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Die Pirateninsel (1. Auflage)

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Pirateninsel.

 

W. Belka.

 

„Ich kann mir nicht mehr helfen, Landsmann: so ganz geheuer kommt es mir hier an Bord des „Indus“ nicht vor und zwar seit gestern, wo den chinesischen Kulis im Vorschiff ihr bronzenes, uraltes Götzenbild verschwunden ist, das sie seiner Zeit mit nach Australien geschleppt hatten und jetzt nach Beendigung ihres Kontraktes als Farmarbeiter wieder mit in die Heimat nehmen wollten, um es dort in dem Tempel am Ufer des Hsi-kiang wiederaufzustellen. Die Kulis stammen ja sämtlich aus demselben Dorfe der Provinz Kanton. Ich habe den Engländer Bellerley stark in Verdacht, daß er die Buddhastatue[1] gestohlen hat. Aus seiner Vorliebe für exotische Altertümer macht er kein Hehl, und man weiß ja, wohin eine leidenschaftliche Sammelwut führen kann. Jedenfalls ist diese Geschichte für uns Passagiere sehr unangenehm. Die Chinesen schwärmen wie ein aufgeregter Bienenschwarm umher, und ihre Gesichter besagen nichts Gutes. Ich kenne diese Gelben nur zu gut: verletzt man ihre religiösen Gefühle irgend wie, so muß man mit irgend einer aus Rachsucht ausgebrüteten Teufelei rechnen. Unter diesen Umständen ist es auch ein schwer Fehler von unserem Kapitän, daß er sich so gar keine Mühe gibt, das Götzenbild wieder herbeizuschaffen, und ein noch schwererer, die gelbe Gesellschaft mit Spott und Hohn zu behandeln, anstatt die Angelegenheit billiger Weise streng zu untersuchen. Wir dürfen nicht übersehen, daß wir gegen dreißig Kulis an Bord haben, denen nur insgesamt achtzehn Europäer gegenüberstehen, die Schiffsbesatzung und sechs Passagiere. Es dürfte daher ratsam sein, die Augen recht gut offenzuhalten. Besser ist besser …!“

„Sie übertreiben wohl etwas, lieber Herling“, meinte Doktor Möller zerstreut, da von ihm als Naturforscher die Scharen von fliegenden Fischen, die soeben neben dem Dampfer aufgetaucht waren, weit mehr beachtet wurden als des Ingenieurs von scharfer Beobachtungsgabe zeugende Ausführungen. „Freilich, Sie kennen die Verhältnisse hier in Ostasien besser als ich, der kaum ein paar Monate zu Studienzwecken auf Staatskosten diese Hälfte unserer Erdkugel besuchen durfte“, fügte er dann hinzu, ohne jedoch seine Blicke von den seltsamen Wasserbewohnern losreißen zu können, die immer wieder in weitem, oft zwanzig Meter betragendem flugähnlichen Sprunge über die Oberfläche des Meeres hinwegschossen.

Die beiden Deutschen – die übrigen Europäer an Bord des „Indus“ gehörten sämtlich anderen Nationen an – saßen in ihren bequemen Liegestühlen dicht an der Reling im Schatten der Kommandobrücke. Der noch ziemlich neue, eiserne Frachtdampfer war vor einer Woche aus dem kleinen Hafen von Port Hedland in Nordwestaustralien abgefahren und wollte zunächst seine aus Schafwolle bestehende Ladung nach Kolombo auf Ceylon bringen. Bis dorthin hatten auch Herling und Doktor Möller die Passage bezahlt. Sie waren zufällig in Port Hedland miteinander bekannt geworden und hatten dann beschlossen, gemeinsam die Heimreise nach Europa zurückzulegen, da beider Aufgaben hier erledigt waren.

Mit dem Rücken nach dem Eingang zu den Passagierkabinen sitzend, hatten sie nicht bemerkt, daß ein dicker, in ein reichgesticktes seidenes Nationalgewand gekleideter Chinese bereits mit den ersten Worten seiner von einer gewissen Besorgnis erfüllten Ausführungen über den an Bord vorgekommenen Diebstahl begonnen hatte. Kung-Fo, ein reicher Perlenhändler aus Kolombo, war in Port Hedland noch in letzter Minute mit zwei großen Koffern und drei Dienern auf dem Dampfer erschienen, hatte die teuerste Kabine belegt und ruhig den unverschämten Preis bezahlt, den der geschäftstüchtige Kapitän, ein geborener Amerikaner und daher ein Verächter aller Farbigen, dafür verlangte.

Jetzt trat Kung-Fo ein paar Schritte zurück, stieß absichtlich mit dem Fuß gegen einen leeren Schiffsstuhl und redete dann die beiden Deutschen, deren Köpfe unwillkürlich herumgefahren waren, in tadellosem Englisch an.

„Ich bitte sehr um Verzeihung, wenn ich die Herren erschreckt habe“, sagte er bescheiden, sein speckig glänzendes Vollmondgesicht in unterwürfige Falten legend.

Herling, der sich ebenso wie Möller schon häufiger mit dem weitgereisten und gebildeten Chinesen unterhalten hatte, ließ sich auch jetzt in ein Gespräch mit ihm ein, in dessen Verlauf der Ingenieur sehr geschickt den Diebstahl des Götzenbildes berührte und Kung-Fo schließlich fragte, ob dieser nicht auch der Ansicht sei, daß es leicht zu Unruhen unter den Kulis kommen könne, falls der Kapitän nicht seine Pflicht tue und die Sache streng untersuche.

Der reiche Kaufmann, an dessen wohlgepflegten Händen eine ganze Anzahl kostbarer Brillantringe glänzte, schüttelte jedoch lächelnd den Kopf.

„Sie brauchen nichts zu fürchten, meine Herren, wirklich nicht!“ meinte er eifrig. „Ich komme soeben vom Vorderdeck, wo ich meine Landsleute nach Möglichkeit beruhigt habe. Nein – seien Sie ganz unbesorgt, für Sie besteht keinerlei Gefahr.“

Dem hellhörigen Ingenieur entging es nicht, daß der Chinese immer nur betonte, daß gerade sie, die beiden Deutschen, keine Ursache zur Besorgnis hätten. Weit unverfänglicher wäre es gewesen, wenn Kung-Fo sich allgemeiner ausgedrückt und von den ganzen Schiffsinsassen gesprochen haben würde. Trotzdem aber hütete Herling sich, hierüber irgend eine Äußerung zu machen. – –

Eine Stunde später war die Sonne unter dem Horizont verschwunden. Und gleich darauf meldete der Schiffsjunge, daß die Abendmahlzeit in dem kleinen Speisesaal angerichtet sei.

Der Chinese hatte seinen Platz an der Tafel neben Doktor Möller, der wieder links von dem Ingenieur saß. Ihnen gegenüber rekelte sich auch heute wieder Thomas Bellerley, der Altertumsliebhaber, in echt britischer selbstherrlicher Nachlässigkeit auf seinem Stuhl und machte seine Witze über die Kulis, die dem verschwundenen Buddhabildnisse nachtrauerten „wie räudige Köter einem fetten Knochen, der ihnen ins Wasser gefallen ist“. Seinen ebenso rohen wie geistlosen Bemerkungen pflichtete der Kapitän stets mit dröhnendem Lachen bei, indem er des öfteren betonte, es tue ihm schon sehr leid, daß er diese dreckige Kulibande überhaupt an Bord genommen habe.

Kung-Fo tat auch jetzt so, als ob er diese Schmähungen seiner Landsleute gar nicht höre, unterhielt sich lebhaft mit Doktor Möller und warf nur zuweilen einen schnellen Blick zu Bellerley hinüber, der ihn völlig als Luft behandelte. –

Es war gegen elf Uhr abends. Die beiden Deutschen, die eine gemeinsame Kabine bewohnten, wollten gerade ihre schmalen Kojenbetten aufsuchen, als leise an die Tür geklopft wurde. Auf Herlings Frage, was denn los sei, meldete sich der reiche Chinese, bat um Einlaß und schlüpfte dann schnell in den kleinen Raum, sorgfältig die Tür hinter sich zuziehend.

„Entschuldigen Sie diese späte Störung“, begann er sofort in vorsichtigem Flüsterton. „Ich komme jedoch, um Sie zu warnen, meine Herren. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Kulis in dieser Nacht versuchen werden, mit Gewalt in Master Bellerleys Kabine einzudringen, den sie für den Dieb der Buddhastatue halten. – Besitzen Sie eigentlich Schußwaffen? – So – also zwei Revolver. Dann würde ich Ihnen raten, diese zur Hand zu nehmen. Man kann nicht wissen, ob es nicht zum Kampfe kommt. Meine Landsleute befinden sich in einer Wut, die das Schlimmste befürchten läßt. Leider habe ich mich in ihnen getäuscht. Meine Beschwichtigungsversuche waren doch umsonst.“

Die beiden geladenen Revolver lagen griffbereit unter den Kopfkissen der Betten. So hatte es Herling gewollt, der dem Doktor gleich nach dem Abendessen mitgeteilt hatte, daß er den Kulis durchaus nicht traue, zumal Kung-Fo sich in so unbestimmter Weise über die Sicherheit auf dem Dampfer geäußert habe.

Als der Ingenieur jetzt dem Perlenhändler mit einer vielsagenden Gebärde die Revolver zeigte, indem er die Kissen ein wenig lüftete, geschah etwas ganz Unerwartetes. Mit einer Schnelligkeit, die niemand dem dicken Chinesen zugetraut hätte, bemächtigte sich dieser der Waffen, deren Mündungen er sofort drohend auf die beiden völlig überrumpelten Deutschen richtete.

„Keinen Laut!“ flüsterte er gleichzeitig, wobei sein schwammiges Gesicht plötzlich einen vollkommen anderen Ausdruck, den zielbewußter Energie und rücksichtsloser Entschlossenheit, annahm. „Ihnen wird nichts geschehen, wie ich schon einmal betonte! Verhalten Sie sich ruhig, so überleben Sie diese Nacht. Wenn nicht – nun, ich drohe nie umsonst. Diese Revolver hier habe ich Ihnen nur deswegen abgenommen, damit Sie keine Dummheiten machen. Setzen Sie sich dort auf das untere Bett. So …! Und … schweigen Sie!“

Es war eine seltsame Lage für die beiden Deutschen. Alles war so urplötzlich gekommen, daß sie jetzt willenlos gehorchten. Ihnen gegenüber, sie stets scharf im Auge behaltend, lehnte der Chinese an der Kabinentür, in jeder seiner halb vorgestreckten Hände einen Revolver haltend.

Einige Minuten verstrichen so. Dann knallte oben am Deck ein Schuß, dem lautes Geschrei, wildes Hin- und Herrennen und weitere Schüsse folgten. Bald wurde es auch in dem Gange, auf den die Türen der Passagierkabinen mündeten, lebendig. Man hörte Bellerleys schneidende Stimme, der fluchend irgend welche Gegner zurückzudrängen schien. Abermals Schüsse, jetzt in nächster Nähe, dann dumpfe, dröhnende Schläge, Splittern und Krachen von Holz, dazwischen wieder des Kapitäns tiefer Baß, der jedoch nach dem blechernen Pengpeng einiger Pistolenschüsse schnell verstummte.

Leichenblaß saßen Herling und Möller auf dem Bettrand. Und mit einem rätselhaften Lächeln um die Lippen stand Kung-Fo vor ihnen, kaltblütig dem Lärm des Kampfes lauschend.

