Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
Die schlanke Motorbarkasse des englischen Kreuzers glitt tänzelnd über die nicht allzu hohen Wogen des Atlantischen Ozeans hin, beschrieb dann einen Bogen und legte an der bereits heruntergelassenen Schiffstreppe des holländischen Frachtdampfers an. Ein Marineleutnant und sechs Mann kletterten flink an Bord des neutralen Schiffes und begannen es nach deutschen oder österreichischen Fahrgästen abzusuchen, obwohl der dicke Kapitän bestimmt versicherte, er habe nichts Verdächtiges an Bord.
Der englische Offizier lächelte überlegen. Und schon zehn Minuten später hatte er einen der Heizer, einen jungen, dunkelhaarigen Menschen, aus dem Maschinenraum an Deck gebracht, wo er mit dem angeblichen Mexikaner, dessen Papiere im übrigen tadellos in Ordnung waren, ein sehr eingehendes Verhör anstellte.
Es war klar: irgend einer der Matrosen der „Rotterdam“ hatte den Verräter gespielt, sicher ein käufliches Subjekt, dem der Engländer durch heimlich zugestecktes Geld den Mund geöffnet hatte.
Der dicke Kapitän, dem der junge Mexikaner, den er in New York angemustert hatte, gleich nicht recht geheuer vorgekommen war, der sich aber trotzdem absichtlich nicht näher mit ihm beschäftigt hatte, zuckte jetzt gleichgültig die Achseln, als der Leutnant ihm erklärte, das angebliche Mexikanisch des Heizers sei ein höchst mangelhaftes Spanisch, und noch triumphierend hinzufügte, die dunklen Haare seien ebenfalls schlecht gefärbt, da an den Wurzeln das Blond schon überall zum Vorschein komme.
„Der Mann ist sicher ein Deutscher“, schloß er seine Rede. „Sein leugnen hilft ihm nichts. Ich nehme ihn daher mit nach der „Atlanta“ hinüber.“
Dann wandte er sich dem Heizer zu, der in einem von Ölflecken und Kohlenschmutz starrenden Anzug steckte und dessen Gesichtszüge unter der schwärzlichen Schweißkruste kaum zu erkennen waren.
„Sie sind ein Feigling, der nicht wagt seine Nationalität einzugestehen“, sagte er mit schlauer Berechnung in verächtlichem Ton. „Folgen Sie mir! Das Weitere wird sich finden!“
Da ging es wie ein Ruck durch den Körper des angeblichen Mexikaners.
„Für diese Beleidigung werden Sie mir Genugtuung geben, wenn Sie ein Ehrenmann sind!“ In leidlichem Englisch schleuderte er dem Offizier diese Worte ins Gesicht.
Der lachte jetzt schallend auf.
„Ah – also ein Heizer, der diese Redensart, in der sich ein besonderer Ehrbegriff ausprägt, so gut kennt …! – Sie haben sich eben verraten! Ihr Mexikanertum verblaßte vor der ersten Beleidigung. – Nun – Sie können sich trösten. Sie sind der achte Feind, den ich auf diese Weise entlarve und von neutralen Schiffen herunterhole. – Doch nun – hinein in die Barkasse. Ich habe mich hier schon zu lange aufgehalten. – Wahrhaftig, – verd…! – Da haben wir den Platzregen schon.“
Die dunkle Wolke, die den ganzen westlichen Horizont bedeckt hatte, war langsam näher gekommen und entlud jetzt ihren Inhalt in Gestalt eines wahren Wolkenbruches über den Frachtdampfer und den englischen Kreuzer, der mit qualmenden Schornsteinen achthundert Meter nach Osten zu lag und auf die Rückkehr der Barkasse wartete.
Der junge Mensch, den die Engländer als Gefangenen in irgend eines ihrer Konzentrationslager zu schleppen gedachten, hatte schon vorhin mit prüfendem Blick erst die heransegelnde Regenwolke und dann das etwa zwei deutsche Meilen entfernte Felseneiland im Westen betrachtet. Für einen Augenblick leuchtete es da in seinen graublauen, großen Pupillen wie der Widerschein eines glänzenden Gedankens auf. Und wieder irrte sein Blick suchend umher. Da – keine fünf Schritte weit hing an dem Unterbau der Kommandobrücke ein Rettungsring. – Fünf Schritte – und die Engländer hatten Gewehre mit … Es würde ein verzweifeltes Wagnis werden …
Und doch unternahm er’s. Als jetzt die Wassermassen wie eine Sintflut vom dunklen Himmel herniederströmten, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte, als der englische Offizier schon nach seinem Arm griff, um ihn nach der Schiffstreppe zu führen, da war der Moment gekommen.
Ein Sprung, und der weiße Rettungsring befand sich in seiner Hand. Ein Satz auf die Reling, und kopfüber stürzte er sich in die See. Hinter ihm Flüche, ein paar Schüsse … Er hörte nichts davon. Die Wogen schlugen über ihm zusammen. Aber der korkgefüllte Ring, dessen Schlinge seine Rechte krampfhaft festgehalten hatte, zog ihn schnell wieder nach oben.
Inzwischen war die „Rotterdam“ mit ihrer abgestoppten Maschine vor dem Winde weitergetrieben. Und ehe die Motorbarkasse ihre Suche nach dem Flüchtling begann, trennten diesen und den Dampfer bereits gute hundert Meter Zwischenraum, in dem es dunkler und unsichtiger war wie im dicksten Nebel.
Umrauscht von den ununterbrochenen Sturzbächen der rettenden Wolke, arbeitete sich der angebliche Mexikaner, mit dem Oberkörper in dem Ringe hängend, in Richtung der Wellen vorwärts. Jetzt zuckte rechts von ihm ein schwacher weißer Lichtkegel auf: der kleine Scheinwerfer des englischen Motorbootes. Aber wie wollte dessen Strahlenbündel gegen diesen Regenvorhang ankämpfen?! Kaum einige Schritte weit reichte das hin- und herhuschende Licht. Sogar das Knattern des Motors ging in diesem anhaltenden Rauschen und Plätschern völlig unter. – –
Das düstere Gewölk zog mit dem Winde nach Westen zu, und nach Westen zu ruderte auch der Flüchtling, emsig Arme und Beine gebrauchend, der Freiheit entgegen, die er auf jener Felseninsel zu finden hoffte, deren graue, aus dem Meere emporwachsende Massen ihm erst diesen verwegenen Plan eingegeben hatten. Über ihm aber wachte schützend die herabstürzende Flut, hüllte ihn mitleidig in ihre undurchdringlichen Schleier ein und machte die Absichten seiner Feinde zu Schanden. –
Zwei Stunden waren vergangen. Der Regen hatte aufgehört. In der Brandung des Eilandes, das seine kahlen Bergkuppen hoch in die Luft reckte, kämpfte ein ermüdeter, halberstarrter Mensch um sein Leben. Wieder hob ihn eine Welle pfeilschnell empor, trieb ihn dem schroffen Gestade entgegen, wo er unfehlbar zerschmettert worden wäre, wenn die Vorsehung es nicht anders gewollt hätte. In der steilen Uferwand, die der Gischt der schäumenden Wogen wie mit einem blendend weißen Strich unten umsäumte, gähnte ein kaum eineinhalb Meter hohes und dreimal so breites, bogenförmiges Loch. In breitem Schwall flossen die Wasser hinein, strömten zurück, je nachdem die Brandung vorwärts oder rückwärts flutete.
Mit letzter Kraftanstrengung suchte der Flüchtling diesen dunklen Schlund zu erreichen. Seine Muskeln spannten sich zu ein paar starken Ruderstößen … Es gelang. Dicht an der verderbenbringenden Felswand vorbei drückte ihn dieselbe Woge in das gähnende Loch hinein. Urplötzlich war der Übergang aus der Tageshelle in dieses schwache Dämmerlicht, das jenseits des Einganges in diesem von leicht gurgelnden Wassermassen erfüllten Raume herrschte, der nur eine riesige Grotte sein konnte. Das hatte der höchster Todesnot Entronnene bald erkannt. Und mit neuerwachtem Lebensmut ruderte er weiter in das Dunkel hinein, von der Angst getrieben, daß die zurückströmenden Wellen ihn wieder ins Freie hinaustragen könnten, wo die Brandung mit ihren kalten Würgerarmen lauerte.
Bald lagerte dicke Finsternis um ihn her. Aber was tat’s – vorläufig war er ja geborgen – vorläufig! – Und nun fühlte er Grund unter seinen Füßen, watete vorwärts, entstieg taumelnd dem Wasser und sank gleich darauf ohnmächtig auf schlüpfrigem Geröll zusammen.
Fritz Helmers Bewußtlosigkeit war langsam in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung übergegangen. Traumbilder durchirrten sein Hirn. Aber es waren alles Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die sein wacher Geist vor ihm wiedererstehen ließ …
Die Aula der technischen Hochschule in Charlottenburg an einem Märztage 1914. Der Rektor verkündet die Preisträger unter den Bewerbern um die drei jährlichen Staatsstipendien.
„Student der Schiffsbaukunde Fritz Helmer – 1800 Mark zu einer Studienfahrt nach New York …“ – –
In New York vier Monate später an einer Straßenecke mitten in der Nacht … Oben am Giebel des Zeitungspalastes erscheinen in leuchtenden Buchstaben die neuesten Depeschen aus Europa. Eine tausendköpfige Menge reckt die Gesichter hoch. Schweigen lagert über den Massen …
„Die dritte Kriegserklärung! England auf Seiten Rußlands und Frankreichs!“ – –
Ein drittes Bild. – – Fritz Helmer steht dem deutschen Generalkonsul in dessen Amtszimmer gegenüber.
„Ich halte es hier nicht länger aus, – ich muß hinüber. Ich bin Soldat, habe mein Jahr bei der Marine abgedient. Helfen Sie mir, Herr Generalkonsul.“
Der zuckt die Achseln. „Wagen Sie die Überfahrt, – vielleicht glückt es Ihnen – vielleicht!“
Trotzdem gingen viele Monate hin, ehe sich eine Gelegenheit bot. Falsche Papiere waren beschafft, das blonde, verräterische Haar war gefärbt. Die Gelegenheit hieß „Rotterdam“.
Am 18. April 1915 hatte der Dampfer New York verlassen, und am 29. April nachmittags machte eine englische Barkasse östlich der Shetland-Inseln vergeblich auf einen kecken Flüchtling Jagd …
Einen Archipel von 117 Eilanden bildet diese Inselgruppe. Nur 34 von ihnen sind bewohnt. Kein Wunder, da es dort zumeist nur nackten Stein, weite Torfmoore, steile unzugängliche Küsten, heiße, kurze Sommer und endlos erscheinende, düstere, naßkalte Winter mit unheimlichen Stürmen gibt.
