Von W. Kabel.
(Nachdruck verboten.)
Eine der vielumstrittensten Fähigkeiten des menschlichen Geistes ist noch heute die des sogenannten Zweiten Gesichts, d. h. der Gabe, Zukünftiges voraussehen zu können. Daß eine derartige Seherkraft tatsächlich einigen Personen eigentümlich gewesen ist, wissen wir aus verschiedenen Berichten völlig glaubwürdiger Zeugen. In den letzten Jahren sind nun wieder mehrere Fälle dieser Art vorgekommen, deren Einzelheiten beweisen, wie unrecht man tut, diese seltsame Geistesfähigkeit als einen unserer modernen Zeit unwürdigen Aberglauben zu belächeln.
In dem Grand Bazar, dem größten Warenhause Neuyorks, war als Verkäuferin ein junges Mädchen namens Gladys Halland tätig, das sich bei ihren Kolleginnen wegen seines stillen, gedrückten Wesens keiner großen Beliebtheit erfreute. Gladys Halland hatte unter ihren Altersgenossinnen nur eine einzige Freundin, die mit ihr zusammen in der Wäscheabteilung beschäftigt war. An dieser Freundin hing sie dafür auch mit geradezu schwärmerischer Liebe. Eines Morgens im Februar 1910 erschien Gladys etwa eine halbe Stunde vor Geschäftsanfang bei ihrer Freundin und beschwor diese mit Tränen in den Augen, heute nicht in den Grand Bazar zu gehen. Ohne eine Erklärung für ihre auffallende Bitte zu geben, wiederholte sie nur immer wieder: „Wenn du mich lieb hast, bleib’ heute daheim“. Doch die Freundin, die wohl fürchtete, ihr könnte durch das unentschuldigte Fernbleiben die Stelle aufgekündigt werden, machte sich trotzdem auf den Weg, begleitet von Gladys, die mit düsterem Gesicht neben ihr einherschritt. Da, kurz vor dem Geschäft, blieb Gladys stehen und klärte mit anfänglich noch stockender Stimme die Freundin über ihrer merkwürdige Bitte auf. Sie hatte in der Nacht geträumt, daß der Grand Bazar in Flammen stand, und da bereits mehrere ähnliche Träume von Unglücksfällen unmittelbar darauf in Erfüllung gegangen waren, wollte sie ihre Kollegin von der drohenden Gefahr bewahren.
Durch diese Eröffnung wurde die Freundin doch stutzig. Die beiden jungen Mädchen kamen dann überein, für die nächsten drei Tage unter einem dringenden Vorwand um Urlaub zu bitten, der ihnen auch gewährt wurde. Unsere Leser werden sich nun noch an jene erschütternden Schilderungen von dem großen Bazarbrande in Neuyork erinnern, die Mitte Februar 1910 in allen deutschen Zeitungen zu lesen waren. Gladys Hallands Traum erfüllte sich wirklich schon am nächsten Tage. Der Grand-Bazar wurde durch das Feuer vollständig zerstört, und nicht weniger als 79 Verkäuferinnen fanden ihren Tod in den Flammen. –
Vor Ausbruch des russisch-japanischen Krieges war in dem Salon der Gräfin W. in Petersburg eines Abends eine Anzahl höherer russischer Würdenträger und Künstler versammelt. Man sprach über die politische Lage, über die Zuspitzung der Verhältnisse in Ostasien und die Aussichten, die Rußland bei einem Kriege mit Japan hätte. Unter den Anwesenden befand sich auch General Kuropatkin und die Baronin von Fursa, eine weißhaarige Matrone, der man die Gabe des zweiten Gesichts nachrühmte.
Frau von Fursa beteiligte sich auffallend wenig an dem Gespräch. Da fragte Kuropatkin sie, ob sie ihm nicht vielleicht auf Grund ihrer Sehergabe etwas über die kommenden Schicksale Rußlands angeben könne.