Dann hatte er blitzschnell die Kabinentür aufgerissen, den von innen steckenden Schlüssel herausgezogen und war verschwunden. Der Riegel des Schlosses knackte. Die Deutschen waren gefangen.

„Was bedeutet das alles?!“ stöhnte der Doktor auf, indem er krampfhaft seines Leidensgefährten Arm packte.

„Piraten!!“ erwiderte Herling kurz. „Die Kulis sind alles andere, nur nicht harmlose Farmarbeiter. Und unser Freund Kung-Fo ist der Anführer dieser Bande, die nach einem hier nicht unbekannten Rezept vorgeht. Uns hat er schonen wollen, – das ist klar. Wir können uns gratulieren, daß wir ihn unbewußt stets so anständig behandelt haben.“ – –

Eine Viertelstunde später war es auf dem Schiff wieder ziemlich ruhig geworden. Nur leise schleichende Schritte waren auf dem Kabinengange noch zuweilen zu hören und Geräusche wie Plätschern von Wasser, die darauf schließen ließen, daß man draußen die Spuren des Überfalles zu beseitigen suchte.

Das dumpfe, ferne Dröhnen der Schiffsmaschine hatte inzwischen nicht einen Augenblick aufgehört. Wieder verging eine halbe Stunde. Dann vor der Kabinentür Kung-Fo’s[2] Stimme, laut, befehlend:

„Legen Sie sich ruhig schlafen. Ich stehe für Ihre Sicherheit ein!“

Aber die beiden Gefangenen taten trotzdem kein Auge zu. Endlich dämmerte der Morgen herauf. Herling schob die Vorhänge der kleinen, runden Kabinenfenster beiseite. Die ersten Sonnenstrahlen zuckten über die unendliche Fläche des Indischen Ozeans hin. Die See lag, nur von einer leichten Dünung bewegt, fast wie ein glatter Spiegel da.

Gegen sieben Uhr erschien Kung-Fo und teilte den Deutschen mit, daß es ihnen vorläufig gestattet sei, sich frei an Bord zu bewegen. Auf des Ingenieurs Frage, was später mit ihnen geschehen würde, zuckte er nur schweigend die Achseln.

Drei Tage vergingen, in denen der Dampfer, der vordem einen nordwestlichen Kurs eingehalten hatte, direkt nach Westen steuerte. Hatte man bisher die der Insel Sumatra westlich vorgelagerten Eilande zur Rechten gehabt, so ließ man diese jetzt gerade hinter sich und eilte mit voller Maschinenkraft auf die Ostküste Afrikas zu. Inzwischen hatten die beiden Leidensgefährten längst festgestellt, daß von der Besatzung und den Passagieren des „Indus“ außer ihnen nur noch der Steuermann, der Maschinist und zwei Heizer am Leben waren, mit deren Hilfe Kung-Fo das erbeutete Schiff einem unbekannten Ziele entgegen führte.

Am Abend des dritten Tages tauchte in der Fahrtrichtung des Schiffes eine kleine Inselgruppe auf, die rings von einem breiten Gürtel von Klippen und Korallenriffen umgeben war.

Kung-Fo, der offenbar recht gute seemännische Kenntnisse besaß und hier sehr genau Bescheid zu wissen schien, leitete wie ein kundiger Lotse den Dampfer durch die Untiefen hindurch und ließ dicht vor dem mittelsten der fünf Eilande Anker werfen. Dann wurde die Jolle (kleines, höchstens für drei Mann berechnetes Boot) zu Wasser gebracht, und einer der Kulis, die jetzt sämtlich mit Dolchen und Revolvern bewaffnet waren, kletterte hinein.

Herling und der Doktor, die an der Backbordreling lehnten und mit einer gewissen ängstlichen Neugier nach der von dichten Wäldern bedeckten Insel hinüberschauten, wurden jetzt von Kung-Fo angesprochen, der sich ihnen mit seinen lautlosen Katzenschritten genähert hatte.

„Es tut mir leid, daß wir uns nunmehr trennen müssen. Ich habe Ihnen das Leben geschenkt, obwohl dies eigentlich eine Gutmütigkeit ist, die sich bitter rächen kann. Länger darf ich Sie jedoch nicht an Bord behalten. Sie werden jetzt sofort zu einer Insel hinübergerudert werden, die ich Ihnen zum Aufenthalt bestimmt habe. Diese Gruppe von Eilanden hier liegt südöstlich der Tschapos-Inseln weit ab von jedem Verkehr. Den meisten Seeleuten dürfte sie ganz unbekannt sein. Ob Sie also je wieder in bewohnte Gegenden gelangen werden, ist sehr die Frage. Immerhin können Sie aber mit Ihrem Lose zufrieden sein. Die Insel wird Ihnen alles bieten, um nicht an Hunger und Durst zugrunde zu gehen, falls, – ja, falls Sie den Gefahren entrinnen, die dort auf den Unvorsichtigen lauern. Mehr sage ich nicht. – Leben Sie wohl!“

Der Doktor wollte sich aufs Bitten verlegen. Aber Herling wies ihn sofort zurecht.

„Lassen Sie das! Es ist unter unserer Würde, einem vielfachen Mörder gegenüber uns schwach zu zeigen. – Kommen Sie – wir müssen gehorchen. Es hilft nichts!“ – Er hatte deutsch gesprochen, um von dem Chinesen nicht verstanden zu werden.

Gleichgültig, kalt und grausam stand Kung-Fo vor ihnen. Diesem Pirat war der vorbildliche Vertreter jenes Volkes, dessen Bedürfnislosigkeit, listige Schlauheit, Gefühlsarmut, Habsucht und Verachtung des Wertes von Menschenleben auf der ganzen östlichen Halbkugel gefürchtet ist. Herling war schon oft genug mit Chinesen jeden Bildungsgrades zusammengekommen, hatte sich aber stets durch deren Unterwürfigkeit und aalglatte Höflichkeit bestechen lassen und daher bis jetzt viel zu gut von ihnen gedacht. Nun waren ihm die Augen geöffnet worden. Einen letzten Blick tiefster Verachtung warf er noch Kung-Fo zu, dann kletterte er in die Jolle hinab. Und zögernd folgte ihm Doktor Möller, der noch den Versuch gemacht hatte, den Piraten dazu zu bewegen, ihnen wenigstens ihr Gepäck mitzugeben.

Wieder hatte da Kung-Fo’s Lippen das alte Rätsellächeln umspielt.

„Ich schenke Ihnen das Leben – das ist mehr als genug!“ war seine Antwort gewesen. –

Die Jolle stieß vom Schiffe ab. Inzwischen hatte die Sonne beinahe den östlichen Horizont erreicht. Der riesige Kuli, der nur eines der Ruder gebrauchte, indem er es bald auf dieser, bald auf jener Seite eintauchte, trieb das Boot geschickt einer schmalen, felsigen Landzunge zu, die etwa fünfzig Meter weit in das Wasser hinaus ragte, legte dann an der äußersten Spitze an und zwang die beiden Deutschen unter rohen Schimpfworten zum Aussteigen.

Herling wäre dem Burschen am liebsten an die Kehle gefahren. Aber er bezwang sich und sprang mit einem Satz an das Ufer, indem er auf Deutsch dem Doktor zurief: „Vorwärts! Gönnen Sie den gelben Schurken nicht den Genuß, uns verzagt und ängstlich zu sehen!“

Die Jolle entfernte sich schnell nach dem Dampfer zu und wurde wieder an Bord gehißt. Gleich darauf lichtete der „Indus“ den Anker und dampfte nach Osten davon, wo er bald, nur noch einen langen Rauchstreifen zurücklassend, verschwand.

Stumm hatten die beiden Zurückbleibenden dem Schiffe nachgeschaut. Jetzt wandte Herling sich mit energischer Bewegung dem Landsmanne zu und sagte, indem er ihm die Hand hinstreckte:

„Lassen Sie uns gute Kameradschaft halten, Möller! Und – vertauschen wir das förmliche „Sie“ mit dem vertraulicheren „Du.“ Wir sind hier völlig aufeinander angewiesen. Da fallen am besten alle Kulturhemmungen weg!“

So begannen sie denn ihr abenteuerliches Robinsondasein mit einem festen Händedruck.

Dann sagte der Ingenieur, dem Möller gern als dem Älteren und praktischer Veranlagten die Führung überließ:

„In einer Viertelstunde ist es dunkel. Unter diesen Umständen halte ich es für am besten, wenn wir, eingedenk der Warnung des Chinesen, zunächst die Nacht über hier bleiben. Freilich – sehr gemütlich ist diese kahle Halbinsel nicht. Da vor uns sehe ich aber ein paar Felsen, zwischen denen wir vielleicht einen passenden Lagerplatz finden.“

Langsam, sich vorsichtig umschauend, schritten sie über den steinigen, ziemlich jäh ansteigenden Boden der Felsengruppe zu. Dort angelangt, zeigte Herling auf drei hohe Blöcke, die eng aneinander standen und einen kleinen, dreieckigen Platz einschlossen. Eines dieser Felsstücke besaß einen fast bis auf den Boden reichenden Spalt, der gerade breit genug war, um einen Menschen hindurchzulassen.

„Einen besseren Schlupfwinkel können wir uns kaum denken“, meinte der Ingenieur gutgelaunt, indem er eine Zuversicht heuchelte, die nur dazu dienen sollte, den mutlosen Doktor etwas aufzurichten. Dabei steckte er den Kopf in den Spalt hinein und schaute sich diesen gut geschützten Ort genauer an.

„Eine Wohnung hätten wir für’s erste also gefunden“, erklärte er dann, sehr befriedigt von dem, was er sah. „Der Boden ist glatt und trocken, und wenn wir uns ein Feuer anzünden, werden wir’s ganz behaglich haben.“

Plötzlich fuhr er jedoch mit einem leisen Schreckensruf zurück und rief erregt:

„Unser Quartier hat schon eine Bewohnerin, wie ich zum Glück noch rechtzeitig bemerkt habe. Da hinten in der Ecke erschien soeben der Kopf einer Brillenschlange in einem Loche des Gesteins. Merkwürdig, daß dieses Reptil auf der Insel vorkommt. Auf so weltentlegenen Eilanden trifft man gefährliches Ungeziefer dieser Art sonst niemals an. – Nun – wir werden die Giftschlange sehr bald ausgeräuchert haben. Laufe doch mal zum Strande hinab, lieber Doktor, und hole etwas trockenen Seetang und Treibholz herbei, das ich dort herumliegen sah.“

In wenigen Minuten war Möller wieder mit einem Arm voll Brennmaterial zurück, und der Ingenieur nahm nun seine Streichholzbüchse zur Hand, suchte ein paar von der Sonne völlig ausgedörrte Holzstückchen heraus und setzte sie in Brand. Dann flog ein stark qualmendes Bündel, aus dem hier und da Flammen aufzüngelten, in jene Ecke hinein, wo vorhin der häßliche Kopf des Reptils erschienen war.

Das Mittel half. Mit einem Mal wand sich blitzschnell ein Schlangenleib über den von gelbem Rauch verschleierten Felsboden hin und reckte sich gleich darauf vor dem den Eingang dieses Schlupfwinkels bildenden Felsspalt in die Höhe, glitt über den rissigen Stein lautlos weiter und suchte das Freie zu erreichen. Doch schon flog ein gutgezielter Stein aus des Ingenieurs wurfbereit erhobener Hand und brach diesem wegen seiner Giftigkeit in Indien so überaus gefürchteten Reptil das Rückgrat dicht unterhalb der breiten Haube, auf der diese Schlangenart die merkwürdige, helle Zeichnung trägt, die mit einer Brille tatsächlich einige Ähnlichkeit, und ihr den recht zutreffenden Namen gegeben hat. Ein zweites Felsstück zerschmetterte dem jetzt wehrlosen Tiere, das in höchster Wut seine Haube aufblies und laute Zischtöne ausstieß, den Kopf.