Auf dem nördlichsten dieser unwirtlichen Felshaufen, der fernab von den übrigen einsam den brüllenden Wogen des Atlantik Trotz bietet, war Fritz Helmer gelandet. Seinen Feinden war er entronnen, die hier mit ihrem schnellen Kreuzer auf harmlose neutrale Schiffe gelauert hatten, um sie nach wehrpflichtigen Angehörigen der verhaßten, viel beschimpften Zentralmächte zu durchsuchen. Und nun saß er doch wie die Maus in der Falle, in einer Falle aus Stein und kalten, grausamen Wassern, die ebenso mitleidslos waren wie das englische Schiffsvolk. – –
Stunden waren vergangen. Draußen schickte sich die von Gewölk befreite Sonne zum Besuch der anderen Erdhalbkugel an, verabschiedete sich mit flammenden, rötlichen Lichtern, die am westlichen Horizont verglühten. Und drinnen in der weiten, gewölbten Grotte regte sich auf dem Geröll ein armseliges Menschlein, hob den Kopf und starrte verwundert um sich.
Zu sehen gab’s hier auch für die besten Augen nicht viel: nichts als einen hellen Lichtschimmer, der durch den Eingang drang und wenige Meter weit die Oberfläche des unruhigen Wassers und darüber die Wölbung der Felshöhle erkennen ließ.
Fritz Helmer war schnell munter geworden. Die Nässe seiner Kleider, die eisige Kellerluft ringsum ließ ihn zusammenschauern. Und seine Gedanken jagten in wilder Hast, erwogen jede Möglichkeit der Rettung. Nichts blieb von all diesen Plänen, diesen Hoffnungen übrig, – so gut wie nichts. Gewiß – er konnte die Grotte schwimmend verlassen, konnte versuchen die Steilküste der Felseninsel zu erklettern und dort sein Leben zu fristen. Diese Idee, kaum in seinem Geiste aufgezuckt, veranlaßte ihn nach dem Rettungsringe tastend umherzufühlen, den er vorhin schnell abgestreift hatte. Zweierlei wurde er da gewahr: der Ring mußte ins Wasser geglitten und fortgetrieben sein, und … sein rechter Arm versagte ihm fast völlig den Dienst. In dem Kampf mit der Brandung war er – darauf besann er sich nur zu gut, einmal mit der rechten Schulter gegen ein treibendes Wrackstück geschleudert worden. Und nun hing ihm der Arm schwer wie Blei herab, und von Sekunde zu Sekunde wuchsen die bohrenden Schmerzen, die sich bis zum Ellbogen hinzogen.
Tiefe Mutlosigkeit überkam ihn da. Der Rettungsring fort, der Arm gelähmt, vielleicht für so lange, daß er verhungert und verdurstet war, bevor er daran denken durfte, sich dem Wasser anzuvertrauen, um dieses düstere Gefängnis zu verlassen …
Doch mit 21 Jahren, mit einem sonst gesunden Körper und einem regen Geist ist der Trieb zum Leben noch mächtiger als die scheinbar unabwendbaren, letzten Folgen einer Verkettung von unglückseligen Umständen.
Fritz Helmer wollte nicht sterben. Und mit aller Energie verscheuchte er Verzweiflung und bange Todesfurcht. Er wußte: in seiner Lage war nutzloses Grübeln der Anfang vom Ende. Betätigen mußte er sich, irgendwie, mußte seine Gedanken ablenken und das Weitere einem gütigen Geschick überlassen.
Klaren Auges schaute er sich um. Das Interesse für seine Umgebung war erwacht. Seine Blicke maßen jetzt zunächst die Entfernung von der Stelle, wo er sich befand, bis zu dem Eingang der Grotte. Beide Punkte lagen sich ziemlich genau gegenüber, und die Wasserfläche zwischen ihnen schätzte er auf vielleicht hundert Meter Breite. Dann fiel ihm auf, daß das bogenförmige Felsloch, dessen Wände etwa drei Meter stark sein konnten, offenbar an Höhe zugenommen hatte. Vorhin, als er es passiert hatte, betrug diese Höhe, soweit er sich entsann, vielleicht gut anderthalb Meter. Jetzt dagegen schimmerte das Licht des scheidenden Tages durch einen Bogen von reichlich drei Meter Spannung hindurch. Die Erklärung hierfür war schnell gefunden. Helmer wußte, daß die Flut in dieser Meeresgegend etwa um 6 Uhr nachmittags und morgens ihren höchsten Stand erreicht und sich dann wieder zu verlaufen beginnt. Also hatte er es der Ebbe zu verdanken, daß jetzt sein Gefängnis eine stärkere Beleuchtung als vorher empfing. Wenn man Schiffbaufach studiert, muß man sich notwendig auch mit allen Eigentümlichkeiten des Elementes vertraut machen, das Länder trennt und doch auch wieder verbindet. Und diese Kenntnisse kamen ihm jetzt schon zustatten und sollten ihm für die Folge noch weit nutzbringender werden.
Gegen die Kälte, die ihn immer mehr durchfröstelte, gab es nur ein Mittel: Bewegung! – Zunächst aber entledigte er sich all seiner Kleider, wand sie, so gut es mit dem einen Arm gehen wollte, aus und schlüpfte dann wieder hinein. Nur an dem schmerzenden, geschwollenen Schultergelenk feuchtete er sein wollenes Hemde und die beschmutzte Jacke ordentlich an, damit deren kühle Nässe ihm einen feuchten Umschlag ersetzte. Dann erst ging er auf dem allmählich ansteigenden Geröllboden, nachdem er eine bestimmte Strecke vorsichtig mit dem Fuße abgetastet hatte, schnell auf und ab.
Nur zu bald erlosch jetzt draußen auch der letzte Schimmer des Tageslichtes. Rabenschwarze, unheimliche Finsternis lastete über dem Wasserspiegel des Felsgewölbes und erfüllte es bis an den Eingang hin, der sich kaum noch als ein ein wenig hellerer Fleck abzeichnete.
Helmer wollte sich gerade auf den Boden niederlassen, um im Schlafe Vergessen zu finden, als er zur Linken in einiger Entfernung ein Licht undeutlich aufleuchten sah, das in regelmäßigen Pausen erschien und wieder verschwand. Nachdem er es eine Weile voll ungläubigen Staunens – denn wie sollte in diese Grotte eine dem Blinkfeuer (die Laternen vieler Leuchttürme sind so eingerichtet, daß sie nachts ihr Licht nur mit Unterbrechungen von einer Dauer aufblitzen lassen, die für die einzelnen Leuchttürme verschieden ist. Der Seefahrer kennt diese Pausen und weiß daher stets, welchen Leuchtturm er vor sich hat) der Leuchttürme ähnliche Lichtquelle hineinkommen! – beobachtet und darüber nachgegrübelt hatte, welcher Art dieses Licht sein könne, entschloß er sich, zunächst die Sache nicht weiter zu untersuchen, sondern damit bis zum Vormittag zu warten, wo durch die Ebbe abermals (Ebbe und Flut, die sog. „Gezeiten“, treten bekanntlich infolge der Anziehung des Mondes und der Sonne auf und zwar in allen anderen Meeren zweimal innerhalb 24 Stunden, nur im Indischen Ozean und den chinesischen Gewässern einmal) der Eingang vielleicht so weit freigelegt werden würde, daß die Grotte bei klarem Wetter wie durch ein großes Fenster selbst bis in ihre entferntesten Winkel einigermaßen erhellt wurde.
In dieser Annahme hatte er sich nicht getäuscht, wie er zu seiner großen Freude nach einer zumeist schlaflos verbrachten Nacht feststellen konnte. Das Felsenloch lag ebenso wie dieser Teil der steilen Küste nach Osten zu, und mit dem Auftauchen der Sonne fiel bei dem niedrigen Stande des Wassers gegen zehn Uhr vormittags ein kräftiges, von dem heute kaum leicht bewegten Wasserspiegel noch verstärktes Licht in die hochgewölbte Höhle und verwandelte die Dunkelheit selbst an den entlegensten Stellen in eine freundlichere Dämmerung.
Der Anblick des heiteren Sonnenscheins, der draußen über dem Meere lagerte und sich auch ein Stück in das Innere des Felsens hineinstahl, erfüllte Fritz Helmer mit neuem Lebensmut. Je höher die Sonne stieg, desto reizvoller wurde die eigenartige Lichtflut, die das Gewölbe durchstrahlte. Wie bei der berühmten Blauen Grotte auf Kapri beruhte die Farbenwirkung auch hier darauf, daß das Licht durch eine weite unterseeische Öffnung auf den Grund der Höhlung fällt und sie, durch das Wasser zurückgeworfen, in farbiges Licht taucht.
Zartgrüne, oft ins Bläuliche übergehende Töne schufen eine wahre Wunderwelt, die selbst durch technische Beleuchtungsanlagen auf der Bühne nicht hätte hervorgezaubert werden können. Jetzt konnte Helmer auch die Abmessungen seines Schlupfwinkels genauer feststellen. Die Grotte bildete eine riesige Glocke von etwa hundert Meter Durchmesser bei einer größten Höhe von vielleicht vierzehn Meter. Im Hintergrunde zog sich ein breiter, langsam ansteigender Uferstreifen gut dreißig Meter in das Felsmassiv hinein und vereinigte sich dann mit den Wänden zu einem Ganzen.
Wichtiger aber als all diese Farbenpracht seines Verstecks war für den Flüchtling eine andere Entdeckung. Kaum war es in der Grotte hell genug geworden, als er auch schon nach der Ursache des merkwürdigen Blinklichtes auszuspähen begann, das noch immer in Pausen erschien und verschwand. Es leuchtete offenbar aus dem Wasser hervor, und wie er sich nun jenem Punkte, auf dem trockenen Uferstreifen entlangschreitend, immer mehr näherte, fiel ihm sofort eine runde Scheibe auf, die vielleicht zwölf Meter von seinem Standort entfernt auf dem Wasser schwamm und leise hin und herschaukelte. Immer heller wurde es in dem Felsgewölbe, immer stärkere Lichtfluten strömten durch den Eingang herein und ließen jetzt die seltsame Scheibe, aus der drei runde, deckelartige Erhöhungen herauswuchsen, ganz deutlich erkennen.
Starr vor Staunen verhielt sich Fritz Helmer eine Weile völlig regungslos. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, hielt all dies zuerst für eine Täuschung, die seine Sehnerven ihm vorspiegelten. Und doch – so oft er auch die Augen schloß und wieder öffnete: das Bild vor ihm blieb dasselbe!