Die Baronin, die sehr wohl den etwas spöttischen Ton aus den Worten des Generals herausgehört hatte, erwiderte kühl: „Sie lächeln im Innern über mich, die das Unglück hat, traurige Ereignisse vorauszuahnen. Das weiß ich. Ich werde Ihnen morgen einen versiegelten Brief zuschicken, General. Öffnen Sie ihn aber auf Ihr Ehrenwort erst nach zwei Jahren!“
Kuropatkin, der das Schreiben wirklich erhielt, hatte den Vorfall in dem Salon der Gräfin W. trotz der inzwischen auf ihn einstürmenden Ereignisse nicht vergessen. Am 2. Dezember 1905, kurz nach Abschluß des Friedens mit Japan, fanden sich einer Verabredung gemäß alle jene Personen wieder bei der Gräfin W. ein, die vor zwei Jahren Zeugen der geheimnisvollen Worte der Frau von Fursa gewesen waren. Als letzter erschien Kuropatkin. Vor aller Augen öffnete er den versiegelten Brief und las laut dessen Inhalt vor.
„Petersburg, den 2. Dezember 1903.
Vor einer Woche hatte ich, als ich nachts schlaflos in dem völlig dunklen Zimmer im Bett lag, folgendes Gesicht. Ich sah eine weite, endlose Wasserfläche, auf der sich zwei Kriegsflotten, in langsamer Fahrt aneinander vorübergleitend, mit Geschossen überschütteten. Deutlich erkannte ich die Flaggen der feindlichen Kriegsschiffe, die russische und die japanische. Mehrere der russischen Panzer versanken. Dann verschwamm das Bild vor meinen Augen, bis die Nebelgebilde sich wieder zu einem einzigen, arg zerschossenen Fahrzeug mit drei Schornsteinen zusammenfügten, auf dem die russische Flagge wehte. Ich bemerkte mehrere japanische Offiziere, die das Fallreep emporstiegen, sah weiter, daß unsere Flagge heruntergeholt und eine andere gehißt wurde. Hiernach kann ich nur fürchten, daß wir in einem kommenden Kriege wenigstens zu Wasser besiegt werden.
Anna von Fursa.“
Die Baronin hatte fraglos die unglückliche Seeschlacht bei Tschuschima als zweites Gesicht geschaut. –
Die Freifrau von S., deren Sohn mit zu dem Expeditionskorps gegen die Herero gehörte, war in den Kreisen ihrer Bekannten gleichfalls dafür bekannt, daß sie die Gabe des zweiten Gesichts besitze. Frau von S. soll durch diese Fähigkeit, Ereignisse im Bilde voraussehen zu können, in ihrer ganzen Gemütsverfassung schwer geschädigt worden sein. Als ihr Sohn nach Südwest aufbrach, äußerte sie zu einer Freundin angstvoll: „Wenn ich nur davon verschont bliebe, Herberts Schicksal vorauszuahnen! Das könnte mein Tod sein.“
Einige Monate später befand sich Frau von S. mit ihrem Gatten abends im Kurtheater von Kissingen. Man gab einen sehr übermütigen, modernen Schwank. Plötzlich mitten im zweiten Akt umkrampfte sie angstvoll den Arm ihres Gatten, stieß einen lauten Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Erst in ihrem Hotelzimmer kam sie wieder zu sich. Zunächst wich sie den Fragen ihres Gatten nach der Ursache des schweren Anfalls aus. Dann erzählte sie schließlich auf sein Drängen hin zögernd, sie habe plötzlich auf der Bühne ein ganz anderes Bild geschaut – eine tropische Landschaft, die von Kämpfenden belebt war, darunter auch ihren Sohn, dem von einem Schwarzen mit einem Speer die Brust durchbohrt wurde.
Vierzehn Tage später trafen aus Südwest die neuesten Verlustlisten ein. Unter den Gefallenen befand sich auch Oberleutnant Herbert von S. Er war wirklich an demselben Abend geblieben, als seine Mutter im Kissinger Kurtheater das zweite Gesicht hatte.
Frau von S. starb wenige Tage darauf an einem heftigen Nervenfieber.
Anmerkungen: