Aus Rußlands jüngster Vergangenheit. Von Walther Kabel.
(Nachdruck verboten.)
Der Mann mit dem dunklen Vollbart um das verhärmte Gesicht, dem die fest zusammengepreßten Lippen und die starke, leicht gebogene Nase einen so energischen Ausdruck verliehen, klimmt langsam die Stufen empor. Die Stufen sind ausgetreten, schlüpfrig vor Schmutz. Und in dem düsteren Treppenhause riecht’s nach Armut …
Den Mann packt es wie Ekel. Als er sich so an dem fettigen Holzgeländer mühsam höher zieht, stöhnt er leise auf … Oben unter dem Dache klopft er an eine Tür. Eine weiße Karte hängt in Augenhöhe daran. „Alexander Arpadin“ steht darauf, weiter nichts. Es wird geöffnet, und in dem Halbdunkel sieht er eine schlanke Frau vor sich … sein Weib. Er zögert … Dan fragt sie leise, so müde und gleichgültig: „Wieder nichts?“ –
Er schüttelt den Kopf. Dann geht er hinein durch die enge Küche in das kleine, finstere Mansardenzimmer mit den ärmlichen Möbeln, den zwei Heiligenbildern an den getünchten Wänden.
Müde fällt Alexander Arpadin in einen Stuhl. Dann dreht er sich seinem Weibe zu, schaut ihr in das blasse Gesicht … Und sein Blick irrt weiter zu dem schmächtigen Kinde, das da am Fenster über ein Buch gebeugt sitzt …
„Nichts, Maria, nichts!“ sagt er trostlos. „Wir sind jetzt verhaßt hier in Rußland, ausgestoßen, – wir Retter des Volkes … Man meidet uns wie die Pest – wir hungern wie das Volk … Jetzt sind wir eins – Retter und Notleidende, nur daß wir das Elend mehr empfinden …“ Und er lachte dazu bitter.
Die Frau nickt nur verzagt: „Und wie glücklich waren wir einst vor diesem unseligen Tage …“ meinte sie leise.
Er fährt auf. „Das ich jenen Artikel gegen das herrschende Regierungssystem schrieb, ich, der erste Redakteur des fortschrittlichsten Blattes in Moskau – das war doch wohl meine Pflicht!“
„Und so verloren wir unser Brot, … Stellung, …alles! Du wirst bewacht wie ein Mörder …“
Der Mann schweigt. Und vor ihm steht sein Weib und blickt ihm in das verhärmte Gesicht … Wie Ärger hatte es aus ihrer Stimme geklungen. Nun wurden die harten Züge in diesem eigenartig schönen Frauenantlitz wieder weich, und sanft fuhr ihrer schmale Hand über seinen vollen, graumelierten Scheitel.
„Mein armer …“
Alexander Arpadin ergriff diese Hand und preßte seine Lippen darauf, und dann lehnte er seine bärtige Wange an die kühlen, einst so weißen Finger. „Maria,“ klang es leise, „um mich, mein Gott – was liegt an mir! Aber du und der Junge … du … und keine Kopeke mehr im Hause, nichts … nichts …!“ Er stöhnte auf. „Ich bin herumgelaufen überall … überall … keine Arbeit … keinen Tagelöhner – nichts braucht man. Alles geht hier drüber und drunter – hier im heiligen Rußland …“ Durch die letzten Worte zischte ein bitterer Haß.
„Alexander Arpadin, überleg dir’s!“ sagte eindringlich der vornehme Herr, „überleg dir’s! Dreihundert Rubel monatlich! Du bist alles Elend los …“ – Und während der vornehme Herr hinter dem grünbezogenen Tisch den vor ihm Stehenden scharf fixierte, flog’s wie hohe Befriedigung über sein vertrocknetes grausames Gesicht.
Arpadin stand sinnend da. In dem großen Polizeipalast herrschte eine so drückende Stille. Der Lärm von der Straße drang nicht in diese Räume; und wie Gespenster so lautlos mußten die Menschen hier drinnen ihre Arbeit tun, so unheimlich lastete das Schweigen über diesem Hause …
Der Herr hinter dem Tische drehte einen Federhalter in seinen Fingern. An seiner Hand blinkten einige kostbare Ringe. – –
„Dreihundert Rubel …!“ klang seine harte Stimme wieder. Und in Arpadins Ohren tönte es nach: „Dreihundert Rubel!“ – – Er dachte an Weib und Kind, an die jetzt abgearbeiteten, rauhen Hände der geliebten Frau – an all das Elend, die Bettelei um wenige Kopeken! – Aber … er – er, Arpadin, der Revolutionär, den sie einst hier gefürchtet hatten, er sollte …?!
„Nein,“ sagte er laut und richtete sich auf, „nein, Herr Präfekt, auch um den Preis verkaufe ich mich nicht!“ Und dann suchte er seinen abgegriffenen Hut, machte eine Verbeugung und ging schnell davon, hinter sich die Tür behutsam in das Schloß ziehend – ganz bescheiden.
Der Präfekt der geheimen Polizei saß einen Augenblick wie ganz erstarrt, er konnte es gar nicht fassen. – Dann suchte seine Hand den Knopf der elektrischen Leitung. Ein Mann erschien, bis oben in einen schwarzen Gehrock eingeknöpft – blaß, bartlos …
„Exzellenz“ – der Präfekt hatte sich erhoben – „Exzellenz, der Kerl will nicht …“
„Dachte ich mir,“ sagte der andere kurz, ging an das eine der vergitterten Fenster und trommelte mit den blutleeren Spinnenfingern gegen die Scheiben. „Und doch muß er!“ sagte nach einer Weile der am Fenster. „Ich habe mit dem Großfürsten bereits alles vereinbart – er muß! – Haben Sie ihm denn auch ordentlich vorgestellt, daß bei der Geschichte eigentlich gar keine Gefahr ist?“
„Jawohl, Exzellenz! … Ich sagte ihm, daß wir hinter ein nihilistisches Komplott gegen Großfürst Sergius gekommen sind, und daß er, um die Verschwörer irrezuführen, für die dreihundert Rubel monatlich nichts zu tun hätte, als den Großfürsten bei all seinen Ausfahrten zu vertreten …, daß seine Ähnlichkeit mit dem Großfürsten groß genug wäre, um jene Mordbande zu täuschen und so Seine Königliche Hoheit auf einem anderen Wege ungefährdete an ihr Ziel kommen zu lassen.“ (Geschichtlich.)
„Und wenn dieser Arpadin unseren Plan ausplaudert …?!“
„Er wird schweigen, Exzellenz, er gab sein Wort – das hält er.“
Die blasse Exzellenz trommelte jetzt an den Scheiben einen Sturmmarsch. „Der Kerl muß … muß!“ wiederholte er für sich. „Diese Ähnlichkeit, die Sicherheit für den Großfürsten. War ein feines Plänchen, ein feines Plänchen …“ – Und Exzellenz kicherte in sich hinein.
Da öffnete ein Beamter langsam die Tür, und mit tiefer Verbeugung meldete er: „Der Alexander Arpadin ist wieder da.“
„Aha!“ machte die blasse Exzellenz nur.
Drei Tage später an einem Nachmittag. Maria Arpadin steht in dem dunklen Flur und lauscht. Sie hat die Tür nach der kleinen Wohnung offen gelassen, und halblaut klingt das Stimmchen ihres in der Stube spielenden Jungen zu ihr. Morgen werden sie dieses düstre Haus verlassen, ein freundliches Gebäude beziehen, wieder leben wie einst …, aber um welchen Preis! Seit jener Stunde, in der ihr Mann ihr erzählte, auf welche Weise er jetzt sein Brot für Weib und Kind verdienen wollte, seit jener Stunde hat sie keine ruhige Minute mehr, wenn er fort ist. Wie oft hat sie in diesen zwei Tagen vor dem Heiligenbilde dort in der Stube gekniet und gebetet, gebetet, daß Gott ihren Gatten beschütze, wenn er in glänzender Uniform durch die Straßen fährt – er, der falsche Sergius!
Und jetzt wartet Maria auf den, der für die Seinen sich täglich der Todesgefahr aussetzt. Heute früh ist er fortgegangen, um durch jene Seitenpforte in den Kreml zu schlüpfen, um sein Leben zu wagen für den, den er als einen Unterdrücker des Volkes einst so glühend gehaßt hatte. – Maria lauscht in das Treppenhaus hinab; sie zittert, ihr Herz klopft so stürmisch, wie eine bange Ahnung lastet es auf ihr … Sie hört Stimmen da unten, gedämpftes Sprechen, Türen werden geöffnet, wieder zugeschlagen. Immer schneller kreisen die Gedanken der sorgenden Frau.
Die Unruhe in dem Hause, die wirren Töne von unten mehren sich. Ein schwerer Männertritt kommt die Treppe herauf; es ist der Nachbar, ein armer Schuster. Jetzt steht er vor Maria, eine Wolke von Alkoholdunst trifft sie, daß sie zusammenschauert.
„Wer ist da?“ fragt er mißtrauisch, da er sie in dem Halbdunkel nicht erkennt.
„Ich – Maria Arpadin.“ Sie ist zurückgewichen, der Ekel preßt ihr die Kehle zusammen; der Schnapsgeruch, der dem Munde des Schusters entströmt, betäubt sie.
„Oh, Maria Arpadin … Sie … so so …,“ und Michael Trumbow, der Schuster, faßt ihren Arm und drückt ihn. „Heut’ ist ein Festtag … ja, ein Festtag, Maria Arpadin –“ krächzt er hervor, „freut Euch mit, Maria“ – die heisere Stimme klingt jetzt dicht an ihrem Ohr – „heut’ haben sie’s dem Sergius heimgezahlt – dem Großfürsten …“
Sie steht erstarrt; nur ihre Worte schreit sie heraus: „Dem Sergius?!“
„Ja, Maria Arpadin, dem Blutsauger, dem Tyrannen!“
Michael Trumbow lacht frohlockend.
„Was ist mit ihm, sprecht!“ Und Ihre Finger krallen sich in seinen groben Kittel.
„Eine Bombe, Maria – eine Bombe – nichts weiter …, als er nach dem Bahnhof fuhr …, hui, und Kutscher, Wagen, Pferde, er selbst, der Bluthund … alles in die Luft!“ Des Schusters Lachen hallt dämonisch in dem engen Flur.
„Tot … tot –?“ ruf Maria gellend.
„Ja … tot … Aber … was ist Euch?”
Die Frau ist zusammengesunken, liegt zu Michael Trumbows Füßen auf dem schlüpfrigen Boden.
„Was ist Euch, Maria Arpadin?!“ Und der Nachbar bückt sich und tastet nach ihrer Hand. Dann hebt er die Ohnmächtige auf und trägt sie in das dunkle Stübchen. Der Knabe eilt ihm entgegen.
„Wer ist da?“ fragt seine helle Stimme.
„Mach Licht, Junge – ich bin’s, der Michael Trumbow …“
Ein Hölzchen flammt auf, erlischt wieder.
„Die Mutter?!“ schreit der Knabe.
„Mutter ist krank,“ sagte die rauhe Stimme ganz sanft, „geh, hol meine Frau, die Anastasia …“
Er legte die Ohnmächtige auf das schmale Sofa; dann zündete er die Lampe an. – –
Ein hochgewachsener Mann tritt ins Zimmer – bleich, verstört. Sein Blick trifft sein Weib, schon steht er neben ihr, faßt ihre Hand. „Maria – Maria …“ Er rüttelt sie, beugt sich ganz tief über das weiße Gesicht.
„Maria – ich bin’s … ich …“ Da schlägt die Bewußtlose die Augen auf. Ihre irren Augen saugen sich fest in dem Antlitz des Mannes.
„Alexander … du?“ haucht sie endlich.
„Ich – ich lebe, Maria, ich lebe … komm zu dir …!“
Der Nachbar steht dabei und schaut fragend auf die beiden.
„Ja, Maria Arpadin,“ sagte er laut, ohne zu wissen, was das alles zu bedeuten hat, „er lebt wirklich, er lebt ja …“
Alexander Arpadin richtet sein Weib auf, hält sie in seinen Armen. Und weinend bringt die Frau ihr Gesicht an seine Brust.
„Du lebst … lebst …“ flüstert sie.
„Ja – heute fuhr der Großfürst selbst in dem Hofwagen, eine Laune war’s, er wollte der Gefahr trotzen … es kam ihm teuer genug zu stehen!“
Maria schluchzte leise vor Glück. Da kommt der Knabe mit einem hageren Weibe zurück und ruft laut:
„Vater, der Großfürst Sergius ist tot … weißt du schon? – Die Anastasia erzählt’s mir eben …“
Maria Arpadin umklammert nur fester ihren Mann. „Der richtige Sergius – Gott sei Dank – der richtige Sergius …“ sagt sie unter Tränen.
Michael Trumbow aber schüttelt den Kopf. Er begreift nichts, nichts …