Eine wahre Begebenheit. Von Walther Kabel.
In Lancaster trieb sich ein Mensch herum, der Spuren von Geisteskrankheit zeigte, die zuweilen, besonders wenn er, wie dies gewöhnlich der Fall ist, von Kindern deshalb geneckt und verhöhnt wurde, in Wut überging. Um alles Unheil zu verhüten, beschloß die Behörde, diesen Wahnsinnigen in das Irrenhaus zu Manchester bringen zu lassen, damit dort ein Versuch zu seiner Wiederherstellung gemacht werden könnte. Eine gewaltsame Ablieferung schien ihr bedenklich, da nach dem Urteil des Arztes sein stiller Wahnsinn dabei sehr leicht in Raserei ausarten konnte. Man beschloß also, ihn durch eine List an den Ort seiner Bestimmung schaffen zu lassen. Herzu verstand sich endlich ein Armenaufseher in Lancaster, der diesen Wahnsinnigen näher kannte und zu dem letzterer Vertrauen zu haben schien. Der Armenaufseher machte nun dem Kranken den Vorschlag, ihn auf einer Spazierfahrt zu begleiten. Der Wahnsinnige war damit einverstanden. Beide stiegen in einen Wagen und man fuhr geradewegs nach Manchester. Da diese Fahrt sehr lange dauerte, so schöpfte der Wahnsinnige Verdacht und erinnerte sich, daß eine Anstalt für Wahnsinnige in Manchester sich befinde. Er ließ aber von seinem Argwohn nichts merken, und der Armenvorsteher kehrte mit ihm, da es schon sehr spät war, in ein Wirtshaus ein. Man genoß etwas und begab sich dann zur Ruhe. Aber in des Wahnsinnigen Gemüt war der rege gewordene Verdacht so lebendig, daß er kein Auge zutat und die ganze Nacht darüber nachsann, wie er sich dieser Einsperrung entziehen und sich an seinem treuelosen Begleiter rächen könnte. – Kaum graute der Morgen, so stand er leise auf und durchsuchte die Kleidungsstücke des fest schlafenden Aufsehers. Er fand in einer der Rocktaschen den Befehl an die Direktion des Irrenhauses zu seiner Aufnahme, und nun völlig überzeugt, daß seine Vermutung begründet sei, steckte er den Befehl zu sich, entfernte sich leise, ging nach dem Irrenhause und ließ den noch schlafenden Direktor wecken, weil er ihm eine Sache von Wichtigkeit zu sagen habe. Vorgelassen, sprach er zu diesem ruhig und mit vieler Besonnenheit: „Ich bin der Armenaufseher aus Lancaster und habe den Auftrag, an Sie einen Wahnsinnigen abzuliefern, wozu mir ein schriftlicher Befehl ausgefertigt worden ist. Die Ablieferung soll aber mit möglichster Schonung geschehen. Ich werde daher mit diesem unglücklichen Menschen nach einige Stunden, als sei es für ihn ein Spaziergang, hierherkommen und bitte, ihn da in Empfang zu nehmen. Ich muß aber bemerken, daß der arme Schelm es sich in den Kopf gesetzt hat, er sei der Aufseher und ich bin der Wahnsinnige.“
Die Sache hatte nichts Unwahrscheinliches und wurde so zusammenhängend vorgetragen, daß der Direktor keinen Zweifel hegte, jedoch zum Überfluß fragte, ob er den Befehl bei sich habe. Der Wahnsinnige erwiderte auf der Stelle mit nein. Er habe ihn in dem Wirtshaus zurückgelassen; bei der Ablieferung des Menschen würde er ihn übergeben. Er verabschiedete sich nun, und der Direktor traf sogleich die nötigen Anstalten zur Aufnahme des neuen Patienten.
Zurückgekehrt ins Wirtshaus fand der Wahnsinnige seinen Reisegefährten noch schlafend. Er weckte ihn und äußerte, es sei nun Zeit zum Frühstücken; er sei schon mehrere Stunden wach, nüchtern und habe bereits einen Spaziergang gemacht.