Seine letzten Zweifel schwanden. Was er da vor sich sah, war der graugestrichene Kommandoturm eines Unterseebootes, der etwa einviertel Meter aus dem Wasser hervorragte und dessen Aufbauten, die Ausgangsluke, die Ausguckkappe und das Ansatzrohr für das Sehrohr, jedem Kundigen sofort die wahre Natur dieses Gegenstandes verraten mußten, selbst wenn sich nicht unter der Oberfläche jetzt auch die dunklen Umrisse des Fahrzeuges verschwommen abgezeichnet hätten. Das Licht aber drang durch eine der kleinen Glaslinsen des Turmes hindurch, die noch von den Wassern bedeckt waren, und rührte sicherlich von einer hin und herpendelnden Glühlampe her, die durch das leichte Rollen des Bootes in steter Bewegung gehalten wurde.
Hunger und Durst hatten den jungen Studenten noch eben furchtbar gequält. Nun war urplötzlich jedes körperliche Unbehagen geschwunden. Auch der rechte Arm schmerzte nicht mehr und hatte seine Beweglichkeit wiedererlangt. Die rege Gedankentätigkeit, die durch den Anblick des Unterseebootes hervorgerufen war, verdrängte alle anderen Empfindungen.
Wie kam das Boot hierher? Welcher Nationalität war es, und wo war seine Besatzung? – Diese und noch mehr Fragen gaben dem frischen Geist Fritz Helmers ebenso viele Rätsel auf.
Etwas glaubte er jedenfalls bereits bestimmt zu wissen: daß das Fahrzeug entweder von der Besatzung verlassen oder aber daß diese tot, verunglückt und in dem Boote eingeschlossen war. Befand er sich doch bereits länger als zwölf Stunden in der Grotte, und während dieser Zeit hätte er sicher etwas von den Leuten wahrnehmen müssen, denen es doch ein leichtes gewesen wäre, den mächtigen Stahlzylinder durch Leerpumpen der Ballasttanks selbst während der Flut soweit zu heben, daß sie ihn verlassen konnten.
Je länger er hierüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm, daß die Insassen des Bootes einem schrecklichen Schicksal anheimgefallen sein mußten. Es drängte ihn, sich Gewißheit zu verschaffen, und kurz entschlossen watete er nun in das Wasser hinein, das sofort eine Tiefe hatte, die ihn zum Schwimmen zwang. Bald stand er auf dem leicht gewölbten Oberteil des Turmes, stampfte immer wieder mit dem Fuße auf das dröhnende Metall, um jemanden von der Besatzung, falls diese wirklich noch am Leben sein sollte, herbeizulocken.
Nichts regte sich in dem Stahlzylinder. Und nachdenklich setzte Helmer sich auf die Ausguckkappe und überlegte, was er weiter tun solle.
Mit Unterseebooten wußte er gut Bescheid. Hatte er sich doch gerade diese zum Spezialstudium auserwählt und auch bei seinem Besuch der amerikanischen Werften, die diese Fahrzeuge zum Verkauf an das Ausland bauten, sich besonders um diese moderne Kriegswaffe gekümmert. Vertraut mit allen bisher konstruierten Typen von Unterwasserfahrzeugen, war er schon jetzt seiner Sache ziemlich sicher, daß es sich hier um kein deutsches Erzeugnis, sondern vielmehr um ein amerikanisches Lake (ein amerikanischer Erfinder, der die ersten wirklich brauchbaren U-Boote für die Vereinigten Staaten baute und dann später wesentlich verbesserte) – Boot handelte, dessen Turm-Ausgangsluke sich, wie bei allen diesen Schiffen, auch von außen öffnen ließ, damit man bei einem Unglücksfalle in den Bootskörper hineingelangen könne, ohne ihn zertrümmern zu müssen. Mithin wäre es ihm ein Leichtes gewesen, nach Lösung des Verschlusses den Deckel der Luke aufzuklappen und in das Fahrzeug hinabzusteigen. Und doch zögerte er, dies sofort zu tun. Nicht daß er etwa Angst vor den Schreckensbildern empfand, die sich ihm in Gestalt der Leichen der Besatzung darbieten würden. Nein, Furcht kannte Fritz Helmer nicht. Die stillen Menschen dort unten konnten ihm nichts mehr anhaben. Etwas anderes war’s, das ihn zaudern ließ. Er dachte an die Rückkehr der Flutwelle, die den Wasserspiegel auch hier in der Grotte um fast zwei Meter hob, wie er an der Vergrößerung des Felsentores bei Ebbe bereits festgestellt hatte. Während der Flut würde auch der Turm des U-Bootes von Wasser bedeckt sein. Er mußte sich also sehr in acht nehmen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, von den steigenden Wassern in den Stahlzylinder nach Schließung des Lukendeckels für einige Stunden eingesperrt zu werden. Und dies erschien ihm zu gewagt, da die Luft dort unten sicherlich vollständig verbraucht war und erst erneuert werden mußte.
Nach reiflichem Nachdenken zog er seine Uhr zu Rate, die sich zum Glück als völlig wasserdicht erwiesen hatte und lustig weitertickte. Es war jetzt genau elf. Da hatte er also mindestens noch eine Stunde Zeit, bevor im schlimmsten Falle mit dem Steigen des Wassers zu rechnen war. Diese Überzeugung ließ ihn schnell aufspringen und die Ausgangsluke öffnen, deren Verschluß tadellos in Ordnung war. Als er den schweren Deckel zurückgeschlagen hatte, stieg ihm sofort ein beißender Dunst in die Nase. Es waren Gasolindämpfe (Gasolin ist ein Bestandteil des Petroleums und wird bei U-Booten zum Betrieb der Motoren benutzt), und hiernach unterlag es keinem Zweifel mehr, daß einer der Gasolinbehälter während einer Unterwasserfahrt explodiert war und die Besatzung einen furchtbaren Erstickungstod gefunden hatte.
Den Gedanken, jetzt sofort in das Boot hinabzusteigen, mußte er aufgeben. Immerhin versuchte er aber, einen Blick durch die Luke in den von der Glühbirne erhellten Turm zu werfen.
Neben der komplizierten Steuervorrichtung mit ihren zahlreichen Hebeln und Rädern lagen die regungslosen Körper von drei Männern übereinander. Der oberste, dessen aufgedunsenes, blaurot verfärbtes Gesicht geradezu entsetzlich anzusehen war, trug eine dunkle Lederjacke mit den Abzeichen eines englischen Marineoffiziers.
Mit angehaltenem Atem hatte Fritz Helmer in diesen stählernen Sarg geschaut. Nun wurde ihm die Luft knapp, und er trat leicht zusammenschauernd beiseite. Dieses Bild sagte ihm genug. Es bestätigte seine Vermutung vollauf. Die Leute waren sämtlich erstickt, bevor es ihnen gelang, das Boot auftauchen zu lassen und die Luken zu öffnen.
Auch all die übrigen Fragen, für die er vorhin keine Lösung gefunden hatte, beantworteten sich jetzt von selbst. Nach dem Tode der Besatzung war das Fahrzeug, in einer Tiefe von etwa zwei Meter steuerlos dahintreibend, durch einen Zufall mit der steigenden Flut gerade in das Felsentor der Grotte hineingedrängt worden und hatte sich dann hier irgendwie festgerannt. – –
Helmer ließ den Lukendeckel offen und setzte sich wieder auf die Ausguckkappe. Er wollte warten, bis die Flut ihn zwang, den Deckel wieder zu verschließen. Inzwischen mußte sich dann die Luft in dem Boot wenigstens etwas erneuert haben. Wiederholte er dieses Lüften dann auch während der Ebbe in der Nacht, so konnte er hoffen, ohne Gefahr das Innere des durch die Gasolindämpfe verpesteten Stahlzylinders betreten zu dürfen. Und das gestrandete U-Boot würde ihm später alles liefern, was er zu seinem Lebensunterhalt brauchte und ihm auch als Wohnung dienen, bis er Gelegenheit fand, diesen Schlupfwinkel zu verlassen und, wenn irgend möglich, in die deutsche Heimat zurückzukehren.
Später … Und bis dahin … ?! Wovon sollte er seinen Hunger und Durst stillen, die sich bereits wieder unangenehm bemerkbar machten und ihm zeigten, daß seine Zukunftsaussichten vielleicht nie verwirklicht werden würden, da ihn die Entkräftung und die feuchte Kälte in dieser Höhle bald matt und krank irgendwo auf dem Geröll des Uferstreifens niederwerfen mußten.
Sein tatenfroher Mut nahm von Minute zu Minute ab. Wütende Schmerzen im Magen und ein heißes Brennen im Munde und in der Kehle, dazu ein immer häufigeres Frösteln, das ihm eisig über den Rücken lief, bewiesen ihm nur zu eindringlich, daß er sofort irgend etwas für seinen Körper tun müsse, um sich gesund zu erhalten.
Da – ein Gedanke blitzte in ihm auf, wie er sich trockene Kleidung verschaffen könnte. Zwar zögerte er noch einen Augenblick, aber die nahe bevorstehende Flut ließ ihn das Grauen vor den Toten da unten schnell überwinden. Er gedachte in den Turm hinabzusteigen und den Leichnam des Offiziers eiligst nach oben zu bringen. Dies mußte jedoch geschehen sein, bevor er genötigt war, den Luftvorrat seiner Lungen zu erneuern. Mithin durfte er nur so lange in dem Turm bleiben, als er mit angehaltenem Atem sich bewegen konnte.
Suchend blickte er sich jetzt um, indem er sich hastig erhob. Und er fand, wonach er ausspähte. Von einem Ringe der Ausguckkappe lief nach dem Bug des Bootes zu eine dünne Stahltrosse. Diese ergriff er jetzt, stieg von dem Turm auf das unter Wasser liegende Deck hinab, watete, bis zum Gürtel abermals naß werdend, auf dem Deck weiter und durchschnitt dann in mühsamer Arbeit mit seinem Taschenmesser, dessen große Klinge tiefe Scharten aufwies, die Trosse, die irgendwo am Bug befestigt war und die sich trotz aller Kraftanstrengung nicht hatte zerreißen lassen. Nachdem er sie noch von dem Ringe gelöst hatte, hielt er eine fünf Meter lange Leine in seiner Hand. An einem Ende machte er nun eine weite Schlinge, sog abermals die Lungen tief voll Luft und sprang ohne Zaudern durch die Luke in den Turm hinab, wo er geschwind die Schlinge dem toten Offizier unter den Armen durchzog. Im Nu war er wieder am Deck und brauchte jetzt nur mit Hilfe der Trosse hochzuziehen, was ihm auch trotz des noch halblahmen Armes gelang, da der Engländer von kleiner, magerer Figur war und sicher nicht mehr als einen Zentner wog.