Schon wollte Herling den gut zwei Meter langen Leib am Schwanzende ergreifen und fortschleudern, als ein Warnungsruf des Doktors ihn noch zur rechten Zeit aufblicken ließ.

Eine zweite Brillenschlange war in dem Spalt aufgetaucht, schoß in höchster Eile vorwärts und hätte beinahe den vorgestreckten rechten Fuß des Ingenieurs erreicht, wenn dieser sich nicht durch einen gewandten Sprung nach der Seite hin in Sicherheit gebracht haben würde.

Weit kam auch dieses Reptil nicht. Ein förmliches Steinbombardement, an dem sich auch Möller kampflustig beteiligte, machte es bald unschädlich. Vorsichtigerweise setzte Herling dann aber die Ausräucherung des dreieckigen, etwa acht Quadratmeter großen Platzes noch eine ganze Weile fort, bevor er ihn zu betreten und aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen wagte.

Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen. Mit einer aus dünnen, hellbrennenden Zweigen hergestellten Fackel in der einen und einem großen Stein als Waffe in der anderen Hand untersuchte der Ingenieur jetzt diesen von den drei gut einige Meter hohen, schroff abfallenden Felsblöcken umgebenen Ort, an dem sie diese erste Nacht auf der Insel zubringen wollten. Er fand nur noch ein paar harmlose Eidechsen, die von dem starken Qualm halb betäubt waren und nun ihre bisherige Behausung zwangsweise räumen mußten.

Dann sammelten die beiden Leidensgefährten am Strande eine genügende Menge trockenen Seetangs für ihre Lagerstätten und ebenso einen Haufen Brennholz. Hierbei stießen sie auf ein paar große Schildkröten, die die Nacht zu einem Jagdzuge am Ufer benutzten. Herling nahm zwei dieser Panzertiere gleichfalls mit, da er hoffte, daß ihr über dem Feuer geröstetes Fleisch eine einigermaßen genießbare Mahlzeit abgeben würde.

Nachher, als sie in ihrer engen Behausung neben dem hellen Feuer saßen und der Ingenieur geschickt Stücke Schildkrötenfleisch, auf Zweige gespießt, über den Flammen drehte, besprachen sie ruhig und gefaßt ihre traurige Lage. Besonders Herling, der schon viel in der Welt herumgekommen war, zeigte hierbei eine Zuversicht an der sich auch der kleinmütige Doktor ein Beispiel nahm.

Am 2. Juni 1905 um acht Uhr abends hatten sie die Insel betreten. Dies notierte sich Möller in dem kleinen Büchlein, das sich als Einlage in seiner Brieftasche befand, wie er auch später täglich in seinem Taschenkalender jeden verflossenen Tag ausstreichen wollte, damit sie über die Zeitrechnung nicht ins Unklare kamen.

Im Laufe dieser Unterhaltung, bei der allerlei Zukunftspläne geschmiedet wurden, meinte Herling mit einem gewissen Galgenhumor:

„Jedenfalls haben wir es bedeutend besser als der berühmte Robinson Krusoe, lieber Doktor. Der landete nur wenig bekleidet, ich glaube im Hemde, auf seinem Eiland. Wir dagegen besitzen allerlei, was uns den Beginn unseres Insulaner-Daseins wesentlich erleichtert! Zwei gute, blaue Anzüge, feste Schnürschuhe, Schirmmützen, Unterwäsche, 38 Zündhölzer, wie wir soeben festgestellt haben, zwei Uhren, zwei Taschenmesser, Papier, Bleistift und … erfinderische, mit mancherlei Kenntnissen vollgepfropfte Köpfe, deren Aufgabe es sein wird, alles das aus den auf der Insel vorhandenen Naturerzeugnissen zu schaffen, was zu einem bequemen Leben gehört. Meine technischen Erfahrungen und Deine Beschlagenheit auf dem Gebiete der Naturwissenschaften werden uns noch sehr dienlich sein. Wie gesagt, ich habe bereits eine Unmenge Pläne, die sich sicherlich durchführen lassen. Wenn nur erst die Nacht zu Ende wäre und wir unser kleines Reich genau in allen Teilen in Augenschein nehmen könnten! Ich bin außerordentlich gespannt darauf, womit das Eiland uns überraschen wird. Ohne Frage mit Angenehmem und weniger Angenehmem. Zu letzterem rechne ich die Schlangen, von denen es hier nach unseren bisherigen Erfahrungen eine ganze Menge geben muß. Ob der schuftige Kung-Fo etwa dieses kriechende Gewürm gemeint hat, als er andeutete, daß die Insel nicht ganz ungefährlich sei …?! – Fast möchte ich es annehmen. Nun – morgen werden wir uns ja davon überzeugen. – So – dieses Schildkrötenfleisch dürfte gar sein. Probieren wir es. Mir wird es schon schmecken, denn ich habe wütenden Hunger.“ – –

Mitten in der Nacht erwachte der Doktor über einem ihn schwer ängstigenden Traum, fuhr von seinem Lager empor, starrte wild um sich und fand sich erst langsam in die Wirklichkeit zurück. Das Feuer war dicht am Erlöschen. So legte er denn schnell frisches Holz auf die Glut, blies hinein und freute sich, als die aufzuckenden Flammen die Dunkelheit verscheuchten.

Über ihm glänzte der sternbesäte, südliche Nachthimmel. Die Luft war lau und erfüllt von allerlei würzigen Gerüchen tropischer Pflanzen, die auf dem Eiland in reicher Zahl vorkommen mußten, um ihre Düfte bis hierher abgeben zu können. Leise rauschten die Wellen gegen den Strand, und von dem äußeren Riffgürtel klang auch das Geräusch der Brandung in steter gleichmäßiger Stärke wie fernes Brausen herüber.

Herling, der einen sehr leisen Schlaf hatte, war inzwischen ebenfalls erwacht. Auf seine Frage, ob irgend etwas Besonderes sich ereignet habe, gab der Doktor eine beruhigende Antwort.

Dann hob der Ingenieur plötzlich lauschend den Kopf. In das Geräusch der Wellen mischte sich das Quietschen schlecht geölter Ruderdollen. Diese in gleichmäßigen Zwischenräumen sich wiederholenden, unverkennbaren Töne brachten Leben in die beiden Gefährten. Mit ein paar schnellen Schritten war Herling als erster im Freien. Der helle Sternenschein, der sich in dem nur leichtbewegten Binnenwasser zwischen den Inseln widerspiegelte, gestattete eine ziemlich weite Fernsicht. So erkannten die beiden Deutschen auch ganz deutlich ein großes Schiffsboot mit weißem Bordanstrich, das, vorwärtsgetrieben von fünf Männern, keine zweihundert Meter entfernt vorüberschoß. Auf der Steuerbank saß eine einzelne Person, und der Ingenieur hätte darauf schwören mögen, daß es der dicke Kung-Fo war, der da in Rufweite vorbeifuhr. Doch so laut Herling und der Doktor auch ihr „Boot ahoi!“ in die silberne Dämmerung dieser Tropennacht hinausschickten, keine Antwort kam zurück. Unaufhaltsam entfernte das langgestreckte Fahrzeug sich, das Quietschen der Dollen wurde leiser und leiser und verstummte schließlich ganz, ebenso wie auch das Boot selbst bald zu einem kleinen Fleck zusammenschmolz, der in derselben Einfahrt zwischen den Riffen untertauchte, durch die am vergangenen Abend der von den Piraten eroberte Dampfer hindurchgelotst worden war.

Herling wandte sich jetzt dem Doktor zu, der eben enttäuscht aufgeseufzt hatte.

„Lieber Möller, Du verlangst zuviel, wirklich!“ meinte er halb scherzend. „Sollte etwa unser Robinsonleben bereits nach sieben Stunden zu Ende sein?! Jetzt haben wir nämlich genau drei Uhr morgens. – Gewiß, ich gebe zu, daß auch ich einen Augenblick hoffte, ein glücklicher Zufall könne vielleicht ein Schiff hierher geführt haben, das draußen in der offenen See irgendwo ankert. Letzteres wird ja auch der Fall sein. Aber das Schiff ist eben unser alter „Indus“, den der Piratenkapitän aus irgend welchen mir noch nicht klaren Gründen heimlich bei Dunkelheit wieder die Gruppe anlaufen ließ. Nur so ist es erklärlich, daß das Boot von uns nichts wissen wollte.“

Sich nochmals schlafen zu legen, lohnte nicht recht, da die Morgendämmerung sehr bald eintreten mußte. So setzten sich die Freunde denn auf eine Felsplatte hin und zündeten sich jeder eine von den fünf Zigarren an, die Möller noch in seiner Basttasche bei sich trug.

Der Ingenieur sprach von der Besichtigung des Eilandes, die sie vornehmen wollten, sobald es hell genug geworden war. Er verhehlte hierbei dem Gefährten gegenüber nicht, daß dieser Ausflug für sie, da sie ja außer ihren Taschenmessern keine Waffen besaßen, nicht ganz ungefährlich sei, hauptsächlich der Giftschlangen wegen, gegen deren Biß es keine Rettung gab. Deshalb schlug er vor, sie sollten sich aus passenden Felsstücken, die man an starke Äste des Treibholzes, das reichlich am Strande lag, binden konnte, eine Art von Keulen anfertigen.

Dies taten sie auch, nachdem der Horizont im Osten lichter und lichter geworden war und die Sonne jeden Augenblick erscheinen mußte. Die Frage nach geeigneten Riemen, um die Steine an dem Holze zu befestigen, löste Herling auf sehr einfache Weise, indem er den beiden Brillenschlangen die Haut abzog, eine Arbeit, bei der ihm der Doktor gern half, da dieser hierin als Zoologe von seinen Studien her nicht ganz unerfahren war. Die Schlangenhaut ergab eine Menge fester Streifen, mit denen Herling dann längliche, scharfkantige Steine an den vorher glatt geschnitzten Ästen so geschickt festband, daß die Freunde jetzt zwei gar nicht zu verachtende Hiebwaffen besaßen.

Nachdem sie abermals eine Mahlzeit von geröstetem Schildkrötenfleisch eingenommen hatten, traten sie den Weg nach dem Innern der Insel an.

Die Landzunge, auf der der Chinese sie hatte aussetzen lassen, erstreckte sich ziemlich genau nach Süden hin. Sie bestand aus kahlem grauen Gestein, auf dem nur hier und da ein paar spärliche Gräser wuchsen. Die tropische Flora (Pflanzenwelt) der Insel begann erst etwa fünfzig Meter vom Strande entfernt, der, bald sandig, bald steinig, langsam anstieg und in einen von Schlinggewächsen dicht durchsponnenen Eichenwald überging, dessen Unterholz sich zumeist aus Nutzpflanzen, Indigo-, Baumwoll- und Tabaksträuchern, zusammensetzte.