„Das tut mir leid,“ erwiderte der Aufseher, „ich wäre gern selbst mit Euch herumgegangen, um mich in der Stadt umzusehen.“
„Das kann noch geschehen,“ meinte der Wahnsinnige, „denn ich bin noch gar nicht müde, aber erst nach dem Frühstück.“
Dem Aufseher machte nun diese Erklärung viele Freude, denn er sah sein mißliches Geschäft dadurch erleichtert. Man frühstückte. Beide verließen dann das Wirtshaus, und der Aufseher ging auf Umwegen nach der Irrenanstalt. Dort angelangt, rief der Wahnsinnige listig und anscheinend sehr neugierig aus: „O, welch schönes Gebäude!“
„Hättet Ihr nicht Lust, es näher zu besehen?“
„Sehr gern, wenn’s erlaubt ist.“
„Ei, das will ich schon bewirken, seid unbesorgt.“
Der Aufseher ging nun, stolz auf seine vermeintliche List und froh, daß es ihm so leicht wurde, den Kranken in das Haus zu locken, in den Hof, während dieser sich dicht an ihn hielt und sich stellte, als dürfte er den Aufseher keinen Minute aus den Augen lassen. Der Direktor sah beide kommen, und da er denjenigen, der früh schon bei ihm gewesen war, gleich wiedererkannte, so vermutete er, daß sein Begleiter der Wahnsinnige sein müsse. Er kam ihnen mit zwei Wärtern entgegen, um den Kranken, wenn er etwa entwischen wollte, gleich festhalten zu können.
„Hier bring’ ich Ihnen einen armen Mann aus Lancaster.“ – Der Wahnsinnige gab bei dieser Anrede dem Direktor einen Wink und zeigte dabei auf den Aufseher, zog den Befehl aus seiner Tasche und übergab ihn dem Direktor. Der Aufseher war wie vom Donner gerührt. Verlegenheit, Erstaunen und Zorn malten sich in seinem Gesicht. „Nicht ich bin der Wahnsinnige,“ rief er aus, „sondern der da! Ich bin der Armenaufseher aus Lancaster!“
„Sie hören es selbst, Herr Direktor,“ sagte der Wahnsinnige kalt lächelnd, „daß ich Ihnen die Wahrheit berichtete. Er läßt sich nicht davon abbringen.“
Die Wut des Aufsehers stieg aufs höchste; doch ehe sie sich äußern konnte, hatten ihn schon die Wärter mit ihren herkulischen Armen gepackt. Er fing nun an zu schlagen, zu treten, zu beißen und zu toben. Der Direktor fand darin eine Bestätigung dessen, was ihm der Wahnsinnige vorgeredet hatte. Der Aufseher wurde in eine Zwangsjacke gesteckt; man schleppte ihn fort und setzte ihn zur Beruhigung in ein Wasserbad.
Der Wahnsinnige entfernte sich sogleich, als er seinen vermeintlichen Feind in Sicherheit gebracht und sich gerächt sah, und fuhr ruhig nach Lancaster zurück.
Dort wunderte man sich sehr über dessen Erscheinen, noch mehr aber, daß der Aufseher sich nicht blicken ließ. „Was ist denn aus Eurem Begleiter geworden?“ fragte man ihn.
„O, der ist unterwegs ganz verrückt geworden,“ erwiderte er. „Aber ich habe ihn glücklich im Tollhaus Manchester untergebracht.“
Diese Antwort veranlaßte natürlich eine nähere Untersuchung. Aus dieser ergab sich der ganze Zusammenhang, und der für wahnsinnig Ausgegebene wurde reklamiert. Sehr beschämt kehrte er nach Lancaster zurück und mußte es sich gefallen lassen, daß er noch jahrelang mit dieser mißglückten Reise von guten Freunden weidlich aufgezogen wurde.