Es kostete Helmer nun doch einige Überwindung, die Leiche zu entkleiden. Zuvor entleerte er aber die Taschen des Anzuges, in denen er eine Stahluhr nebst Kette und Kompaß, ein Zigarettenetui aus Silber mit einer eingravierten Widmung, eine Büchse Zündhölzer, ein Taschenmesser und ein paar andere Kleinigkeiten fand.
Die Unterkleider ließ er dem Toten, den er dann, damit die Flut ihn nachher nicht forttreibe, an dem Ringe der Ausguckkappe festband. Hierauf machte er aus den Kleidungsstücken, – Lederjacke, Weste und blaue, derbe Hose, ein Bündel und watete, auf dem Deck entlanggehend, dem Lande zu. Das U-Boot lag mit dem Heck schräg nach dem Uferstreifen hin, so daß er das Bündel bequem die fehlenden drei Meter weit auf das Geröll werfen konnte, um die kurze Strecke dann selbst schwimmend mit ein paar Stößen zu durchmessen.
Mittlerweile war es halb 12 geworden. In der grünblauen, lichten Dämmerung suchte er nun emsig den kleinen Strand nach Muscheln, Schnecken und angeschwemmtem Treibholz ab. Hierbei kam er auch an den äußersten südlichen Winkel des sichelförmigen Uferstreifens. Was er hier dicht am Strande in kaum eineinhalb Meter Tiefe entdeckte, überhob ihn aller Nahrungssorgen. Ein aus dem Wasser ein wenig herausragender Felsen hatte seine Aufmerksamkeit erregt, da auf diesem einige flache Muscheln in Spalten und Rissen lagen, die er sofort als Austern erkannte. Diese nahrhaften Schalentiere kommen bekanntlich an der englischen Küste, ebenso wie an den deutschen Nordseeufern, auf den Austernbänken in Kolonien zu vielen Tausenden vor und bilden z. B. in London ein billiges Volksnahrungsmittel (An Nährwert stehen Austern den besseren Fleischsorten mindestens gleich), wo jährlich etwa 500 Millionen dieser Muscheln verzehrt werden.
Eine solche Austernbank, die sich von dem Felsen weit über den Grund der Grotte in Richtung auf den Eingang hin erstreckte, hatte Fritz Helmer hier gefunden. Sofort warf er die anderen Schalentiere, mit denen er seinen Magen hatte befriedigen wollen, in das Wasser zurück, sammelte mit den Händen, häufig untertauchend, eine genügende Menge Austern, setzte sich dann auf das Geröll, brach sie mit seinem schartigen Messer auf und hielt eine Mahlzeit ab, die ihm köstlich mundete, ihn wunderbar erfrischte und auch seinen Durst löschte.
Wie neugeboren erhob er sich dann, eilte nach dem gestrandeten U-Boot zurück und schloß den Deckel der Ausgangsluke, da eine stärkere Bewegung der Wasseroberfläche in der Grotte ihm zeigte, daß die Flut zu steigen beginne. Schon wollte er wieder zum Strande hinüber, als ein neuer Gedanke ihn etwas beunruhigte. Die Möglichkeit, daß die Flut das Boot wieder flott machte und beim Rückfluten entführte, war nicht ganz von der Hand zu weisen. Dies mußte er unbedingt zu verhindern suchen. Bald hatte er auch ein Mittel gefunden, um sich den Stahlzylinder, der ihm vielleicht zur Freiheit verhelfen konnte, zu sichern. Eine zweite Stahltrosse lief wie die erste von der Seitenwand des Turmes nach dem Heck hin. Bald hatte er sie gleichfalls am Heck durchschnitten und das freie Ende nach dem Lande herübergebracht. Da das U-Boot wie schon erwähnt in einem spitzen Winkel zum Uferstreifen lag, reichte die Trosse gerade aus, um sie an einem starken, ausgezackten Felsvorsprung, der noch halb im Wasser verschwand, festzumachen. Diese Verankerung mußte ohne Frage genügen, um der rückwärtsströmenden Flut den nötigen Widerstand entgegenzusetzen.
Nun erst begab Helmer sich zum Strande hinüber, zog seine nassen Kleidungsstücke aus und die trockenen des Engländers an. Dann suchte er ganz im Hintergrunde dicht an der Grottenwand einen geeigneten Lagerplatz, den er auch in Gestalt einer sandigen Stelle entdeckte. Hier gelang es ihm nach vieler Mühe mit Hilfe einer Zeitung, die er in der Tasche der Lederjacke fand, zunächst einige aus dem gesammelten Treibholz geschnitzelte Späne in Brand zu setzen und langsam auch ein größeres Feuer anzufachen, um das er einen Haufen Brennmaterial aufschichtete, damit die Hitze die Zweige, Äste und Holzstücke trockne. Dasselbe erreichte er bei seinen Unterkleidern, die er dann, gut durchwärmt und dazu noch durch das Wasser gesäubert, mit Behagen anlegte, so daß er nachher die feuchte, kühle Luft kaum mehr spürte, zumal das lodernde Feuer ebenfalls starke Hitze ausstrahlte.
Nach einer abermaligen Austern-Mahlzeit streckte er sich neben dem Feuer gegen vier Uhr nachmittags zum Schlafe aus. Vorher hatte er noch nach dem U-Boot gesehen. Da inzwischen die Flut bedeutend zugenommen hatte, war der Turm bereits unter Wasser verschwunden.
Fritz Helmer war müde zum Umsinken. Und doch konnte er nicht einschlafen. Der Gedanke, daß dort in dem Stahlfahrzeug keine achtzig Meter von ihm entfernt die Leichen jener Männer ruhten, die ein so furchtbares Ende genommen hatten, ferner auch die Notwendigkeit, pünktlich um zwei Uhr nachts, also nach acht Stunden, aufwachen zu müssen, um die Lüftung des Bootes gleich nach Beginn der Ebbe fortsetzen zu können, hielten ihn munter. Endlich schlief er dann doch ein, träumte allerlei aufregende Dinge und fuhr, geängstigt von einem gräßlichen Traumgesicht, viel früher als nötig empor.
Schnell legte er neues Holz auf die glimmenden Reste des Feuers, denn tiefe Finsternis umgab ihn jetzt. Knisternd und prasselnd leckten die Flammen höher und höher, bis die Umgebung in einen rötlichen Lichtschimmer getaucht war, der Helmers durch die bösen Träume aufgepeitschte Nerven bald beruhigte. Wieder sättigte der junge Student sich durch den Rest seines Austernvorrats, fertigte sich dann eine Art Fackel an und begab sich nach der Stelle des Strandes hin, der gegenüber das U-Boot nun schon wieder mit dem Turm ein Stück aus dem Wasser herausragte. Ein zweites, hier dicht am Ufer angezündetes Feuer spendete ihm dann die nötige Beleuchtung.
Die Leiche des Marineoffiziers hing jetzt seitwärts vom Turme herab und bot einen so unheimlichen Anblick dar, daß Helmer sich entschloß, sie sofort an Land zu schaffen und dort vorläufig mit Geröll zu bedecken. Nachdem er den Anzug des Engländers, der ihm leidlich paßte, mit seinem eigenen vertauscht hatte, schwamm und watete er nach dem U-Boot hinüber und öffnete die Ausgangsluke. Zu seiner nicht geringen Enttäuschung bemerkte er erst jetzt, daß die elektrische Glühbirne im Turme inzwischen erloschen war. Mithin war die Kraft der Akkumulatoren-Batterie, die die Beleuchtungsanlage speiste, verbraucht, ein Umstande der Helmers weitere Pläne sehr beeinträchtigte.
Der Tote war bald seinem Notgrabe übergeben. Hierauf versuchte der Flüchtling, auch die beiden anderen Leichen an das Ufer zu bringen, eine Arbeit, zu den starke Nerven gehörten, da sie nur bei dem unsicheren Lichte einer unruhig brennenden Fackel ausgeführt werden konnte, wenigstens soweit das Befestigen der Trossenschlinge um die starren Körper, das ja innerhalb des Turmes geschehen mußte, in Betracht kam. Aber Fritz Helmers eiserne Energie erleichterte ihm auch diese schauerliche Tätigkeit. Die Fackel klemmte er zunächst, sich lang über die Luke legend, in einer Krampe der Turmwand innen fest, stieg dann hinab und legte die Schlinge um die obere der beiden Leichen.
Kein Wunder, daß er befreit aufatmete, als auch diese Unglücklichen neben dem Offizier unter Geröll gebettet waren. Drei Stunden später fiel bereits der erste lichte Schein des heraufziehenden Morgens durch den Felseneingang in die Grotte hinein. Mittlerweile war das Wasser immer mehr gesunken, wenn es auch noch nicht seinen tiefsten Stand erreicht hatte. Als dann erst die Sonne draußen wieder aufgegangen war und die Zauberbeleuchtung in der Wölbung mit grün-bläulichen Lichtern hervorrief, fühlte Fritz Helmer sich so unternehmungslustig, daß er den Versuch zu wagen beschloß, auch in die anderen Räume des U-Bootes einzudringen.
Versehen mit einigen Fackeln, begab er sich in den Turm, wo die Luft bereits völlig rein war. Langsam kletterte er dann die schmale eiserne Treppe hinab, die nach unten führte.
Plötzlich stockte sein Fuß. Auf furchtbare Bilder, die er hier zu sehen bekommen würde, war er gefaßt gewesen. Aber das, was er jetzt beim Scheine der knisternden Zweige erblickte, jagte ihn doch entsetzt wieder einige Stufen aufwärts.
Am Ende der Treppe lag ein wirrer Haufen von menschlichen Leibern kreuz und quer übereinander. Offenbar hatten alle diese dem Tode Geweihten in wilder, sinnloser Verzweiflung sich gegenseitig den Aufstieg nach dem Turm, in dem sie den giftigen Gasen zu entrinnen hofften, streitig gemacht und waren schließlich sämtlich ohnmächtig zusammengesunken, um bald an derselben Stelle ihren Geist auszuhauchen.
Endlose zwei Stunden folgten jetzt für Helmer, Stunden, in denen ihn mehr als einmal das Grauen zu überwältigen drohte, da es galt, die Toten hinaus und an den Strand zu schaffen.