An einer lichteren Stelle drangen die beiden Robinsons sehr vorsichtig in diesen Wald ein, zumal auch hier bis zu zwei Meter hohe Gräser und Farne wucherten, für kriechendes Gewürm ein nur zu gutes Versteck. Aber ohne Zwischenfall hatten sie bald den Eichenhain passiert und betraten nun eine flache Ebene, die mit Gras und mancherlei in Gruppen stehenden Sträuchern bedeckt war. Kaum hatten sie hier jedoch einige dreißig Schritte, stets sorgsam sich umschauend, zurückgelegt, als der Doktor seitwärts auf eine kleine, kahle Bodenerhebung deutete, von der sich deutlich der eng zusammengeringelte Leib einer großen Schlange abhob.

„Eine Tigerschlange“, flüsterte Möller leise. „Der hellbraune, dunkelgefleckte Leib ist unverkennbar. Sie gehört zur Familie der sogenannten Riesenschlangen. Dieses Reptil ist ohne Frage gut seine acht Meter lang. – Komm’, laß uns weitergehen. Giftig ist sie ja nicht, aber dafür besitzt sie Muskelkräfte, mit denen sie uns zu Brei zerdrückt.“

Doch Herling blieb trotzdem stehen. Noch nie hatte er ein so gewaltiges Exemplar von Riesenschlange gesehen. Das Tier schien zu schlafen. Regungslos lag es da. Nur an einer Stelle, wo der Leib unförmig aufgeschwollen war, konnte man unter der Haut etwas wie eine Bewegung bemerken.

„Sie verdaut gerade eine Beute, die sie mühsam hinabgeschlungen hat“, sagte der Ingenieur jetzt, indem er auf die Anschwellung deutete. „In diesem Zustande sollen die Riesenschlangen ziemlich schwerfällig sein. Eigentlich hätte ich Lust mit ihr anzubinden. All dies Gewürm müssen wir ja notwendig vertilgen, bevor wir es wagen dürfen, uns frei und ungehindert auf der Insel zu bewegen.“

Der ängstliche Doktor wollte Einwendungen erheben, doch Herling hatte schon seine Keule erhoben und schlich lautlos näher heran. Der Kopf der Tigerschlange ruhte flach auf einem der unteren Ringe des Knäuels. Noch ein Schritt, und der waghalsige Ingenieur ließ mit voller Kraft die scharfe Steinkante seiner Waffe auf den Schädel des Reptils niedersausen, sprang aber sofort mit weitem Satz zurück, – keinen Augenblick zu früh! Wie ein Blitz hatte das schwer getroffene Tier, dessen Kopf nur noch halb mit dem Körper zusammenhing, sich aufgeringelt und hoch aufgerichtet. Es war ein scheußlicher Anblick, wie jetzt das Blut bei jeder der unsicheren Pendelbewegungen des Oberkörpers in doppeltem Strahl aus der klaffenden Wunde hervordrang und den gefleckten Leib schnell mit roten Streifen übersäte. Zu einem Angriff auf die beiden Männer, die aus sicherer Entfernung diesen Todeskampf des mächtigen Reptils beobachteten, war dieses offenbar nicht mehr im Stande. Immer mehr sank der Körper in sich zusammen, bis auch der halb losgetrennte Kopf die Erde berührte. Noch ein paar wilde Zuckungen, unter denen der Leib sich zu seiner ganzen Länge ausreckte, – dann war das Riesentier verendet.

„Diese Beute liefert sicher sehr gute und sehr zahlreiche Riemen“, meinte Herling gleichmütig. „Ich werde ihr nachher die Haut abziehen. Vielleicht läßt sie sich auch noch zu anderen Zwecken verwenden.“

Hierauf setzten sie ihre Wanderung fort. Wenige Minuten später standen sie dann am Ufer eines vielleicht vier Meter breiten Baches, der nach Westen zu dem Meere entgegenströmte. Das Wasser war klar und verhältnismäßig kühl, und erfreut löschten die beiden Gefährten hier ihren Durst, der sie schon recht heftig gequält und den auch der Genuß einiger vorhin gepflückten Melonen nicht gemildert hatte.

Am Ufer des Baches aufwärts schreitend, gelangten sie bald in eine sumpfige Niederung, die stellenweise von dichten Bambusbeständen von riesiger Höhe bedeckt war. Hier und da besaßen die gelben Stengel eine Länge von zehn bis zwölf Meter, und der Ingenieur konnte sich bei diesem Anblick nicht die Bemerkung ersparen, daß Bambus das beste Material für eine feste Hütte biete. Doch der Doktor hörte kaum hin, sog vielmehr schnüffelnd die Luft ein und meinte schließlich:

„Hier in der Nähe muß irgendwo ein verwesender Tierkadaver liegen. Riechst Du’s nicht, – das duftet ja geradezu fürchterlich!“

Herling nickte gleichgültig. „Schön ist anders, da gebe ich Dir recht! Aber komm’, wir wollen uns nicht zu lange aufhalten!“

Wenige Schritte noch, und sie hatten die feuchte Niederung hinter sich. Ein Urwald von Palmen und Pisangbäumen überschattete jetzt eine weite Strecke den Lauf des Baches. Das Vordringen hier war ebenso schwierig wie zeitraubend. Nur schrittweise kamen sie vorwärts. Dazu herrschte unter dem dichten Blätterdach eine drückende Schwüle trotz der frühen Tagesstunde. Käfer und Schmetterlinge in allen Farben und Größen belebten dieses Gewirr von Blättern, hochragenden Stämmen und Rankengewächsen, zahlreiche Vögel flatterten in den Zweigen, darunter besonders viele Taubenarten, die überhaupt auf den Inseln des Indischen Ozeans stark vertreten sind. Ebenso bemerkten die beiden Robinsons hier die ersten Affen, die kreischend vor ihnen flüchteten und in die Kronen der Bäume hinaufturnten, um dort ganze Schwärme von Vögeln aufzuscheuchen.

Endlich lag dieser Urwald hinter ihnen. Wieder durchwanderten sie eine Ebene, auf der nur einige kleinere Gruppen von Eichen und Koniferen standen, die sich erst im Hintergrunde auf einem hügeligen Gelände zu einem Walde vereinigten, aus dem das Silberband des Baches glitzernd hervortrat. Und gerade dort ragte zwischen den dunklen Wipfeln mehrerer Koniferen ein schlanker Turm in die Luft, dessen helles Gemäuer grüne Flecken großblättriger Rankengewächse aufwies.

Herling hatte ihn zuerst erspäht. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Und doch – es war ein Turm, der da keine dreihundert Meter vor ihnen lag. Freilich – der kurzsichtige Doktor, der seine goldene Brille immer wieder säubern mußte, da der Stirnschweiß die Gläser stets aufs neue betropfte, glaubte nicht eher an das Vorhandensein eines von Menschenhand errichteten Bauwerkes, bis er dicht davor stand.

Der Turm gehörte zu einem uralten, tempelartigen Gebäude, das auf einer Lichtung dicht am Ufer eines kleinen Sees lag. Den großen Marmorquadern, die als Material für den hallenartigen Bau, aus dessen Mitte der Turm sich emporreckte, benutzt waren, hatte der Zahn der Zeit nicht viel anhaben können. Deutlich war die Architektur zu erkennen. Die Treppe mit den flachen Stufen und dem zierlichen Geländer, die vom Seeufer bis zum Eingang hinaufführte, die Säulen mit den vergoldeten Verzierungen und schließlich die seltsamen Tierfiguren zu beiden Seiten der breiten Pforte erinnerten in jeder Einzelheit an die altindischen Tempel, dessen oft märchenhafte Pracht jeden Europäer unwillkürlich bezaubert. Auffallend war es, daß die Halle mit ihrem vorgebauten Säulengange so wenig von Schlingpflanzen bedeckt war. Nur das Dach verschwand zum Teil unter der Last eines grünen Rankengewirrs.

Es dauerte lange, ehe die beiden Freunde sich von ihrem nur zu berechtigten Erstaunen erholt hatten.

„Wer hätte das geahnt!“ meinte der Doktor leise, als ob er sich scheute, vor diesen Zeugen einer geheimnisvollen Vergangenheit seine Stimme zu gebrauchen. „Hier auf diesem weltfernen Eiland mitten im Indischen Ozean ein indischer Tempel?! Das begreife ich nicht! Und Marmor überall, kostbarer Marmor! Bedenke, Herling, der muß zu Schiff hierher geschafft worden sein! Aber – – – doch nein, ich will mich nicht weiter wundern! Zu viele Fragen drängen sich mir auf die Lippen. – Vorwärts – betrachten wir uns den Bau einmal von innen.“

Der Ingenieur, dessen scharfe, kritische Augen inzwischen auch die Umgebung sorgfältig gemustert hatten, schüttelte den Kopf und zeigte dann mit der Hand auf eine Melone, die dicht vor ihnen auf dem Geländer der Treppe lag.

„Bitte, schau Dir mal die Frucht genauer an“, meinte er ernst. „Fällt Dir nichts daran auf? – – Nicht?! So – na, das muß man Deinen Gelehrten-Augen zugute halten, die für die eigenartigen Reize dieses seltsamen Ortes nur zu empfänglich sind, dabei aber übersehen, daß … diese Melone noch ganz frisch und doch mit einem scharfen Messer durchschnitten ist.“

Herling hielt die selten große Frucht jetzt in der Hand und reichte sie dem Doktor hin.

„Ein keilförmiges Stück ist herausgeschnitten, nicht wahr?“ fuhr er fort. „Das kann nur ein Mensch getan haben und zwar vor ganz kurzer Zeit. Mithin ist dieser Mensch noch auf der Insel. Mir steigen nun doch allerlei Bedenken auf, ob der Piratenhäuptling nur die Giftschlangen mit seiner Warnung gemeint hat. Ich ahne, daß dieses Eiland mehr Geheimnisse birgt, als uns lieb sein kann.“

Wieder schaute er sich nach allen Seiten vorsichtig um.

Doktor Möller legte die Melone zögernd auf das Treppengeländer zurück und wischte sich dann den Schweiß von der Stirn.

„Deine Schlußfolgerung ist zwingend“, sagte er noch leiser als vorhin. „Es muß hier außer uns noch Menschen geben. – Ob wir mal rufen? – Vielleicht ist der Tempel gar bewohnt.“

Herling machte eine abwehrende Handbewegung, schulterte seine Keule und sagte kurz: „Komm – untersuchen wir das Gebäude!“

Langsam stiegen sie die Treppe hinan. Zwischen den Steinplatten der Stufen sproßte überall Gras und hier und da auch eine größere Pflanze. Dann betraten sie die Halle, in der ein ungewisses Halbdunkel herrschte, an das die Augen sich erst gewöhnen mußten. Dem Eingang gegenüber lag der weit vorspringende, untere Teil des Turmes, dessen Vorderwand eine viereckige Türöffnung aufzuweisen hatte. Und dicht vor dieser Tür wieder, halb den Zutritt versperrend, stand auf einem niedrigen Marmorsockel das gut eineinhalb Meter hohe Bildnis einer Göttin von abschreckender Häßlichkeit. Eine Schlange lag auf ihrem Haupte, und aus dem weit geöffneten Munde ragten übergroße Zähne hervor. Um den Hals trug sie einen Kranz von Totenschädeln, und ihre gekrümmten sechs Arme umklammerten einen Menschen, um dessen Hals eine zweite Schlange wie ein Strick lag. – Die künstlerische Ausführung dieser Gruppe, die mit allen ihren Einzelheiten aus Bronze gefertigt war, zeichnete sich durch sorgfältige Behandlung jeder Kleinigkeit aus.

„Die Göttin Kali, die blutdürstige, – der Schutzgeist der Cholera!“ sagte der Doktor mit leise zitternder Stimme. „Geradezu grauenerregend ist dieses Standbild. Und dieser mit spitzen Stacheln besetzte, weit herabreichende Mantel der furchtbaren Gottheit erhöht nur noch den Eindruck des Mordgierigen, Abstoßenden.“

Herling hatte inzwischen mit dem Fuße die vom Winde in den Tempel gewehten trockenen Blätter, die auch den bunten Mosaiksteinboden vor dem Götzenbilde in dünner Schicht bedeckten, fortgescharrt, da er auf einen darunter befindlichen, runden Gegenstand getreten war, den er gern näher betrachten wollte. – Es war ein in eine größere, viereckige Marmorplatte eingelassener bronzener Ring, den er auf diese Weise freilegte.

„Ohne Zweifel befindet sich hier der Zugang zu den unterirdischen Tempelräumen“, sagte er jetzt zu Möller, der noch immer in den Anblick der gräßlichen Kali, der Gemahlin des indischen Gottes Schiwa, versunken dastand. „Ich will mal versuchen, ob sich die Platte hochheben läßt. Allzu schwer wird sie ja nicht sein.“

Dabei bückte er sich und wollte den flach liegenden Ring aufrichten, um bequem mit den Händen hineingreifen zu können.

Doch dazu kam es nicht. Eine fremde Stimme ertönte plötzlich hinter der Bronzegruppe hervor, – deutsche Worte, laut, warnend:

„Berühren Sie den Ring nicht, oder der Tod ist Ihnen gewiß!“

Gleichzeitig trat hastig ein blondbärtiger Mann, der sich bisher in dem unteren Teil des Turmes verborgen gehalten hatte, um die Götzenfigur herum.

Erschreckt waren die beiden Freunde zurückgeprallt, faßten sich aber ebenso schnell wieder, da der Unbekannte, der sich ihrer eigenen Muttersprache bedient hatte, zwar recht abenteuerlich, aber durchaus nicht furchterweckend aussah. Er hatte ein von der Sonne dunkelgebräuntes Gesicht, das von einem krausen, blonden Vollbart umrahmt war, trug einen aus Schlangenhäuten gefertigten Anzug, plumpe Schuhe aus Leder und eine buntscheckige Mütze, zu deren Herstellung ohne Zweifel das gefleckte Kleid einer Tigerschlange benutzt worden war.

Ehe Herling noch eine Frage an den Fremden richten konnte, hatte dieser schon zu sprechen begonnen, wobei sich in seinen Mienen eine stets wachsende Freude ausdrückte.

„Sollten es wirklich Landsleute sein, die ich vor mir habe und die ich hier soeben vor einem entsetzlichen Geschick bewahren durfte?! – Ich habe sie erst eine Weile belauscht, da ich schon fürchtete, daß der Chinese wieder einmal den Tempel besuchen wollte, um hier die Göttin Kali als Henkerin zu benutzen. Wie himmlische Musik klangen dann aber deutsche Laute an mein Ohr. Minutenlang vermochte ich mich vor glücklichem Staunen kaum zu regen!“

Jetzt war der Bann gebrochen. In tiefster Seele bewegt, schüttelten Herling und der Doktor dem neuen Gefährten ihrer Einsamkeit die Hand. Fragen und Antworten flogen hin und her, bis die beiden früheren Passagiere des „Indus“ die seltsamen, traurigen Schicksale ihres Retters und vieles von den Geheimnissen dieser Insel erfahren hatten. – –

Ernst Wagner hatte eine gute Schulbildung genossen und war dann aus Liebe zum Seemannsberuf mit 15 Jahren als Schiffsjunge auf dem Hamburger Dreimaster „Helgoland“ in die Welt hinausgefahren. Das Segelschiff war nach Bombay bestimmt, wurde aber im April 1898 durch heftige Stürme weit nach Osten abgetrieben und lief schließlich an der Westküste Sumatras auf ein Riff auf. Dies geschah gegen Abend. In der Nacht, als die See sich etwas beruhigt hatte, erschienen mehrere malaiische Prauen (Prau ist ein Küstensegler von geringem Tiefgang, aber großer Schnelligkeit. – Die Seeräuberei blüht in den malaiischen Gewässern noch heute), mit Chinesen zumeist bemannt, die den Dreimaster enterten und die ganze Besatzung niedermachten. Nur Wagner glückte es, in der Dunkelheit auf eines der Piratenfahrzeuge hinüberzuschlüpfen und sich dort im untersten Raum zu verbergen. Eine ganze Woche hielt er es hier aus, nährte sich lediglich von Früchten, die er nachts aus der Vorratskammer der Prau stahl, und schwamm dann, als die Seeräuber vor dieser Insel vor Anker gegangen waren, in einer finsteren Nacht nach dem Eiland hinüber, wo er nun bereits sieben Jahre als Robinson lebte. In der ersten Zeit war er oft genug der Verzweiflung nahe. Die stete Furcht vor den zahlreichen Giftschlangen und vor dem Anführer der Piraten, der hin und wieder mit einigen Vertrauten auf der Insel erschien und ihn als den einzigen überlebenden Zeugen des Blutbades auf dem Dreimaster sicher getötet haben würde, brachte ihn fast dem Wahnsinn nahe. Aber der Trieb zum Leben und eigene Willenskraft halfen ihm über diese schweren Monate des Sicheingewöhnens hinweg. – – Mit dem Bronzebilde der Kali wieder hatte es folgende Bewandtnis: Eines Tages hatte Wagner den Piratenkapitän (daß auch er hiermit den Chinesen Kung-Fo meinte, war durch eine Zwischenfrage Herlings schnell festgestellt worden) heimlich beobachtet, wie dieser einen anderen Chinesen, den er fraglos aus irgend welchen Gründen beseitigen wollte, an dem Ringe vor dem Götzenbilde ziehen ließ, als ob der Betreffende die Ringplatte lüften solle. Plötzlich war dann die bronzene Kali nach vorn übergekippt und hatte den gebückt Dastehenden zu Boden geschlagen, wobei ihm die Stacheln des Mantels in Kopf und Rücken drangen. Kung-Fo’s Opfer vermochte sich trotzdem wieder aufzurichten, war offensichtlich keineswegs schwer verletzt und brach dennoch nach wenigen Minuten unter heftigen Krämpfen tot zusammen. Ähnliche Vorfälle wiederholten sich noch verschiedene Male, bis Ernst Wagner eines Tages auf den Gedanken kam, die scharfen Spitzen des Mantels der blutdürstigen Göttin könnten vergiftet sein. Ein Versuch mit einem kranken Affen, den er im Walde gefunden hatte, zeigte ihm dann, daß seine Vermutung richtig gewesen war: der arme Vierhänder starb nach einem Stich in kurzem genau an denselben Erscheinungen wie die Todesopfer des grausamen Piratenführers.

Der frühere Schiffsjunge des Dreimasters berichtete dann noch, daß das gefährliche Standbild sich stets nach seiner heimtückischen Mordarbeit von selbst wieder aufrichte und daß er es bisher nicht gewagt habe, dem geheimnisvollen Mechanismus des Götzenbildes genauer nachzuforschen. –

Herling erkannte jetzt erst, welch’ einer furchtbaren Gefahr er entronnen war, da die Bronzestatue auch ihn ohne Zweifel niedergeschlagen hätte, sobald er an dem Ringe gezogen haben würde. Seine an den blondbärtigen, schlanken und doch kräftigen Landsmann gerichteten Dankesworte waren daher von wärmster aufrichtigster Herzlichkeit.

Dann setzten die drei die Besichtigung des alten Tempels, der sicherlich der Verehrung der blutigen Kali gedient hatte, gemeinsam fort. In der Halle befand sich außer der Götzenfigur weiter nichts Bemerkenswertes. Drei leere Sockel bewiesen jedoch, daß auf ihnen einst noch andere Götzenbilder gestanden hatten. Auch der Turm, auf dessen Plattform eine Steintreppe hinaufführte, bot nichts als einen Fernblick durch die Lücken des Waldes auf entlegenere Teile der Insel dar.

Hier oben war es, wo Ernst Wagner den neuen Leidensgefährten Näheres über die Form und Größe der Insel sowie die der anderen kahlen Eilande mitteilte. Erstere besitze die Gestalt eines viereckigen Sternes, bei dem nach den vier Himmelsrichtungen sich erstreckende Landzungen die Zacken darstellten. Diese abgerechnet, betrage der Durchmesser etwa eine Meile. Die langgestreckten, ein unregelmäßiges Viereck bildenden vorgelagerten Felseilande habe er, so erklärte er weiter, noch nie besucht, obwohl sie kaum einen halben Kilometer entfernt lägen. Zwischen diesen Inseln gebe es offenbar nur im Süden eine Durchfahrt, die Kung-Fo stets bei seinen Besuchen benütze. Deshalb habe er auch seine Bambushütte in der Nähe der nördlichen Halbinsel an versteckter Stelle errichtet, wohin der Chinese noch nie gekommen sei.

Da Herling und der Doktor sehr gespannt waren, die Behausung Wagners kennen zu lernen, brachen sie jetzt sofort nach dem nördlichen Teil der Insel auf, den sie auch nach Durchquerung eines Urwaldes rasch erreichten, weil hier Sümpfe und sonstige Hindernisse gänzlich fehlten.

Die Hütte des inzwischen zum kräftigen Manne herangereiften Schiffsjungen lag inmitten eines Eichenhaines auf einer Lichtung, die von wirr durcheinander geworfenen mächtigen Felsblöcken gebildet wurde. In dieser Felsenwildnis stand auf einer schwer zugänglichen, breiten Platte ein sauber gearbeitetes Bambushäuschen mit schräg nach hinten abfallendem Dach. Alles, was hier an Einrichtungsgegenständen vorhanden war, hatte Ernst Wagner mit höchst unzureichenden Werkzeugen, – einem Taschenmesser, einem Steinhammer und einem Steinbeil, letztere beide gleichfalls eigene Erzeugnisse, selbst hergestellt. Herling und Möller kamen wirklich gar nicht aus dem Staunen heraus, als sie sahen, wie sauber und praktisch gearbeitet all die Gegenstände waren, die des jungen Menschen geschickte Hände geschaffen hatten. Abgesehen von einem Bett, Stuhl und Tisch aus Bambusholz fanden sie in der Hütte noch einen Herd, einen aus Baumrinde gezimmerten Schrank und an den gleichfalls mit Baumrinde abgedichteten Wänden allerhand Waffen, an Pflöcken aufgehängt, vor, darunter mehrere Bogen nebst zahlreichen Pfeilen mit Steinspitzen, lange Lanzen mit breiten Spitzen aus Kupfer (letzteres stammte von dem Dache des Tempels) und ein paar langstielige Beile mit Schneiden aus demselben Metall. Sogar eine Lampe gab es in dem Häuschen, die aus einer großem Kokosnuß hergestellt und mit Palmöl gefüllt war, das der erfinderische Robinson durch Auspressen der Früchte gewonnen hatte.

Mit freudigem Stolz erklärte Wagner seinen Landsleuten, wie sich bei ihm langsam eine praktische Idee zur Ausnutzung der vorhandenen Naturschätze aus der anderen entwickelt und wie er sich sein Dasein mit jedem weiteren Monat bequemer und behaglicher eingerichtet habe, nachdem die erste Verzweiflung und Angst vor dem Außergewöhnlichen seiner Lage geschwunden war. – –

Inzwischen war es Mittag geworden. Eilfertig trug Wagner jetzt allerlei Eßwaren herbei, – geräuchertes Schildkrötenfleisch, zwei am Spieße gebratene Tauben, verschiedene Früchte und auch kleine Brote, die er aus dem Mehle der eßbaren Yamwurzel gebacken hatte. Seine Vorratskammer lag dicht neben der Hütte und bestand in einer tiefen, kühlen Felsspalte, neben der die Quelle entsprang, die sich später zum Bache erweiterte und auch den See neben dem alten Tempel speiste.

Immer wieder gaben Herling und Möller ihrer rückhaltlosen Bewunderung über ihres neuen Gefährten seltenen Sinn für die praktische Verwertung aller Erzeugnisse der Insel Ausdruck, und besonders der Ingenieur erklärte stets aufs neue, daß er selbst wohl kaum genügend erfinderischen Geist besessen hätte, um dieses von der Natur so reich begnadete Eiland in so vollkommener Weise zu einem kleinen Paradiese auszugestalten, einem Paradiese, dem es freilich auch nicht an Schlangen fehle …

Während der Mahlzeit beratschlagten die drei, wie sie sich ihr ferneres gemeinsames Leben nun einrichten wollten. Zunächst sollte die Hütte durch einen Anbau erweitert werden. Bei den Vorschlägen zu dieser ersten Arbeit äußerte Herling, daß es doch recht angenehm wäre, wenn man vor der Wohnung eine Art überdachte Veranda besäße, auf der man sich den Tag über aufhalten könne. Diese Idee begeisterte Ernst Wagner derart, daß er geradezu seine Gefährten zur Eile drängte, um sofort mit den geplanten Neubauten zu beginnen.

Etwa zehn Minuten von der Hütte entfernt lag ein Bambusgehölz, welches das nötige Baumaterial lieferte. Hier wurden die Bambusstangen gleich an Ort und Stelle durch Abbrennen auf die nötige Länge gebracht, um nachher durch Riemen aus Schlangenhaut und Keile, die man durch die hierzu eingebrannten Löcher trieb, fest miteinander verbunden zu werden.

Doch diese erste Arbeit auf der Insel sollte für die beiden neuen Bewohner nicht ohne einen bösen Schreck abgehen. Schon beim Aufbruch von der Hütte hatte Wagner jedem seiner Landsleute einen Bogen nebst einem aus Schlangenhaut gefertigten Köcher mit einem Duzend Pfeile sowie eine Lanze und ein Beil mitgegeben, wobei er sie sehr ernst vor dem kriechenden Gewürm, das auf dem Eiland nur zu zahlreich vertreten wäre, warnte, worauf der Doktor etwas leichtsinnig erklärte, so schlimm könnte es mit den Schlangen wohl nicht sein, da sie doch bisher nur die beiden Brillenschlangen und die Tigerschlange zu Gesicht bekommen hätten. – Wagner schaute den Gelehrten mit einem seltsamen Blick an und erwiderte, es wurde sich vielleicht schon in den nächsten Tagen Gelegenheit bieten, Möller zu beweisen, wie groß die Schlangenplage hier sei. Näher ließ er sich über diesen Punkt jedoch nicht aus.

Während der frühere Schiffsjunge dann nachher bei dem lodernden Feuer zurückblieb, um die Löcher in die Bambusstangen zu brennen, hatten sich Herling und der Doktor, die unten bereits abgefaulte Bambusrohre losbrechen und zum Feuer schleppen sollten, unabsichtlich einmal weiter als bisher entfernt und wurden dann durch denselben starken Verwesungsgeruch, den sie schon am Vormittag auf der Südseite der Insel bemerkt hatten, in ein Dickicht gelockt, wo Möller zu seiner Überraschung mehrere Exemplare der Rafflesia Arnoldi genannten Schmarotzerpflanze vorfand, die, ohne Stiele oder Blätter zu besitzen, in Gestalt von riesigen Knospen und Blüten auf den Zweigen eines ihm unbekannten Baumes wucherten.

Herling, der diese Art von Riesenblume, die sonst nur auf Java und Sumatra anzutreffen ist, noch nie gesehen hatte, konnte einen Ruf des Erstaunens nicht unterdrücken. In der Tat wirkt die Rafflesia Arnoldi wohl auf jeden wie ein Wunderwerk der Natur. Ihre Knospen gleichen ungeheuren Kohlköpfen, von deren Größe man sich leicht eine Vorstellung machen kann, wenn man bedenkt, daß die später fleischrote, fünflappige Blüte einen Durchmesser von 1 Meter hat, fünf Kilogramm wiegt und gegen vier Liter Wasser faßt. Dieses Schmarotzergewächs, das mit seinen Wurzeln sich in die Rinde ihres Wirtes eingräbt und ihm die nötige Nahrung entzieht, ist die größte aller uns bekannten Blumen, verfärbt sich beim Verwelken schwarzbraun und riecht so stark aasartig, daß unzählige Fliegen herbeikommen, um ihre Eier darauf abzulegen.

Während der Doktor dem Freunde noch eifrig gelehrte Erklärungen über die Rafflesia abgab, von der zwei welke Blüten die Luft weithin förmlich verpesteten, hatten sie auf die Umgebung nicht weiter geachtet. Daher war es ihnen auch entgangen, daß plötzlich aus dem Loche eines Termitenhügels (große Ameisenart) der häßliche Kopf einer Schlange auftauchte, die einige Ähnlichkeit mit einer Kobra (Brillenschlange) hatte, nur daß die Haube nicht die charakteristische Brillenzeichnung aufwies, vielmehr dunkel gesprenkelt war. Durch einen Zufall hatte Möller den Schaft seiner Lanze hinter sich hergezogen, so daß dieser jetzt dicht vor dem Reptil lag. Als er ihn nun im Eifer seiner wissenschaftlichen Erörterung der Eigenarten der Riesenblume langsam bewegte, faßte die Schlange dies als einen ihr geltenden Angriff auf, schoß aus dem Termitenbau vollends heraus und wand sich im Sprunge um den Lanzenschaft, der ihren Zorn erregt hatte. Durch den merklichen Ruck aufmerksam gemacht, blickte Möller sich ahnungslos um, stieß einen entsetzten Schrei aus, ließ die jetzt doppelt gefährliche Waffe fallen und sprang einige Schritte zurück. Auch Herling tat ein Gleiches, nachdem er kaum das um den Lanzenschaft geringelte Reptil bemerkt hatte, wandte sich dann aber sofort wieder um und schleuderte sein breitschneidiges Beil nach dem giftigen Feinde, den er auch wirklich etwa in der Mitte des strohgelben Leibes traf und fast völlig zerschnitt. Ein zweiter Schlag mit seiner Lanze dicht unterhalb der jetzt stark aufgeblähten Haube (diese entsteht dadurch, daß die Schlange die ersten Halsrippen seitlich zu richten und dadurch die Haut scheibenförmig auszudehnen vermag) schien der Schlange vollends den Garaus gemacht zu haben. Unvorsichtigerweise trat der Ingenieur jetzt ziemlich dicht an das regungslose Reptil heran, um es genauer zu betrachten.

Des Doktors Warnungsruf kam zu spät. Schon hatte die gut zwei Meter lange Schlange den Kopf im letzten Todeskampf etwas gehoben, den Rachen weitaufgerissen und ihren Speichel Herling in das Gesicht gespien, wobei leider auch das rechte Auge von dem giftigen Schleim etwas abbekam.

Möller war schon neben dem Freunde, riß ihn zurück, nahm sein Taschentuch hervor und wischte ihm Gesicht und Auge trocken, indem er bedauernd ausrief:

„Diesen heimtückischen Angriff sah ich voraus. Leider hörtest Du auf meine Warnung nicht. Ich hatte das Reptil sofort als eine nahe Verwandte der Brillenschlange erkannt, die man Uräus-, auch Speischlange nennt und die eigentlich in Afrika beheimatet ist. Die Königin Kleopatra soll sich von ihr haben beißen lassen, um den Tod zu finden, und die ägyptischen Gaukler verwandeln sie durch einen Druck auf den Nacken in einen steifen Stock, was durch eine Art Starrkrampf, in den das Reptil dann verfällt, zu erklären ist. Ich fürchte, der giftige Speichel des Tieres wird auf Deiner Haut Blasen ziehen und das Auge schwer entzünden. Laß uns daher schleunigst zu der Quelle eilen, damit wir dem Übel durch feuchte Umschläge nach Möglichkeit vorbeugen.“

Leider sollte jedoch diese Behandlung nur wenig helfen. Herling konnte beinahe eine ganze Woche sich an keiner Arbeit beteiligen, litt große Schmerzen und trug auch stets ein nasses Taschentuch als Binde über dem rechten Auge. Dieses Mißgeschick machte ihn zu einem so erbitterten Schlangenfeinde, daß er sofort nach seiner Wiederherstellung darauf drang, man solle einen regelrechten Vernichtungskrieg gegen alles giftige Gewürm beginnen. Ernst Wagner war hiermit ganz einverstanden und erzählte bei dieser Gelegenheit seinen Gefährten, auf welche Weise er schon einige Male förmliche Treibjagden auf Schlangen abgehalten habe, wobei er noch zu dem Doktor gewandt äußerte, dieser werde sich nunmehr überzeugen können, in welchen Mengen Schlangen aller Art auf dem Eiland vorkämen.

Inzwischen waren der Anbau der Hütte und auch die Veranda mit einem Rindendach fertiggeworden. Seit zwei Wochen hatte es keinen Tropfen geregnet, und daher lechzten die hohen Gräser und Farne auf den Waldblößen und den kleinen Ebenen förmlich nach Wasser. Dieser Umstand begünstigte die Massenjagd auf die Reptilien außerordentlich. An einem Tage, an dem ein starke Nordwind wehte, wurde frühmorgens mit dem Ausrottungskampfe in der Weise begonnen, daß die drei Gefährten alle grasbedeckten Stellen gleichzeitig von drei Seiten anzündeten und dem vom Winde angefachten Feuer das übrige überließen. Die Flammen fanden reichliche Nahrung in den ausgedörrten Pflanzen, und wo ein Reptil dem Feuermeer schnell zu entrinnen suchte, taten die als Hiebwaffen benutzten Lanzen der Jäger, die sich nach Möglichkeit verteilten, schnelle Arbeit. Zwar wurde hierbei auch manch’ wertvoller Baum und manche Nutzpflanze vernichtet, aber dieser Schaden konnte leicht mit in Kauf genommen werden, zumal es sich stets nur um vereinzelte Exemplare handelte, da die Wälder mit ihrem dichten, saftreichen Unterholz und ebenso größere Gebüschstreifen jedes Weiterumsichgreifen des Brandes verhinderten.

Die Strecke des erlegten kriechenden Wildes betrug am Abend des ersten Jagdtages vier Tigerschlangen, achtzehn Kobras und sieben Uräusschlangen, ferner einige kleinere Baumschlangen und sogar eine Streifenruderschlange, letztere ein Tier, das zu den die tropischen Meere bewohnenden Giftschlangen gehört und das man am nördlichen Ufer der Insel in der Nähe einer kleinen Bucht erbeutet hatte.

