein Erhängter war, daher fanden Sie sich nach vorher genau berechneter Zeit gerade ein, als Maletta noch lebend abgeschnitten werden konnte. Und Sie waren es, der sich die äußerste Mühe gab, den Chemiker zu retten, Sie sprengten die Tür auf, Sie stellten Wiederbelebungsversuche an und so weiter, – denn Maletta durfte ja nicht sterben! – Inzwischen war Weinreich auf demselben Wege längst wieder in seine Dachkammer zurückgekehrt.“

Hier machte Schippel eine Pause. Dann …:

„Soll ich Ihnen nun das Geständnis Weinreichs vorhalten, oder wollen Sie selbst …“

Ein unnatürlich klingendes Auflachen Bellingers schnitt ihm das Wort ab.

„Nur los – nur los!“ sagte der Assessor heiser. „Ich höre gern Märchen.“

Das, was Schippel jetzt sprach, war keineswegs seine wirkliche Überzeugung. Er wollte Bellinger nur zum Widerspruch reizen.

„Weinreich hat folgendes ausgesagt“, begann er, jeden Satz genau abwägend. „Der Verdacht, Maletta aufgeknüpft zu haben, konnte – und das hatten Sie schon so eingerichtet – gar nicht auf Sie fallen, da Sie ja in der fraglichen Zeit stets mit anderen Klubmitgliedern zusammengewesen waren. Trotzdem war Ihnen Scharfer unbequem geworden. Sie hatten ihn doch damit beauftragt, Maletta in das Vorstandszimmer zu bestellen, und obwohl Sie ihn um Diskretion gebeten hatten, konnte eine unglückliche Verkettung von Umständen doch einen Verdacht gegen Sie hinsichtlich der Hängegeschichte aufkommen lassen, wenn Scharfer eben plauderte. Und das durfte nicht sein. Aus diesem Grunde sind Sie ihm heimlich auf der Straße gefolgt, stießen ihn nieder und begaben sich dann zu Weinreich in die Dachkammer des Nebenhauses, wo Sie dem Professor mitteilten, was soeben geschehen war. Weinreich machte Ihnen die bittersten Vorwürfe, so voreilig einen Mord auf Ihr Gewissen geladen zu haben, und es kam …“

„Genug – genug!“ kreischte Bellinger plötzlich dazwischen. „Ich sehe ein: ich habe verspielt! Aber nicht ich war’s, der Scharfer abschlachtete, sondern der Professor! – Jetzt sollen Sie die Wahrheit hören! Und ich besitze auch die Beweise, daß der Professor der Mörder ist …“

 

17. Kapitel.

Der hüpfende Teufel springt auf Schwarz.

Schippel triumphierte innerlich. Nur fürchtete er gleichzeitig, Weinreich könnte alles verderben und womöglich aus seinem Versteck hervorstürzen, um durch sein Erscheinen Bellinger den Mund zu schließen.

Aber diese Sorge erwies sich als überflüssig. Der Professor rührte sich nicht.

Bellinger wischte sich erst den Schweiß von der Stirn, bat um ein Glas Wasser, trank es gierig aus und sagte dann mit jener Ruhe, die nervenstarken Naturen eigen ist, wenn sie sich mit etwas Unabwendbarem abgefunden haben.

Und Bellinger spielte jetzt nicht nur den völlig Gefaßten. Er war es auch wirklich. Er hatte das gewagte Spiel verloren, das er so lange Zeit betrieben. Nun wollte er nicht zuletzt noch den Eindruck eines großangelegten Verbrechergenies durch weibische Angst verwischen.

„Weinreich hat Scharfer ermordet. Und das kam so“, begann er ruhig und überlegt. „Dem Professor erschienen der deutliche Wink, den wir Maletta in dem Vorstandszimmer gegeben hatten, doch lieber mit den 100 000 Mark unsere Wünsche zu befriedigen als sich nochmals einer so verflucht ernsten Gefahr auszusetzen, noch nicht genug. Ohne mich zu fragen lauerte er, nicht ich, dem Chemiker auf. Er ahnte nicht, daß Maletta längst daheim war, wußte nicht, daß ein Zufall Scharfer zwang, in Malettas Mantel und Hut nach Hause zu wandern. Als er von rückwärts seiner Ansicht nach den Chemiker mit dem Dolch traf, war es eben der Falsche, der den Stich erhielt. Und dabei passierte dem guten Weinreich noch ein zweites kleines Malheur: er hatte den Stoß schlecht berechnet, wollte Maletta nur den Arm zur Warnung ritzen und … traf das Herz! – Zum Beweis, daß der Professor den Mord – wenn auch unabsichtlich! – verübt hat, brauche ich wohl nur anzuführen, daß er in jenem Hause, in dessen Müllkasten die Leiche gefunden wurde, vor einem Jahre in der zweiten Etage mit seiner Familie gewohnt hat und noch den Hausschlüssel besaß. Dicht vor der Tür dieses Gebäudes geschah das Verbrechen, und Weinreich war es bei seiner für einen Musikprofessor wirklich außergewöhnlichen Körperkraft ein leichtes, den Toten sofort in den Müllkasten zu tragen. In seiner Aufregung hat er dabei gar nicht einmal gemerkt, daß der Unrichtige hatte daran glauben müssen. Erst als wir dann in der Dachkammer uns gleich darauf wiedersahen, und als er mir erzählte, welches Pech er gehabt hätte, da der Stoß nur allzuschlecht berechnet gewesen wäre, öffnete ich ihm die Augen, sagte ihm, daß Maletta im Auto nach Hause gefahren sei, er also den Falschen getötet hätte. Und ich war es, der ihm Vorwürfe machte, nicht er mir. – So verhält sich die Geschichte.“

Hinter dem Aktenständer rührte sich noch immer nichts. Schippel bewunderte Weinreichs Geduld. Er hatte eigentlich erwartet, der Professor würde dem Verräter an die Kehle springen.

Schippel lächelte jetzt auch den Assessor sehr, sehr ironisch an.

„Sie sind der größte Schurke, der mir je vorgekommen ist“, sagte er. „Ja, Sie, Herr Cesar Bellinger!! – Warum, das will ich Ihnen sofort erklären. Sie haben in den Zeitungen den Bericht über Scharfers Ermordung gelesen. Nun – dieser Bericht war den Redaktionen von der Polizei absichtlich unvollständig zugegangen. Der Kommerzienrat hat tatsächlich nur einen Stich in den linken Arm erhalten. Aber das Dolchmesser, das dort auf dem Tische liegt, ist … vergiftet. – Weshalb werden Sie plötzlich so grüngelb im Gesicht, Herr Cesar Bellinger? – Hm, Sie haben recht, – diese Neuigkeit ist für Sie nicht gerade angenehm. – Nun will ich Ihnen vortragen, wie Scharfer ermordet wurde. Und diese Lesart ist denn doch etwas anders als die Ihrige. – Nach dem Vorfall im Vorstandszimmer begaben Sie sich sofort ins Nebenhaus in die Dachkammer. Dort war Weinreich noch anwesend. Und dort bewahrten Sie beide auch das Dolchmesser auf. Dieses haben Sie, während Sie dem Professor auseinandersetzten, daß es nötig sei, in derselben Nacht Maletta noch eine zweite nachdrückliche Warnung zukommen zu lassen, wobei Sie absichtlich verschwiegen, daß Maletta bereits daheim war und zwar mit des Kommerzienrats Hut und Paletot, mit einem sehr schnell wirkenden Gifte bestrichen. Weinreich merkte nichts davon. Er ging auch auf Ihren Vorschlag ein, den Chemiker nochmals sanft an die Hergabe der Hunderttausend zu erinnern, steckte das Dolchmesser zu sich und wartete auf der Straße auf Maletta. Vorher hatten Sie schon in der Garderobe des Klubs festgestellt, daß Baron Blendel dem Chemiker die falschen Sachen gereicht hatte. Jedes der Mitglieder hat ja seinen durch eine Visitenkarte gekennzeichneten Kleiderhaken. Und Sie haben auch fraglos Malettas sehr auffälligen Mantel und Hut auf den Haken Scharfers gehängt, damit der Kommerzienrat auch ja diese Sachen mitnehmen mußte. – Ihr in Wahrheit teuflischer Plan gelang. Weinreich folgte Scharfer, glaubte Maletta vor sich zu haben, stieß von hinten zu, traf den Arm und flüchtete schnell, – wahrscheinlich in das Haus, zu dem er noch den Schlüssel von früher her besaß. Nach einiger Zeit wagte er sich dann wieder auf die Straße, sah eine regungslose Gestalt an der Stelle oder doch in der Nähe liegen, wo der Überfall stattgefunden hatte, ahnte Böses, kam hinzu, sah, daß sein Opfer tot war und schleppte die Leiche in jenes Haus in den Müllkasten. – Mit einem Wort: Sie, Cesar Bellinger, haben es darauf angelegt, daß Weinreich den Kommerzienrat tötete. Sie wußten, welche Folgen das Pflanzengift auf der Scheide des Dolchmessers haben mußte. Sie sind also der Mörder! Und der Professor sollte für Sie nur den Mann beseitigen, der Ihnen vielleicht gefährlich werden konnte, wie ich vorhin schon ausführte, – denselben Mann, auf den Sie unter schlauester Ausnutzung von Zufälligkeiten den Verdacht gelenkt haben, er sei der Herr mit der heiseren Stimme gewesen, – der sich als Toter auch nicht mehr verteidigen konnte! Noch mehr: Weinreich sollte auch deshalb zum Mörder werden, damit Sie ihn ganz in Ihrer Gewalt hatten, damit er zu Ihrem willenlosen Werkzeug wurde, dem Sie jederzeit mit Verrat drohen konnten …!! – Ich gebe zu, daß ich alles dies nur auf Grund von Kombinationen mir zusammengereimt habe. Aber ich wette, daß ich richtig kombinierte!“