Dann war auch das getan. Und wieder betrat er die Räume des Stahlzylinders, bewegte sich schrittweise vorwärts, bis er in dem engen Gange vor den Wohnkabinen der Offiziere und Mannschaften sechs große Laternen hängen sah, die für den Fall des Versagens der elektrischen Beleuchtung bestimmt waren. Die weitere Untersuchung des Bootes wurde durch die hellbrennenden Reflektorlampen wesentlich erleichtert, ebenso wie die inzwischen erneuerte Luft dem mutigen Studenten auch hier volle Bewegungsfreiheit gestattete. Da er in diesem amerikanischen Typ, den England vielleicht erst während des Weltkrieges angekauft hatte, sehr gut Bescheid wußte, begab er sich nunmehr in den im Hinterschiff liegenden Maschinenraum, um vermittelst der Hilfslenzpumpe, die Handantrieb hatte, das Ballastwasser aus den Hauptballasttanks am Boden des Fahrzeuges soweit zu entfernen, bis der Schiffskörper bis zur normalen Überwasserfahrtbordhöhe aufgetaucht war.
Als er dann nach einer halben Stunde – mittlerweile hatte er auch sämtliche Räume vergeblich nach etwa noch vorhandenen Leichen durchforscht und bei dieser Gelegenheit zu seiner Freude festgestellt, daß das Boot durch die Explosion des einen Gasolinbehälters nur geringfügige Beschädigungen erlitten hatte – an Deck zurückkehrte, schwamm der 20 Meter lange und viereinhalb Meter breite graugestrichene Stahlzylinder ruhig auf der Oberfläche des Wassers wie jedes andere harmlose Schiff. Und doch hatte er so ganz anderen Zwecken dienen sollen: der Vernichtung der Flotte der Zentralmächte! – Blanke Torpedos, achtzehn an der Zahl, hatte Helmer in der engen Torpedokammer gefunden, ferner ein Acht-Zentimeter-Schnellfeuergeschütz mit reichlicher Munition. Außerdem aber noch etwas für ihn höchst Wertvolles, abgesehen von den Proviantvorräten und dem gefüllten Trinkwassertank, – nämlich ein aus drei Teilen mittelst Flügelschrauben leicht zusammensetzbares Aluminiumboot von vier Meter Länge, bei dem die Ränder dieser Teile mit dicken, elastischen Gummistreifen belegt waren, so daß sie nach Anziehen der Schrauben sich völlig wasserdicht aneinanderfügten.
Die Aluminiumjolle hatte ihren Platz in dem schmalen Gange unter der auf dem Hinterdeck befindlichen zweiten Ausgangsluke, die Helmer jetzt öffnete, um sofort die drei Teile des kleinen Bootes nach oben zu bringen und zusammenzuschrauben, worauf es ihm möglich war, trockenen Fußes nach dem Ufer hinüber zu gelangen. Sodann schaffte er die beiden Anker an Deck und legte seine schwimmende Zufluchtstätte etwa in der Mitte der Grotte mit Hilfe des ausgeworfenen Bug- und Heckankers so fest, daß auch die kräftigste Strömung ihr nichts mehr anhaben konnte.
Obgleich sein Magen sich schon wieder meldete, wollte er doch zunächst die Leichen der Besatzung aus der Grotte entfernen. Er bestieg daher die Jolle und ruderte nach dem Felsentor, um zu sehen, ob er es wagen dürfe, die Toten nach Seemannsart ein Stück von der Küste entfernt im Meer zu versenken.
Der Wind hatte sich gedreht, kam heute aus West und schuf deshalb an der Ostküste des Eilandes eine weite Strecke ruhigen Wassers. Keine Brandung, keine gefahrdrohenden Wellen hinderten das kleine Aluminiumboot, als es jetzt die Grotte verließ und in die offene See hinausglitt, wo sein einziger Insasse sich vorsichtig nach allen Seiten umschaute, ob nicht irgendwo eines der zahlreichen englischen Wachtschiffe zu sehen war, die die Nordsee abzusperren suchten und gleichzeitig auf den deutschen U-Schrecken Jagd machen sollten.
Und wirklich – kaum drei Seemeilen (eine Seemeile gleich 1852 Meter, die englische Seemeile gleich 1853,15 Meter. Sie entspricht also der Länge von ein Sechzigstel Meridiangrad. Dieses nautische Längenmaß ist bei allen seefahrttreibenden Völkern ungefähr gleich berechnet worden. Die amerikanische Seemeile ist die längste gleich 1854,71 Meter) nach Südosten zu zeichneten sich am klaren Horizont deutlich die Umrisse zweier Dampfer ab, die in langsamer Fahrt mit östlichem Kurse in nicht allzu weitem Abstand von einander dahinfuhren.
Schleunigst suchte Helmer unter diesen bedrohlichen Umständen die Grotte wieder auf, da man seine winzige Jolle mit einem guten Fernglase unschwer erkennen mußte.
Mit dem Seemannsbegräbnis, das er der Besatzung des C 15 – diese englische U-Boot-Nummer führte das gestrandete Kriegsfahrzeug auf einer am Turm angebrachten Platte – zukommen lassen wollte, war es also vorläufig nichts. Er mußte bis zum Dunkelwerden damit warten, wo er auch vor dem schärfsten Fernrohr sicher war.
An Bord des C 15 zurückgekehrt, suchte er sich aus den Proviantvorräten je eine Konservenbüchse Gemüse und Fleisch heraus, um sich in der winzigen Küche eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Doch der Herd besaß lediglich eine elektrische Heizanlage, die jetzt nicht zu brauchen war, da die Kraft der Akkumulatoren, die auch hierhin den Strom lieferten, erschöpft war. So mußte er sich denn mit kaltem Büchsenfleisch und einer Handvoll Keks begnügen.
Dieser mißglückte Kochversuch brachte ihn auf den Gedanken, die Akkumulatoren frisch aufzufüllen. Wie dies gemacht wurde, wußte er ja ganz genau. Es kam nur darauf an, ob der kleine Gasolinmotor, der mit der Dynamomaschine in Verbindung stand, in Gang zu bringen war. Nun, der Motor arbeitete bald tadellos, und urplötzlich flammten dann in allen Räumen die elektrischen Glühbirnen von selbst wieder auf, nachdem die Akkumulatoren genügend Strom liefern konnten.
Helmers nächste Arbeit bestand darin, die beiden Scheinwerfer in Ordnung zu bringen, die mit ihren Schraubengewinden in zwei vor und hinter dem Turm befindliche, in dem Deck eingelassene Schraubenmuttern hineinpaßten und deren Leitungsdrähte mit Stechkontakten innerhalb des Turmes zu verbinden waren. Die Scheinwerfer mußten nachher eine kurze Probebeleuchtung der Grotte ausführen und wurden dann wieder ausgeschaltet. – –
Der Abend nahte. Helmer hatte in einem der schmalen Betten des Offizierwohnraumes einige Stunden geschlafen, da er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Als er jetzt an Deck stieg, war das wunderbare Farbenspiel in der Grotte längst erloschen. Graue, düstere Dämmerung erfüllte die weite Felshöhle, und die steigende Flut drängte sich schäumend und gurgelnd durch den Eingang in das unterirdische Wasserbecken hinein. – Nachdem er sich auf dem elektrischen Herde, der jetzt ganz nach Wunsch die nötige Hitze spendete, ein warmes Essen zubereitet und auch einen starken Glühwein dazu getrunken hatte, bestieg er die Aluminiumjolle und ruderte ins Freie hinaus. Weit und breit waren, soviel er in der Dunkelheit sehen konnte, nirgends die Lichter eines Dampfers zu bemerken. Er konnte also ans Werk gehen. Vorher aber goß er noch ein paar Gläser eines feurigen Portweins hinunter, um das leise Grauen, das sein Herz zusammenpreßte, zu verscheuchen.
Beim Lichte eines der Scheinwerfer begann er dann mit den traurigen Vorbereitungen für das Massenbegräbnis, suchte passende Steine zusammen und band sie den stillen Toten an die Füße. Immer zu zweien brachte er sie nachher in der Jolle hinaus auf das Meer und versenkte sie mehr nach Süden zu hinter einer weit vorspringenden Landzunge gut fünfhundert Meter von der Grotte entfernt. Entblößten Hauptes betete er für jeden ein Vaterunser, bevor er den Körper in das Wasser gleiten ließ.
Soeben hatte er den Offizier, dessen Lederjacke er jetzt trug, als letzten dem feuchten Element übergeben, als plötzlich neben ihm ein blendend weißer Lichtstreifen über das Wasser hinhuschte, sich gleich darauf in die Luft erhob und in einem Bogen weitab wieder auf den Wasserspiegel zurückfiel, wo er suchend auf und ab glitt. Es war der Scheinwerfer eines schnellen, niedrigen Schiffes, dessen dunkle Umrisse Helmer jetzt in der Ferne erkannte. Hastig griff er zu den Rudern und trieb die leichte Jolle eiligst dem Eingang der Grotte zu. Während er mit kraftvollen Schlägen sein kleines Aluminiumboot über die leichten Wellen dahintänzeln ließ, erwog er immer wieder dieselbe Frage: war er bemerkt worden, als er die Toten versenkte, und galt der Lichtkegel des Scheinwerfers etwa ihm? Sollte ein mißgünstiges Schicksal ihn vielleicht gerade jetzt, nachdem er sich die Möglichkeit zum Ausharren in seinem Versteck geschaffen hatte, den Feinden in die Hände spielen wollen …?!
Jedenfalls mußte er sich hierüber Gewißheit verschaffen. Und ebenso mußte er schleunigst den Scheinwerfer auf dem Deck von C 15, den er leichtsinnigerweise hatte brennen lassen, ausschalten. War es doch nicht ausgeschlossen, daß man von der See her das Grottentor, das sich jetzt von den düsteren Felsen wie ein bogenförmiges, matt erleuchtetes Kellerfenster abhob, bemerkte und so auf seinen Schlupfwinkel aufmerksam wurde, den bisher scheinbar außer seinem noch keines anderen Menschen Fuß betreten hatte.
Wenige Minuten später verschwand der weiße Strahlenkegel, der den Uferstreifen in dem Felsgewölbe zum Teil in glänzende Helle getaucht hatte, ganz plötzlich, und nur eine der Reflektor-Laternen warf jetzt noch ihr halb verhülltes Licht vom Turme des U-Bootes aus in die tiefe Dunkelheit der Grotte hinein.
Dicht vor dem Eingang aber schaukelte, mit einer Stahltrosse an eine Felszacke vertäut, die Aluminiumjolle auf der leicht bewegten Flut, in der Fritz Helmer, bewaffnet mit einem der Nachtgläser des C 15, mißtrauisch in die Runde spähend saß und bald seine ganze Aufmerksamkeit nur noch dem niedrigen Dampfer schenkte, der im Südosten noch immer seinen Scheinwerfer spielen ließ. Endlich hielt er es für gewiß, daß jenes Fahrzeug da draußen es keinesfalls auf ihn abgesehen hatte. Daher machte er kurz nach Mitternacht die Trosse der Jolle los und ruderte nach dem U-Boot zurück, wo er dann in einem der Betten fest und traumlos bis in den hellen Vormittag hineinschlief. – –
Fünf Wochen waren seitdem vergangen. Fritz Helmer hatte während dieser Zeit nichts von Wichtigkeit erlebt, die Tagesstunden aber stets durch diese oder jene Arbeit ausgefüllt, so daß ihm seine Einsamkeit niemals recht zum Bewußtsein kam.