Beinahe volle acht Tage wurde dieser Vernichtungskrieg, den ein klarer Himmel und ein anhaltender Nordwind unterstützten, mit zäher Ausdauer fortgesetzt, wobei verschiedentlich Zwischenfälle sich ereigneten, die bei der Art des gejagten Wildes nicht ganz ungefährlich waren. Die halbversengten Schlangen wurden stets, nachdem der Boden sich an den niedergebrannten Stellen genügend abgekühlt hatte, vollends getötet, und oft genug kam es vor, daß eine der weniger böse zugerichteten Uräusschlangen wütend ihren Speichel gegen die sich ihr nähernden Jäger spritzte. Da diese sich auch die Mühe nicht verdrießen ließen, alles, was nur irgendwie nach einem Schlangenschlupfwinkel aussah, auch in den Wäldern und dichteren Gebüschen zu durchstöbern, durften sie hoffen, unter dem kriechenden Gewürm ganz gehörig aufgeräumt und diese Plage für längere Zeit beseitigt zu haben. – –.

Auf das anhaltend schöne Wetter folgte nun leider eine vierzehntägige Regenzeit, in der es den drei unfreiwilligen Ansiedlern nicht möglich war, sich weit von ihrer Behausung zu entfernen. Am meisten bedauerte Herling dies, der zu gern dem von der Göttin Kali gehüteten Geheimnis nachgegangen wäre und festgestellt hätte, was die unterirdischen Räumlichkeiten des alten Tempels eigentlich enthielten. Aber diese Tage engen Zusammenlebens in der Bambushütte und auf der von Regen umrauschten Veranda hatten auch wieder das Gute für sich, daß die drei im lebhaften Gedankenaustausch sich gegenseitig besser kennen und noch mehr schätzen lernten und der Doktor auch Gelegenheit fand, seinen Gefährten mancherlei Wissenswertes über die geologische (Geologie, Erdgeschichte) Beschaffenheit der Insel und ihre Fauna und Flora (Fauna und Flora, Tier- und Pflanzenwelt) mitzuteilen. Letztere beide entsprachen vollkommen denen der östlich gelegenen großen Sunda-Inseln, nur daß hier zum Glück deren gefürchtetste Bewohner, der Königstiger und der schwarze Panther, fehlten. Nach Möllers Ansicht war diese kleine Inselgruppe vulkanischen Ursprungs, das heißt durch Hebung des Meeresbodens infolge von Erdbeben entstanden, und zwar zu verschiedenen Zeitpunkten. Das mittelste, von einer Vegetation bereits so üppig bedeckte Eiland mußte jedenfalls bedeutend älter als die übrigen sein. Die hier vorhandenen Säugetiere und Reptilien, die braune indische Ratte, die sehr zahlreich vorkam, die Affen und die Schlangen waren dabei ohne Frage von denselben Leuten, die vor Jahrhunderten den Tempel erbaut hatten, absichtlich eingeführt worden, – die Reptilien wahrscheinlich als der Göttin Kali geweihte Geschöpfe, also zu religiösen Zwecken, und die zwei Säugetierarten als Nahrung für diese. Anders verhielt es sich mit der reichen Vogelwelt, die sich hier offenbar freiwillig angesiedelt hatte, und ebenso mit den geflügelten Insekten.

Die kurzen Regenpausen während dieser feuchten zwei Wochen benutzten Herling und der Doktor dazu, sich im Gebrauch des Bogens zu üben, und bald besaßen sie darin genügende Geschicklichkeit, ohne freilich je die Schießfertigkeit Ernst Wagners zu erreichen, der die langen, gefiederten Pfeile bis auf achtzig Schritt mit unfehlbarer Sicherheit in das kaum handgroße Ziel schickte. Dann brach endlich wieder die Sonne durch das Gewölk hindurch. Nachdem am zweiten, sonnenklaren Tage der Boden getrocknet war, drängte der Ingenieur zum Aufbruch nach dem Tempel. Beladen mit allerlei Proviant und in üblicher Weise bewaffnet wanderten die drei Gefährten am Morgen des dritten Tages dann dem See zu. Unterwegs sahen sie zu ihrer Freude, daß der anhaltende, warme Regen auf den häßlichen, abgebrannten Flächen bereits wieder eine zarte, grüne Pflanzendecke hervorgelockt hatte. Bei dem altindischen Heiligtume angelangt, bestiegen sie zunächst den Turm, um durch die Baumlücken auf das Meer hinauszuspähen. Doch nirgends zeigte sich ein Segel oder die Rauchfahne eines Dampfers. Von hier aus konnten sie auch den Ankerplatz, den Kung-Fo bei seinen Besuchen stets benutzte, übersehen. Er war gleichfalls leer, und der frühere Schiffsjunge erklärte bei dieser Gelegenheit den beiden Landsleuten, daß der Piratenhäuptling oft länger als ein halbes Jahr die Insel gemieden habe, anderseits aber auch zuweilen mehrere Male kurz hintereinander erschienen sei. Diese Bemerkung veranlaßte Herling zu der Frage, ob der Chinese nicht auch einem der anderen Felseilande mitunter einen Besuch abgestattet habe, worauf Wagner erwiderte, daß dies zutreffe, und zwar begebe sich Kung-Fo stets auf die südwestliche der vier langgestreckten Inseln. – Der Ingenieur wurde durch diese Antwort auffallend nachdenklich gestimmt. Er dachte daran, daß der Seeräuber ja auch in jener ersten Nacht, nachdem sie auf dem Eiland ausgesetzt worden waren, in dem langen Schiffsboot aus der Richtung jener Insel aufgetaucht und dann nach dem offenen Meere hin durch die Durchfahrt verschwunden war. Er sagte sich, daß es mit diesen Besuchen auf dem öden Eiland eine besondere Bewandtnis haben müsse, zumal ja Kung-Fo so vorsichtig gewesen war, mit dem erbeuteten Dampfer erst bei völliger Dunkelheit nach der Gruppe zurückzukehren und dann erst die nächtliche Bootsfahrt anzutreten, die er mithin vor den beiden Deutschen hatte verheimlichen wollen, denen die Insel von ihm als gefährliches Gefängnis bestimmt worden war. Durch diese Erwägungen, die er zunächst seinen Gefährten noch vorenthielt, kam Herling zu dem Entschluß, recht bald ein Floß mit Hilfe seiner Freunde zu bauen, das ihm die Überquerung der zwischen den Eilanden liegenden Wasserstraße ermöglichen sollte. – –

Bevor man jetzt die Steinplatte vor dem abschreckend häßlichen Götzenbilde durch eine starke Bambusstange, die durch den Ring gesteckt werden sollte, zu heben versuchte, betrachtete Herling die Bronzestatue ganz genau daraufhin, ob sich an ihr irgendein beweglicher Teil befinde, der vielleicht dazu diente, den Mechanismus, der das verderbenbringende Umkippen der Kali bewerkstelligte, auszuschalten. Aber er entdeckte nicht das Geringste. Das Metall schien aus einem einzigen Stück zu bestehen.

Nun wurde die Stange durch den Ring geführt, und der Ingenieur und Wagner als die beiden kräftigsten versuchten, seitwärts stehend, die Platte zu lüften. Kaum hatten sie nur ein wenig angeruckt, als die blutgierige Gottheit auch schon lautlos nach vorn fiel, ohne dabei den Steinboden des Tempels zu berühren. Gleich darauf, als sie die Stange wieder sinken ließen, kippte die schwer Figur auch sofort von selbst in ihre alte Stellung zurück.

Doch Herling gab das Spiel so leicht nicht auf. Er holte sich einen großen Stein herbei, ließ jetzt den Doktor als zweiten die Stange bedienen, trat hinter den Götzen und schob, als dieser nun wieder sich nach vorwärts neigte, schnell das Felsstück in den Raum zwischen den Sockel und die Grundfläche des Bildwerkes, so daß dieses notwendig nach unten gekehrt liegen bleiben mußte. Nun konnte man schon einen Teil des Mechanismus sehen: starke, an der Vorderseite der Figur und des Sockels angebrachte Gelenke, eine ziemlich dicke, bogenförmige Metallschiene, die an der Grundfläche der Statue befestigt war und durch eine Öffnung des Sockels hindurchging, und eine zweite, bedeutend dünnere Metallstange, die durch ein Loch in das Innere des Götzenbildes hineinlief. Letztere umfaßte der Ingenieur jetzt mit der Hand und suchte sie zu bewegen. In demselben Augenblick rief der Doktor auch schon: „Holla – der eine Arm der Kali hebt sich!“

Gleich darauf hatte Herling entdeckt, wie man den Mechanismus der vergifteten Statue ausschalten konnte: drehte man den betreffenden Arm um etwa fünfzehn Grad nach oben, so ließ sich die Steinplatte wie eine Falltür hochklappen, ohne daß die Kali vornüberkippte. Jetzt sah man auch, daß mit dem Ringe der Platte eine nach unten laufende Kette verbunden war, die, wie der Ingenieur später feststellte, dadurch, daß sie straff gespannt wurde, den einfachen, aber sehr sinnreichen Mechanismus zum Spielen brachte. Dieser bestand in der Hauptsache aus einem am unteren Ende der Metallschiene angebrachten riesigen Steinblock, dessen Gewicht dem des Götzenbildes entsprach, so daß beide ein in der Mitte der Schiene unterstütztes, genau ausbalanciertes Doppelpendel darstellten, welches durch zwei andere Felsstücke, deren Ketten über Rollen liefen, zum Herunter- bzw. Hochklappen gezwungen wurde.

Der unterirdische Raum, zu dem die steinerne Falltür den Eingang bildete, war gut vier Meter tief und bildete ein quadratisches Gemach von sechs Meter Seitenlänge. Der vorsichtige Herling warf erst einige brennende Bündel trockener Zweige hinab, bevor er an der Bambusstange abwärts kletterte. Der flackernde Feuerschein hatte ihm gezeigt, daß der Raum völlig leer war. Auch Ernst Wagner schwang sich nun hinab, machte dann aber ein sehr enttäuschtes Gesicht, als er die Schätze auf die er im Stillen gehofft hatte, hier nicht vorfand. Als er dies offen zu Herling aussprach, lachte der gutmütig vor sich hin, indem er sagte, für eine jugendliche Phantasie sei allerdings das Geheimnis der den Zugang bewachenden Kali ganz dazu angetan, hier unten eine Schatzkammer zu vermuten.

Inzwischen hatte der frühere Schiffsjunge eines der brennenden Bündel ergriffen und beleuchtete damit die aus Steinplatten bestehenden Wände dieses Gemachs, in dessen Mitte der Mechanismus der beweglichen Statue einen recht großen Platz für sich beanspruchte. Doch sein Suchen nach einer verborgenen Tür, die vielleicht in einen Nebenraum führte, war umsonst, und so stiegen die beiden bald wieder zur Tempelhalle empor, brachten das Götzenbild wieder in seine Ruhelage, indem sie die Falltür schlossen, und traten zusammen mit dem Doktor, der über die völlige Leere des unterirdischen Gemaches gleichfalls recht enttäuscht schien, den Rückweg nach ihrer Hütte an.

Da die Insel den drei Deutschen ohne viele Arbeit und Mühe alles das lieferte, was sie zum Leben gebrauchten, und da ihr kleines Wohnhaus ebenso behaglich wie praktisch war, sie sich auch untereinander sehr gut verstanden und Jagdausflüge und häusliche Verrichtungen ebenso wie lehrreiche Gespräche über alle möglichen Dinge die Langeweile nie aufkommen ließen, kam es Herling und dem Doktor gar nicht zum Bewußtsein, daß sie hier auf einem entlegenen Eiland fernab von aller Kultur zu hausen gezwungen waren. Der Reiz des Außergewöhnlichen ihrer Lage war so stark, daß sie förmlich verjüngt wurden und heiter und zufrieden ihre Tage verbrachten, deren Programm sie stets möglichst abwechslungsreich gestalteten.