Da geschah das, was Schippel schon längst erwartet hatte.

Der Professor kam aus seinem Versteck hervorgestürmt, – mit vor Wut entstelltem Gesicht, mit geballten Fäusten … So stürzte er sich auf Bellinger …

„Schuft – Satan!!“ brüllte er. „Also deshalb starb Scharfer an der kleinen Wunde, also deshalb traf ich den Falschen …!! Der Wachtmeister hat recht – mit allem – mit allem!! Du Satan, Du sollst nicht länger leben, ich …“

Und ehe noch jemand ihm in den Arm fallen konnte, hatte er das Dolchmesser vom Tisch gerissen und es blitzschnell dem Assessor durch das Gesicht gezogen.

Mit schrecklichem Hohnlachen lehnte er sich dann an den Tisch …

„Nun stirbt, Bestie, – stirbt wie Scharfer!“

Vom rechten Ohr bis zum Kinn ging der Schnitt. Er war nicht tief, wenn auch das Blut in dicken Tropfen daraus hervorrieselte.

Bellinger saß wie versteinert da. Und jetzt bewies er abermals, daß er ein Verbrecher ganz großen Schlages war, ein starker, nur auf Abwege geratener Charakter.

Schippel, Sakschinski und Lossen stierten wie entgeistert auf den Assessor, dem der Tod gewiß schien.

Da verzog Bellinger den Mund zu einem Lächeln.

„Weshalb sind Sie so entsetzt, meine Herren? Ich erspare der Justiz eine umständliche Schwurgerichtsverhandlung und dem Scharfrichter eine kleine Arbeit …! Bitte – geben Sie sich keine Mühe mich zu retten! Das Gift des Dolchmessers wirkt sicher und schnell. Ehe ein Arzt hier wäre, bin ich eine Leiche. In der knappen Zeit, die mir noch zu leben vergönnt ist, will ich aber wenigstens so etwas gutmachen, was ich gesündigt habe. Ich habe dieses schöne Dasein sehr geliebt, besonders diesen hüpfenden Teufel, die kleine, elfenbeinerne Roulettekugel. Die Spielleidenschaft ist mein Unglück geworden, – Spiel und auch … der Alkohol. Meiden Sie beides, Weinreich, alter Freund, falls Sie noch wohlbehalten mal aus dem Zuchthaus herauskommen sollten. – Sie, Herr Thomas Schippel, sind doch der klügere von uns beiden gewesen. Sie haben mich niedergeboxt. Alle Achtung vor ihren Fähigkeiten! Ihre Kombinationen waren glänzend und – richtig in allen Punkten. – Haben Sie noch eine Frage an mich, so beeilen Sie sich. Ich fühle schon, daß das Gift wirkt. Ich sehe alles wie im Nebel, – so wie früher, wenn ich mein „Quartal“ hatte.“

Schippel schüttelte das Entsetzen gewaltsam von sich ab.

„Haben Sie die echten Diamanten des Rentiers gestohlen?“ fragte er schnell.

„Ja. Ich tat’s.“ Das Sprechen wurde Bellinger schon schwer. „Ich bin Weinreich eines Abends nachgeschlichen, als er sich zur Oltendorf begab. Ich habe ihr Gespräch belauscht. Weinreich sagte zur Oltendorf, er hätte die Beweise in Händen, daß damals nur die Imitationen gestohlen wären. Die beiden stritten. Weinreich verlangte Schweigegeld. Nachdem er gegangen, beobachtete ich den Rentier durch das Fenster weiter. Oltendorf nahm die echte Sammlung vor. Er liebte Edelsteine, streichelte jeden Diamanten. Dann schloß er den Kasten weg, – in eine Truhe, unter alte Bücher. Er ging bald schlafen. Da wurde ich zum Diebe. Aber ich hatte kein Glück mit dem Raube. Die Steine waren zu schwer zu veräußern. Nur Geld lieh mir …“

Er sank kraftlos zusammen, stöhnte schwer. – Schippel war zugesprungen und stützte den Sterbenden.

Nochmals raffte Bellinger sich auf.

„… Weinreich – vergeben Sie mir … war Ihr Verführer … Ihr böser Geist … Man … soll Sie nicht … zu hart bestrafen … Mein böser Geist … der hüpfende Teufel … Roulettekugel … rollt … springt … bleibt … auf Schwarz liegen … auf Schwarz für mich. Totenfarbe … hüpfende Teufel … Gott sei mir …“

Bellinger reckte sich wie im Krampf. Dann war alles vorüber.

Werner Lossen sank von seinem Stuhl. Er war ohnmächtig geworden. Diese Sterbeszene hatten seine Nerven nicht vertragen.

*

Um die Mittagszeit desselben Tages warteten Blendel und Lossen im Weinrestaurant „Traube“ auf Thomas Schippel.

Der Baron hatte eine reichhaltige Speisenfolge bestellt – zur Feier von Lossens Rehabilitierung.

Schippel erschien pünktlich. Er sah sehr ernst aus. Nur seine Augen strahlten.

„Sie dürfen mir gratulieren, meine Herren“, sagte er gleich nach der Begrüßung. „Ich bin zum Kriminalkommissar ernannt worden, durch besondere Verfügung des Ministers des Innern. Aber – so rechte Freude habe ich nicht daran. Erst muß ich diese Nacht vergessen, – das Bild des sterbenden Bellinger …“

Während der Mahlzeit hatte Blendel noch eine Unmenge zu fragen. Und Schippel gab bereitwillig Auskunft über alles, was noch unklar war bei diesem „Knäuel von Verbrechen“, wie er sich ausdrückte.

Oltendorf hatte sich jetzt ebenfalls zu einem Geständnis bequemt. Erst durch dieses war es Schippel möglich geworden, die weit in die Vergangenheit zurückreichenden Fäden dieses einzigartigen Kriminalfalles vollständig zu entwirren.

Zunächst widmete der neugebackene Kommissar jedoch noch als Fachmann dem toten Cäsar Bellinger eine Art Nachruf, indem er sagte:

„Der Mann ist ohne Frage ein Genie gewesen. Schade, daß er an dem hüpfenden Teufel zugrunde gehen mußte. Hätte nicht diese unselige Leidenschaft ihn auf die Bahn des Verbrechens getrieben, hätte er die ganze Summe seiner Energie und Intelligenz in den Dienst der ausgleichenden Gerechtigkeit gestellt, – er wäre fraglos eine allererste Kraft geworden. So aber sank er immer tiefer. Die Geldgier verscheuchte auch die letzten moralischen Bedenken bei ihm. Der Streich, den er mit der so feineingefädelten Ermordung Scharfers gegen seinen Genossen Weinreich führte, wurde ihm zum Verhängnis. Der Stein kam ins Rollen, als er in überschlauer Vorsicht und Berechnung den Verdacht, Malettas Henker eingelassen zu haben, auf Scharfer lenkte und dabei die wirklich feinersonnene Geschichte von der Flucht des Maskierten nach Nr. 17 vorbrachte. Hierdurch wurde ich auf das andere Nebenhaus aufmerksam, so fand ich das Dolchmesser, die Schreibmaschine und als Bewohner der Dachkammer den Professor. Auch die geschickte Art, mit der er, um alle Fäden der verschiedenen Verbrechen in seiner Hand zu vereinen, für Lossen und Fräulein Oltendorf tätig sein wollte, verdient alle Anerkennung. Ich selbst habe bei der Entwirrung dieses Rattenkönigs von Kriminalfällen sehr viel Glück gehabt, allerdings auch die nötige Geduld. Als die Saat dann reif war, fielen mir die Früchte in wenigen Stunden fast von selbst in den Schoß.“

Blendel und Lossen widersprachen lebhaft.

„Sie sind zu bescheiden, mein Lieber“, meinte der Baron. „Wer wäre wohl, um nur ein Beispiel herauszugreifen, so schnell darauf gekommen, daß Bellinger den Kommerzienrat durch Weinreich auf diese gemeine, heimtückische Art hatte beseitigen lassen …?!“

Schippel schaute nachdenklich vor sich hin.

„Alles recht schön. Nur – nur eines hätte nicht sein dürfen“, sagte er leise. „Ich hätte nicht seinerzeit größtenteils aus dem Bestreben heraus, mich an Bellinger zu rächen, den großen Feldzug gegen ihn beginnen dürfen. Das erscheint mir jetzt wie ein Fleck auf meinem Charakter. – Jeder Mensch hat seine Fehler … Ich auch.“

Dann kam er auf das andere zu sprechen – auf die Vergangenheit der Hauptbeteiligten dieses vielaktigen Dramas.

„Maletta kannte Oltendorf aus Südafrika her, aus der Diamantenstadt Kimberley, wo auch Weinreich zu derselben Zeit als Besitzer eines Musiksalons gute Geschäfte machte. Maletta war bei der Ballary-Minen-Kompagnie als Chemiker, Oltendorf als Bergingenieur angestellt. Dieser hatte Glück, entdeckte später selbst in einem Flußbett Edelsteine und verließ als wohlhabender Mann Südafrika. Anders stand es mit Maletta. Der hatte gemeinsame Sache mit verschiedenen Aufsehern der Ballary gemacht und sich dort an einem Diamantendiebstahl beteiligt. Bei Weinreich hatte diese Gaunergesellschaft ihr Versammlungslokal. Und dort kam es im Verlaufe einer Beuteteilung zum Streit. Man beschuldigte Maletta der Übervorteilung seiner Genossen, der Chemiker antwortete mit Revolverschüssen, drei Tote blieben auf dem Platz, – und Maletta entfloh.

In Berlin finden wir die drei nachher wieder: Weinreich in sehr ärmlichen Verhältnissen, Oltendorf als Rentier in Wannsee und Maletta als Mann, der sich durch eisernen Fleiß und Geschäftsgewandtheit hochgearbeitet hat und eine sehr angesehene Stellung einnimmt. – Weinreich und Oltendorf begegnen sich zufällig und frischen die frühere Bekanntschaft von Kimberley wieder auf. Der Rentier liebt seine Diamantensammlung über alles, hat sich von ihr eine genaue Nachahmung in Similisteinen anfertigen lassen, und diese zeigt er stets nur seinen Bekannten. An dem Anblick der echten erfreut er sich allein. Seine Vermögensverhältnisse sind nicht glänzend. Er hat gleich nach seiner Übersiedlung nach Berlin an der Börse viel Geld eingebüßt. Dann wird die unechte Sammlung gestohlen. Die echte hat Oltendorf versichert gehabt, aber die letzte Prämie nicht bezahlt. Er versucht trotzdem, von der Gesellschaft die Versicherungssumme zu erlangen, wird abschlägig beschieden, sieht ein, daß die Sache aussichtslos ist und gibt sich zufrieden. Inzwischen hat Weinreich im Zimmer seiner Tochter auf dem Ofen die Similisteine entdeckt. Jetzt besitzt er eine Handhabe, den Bekannten als Erpresser auszubeuten. Die Freundschaft geht in die Brüche. In Oltendorfs Villa kommt es zu bösen Szenen zwischen beiden. Der Rentier muß stets mit neuen Summen herausrücken. Einmal in seiner Verzweiflung greift er zum Revolver, feuert auf seinen Peiniger und verwundet ihn leicht an der Schulter. Diese Unklugheit, zu Tätlichkeiten übergegangen zu sein, benutzt Weinreichs dazu, von Oltendorf einen Schein unterzeichnen zu lassen, in dem der Rentier das Revolverattentat zugibt, erklärt, daß er das Geld freiwillig hergegeben habe, und sich eidlich verpflichte, Maletta unter keinen Umständen etwas von der Anwesenheit Weinreichs in Berlin mitzuteilen. Inzwischen haben sich nämlich auch Maletta und Oltendorf wiedergesehen, und von diesem hat der Professor von des Chemikers Niederlassung in der Reichshauptstadt gehört. Sofort entsteht nun bei Weinreich der Plan, auch Maletta als Zitrone zu benutzen. Im Verein mit seinem Freunde Bellinger, der die Einzelheiten des Planes entwirft, wie er auch schon bei der erpresserischen Ausnutzung Oltendorfs mitgeholfen hat, beginnt er den neuen Fischzug gegen den Chemiker, droht diesem schriftlich mit der Aufdeckung seiner Vergangenheit und erhält auch, ohne je seinen Namen zu nennen oder persönlich mit Maletta in Berührung zu kommen, erhebliche Summen, da der Chemiker nichts so sehr fürchtet als eine Bloßstellung seiner Person. Als Malettas schließlich die fortwährenden Anzapfungen zu viel werden und er den Erpressern Schwierigkeiten zu machen anfängt, gehen diese zu ernsteren Drohungen über, – zu scheinbaren Attentaten. Monate und Monate verstreichen. Mittlerweile ist Oltendorf, der in seiner pekuniären Bedrängnis abermals spekuliert hat, am Rande des Ruins angelangt, zumal sein Quälgeist Weinreich immer neue Forderungen stellt und ihm nicht glaubt, daß auch die echte Sammlung sehr bald nach den Imitationen gestohlen worden ist. Der Professor fordert immer dringender von Oltendorf die Hälfte der Diamanten, die der Rentier ja tatsächlich gar nicht mehr besitzt. Weinreich kennt des Rentiers pekuniäre Lage. Und im Kirgisenzelt spricht er hierüber mit Bellinger, der ihn soeben über das Dach in das Klubhaus eingelassen hat. Diese Unterhaltung zwischen den beiden belauschen Sie, lieber Lossen. Der Assessor spielte den Erstaunten, daß damals nur unechte Steine geraubt sein sollten, während er doch selbst der Dieb der echten war. Weinreich hat also ebenfalls seine Geheimnisse vor dem Assessor gehabt, da er diesem nie erzählt hat, auf welche Weise er Oltendorf zur Hergabe des Geldes zu zwingen wußte. Er wollte natürlich die echte Sammlung oder doch wenigstens die Hälfte davon für sich allein erpressen. Also zwei Gauner, die sich gegenseitig betrogen. – Oltendorf weiß keinen Ausweg mehr. Er ist ruiniert. Weinreich wird ihn nicht schonen. Daher verschwindet er in der Absicht, ins Ausland zu gehen. Nur so hofft er sein einziges Kind, seine Tochter Charlotte, vor der Schande bewahren zu können, ihren Vater als Ehrlosen an den Pranger gestellt zu sehen. Weinreich hat dem Rentier ja nicht allein mit der Anzeige des versuchten Versicherungsbetruges gedroht, nein, auch damit, daß Oltendorf vor Gericht bei der Verhandlung gegen Sie, lieber Lossen, einen Meineid geleistet hat. Der Rentier beschwor, die echte Sammlung sei gestohlen, und verschwieg vollständig, daß eine Imitation vorhanden gewesen war. – Oltendorf liebte seine Tochter. Damals, als Sie, Herr Baron, morgens mit Fräulein Charlotte zusammen nach Wannsee fuhren, hat er Sie beide heimlich beobachtet. Die Sorge um sein Kind trieb ihn, nachdem er sich unkenntlich gemacht hatte, wieder in die Nähe seiner Villa. So wurde er Zeuge, wie Charlotte, um nach ihm zu forschen, sich nach Berlin begab. Er folgte ihr auf Schritt und Tritt, um sie nötigenfalls zu schützen. Und dieselbe große Liebe war es, die ihn dann auch Maletta aufsuchen ließ, eine Begegnung, die ich durch das Schlüsselloch beobachtet habe. Maletta war fest überzeugt, daß der Rentier, der ja die dunklen Geschichten aus Kimberley gleichfalls kannte, mit zu den Leuten gehörte, die an ihm die Erpressungen verübten. Bei dieser Aussprache ist es Oltendorf jedoch gelungen, ohne den Namen Weinreichs getreu seinem Eide zu nennen, Maletta davon zu überzeugen, daß er nicht zu dessen Widersachern gehöre und ihm das Versprechen abzuringen, für Charlotte wie ein Vater zu sorgen. Aus der Flucht des Rentiers ins Ausland wurde nichts. Ich ließ ihn verhaften, und ich hoffe, daß er mit einer nicht allzu hohen Strafe davonkommen und nachher in Ruhe sein Leben beschließen wird. Die echten Diamanten sind ja jetzt bis auf vier wieder herbeigeschafft worden. Der größte Teil der Steine wurde heute vormittag in Bellingers Wohnung gefunden.“

Schippel schwieg jetzt nach diesem langen Vortrag und feuchtete sich die Lippen mit einem Schluck Rheinwein an.

„Und der Professor, – dem wird wohl das Zuchthaus nicht erspart bleiben?“ meinte der Baron.

„Sicherlich nicht“, erwiderte Schippel streng. „Und er verdient es auch. Nur seine arme Frau tut mir leid. Sie soll ihren Gatten wie einen Abgott lieben. Auch Fritzi Pelcherzim hat wohl ein wenig Anspruch auf unser Mitgefühl, diese ungesunde Großstadtpflanze, die die Gier nach gleißendem Schmuck zur Diebin … von Similisteinen werden ließ. Dem Gefängnis entgeht sie nicht. Hoffentlich verläßt sie es völlig geläutert.“

Werner Lossen hob jetzt sein Glas gegen Thomas Schippel.

„Ihr Wohl, mein Retter, mein Befreier!“ sagte er herzlich.

„Nein – zunächst das Ihrige!“ meinte Schippel. „Auf das neue Leben als Mann von makelloser Vergangenheit!“ Und leise fügte er hinzu: „Sie sind besser daran als ich. Sie stehen jetzt rein vor aller Welt da. Ich habe mich gerächt. Aber die Schmach der grauen Mauern nimmt keiner von mir!“

*

Eginhard von Blendel reichte sehr bald seinen Abschied ein. – Weshalb …? – Er konnte als aktiver Offizier nicht gut der Schwiegersohn Oltendorfs werden.

Er hatte Charlotte nicht mehr vergessen können. Einmal hatte er sie in seinen Armen gehalten, – damals im Morgenzuge nach Wannsee, als sie von Schwäche übermannt umgesunken war. Und dieses eine Mal hatte sein Schicksal entschieden.

Charlotte sträubte sich lange. Sie sei seiner nicht würdig … – Die Liebe siegte doch …

Und an einem wunderbaren Vorfrühlingstage stand das neuvermählte Paar dann während seiner Hochzeitsreise auch in einem der Roulettesäle der größten Spielhölle der Welt – in Monte Carlo.

Die Elfenbeinkugeln klapperten auf den sich blitzschnell drehenden Scheiben, sprangen hin und her, auf Rot, auf Schwarz, – verfolgt von den schillernden Augen der Spieler …

„Hüpfende Teufel!“ sagte Eginhard leise zu seinem jungen Weibe.

Und Charlotte schauerte leicht zusammen.

 

Ende

 

 

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Elegant broschiert. 288 Seiten.
9 Textillustrationen.

Als dieser Roman vor vielen Jahren im Unterhaltungsteil einer der ersten Berliner Zeitungen erschien, war er tatsächlich auf Wochen der tägliche Gesprächsstoff fast ganz Berlins. Einen gleichen Roman in so spannender und packender Handlung hat die Unterhaltungsliteratur nicht mehr aufzuweisen.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie vom Verlag.

 

Preis 1 Mark und 25 Pfennig Zuschlag.
Verlag Moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Walther Kabel:

Die Lahore-Vase.
 

Elegant broschiert
mit farbigem Kunstdrucktitel.
200 Seiten.

Walther Kabel ist bekannt als ein Kriminalschriftsteller, der die seltsamsten Probleme in so spannender Weise behandelt, daß der Leser sich schwer von dem Stoff trennen kann. Die „Lahore-Vase“ ist aber so reich an eigenartigen Problemen, daß dieser Roman wohl zu den besten seiner Feder zu zählen ist.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie vom Verlag.

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „ein“ ergänzt.
  2. Fehlendes Wort „den“ ergänzt
  3. „Hasard“ – „Hazard“ (Glücksspiel) – beide Schreibweisen vorhanden, alles auf „Hasard“ geändert.