In allen Räumen hatte er musterhafte Ordnung geschaffen, hatte die Maschinen sämtlich nachgesehen und sowohl die Gasolinmotoren für die Überwasser- als auch die Elektromotoren für die Unterwasserfahrt probeweise laufen lassen, war ebenso bemüht gewesen, die durch die Explosion des Gasolinbehälters entstandenen Beschädigungen des einen Hilfsballasttanks auszubessern, was ihm auch mit Hilfe der vorhandenen Werkzeuge gelang. Mit einem Wort: C 15 hätte jeden Augenblick eine Kreuzfahrt antreten können, so tadellos im Stande war alles.
Inzwischen hatte er auch aus dem Tagebuche des Führers des U-Bootes, eines Marineleutnants namens Nepper, ersehen, an welchem Tage sich das für die ganze Besatzung so folgenschwere Unglück im Innern des dichtverschlossenen, auf flacher Unterwasserfahrt begriffenen Stahlzylinders ereignet hatte.
Am 29. April 1915 war er den Engländern, die ihn bereits als Gefangenen mit an Bord des Kreuzers „Atlanta“ nehmen wollten, glücklich entwichen, und am 27. April vormittags 11 Uhr hatte Leutnant Nepper die letzte Eintragung in das Tagebuch gemacht, die dahin lautete, daß C 15 soeben von Bord des norwegischen Dampfers „Christiania“ mehrere Postbeutel als beschlagnahmt sich angeeignet habe, die deutsche, nach Amerika bestimmte Briefe und Wertsendungen enthielten. Mithin war es ziemlich sicher, daß die verderbliche Gasolinexplosion am Nachmittag des 27. April stattgefunden hatte, da der Leutnant regelmäßig vormittags und abends seine Notizen ergänzt hatte.
Auch die Postsäcke waren von Helmer unter den Betten des Offizierwohnraumes aufgestöbert worden. Sie enthielten viele Pakete deutscher Zeitungen, die er dann gewissenhaft, dem Datum nach geordnet, in seinen Mußestunden durchlas.
Die Verpflegung an Bord seiner Prise, wie er C 15 oft im Stillen freudig nannte, war gut und abwechslungsreich, da die Vorratskammer mit Konserven aller Art vollgepfropft war. Seine Kochkünste erweiterten sich von Tag zu Tag mehr, und die Sonntage feierte er einmal durch die Lektüre einiger Kapitel eines englischen Erbauungsbuches aus der kleinen Schiffsbibliothek, dann aber auch durch eine aus drei bis vier Gängen bestehende Mittagsmahlzeit. Die Austernbank hatte er ebenfalls mittlerweile recht gehörig geplündert. – –
Nun aber, nach Ablauf dieser fünf Wochen, wo es für ihn allerlei zu tun gab, stellte sich bald die Langeweile ein. Das Farbenspiel der Grotte hatte längst allen Reiz für ihn verloren. Was man täglich genießt, erscheint einem ja bald bedeutungslos. Selbst die kleinen Ausflüge in der Aluminiumjolle, die er bei Dunkelheit und ruhigem Wetter an der Küste dieses nördlichsten der Shetland-Eilande entlang unternahm, boten ihm keine Abwechslung mehr, höchstens dann, wenn damit eine kleine Gefahr insofern verknüpft war, als zuweilen die englischen Wachtschiffe so dicht vor der Insel kreuzten, daß er ihren Scheinwerfern durch geschicktes Manöverieren[2] auszuweichen versuchen mußte.
Dann sollte jedoch ein Ereignis eintreten, durch das die Sachlage mit einem Schlage eine wesentliche Änderung nach der gefährlichen Seite hin erfuhr.
Es war am 28. Juni nachmittags gegen 4 Uhr. Helmer hatte soeben die Jolle wieder am Heck seiner Prise befestigt und trug nun den mit frisch gefischten Austern gefüllten Eimer in die kleine Küche hinab. Hierbei kam er an dem Trinkwassertank vorüber, der dicht vor der Küche im Vorschiff stand. Zu seinem Schrecken sah er, daß er vorhin, als er zum Austernfang aufbrach, den Abflußhahn nicht ordentlich zugedreht hatte und daß inzwischen alles noch vorhandene Wasser ausgelaufen war und den Boden des Raumes weithin überschwemmte. Freilich – das Wasser war schon längst dumpfig gewesen und ließ sich nur noch gekocht genießen. Trotzdem – woher konnte er jetzt diesen Vorrat ergänzen, den er sowohl zum Trinken als zur Zubereitung der Speisen so notwendig brauchte?! – Das war eine böse Sorge, die noch allerlei weitere Folgen nach sich ziehen sollte.
Drei Tage lebte er ohne Süßwasser. Dann jedoch sah er ein, daß er sich nicht länger ohne dieses behelfen könne. Auch der beste Rotwein löscht auf die Dauer nicht den Durst.
Daher entschloß er sich, nach Dunkelwerden der Insel selbst einen Besuch abzustatten, um sich dort nach trinkbarem Wasser umzusehen. Schon bei seinen Ausflügen in der Jolle hatte er hinter jener Landzunge, in deren Nähe er die Toten dem Meere übergeben hatte, eine kleine Bucht entdeckt, deren flache Ufer eine Landung ermöglichten.
Gegen zehn Uhr abends brach er bei ruhigem Wetter und klarem, sternbesätem Himmel auf. Wie immer bei seinen Ruderpartien nahm er auch heute eines der englischen Militärgewehre und eine Repetierpistole mit, außerdem aber zwei große Blechkannen, die vordem kondensierte Milch enthalten hatten und die von ihm sorgfältig gesäubert worden waren.
Nachdem das Felsentor hinter ihm lag, überzeugte er sich erst mit Hilfe des Nachtglases, ob wieder ein paar der englischen Blockadeschiffe in der Nähe waren. Im Süden sah er auch auf dem Wasser einige Lichter aufblitzen, jedoch in so weiter Entfernung, daß er sie nicht weiter beachtete. Eine Viertelstunde später hatte er die Bucht erreicht, zog die Jolle an einer versteckten Stelle eine Strecke weit auf das Land, damit sie nicht etwa durch einen Zufall von den Wellen fortgetrieben würde, und schlich dann eine Berghalde hinauf, um tiefer in das Innerer der Insel hineinzugelangen. Der inzwischen aufgegangene Mond und die Sterne spendeten genügend Licht, um die Umgegend leidlich überschauen zu können. Helmer fand es sogar für eine Juninacht heute fast auffallend hell. Er wußte eben nicht, daß es auf den nördlichen der Shetland-Inseln von Ende Mai bis Mitte September nachts überhaupt kaum dunkel wird, da diese Gruppe bereits so weit nach Norden zu liegt, daß sich hier bereits eine ähnliche Erscheinung wie in den Polargegenden zeigt, wo im Sommer bekanntlich dauernder Tag ist, während die kalten Monate wieder unter ständiger Dunkelheit leiden und die Sonne ganz entbehren müssen.
Die kahle, nur hier und da von verkrüppelten Kiefern, Felsblöcken und Heidekraut bedeckte Hochebene, über die er jetzt ohne ein bestimmtes Ziel dahinwanderte, zeigte nirgends auch nur die Spur eines Wasserlaufes oder eines Teiches oder Sees. Unwillkürlich schwenkte er dann nach Süden ein, wo er in der Ferne am Abhang eines Berges ein paar Gebäude zu erkennen glaubte.
Bald sah er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Vorsichtig näherte er sich den Baulichkeiten, neben denen sich ein hoher Flaggenmast mit einem aufgezogenen Signalball erhob.
Dunkel und still lagen die Häuser da, von denen eines offenbar Wohnzwecken diente, während die drei übrigen wahrscheinlich Vorratsräume enthielten.
Jetzt hörte er auch wieder das Rauschen des Meeres stärker herüberklingen, woraus er schloß daß er sich ziemlich nahe der Küste befinden müsse, die auch hier steil abzufallen schien.
Gedeckt durch einige Kiefern, stellte er das Glas ein und betrachtete mit dessen Hilfe sorgfältig jede Einzelheit der kleinen Siedelung. Daß das Eiland bewohnt sei, hatte er nie vermutet. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, wagte er sich noch weiter vor, indem er einer Pumpe zusteuerte, die vielleicht fünfzig Meter seitwärts von den Gebäuden mit ihrem sie kennzeichnenden, gebogenen Schwengel in die Luft ragte.
Nun hatte er sie erreicht. Daß sie in Ordnung war und Wasser gab, erkannte er an dem halbgefüllten Eimer, der unter dem Abflußrohr stand.
Unter diesen Umständen bedauerte er es sehr, die beiden Blechkannen nicht gleich mitgenommen zu haben. Aber er hatte sich nicht unnötig damit schleppen wollen, weil es doch höchst ungewiß war, ob er wirklich Wasser finden würde. Nun, daran war nichts mehr zu ändern, und er mußte jetzt notgedrungen wieder zur Jolle zurück, um die Kannen zu holen.
Nach einer halben Stunde hatte er den Hin- und Rückweg, ohne sich sonderlich zu beeilen, glücklich hinter sich. Er entleerte den Eimer und hing ihn an der Nase des Abflußrohres auf. Doch die kreischenden Töne, die der schlecht geschmierte Schwengel beim Pumpen hervorrief, ließen ihn schon nach den ersten Armbeugen die Arbeit ärgerlich wieder einstellen, da er fürchtete, das in der stillen Nacht doppelt aufdringliche Quietschen der Eisenteile könnte vielleicht die Bewohner der Siedelung aufwecken und herbeilocken.
Aber was half’s. Es mußte gewagt werden, wenn auch mit größter Vorsicht. Ganz langsam hob und senkte er nun den Schwengel, indem er dabei stets nach dem Wohngebäude hinüberschielte, ob sich dort nichts rege.
Der Eimer war gefüllt und ergoß seinen Inhalt in eine der Kannen, die einen ziemlich engen Hals hatten und mit einer Schraube zu verschließen waren.
Helmer konnte jetzt berechnen, daß er noch zwei Eimer etwa vollpumpen müsse, um beide Kannen füllen zu können. Wieder glitt der Schwengel langsam, und trotzdem oft genug laut aufkreischend, auf und ab. – Der zweite Eimer. Jetzt fühlte der einsame Flüchtling sich schon sicherer!