Ihre nächste größere Arbeit war der Bau eines Bootes. Erst hatte der Ingenieur nur ganz bescheiden an ein Floß gedacht, war dann aber durch Ernst Wagner dazu angeregt worden, die Fertigstellung eines leichter zu lenkenden Fahrzeuges in Angriff zu nehmen. Nach sorgfältigem Überlegen baute Herling zunächst nur ein Modell eines Bootes von einhalb Meter Länge aus gespaltenen Bambusstäben, die mit glatter Baumrinde überzogen wurden. Dann wurde das eigentliche Boot, das sieben Meter lang werden sollte, nach diesem Modell hergestellt. Die leicht biegbaren und dabei sehr zähen Bambusschößlinge gaben vorzügliche Planken ab, über die zum Abdichten als äußere Haut die dicke, aber geschmeidige Rinde einer Art Riesenweide, die sich unschwer in großen Stücken vom Stamm lösen ließ, mit Hilfe selbstgefertigter Kupfernägel genagelt wurde. In zehn Tagen war das Fahrzeug, das sogar ein Vorder- und Hinterdeck und einen Mast mit einem geflochtenen Bastsegel erhielt, fertig. Als Liegeplatz wurde ihm dieselbe kleine Bucht angewiesen, in deren Nähe man bei der großen Schlangentreibjagd die Streifenruderschlange erlegt hatte.

Eine Probefahrt fiel zu allseitiger Zufriedenheit aus, und Herling zögerte nun nicht länger, dem südöstlichen Felseneiland einen Besuch abzustatten, das für den Chinesen eine so starke Anziehungskraft besaß. An einem klaren, leicht windigen Morgen umfuhren die drei Gefährten ihre Insel und landeten nach kaum einer halben Stunde auf jenem Eiland, das sie sofort nach allen Richtungen hin zu durchforschen begannen. Hier gab es nichts als kahlen Fels, spärliche Gräser und hochgeschichtete Steinblöcke, dafür aber auch unzählige Seevögelnester, in denen Eier in allen Farben und Größen lagen. Zunächst entdeckten die Freunde nicht das Geringste, was Herlings Vermutung, Kung-Fo würde sich hier ein heimliches Beutelager angelegt haben, irgendwie rechtfertigte. Dann aber fand Ernst Wagner am nördlichen Ufer eine Stelle, an der offenbar schon häufiger ein Boot auf die Küste heraufgezogen worden war, wie an den Steinen haften gebliebene Reste des Bodenanstrichs bewiesen. Nunmehr ließ sich auch bei sorgfältigem Hinsehen zwischen dem Felsengewirr eine Art Pfad bemerken, der sich in diesem Landungsplatz in eine unwegsame Schlucht hineinzog.

Ohne des früheren Schiffsjungen selten scharfe Augen hätte man aber auch hier kaum etwas entdeckt. Doch Ernst Wagner entging es nicht, daß der durch häufiges Hin- und Hergehen entstandene Pfad plötzlich vor einer hohen, schroffen Felswand aufhörte, an deren Fuß ein paar große, flache Steinplatten scheinbar zufällig an den Felsen lehnten. Diese beiseite zu rollen war nicht schwer. Und die drei Freunde stießen gleichzeitig einen lauten Jubelruf aus, als sie jetzt einen dunklen Spalt gewahrten, der sich tief in die Erde hineinzuziehen schien. Schnell wurden nun aus trockenen Gräsern und am Ufer angeschwemmten Ästen eine Anzahl Fackeln hergestellt, bei deren flackerndem Schein die Gefährten in die Felsspalte eindrangen, die sich wirklich sehr bald zu einer geräumigen Höhle erweiterte. Diese war gut zur Hälfte mit Kisten, Ballen und Fässern angefüllt, die sämtlich wertvolle Waren, – Seidenstoffe, Spitzen, Waffen, Metallgegenstände aller Art und vieles andere, enthielten.

Nach kurzer Beratung bewaffneten die Gefährten sich mit je einer doppelläufigen Büchse und einem Revolver nebst genügender Munition. Alles übrige ließen sie unberührt und kehrten dann, nachdem der Eingang wieder sorgfältig verschlossen worden war, nach ihrer Insel zurück. – –

Drei Monate vergingen, ohne daß sich etwas Wichtiges ereignete. Dann aber brachte ein heißer, windstiller Oktobertag den drei Deutschen ganz unerwartet die Befreiung. Am Nachmittag waren sie in ihrem Boot nach dem Felseneiland gerudert, auf dem sich das Beuteversteck der Piraten befand. Sie wollten sich diesmal von dort verschiedene Stoffe holen, um sich daraus neue Anzüge zu fertigen, da ihre alten bereits stark mitgenommen waren und die Verarbeitung von Schlangenhaut allzuviel Mühe machte. Als sie sich dann gerade nach der Schlucht begeben wollten, bemerkte Herling zum Glück die Rauchfahne eines sich von Nordwesten her nähernden Dampfers. Sofort bestiegen sie wieder ihr Boot, kehrten schleunigst nach ihrer Insel zurück, versteckten das Fahrzeug im Gebüsch und eilten der Südseite des Eilandes zu, wo sie sich dicht am Strande versteckten und die weitere Entwicklung der Dinge abwarteten.

Der Dampfer erschien bald darauf in der Durchfahrt und warf an der üblichen Ankerstelle Kung-Fo’s seinen Anker aus. Es war ein nur kleines Schiff, seiner ganzen Bauart nach wohl eine Privatjacht. Dann näherte sich eine flinke Motorpinasse derselben Landzunge, auf der Herling und der Doktor ihre erste Nacht in dem Schlupfwinkel zwischen den Felsen verbracht hatten. Sechs bis auf die Zähne bewaffnete Chinesen, unter denen sich auch Kung-Fo befand, zwangen nun mit vorgehaltenen Gewehren zwölf Europäer, die zum Teil in sauberen Matrosenanzügen steckten, und eine schlanke blonde Dame zum Aussteigen. Diesen Gefangenen waren sämtlich die Hände auf dem Rücken gefesselt, und der ganze Zug schlug dann den Weg nach dem Tempel ein, wo Kung-Fo, wie die drei Gefährten aus sicherer Entfernung beobachteten, die dreizehn Weißen in die unterirdische Kammer einsperrten. Mithin wußte der Piratenführer mit dem Mechanismus der Steinfalltür vollständig Bescheid. Eine halbe Stunde später hatten die Seeräuber die Insel wieder verlassen und waren auf den Dampfer zurückgekehrt, so daß die Freunde es wagen konnten, die in dem dunklen Raume Eingekerkerten zu befreien. Diese dankten ihren Rettern in fast überschwenglicher Weise. Es waren sämtlich Holländer, und die Jacht „Medusa“ gehörte einer Handelsniederlassung auf Sumatra. Kung-Fo hatte sich ihrer fünf Tage vorher bemächtigt, da er es auf ihre reiche Ladung abgesehen hatte.

Nachdem die blonde Dame – es war die Gattin des Kapitäns der „Medusa“ – in der Hütte unter dem Schutze eines der Matrosen zurückgelassen war, begaben sich sämtliche anderen Männer wieder nach der Südküste, um zu versuchen, das nur von einigen fünfzehn Chinesen und Malaien besetzte Schiff wieder in ihre Gewalt zu bekommen. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde die Ladung der Jacht dann von den Piraten nach dem Versteck auf dem Eiland gebracht. Etwa gegen Mitternacht hörte der Bootsverkehr zwischen dem Schiffe und dem Eiland endlich auf, so daß Herling an die Ausführung des vorher genau überlegten Planes gehen konnte. Mit Hilfe ihres Bootes holten die Deutschen aus dem Beutelager Kung-Fo’s genügend Waffen herbei, um jeden einzelnen der Holländer mit Gewehr und Revolver versehen zu können. Dann wartete man die Morgendämmerung ab. Als es hell genug geworden war, zeigten sich Herling und der Doktor auf der Landzunge und riefen den Dampfer an. Diese List gelang wirklich. Kaum fünf Minuten später schoß die Motorpinasse, in der außer Kung-Fo noch zehn der Freibeuter saßen, heran. Verabredungsgemäß flohen die beiden Freunde nun an der Küste entlang nach Norden zu, verfolgt von der Mehrzahl der Piraten, die in dem Motorboot nur zwei der Ihrigen zurückließen.

Das weitere spielte sich ganz nach Wunsch ab. Der Ingenieur und der Doktor waren kaum auf Umwegen nach der Landzunge zurückgekehrt, als die Holländer auch schon durch wohlgezielte Schüsse die beiden Chinesen, die in der Pinasse am Ufer auf ihre Genossen warteten, unschädlich machten. Dem vereinten Angriff des Motorfahrzeuges und des Bambusbootes konnten dann die wenigen noch auf der „Medusa“ befindlichen Piraten, die zudem völlig überrumpelt wurden, nicht standhalten. Gerade als die Sonne aufging, war die Jacht wieder im Besitz ihrer rechtmäßigen Eigentümer, und eine Stunde später befanden sich auch die Gattin des Kapitäns und der bei ihr zurückgebliebene Matrose, die man mit der Pinasse von der Nordseite der Insel abholte, in Sicherheit.

Unter dem Wutgebrüll der inzwischen wieder am Südufer erschienenen Freibeuter dampfte die „Medusa“ vorsichtig durch die Durchfahrt in die See hinaus. Zwei Tage später begegnete sie einem holländischen Kreuzer, der dann Kurs auf die Inselgruppe nahm, eine Abteilung Matrosen landete und die Piraten, die sich beim Nahen ihrer Verfolger in dem unterirdischen Raum des Tempels versteckt hatten, ohne Blutvergießen nach der Stadt Padang auf Sumatra brachte. Hier wurde der gefährlichen Bande der Prozeß gemacht. Kung-Fo büßte seine unzähligen Schandtaten ebenso wie seine Leute mit dem Tode, nachdem ihm in der Gerichtsverhandlung nachgewiesen war, daß er bereits ein Jahrzehnt hindurch die klug durchgeführte Doppelrolle als ehrbarer Perlenhändler und als Piratenkapitän zum Schaden der Kauffahrteischiffahrt im Indischen Ozean gespielt hatte.

Herling, der Doktor und Ernst Wagner, die bei dem Prozeß als Zeugen gegen den Chinesen aufgetreten waren, erhielten später den recht beträchtlichen Erlös aus dem Verkauf des geheimen Beutelagers Kung-Fo’s ausgezahlt und konnten daher mit diesem Abschluß ihrer mannigfachen Abenteuer recht zufrieden sein. Sie sind gute Freunde geblieben und haben es nachher in der deutschen Heimat zu angesehenen Stellungen gebracht.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

 

Urteile maßgebender Personen über die „Erlebnisse einsamer Menschen“.

Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:

„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“

Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:

„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“

Herr Rechtsanwalt H. in F.:

„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“

Herr Direktor G. in W.:

„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“

Herr Lehrer B. in B.:

„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“

Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:

„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „Budda“. Da diese Schreibweise auch in der damaligen Zeit schon falsch war und weiterhin diese Schreibweise in der späteren Auflage richtig zu „Buddha“ korrigiert wurde, haben wir auch hier alle drei Vorkommen im Text auf „Buddha“ geändert.
  2. „Fos“ (1) / „Fo’s“ (5) – beide Schreibweisen vorhanden, alle auf „Fo’s“ geändert.