Da – plötzlich von den Gebäuden her eine Stimme – englische Worte, die Helmer nicht verstand, weil die Entfernung zu groß war. Im Augenblick hatte er die beiden Kannen, von denen die eine kaum erst zu ein Drittel gefüllt war, ergriffen und rannte in weiten Sprüngen in der Richtung nach der kleinen Bucht zu davon. Doch das umgehängte Gewehr und die Last in seinen Händen hinderten ihn derart, daß er bald völlig außer Atem war.
In einen leichten Trab fallend, schaute er sich um, sah die Gestalten von einigen Leuten, die vor den Häusern sich hin- und herbewegten, und jagte weiter. Bald vernahm er hinter sich laute Rufe. Er achtete nicht darauf. Dann pfiff eine Kugel singend über ihn hinweg. Wieder das Gebrüll seiner Verfolger, wieder ein Schuß, der ihm galt. Er wußte: es ging um das Leben! Ergriff man ihn – wie sollte er seine Anwesenheit hier auf der Insel, wie den Besitz des Anzuges des englischen Offiziers erklären?! Man würde ihn für einen Spion halten und kurzen Prozeß mit ihm machen, denn niemals sollten die Engländer von ihm erfahren, daß dort unten in der Grotte ein völlig seetüchtiges U-Boot lag! Eher ließ er sich umbringen!
Weiter raste er. Jetzt hatte er die Bucht erreicht, stolperte die Berghalde abwärts, keuchend, mit jagenden Pulsen. Die Kannen flogen in die Jolle. Mochte diese auch ein paar Beulen abbekommen! Nun hinein ins Wasser mit ihr, die Ruder heraus und fort, nur fort.
Kaum vierzig Meter war er vom Ufer ab, als auch schon die erste Kugel ihm nachpfiff. Doch der Schütze war sicherlich nach der wilden Jagd nicht Herr seinen Glieder. Auch die folgenden Kugeln gingen bald rechts bald links an Helmer vorüber. Außerdem fuhr dieser absichtlich in einer unregelmäßigen Zickzacklinie, um dem Manne mit dem Gewehr das Zielen zu erschweren.
Die Flüche, das Schreien seiner Verfolger wurden bald undeutlicher. Und doch hatte er aus diesen Rufen, diesem wiederholten Befehl zum Halten herausgemerkt, daß englisches Militär hinter ihm her war. Jetzt wußte er, was der hohe Signalmast mit den vielen Drähten und dem Ball zu bedeuten hatte, was die Häuser vorstellten: eine englische Station für drahtlose Telegraphie, die jetzt im Kriege von Soldaten bewacht wurde.
Auch die zum Glück nutzlose Schießerei hatte aufgehört. Eine Zentnerlast fiel Fritz Helmer vom Herzen. Gerettet – wieder dem Feinde entkommen, der nun schon ein zweites Mal auf ihn Jagd machte …!
Vollständig ermattet ließ er die Ruder schleppen. Die Arme waren ihm wie abgestorben. So ruhte er zunächst eine Weile aus, nahm dann die halbleere Kanne und trank ein paar lange Schlucke. Das kühle Wasser erfrischte ihn gut. Und wieder trieb er die Jolle weiter, doch ohne sich anzustrengen. In spätestens fünf Minuten mußte er ja am Felsentor seines Schlupfwinkels angelangt sein.
Plötzlich hinter ihm ein dumpf dröhnender Knall, dem in kurzen Zwischenräumen zwei weitere folgten. Und jetzt stieg dort, wo die Signalstation lag, ein feuriger Streifen zum Himmel empor und streute dann weiße Leuchtkugeln aus, die träge abwärtsschwebten und bald erloschen.
Signale ohne Zweifel, die die Wachtschiffe aufmerksam machen sollten! Also so wichtig erschien den Soldaten der Nation der Flüchtling, daß sie sogar die Blockadefahrzeuge alarmierten!
Fritz Helmer lächelte ruhig vor sich hin. Mochten Sie nur nach ihm suchen! Auch diesen Fall hatte er längst ins Auge gefaßt, daß eines Tages sich etwas ähnliches wie jetzt ereignen könne. Deshalb waren von ihm auch alle Spuren seiner Anwesenheit in der Grotte sorgfältig beseitigt worden, deshalb hatte er die Überreste der von ihm auf dem Uferstreifen angezündeten Feuer achtsam verwischt, ebenso wie er sich gehütet hatte, Austernschalen oder sonstige verräterische Gegenstände auf den Strand der Felsenhöhle zu werfen.
Das Grottentor war erreicht, und mit angelegten Rudern glitt die Jolle hindurch und tauchte in dem Dunkel ihres unterirdischen Hafens unter. Gleich darauf war sie mit der Stahltrosse am Heck des U-Bootes festgemacht, und Helmer stieg auf das flache Deck von C 15 hinüber, holte sich die auch heute an dem Turm hängende, brennende Laterne herbei und brachte die beiden Kannen in die Küche.
Dann verschloß er von den drei Ausgangsluken, die er der Lüftung wegen sonst stets offen ließ, die auf dem Vorder- und Hinterdeck befindliche, so daß er jetzt nur die Turmluke noch zuzuschrauben brauchte, um das Boot tauchfertig zu machen.
Wieder kletterte er in die Jolle, nachdem er sich so auf jede unliebsame Überraschung vorbereitet hatte. Er wollte feststellen, wie es draußen aussah, ob die Alarmsignale vielleicht schon ihre Schuldigkeit getan hatten und der Feind nach ihm suchte.
Ganz langsam drückte er das Aluminiumboot durch die Einfahrt. Jetzt lag die offene See vor ihm. Und durch die lichte Dämmerung dieser hellen Nacht huschten wirklich die Strahlenkegel von drei Scheinwerfern von verschiedenen Schiffen hin, irrten über das Meer, tasteten hierhin und dorthin, erloschen, blitzten wieder auf: die englische Meute suchte nach der Fährte des Wildes …
Da – ein vierter Scheinwerfer von Süden her dicht an der Küste … Dazu bald das ferne Knattern eines Bootsmotors und ein dunkler Schatten auf dem Wasser, von dem der neue Lichtkegel ausging.
Immer näher kam die schlanke, schnelle Barkasse, die hinter sich die flatternde Flagge halb im Wasser nachschleppt.
Helmer ließ das Glas kaum von den Augen. Er hatte die Jolle am inneren Ausgang des Grottentores mit der Trosse festgemacht, so daß er in wenigen Minuten seine Prise erreichen und verschwinden konnte.
Der Scheinwerfer der Barkasse glitt jetzt auch die Steilküste entlang. Noch zweihundert Meter, noch hundertundfünfzig – immer kürzer wurde die Entfernung, und die Lage bedrohlicher. Entdeckten die Engländer den dunklen Felsenschlund, dann gab es nur noch eine Rettung …
Plötzlich erlosch der drohende Lichtkegel. Aber in etwa fünfzig Meter Abstand vom Uferabhang lief die Barkasse mit halber Fahrt weiter.
Nun verstummte auch der Motor. Und gleichzeitig hörte Helmer ziemlich deutlich einige Sätze in englischer Sprache, die ihm den Herzschlag stocken machten:
„Es war das Beiboot eines Unterseebootes! Das ist ebenso sicher, als der Mann ein Gewehr auf dem Rücken hatte.“
Und nach einer Weile eine andere Stimme:
„Der Fischer hätte uns auch früher etwas von der Grotte sagen können …! Jedenfalls müssen wir die Tiefe der Einfahrt abloten, ob einer von diesen verd… deutschen Haifischen da hindurchschlüpfen kann. – Scheinwerfer an. Hier irgendwo muß die Grotte zu finden sein …!“ –
Helmer ruderte schon in wilder Hast nach C 15 zurück, sprang an Deck, zog die Jolle empor und band sie mit zwei Trossen dicht und ganz kurz am Turme fest. Dann schlüpfte er in die offene Luke, verschloß eiligst den Deckel, drehte die Glühbirne im Turme an und riß am Steuerapparat einen Hebel herum, wodurch die Ventile der Hauptballasttanks geöffnet wurden und das U-Boot in drei Minuten unter der Oberfläche verschwunden sein mußte.
C 15 tauchte langsam, und mit ihm die Jolle, unter deren Sitzen Helmer die beiden Ruder festgeklemmt hatte. Dann ein Stoß, der den Stahlzylinder erbeben ließ … C 15 lag auf dem Grunde des unterirdischen Wasserbeckens, und fünf Meter Wasser trennten es nun von der Oberwelt. Diese Tiefe hatte Helmer durch Lotungen festgestellt.
Der war im Turm geblieben und starrte nun durch die dicken Glasscheiben eines der Seitenausgucks in das Dunkel hinaus.
Minuten vergingen.
Dann – ein wilder Schreck durchzuckte den Flüchtling! – – Dann verwandelte sich plötzlich das tiefe Schwarz vor dem Ausguck in ein stumpfes Graugrün …
Daß er daran nicht gedacht hatte …!! Jetzt war alles aus. Die Barkasse leuchtete mit ihrem Scheinwerfer in das Wasser hinab, und ohne Zweifel würde sie auf diese Weise C 15 entdecken, da die weißen Strahlen leicht bis in diese Tiefe drangen …
Fritz Helmers Herz jagte. In seinem Hirn wirbelten die Gedanken – – – Gab es keine Rettung?! Sollte er wirklich das U-Boot in die Hände der Feinde geraten lassen, damit diese es zur Vernichtung deutscher Schiffe benutzten …?!
Langsam kam Klarheit, scharfe Überlegung in sein Denken. Ja, einen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage sah er jetzt vor sich. Die Barkasse allein konnte gegen C 15 nichts unternehmen, sie mußte Hilfe von einem der Blockadefahrzeuge herbeiholen und diese von der wichtigen Entdeckung benachrichtigen. Zu diesem Zweck würde sie die Grotte verlassen, wenn auch nur auf kurze Zeit. Und diese kostbaren Minuten, – vielleicht waren es wirklich nur Minuten! – konnten genügen, um heimlich zu entschlüpfen … Ein anderes Mittel gab es nicht …
Der graugrüne Schimmer vor dem Ausguck wurde jetzt allmählich schwächer, ganz allmählich. Und Helmer sagte sich sofort sehr richtig, daß die Barkasse rückwärts zur Grotte hinausfahre. Möglicherweise irrte er sich. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Es mußte gewagt werden.
Er stützte in den Maschinenraum hinab und ließ den Elektromotor anlaufen, der die Hauptlenzpumpen in Bewegung setzte, die das Ballastwasser aus den Tanks entfernen.
C 15 hob sich immer mehr, reckte zuerst die Spitze des Ansatzrohres des Sehrohres, dann den Turm aus dem Wasser hervor. Da hörte der Motor zu surren auf. Helmer eilte nach oben, öffnete die Turmluke, machte die beiden Ankertrossen los und warf sie zur Seite. Die Anker zu heben, dazu hatte er keine Zeit. Nun hinein in die wieder flottgemachte Jolle, die er jetzt am Bug befestigt hatte. Er ruderte mit voller Kraft, und langsam folgte das U-Boot dem kleinen Schlepper, langsam beschrieb es einen Bogen und glitt auf die Einfahrt zu, die es dann auch, einige Male an den Felsen entlangschrammend, glücklich passierte.
Helmer drehte sich nach einer Weile auf dem Rudersitz um und schaute nach der Barkasse aus. Sie lag etwa tausend Meter von der Küste ab in südöstlicher Richtung und gab mit dem Scheinwerfer Signale – kurze Blitze und lange Blitze in unregelmäßiger Folge.
C 15 schwenkte gleich darauf nach Nordost ab, immer im Kielwasser der Jolle bleibend. Meter auf Meter entfernten beide sich von der Insel.
Dann endlich, als ihn gut zweihundert Meter von dem Felsenstrande trennten, glaubte Fritz Helmer es wagen zu dürfen, durch Maschinenkraft sich weiterbewegen zu lassen. Hier, wo ringsum freie Bahn war, brauchte er nicht zu fürchten, daß er nach Einschalten der Unterwasserfahrt-Elektromotoren, wozu er in den Maschinenraum hinab mußte, zu spät wieder in den Turm käme, um dem Steuerruder die richtige Lage zu geben. Diese Bedenken hatten ihn vorhin mit Recht davon abgehalten, zum Hinausschlüpfen aus der Grotte sich der Schiffsschrauben zu bedienen.
Die beiden kräftigen Motoren des Lake-Types begannen zu arbeiten. C 15 schoß vorwärts. Auf dem vom Wasser überspülten Deck lag wieder die Jolle fest vertäut. Und Helmer stand im Turm und drehte das Steuerruder, bis das U-Boot mit stetigem Kurse nach Nordost lief – hinein in den weiten Atlantischen Ozean. Dann legte er das Steuerrad fest, – und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich seiner Brust: bis auf weiteres konnte er sich nun frei bewegen.
So schob er denn den Oberkörper zur Turmluke hinaus und blickte sich nach dem Feinde um. Die Scheinwerfersignale hatten aufgehört. Dafür sah er in der Ferne drei dunkle Punkte über das Wasser dem Eiland zukriechen: englische Wachtschiffe! Ein vierter, die Barkasse, strebte dem Felsentor der Grotte zu, um dort dem „deutschen“ Haifisch aufzulauern. Es war kein deutscher, es war ein englischer, aber ein deutscher Jüngling befand sich darin – und das blieb die Hauptsache …! – –
Allem Anschein nach war die Flucht von C 15 nicht bemerkt worden. Trotzdem wollte Helmer vorsichtig sein. Er schloß die Luke und tauchte soweit, daß nur der Ausguck mit seiner Kappe noch über die Oberfläche hinausragte.
Es war für ihn eine schwere Aufgabe, gleichzeitig Steuermann und Maschinist zu spielen, denn je mehr das U-Boot die offene See gewann, desto stärker wurden die Wellen, die den langen Stahlzylinder immer wieder aus dem Kurse drängten. Bald nach den Motoren sehend, bald das Steuer oben im Turm bedienend, führte er C 15 in fortwährendem Zickzackkurse aus der Nähe der Shetland-Inseln.
Drei Stunden vergingen so. Der Feind und die Felseneilande waren längst unter dem Horizont verschwunden. Das Boot schlingerte und stampfte jetzt bei dem frischen Nordwest so schwer, daß Helmer eine größere Tiefe aufzusuchen beschloß. Er ließ die Ballasttanks weiter volllaufen, bis er zwanzig Meter Tiefe erreicht hatte. Hier wirkte der Seegang nicht mehr. C 15 schaukelte nur noch träge hin und her. Da stoppte Fritz Helmer die Maschinen und ließ das Boot treiben, um auszuruhen nach diesen Stunden, die jetzt wie ein böser Traum hinter ihm lagen.
Nur zwei Stunden wollte er schlafen und neue Kräfte sammeln, stellte den Wecker neben das Bett und … war auch schon eingeschlummert. Als das schrille Läuten ihn weckte, fuhr er jäh empor, blickte verwirrt um sich …
Richtig – – C 15 – – 20 Meter Tiefe – – abgestoppte Maschinen – –. Es hatte doch eine Weile gedauert, bis er sich auf alles besann.
Zunächst nahm er nun eine kräftige Mahlzeit ein und entkorkte sich dazu eine Flasche Rotwein. Die geglückte Flucht mußte doch gefeiert werden! Dann ging er in den Maschinenraum hinüber und setzte die Hauptlenzpumpen in Tätigkeit. Aber nur so weit ließ er sein Boot auftauchen, daß er mit Hilfe des Sehrohres den Horizont nach gefährlicher Nachbarschaft absuchen konnte. Weit und breit nichts – nur die langen Wogen des Atlantik mit schäumenden Kämmen, darüber klarer Himmel und die strahlende Sonne …
Der Wind schien etwas nachgelassen zu haben. Helmer ließ daher C 15 bis zur normalen Bordhöhe emporsteigen und brachte gleichzeitig die beiden Elektromotoren in Gang. Mit den Gasolinmotoren, die eigentlich für die Überwasserfahrt bestimmt waren, durfte er die Schrauben nicht antreiben, da diese Art von Kraftmaschinen einer steten Beaufsichtigung bedürfen, wozu er in seiner Doppelrolle als Steuermann und Maschinist nicht die genügende Zeit besaß.
Gleich darauf beschrieb das U-Boot eine kurze Kurve und lief dann mit südöstlichem Kurse weiter. Helmer beabsichtigte nichts anderes, als sich durch die die Nordsee absperrenden englischen Wachtschiffe hindurchzuschleichen und zu versuchen die Insel Helgoland anzulaufen, wo er dann in Sicherheit gewesen wäre.
Auch jetzt schlingerte und rollte C 15 ganz bedenklich trotz der nur mäßig bewegten See. Alle Augenblick kamen schwere Brecher über Deck und hüllten den Turm in einen dichten Regen von Wassertropfen ein.
Fritz Helmer merkte plötzlich, wie ein seltsam ödes, wehes Gefühl seine körperliche und geistige Spannkraft zu lähmen begann. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und eine von Minute zu Minute sich steigernde Übelkeit kehrte ihm förmlich den Magen um. Matt, gleichgültig und fröstelnd lehnte er an der Wand des Turmes. Immer stärker packte ihn die Seekrankheit, die durch das wilde Stampfen des von unkundiger Hand geführten Bootes hervorgerufen war. Gegen dieses oft bespöttelte Leiden, das den Menschen zu einem willenlosen, fast lebensüberdrüssigen Opfer aller möglichen Empfindungen macht, hilft in schlimmeren Fällen selbst die größte Energie nicht.
Helmer ahnte nicht, daß er nur die Hilfsballasttanks hätte zu füllen brauchen, um C 15 dieses unaufhörliche Hin- und Hertaumeln abzugewöhnen. Er wollte wieder untertauchen. Aber ein neuer Anfall warf ihn jetzt neben dem Steuerapparat auf den kalten Metallboden des Turmes nieder. Er besaß nicht mehr die Kraft, um sich aufzurichten, die Luke zu schließen und die Ventile der Haupttanks zu öffnen. Auch als jetzt aus dem Maschinenraum dumpf ein Klirren heraufschallte, als in demselben Augenblick die Schrauben zu arbeiten aufhörten, vermochte er sich nicht aufzuraffen. Ihm war alles so gleichgültig, alles …
C 15 war jetzt ein Spielball der Wellen, eine tote Masse, ein Riesenkork, über den immer wieder die Wasserberge hinweggingen. Und er war nicht mehr allein in dieser Gegend des Ozeans … In etwa 800 Meter Entfernung hatte ein anderes, von Süden kommendes U-Boot zunächst vorsichtig nur sein Sehrohr über der Oberfläche erscheinen lassen. Jetzt tauchte es auf. Matrosen bewegten sich flink auf dem niedrigen Deck, stellten das Geschütz auf, schleppten Granaten herbei. Und auf dem Turm stand der junge Kommandant, der das Glas an den Augen hatte und nun seien Leuten zurief:
„Amerikanischer Lake-Type. Also ein Engländer. Jedenfalls ist da drüben irgend etwas nicht in Ordnung. Aber wir müssen vorsichtig sein. Vielleicht will man uns nur näher heranlocken. – Zeigt die Flagge, und dann raus mit einem blinden Schuß aus dem Rohr …!“
Die deutsche Flagge flog hoch. Dumpf rollte der Donner des Schusses über das Wasser hin. –
Fritz Helmer hörte nichts. Er war da, wo er lag, vor Erschöpfung eingeschlummert.
Und dann ein betäubender Krach, der im Vorschiff ertönte und der C 15 ein Stück aus dem Wasser zu heben schien … Helmer fuhr empor, sah, daß seine stolze Prise sich immer mehr nach Backbord überneigte, vernahm das Rauschen der eindringenden Wassermassen und … war wie ein Blitz durch die Luke hindurch und oben auf dem Turm. Die Todesangst zeigte sich doch stärker als die Seekrankheit … – – Eine zweite Granate schlug dicht vor dem Boot ein …, eine deutsche Granate …
Helmer winkte mit beiden Armen, riß die Lederjacke vom Körper und schwenkte sie hin und her. Das half. Drüben wurde das Feuer eingestellt.
C 15 mußte jeden Augenblick in die Tiefe gehen. So sprang er denn vom Turme herunter in die See, schwamm den Landsleuten entgegen, die ihn glücklich auffischten und später nach einem deutschen Hafen brachten.
England aber war um ein U-Boot ärmer geworden …
Ende.
Zur Beachtung!
Infolge der enormen Steigerung des Papierpreises bringen wir die nächsten Hefte nur mit 48 Seiten Umfang, welche jedoch ebensoviel Inhalt wie die bisherigen Hefte enthalten.
Der Verlag.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Verlagswerbung:
Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:
„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“
Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:
„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“
Herr Rechtsanwalt H. in F.:
„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“
Herr Direktor G. in W.:
„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“
Herr Lehrer B. in B.:
„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“
Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:
„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“
Anmerkungen: