Sie sind hier

Unheimliche Justiz

 

Unheimliche Justiz.

Von K. Walter.

 

Daß die russische Regierung auch im Auslande überall Polizeiagenten unterhält, die das Treiben der aus Rußland geflüchteten Revolutionäre überwachen sollen, ist eine allbekannte Tatsache. Diese Agenten, die hohe Gehälter beziehen und zu denen auch häufig begabte Frauen gehören, leben unter der Maske von harmlosen Gewerbetreibenden oft jahrelang unentdeckt und verfügen ihrerseits wieder über ein Heer von Spionen in allen Berufsschichten. Besonders in der Schweiz, in England und Amerika ist die Zahl dieser Geheimagenten recht groß. Dieses Spionagesystem kostet dem Zarenreiche jährlich Unsummen, kann aber nicht entbehrt werden. Denn nur auf diese Weise erhält die russische Regierung auch über die geringste Bewegung im Lager der Umstürzler sofortige Nachricht und kann danach ihre Gegenmaßregeln treffen. Unzählige Attentate auf Mitglieder des Kaiserlichen Hauses und hohe Würdenträger sind so schon hintertrieben worden. Daß diese Polizeiagenten sich beständig in Lebensgefahr befinden, ist bei der Kampfesweise der Revolutionäre selbstverständlich. In Rußland werden Agenten, die sich durch besonders eifrige Tätigkeit und Erfolge den Haß des leitenden Komitees der Revolutionspartei zugezogen haben, ohne Rücksicht auf die Behörden und die öffentliche Meinung beseitigt, meist auf offener Straße erdolcht oder erschossen. Vielfach erhalten diese Todeskandidaten noch vorher ein Schreiben des Komitees, in dem ihnen ihr bevorstehendes Ende in der Form eines Todesurteils mitgeteilt wird.

Auch im Auslande zögern die Umstürzler keinen Augenblick, einen ihnen unbequemen Agenten aus dem Wege zu schaffen, nur daß sie ganz im Geheimen vorgehen und sich sehr wohl hüten, mit der Polizei des betreffenden Staates in Konflikt zu geraten. In den wenigsten Fällen gelingt bei besonders geheimnisvollen Morden der Nachweis, daß russische Revolutionäre die Hand im Spiel gehabt haben. Diese suchen es eben nach Möglichkeit zu vermeiden, daß die Behörden auf ihr Treiben aufmerksam werden, und wissen ihre Todesurteile an den verhaßten Spionen auf die listigste Art zu vollstrecken, nur um jeden Anschein eines politischen Mordes zu vermeiden und den Verdacht der Täterschaft in andere Richtung zu lenken. Über diese Art ihres Vorgehens werden am besten einige Beispiele, die wenige Jahre zurückliegen, Aufschluß geben.

In der 201. Straße in New York wurde eines Morgens von einem patrouillierenden Schutzmann der Uhrmacher Konstanz Willberg tot aufgefunden, und zwar dicht vor seiner Ladentüre auf dem Bürgersteig, während neben ihm drei schwere, in mehrere Stücke zerspaltene Dachziegel lagen. Die Untersuchung ergab, daß Willberg, der vor Jahren aus Rußland eingewandert war, durch die Dachziegel der Schädel eingeschlagen war. Die Ziegel hatten sich von dem etwas überhängenden Dache des altmodischen Hauses losgelöst und waren gerade in dem Augenblick herabgestürzt, als der Uhrmacher bei der Heimkehr die in sein Geschäft führende Türe aufschließen wollte. – Diese Tatsachen wurden auch in den amtlichen Bericht aufgenommen. Damit schien die Sache erledigt. Doch schon nach wenigen Tagen fand sich der Besitzer jenes Hauses, vor dem der Unfall sich ereignet hatte, auf dem Polizeiamte ein und behauptete, daß zu der ihm von der Baupolizei anbefohlenen Gesamtausbesserung des Daches seines Gebäudes kein Grund vorliege, da die äußerste Ziegelreihe der Dacheindeckung nach dem Gutachten eines Sachverständigen mit Gewalt beschädigt sei und daß auf dieselbe Ursache auch nur der Absturz der drei Ziegel zurückzuführen sei. Daher weigere er sich, das Dach anders eindecken zu lassen. Hierauf folgte eine genauere, monatelang währende Untersuchung, bei der ein ganzes Heer von Geheimpolizisten aufgeboten wurde. Das Ergebnis dieser Nachforschungen war überraschend. Zunächst brachte man heraus, daß Willberg nichts anderes als ein Geheimagent der russischen Regierung gewesen war und die Uhrmacherei nur als Deckmantel betrieben hatte. Dann ergab eine eingehende Besichtigung des Daches die Richtigkeit der Angaben des Hausbesitzers. Und endlich stellte man fest, daß sich zwei angebliche Kanalisationsarbeiter vierzehn Tage vor dem Tode Willbergs eine Dachkammer in dem betreffenden Hause gemietet hatten – eine Dachkammer, die nach der 201. Straße hinaus ein Fenster hatte, durch das man bequem die Dachrinne ergreifen konnte. – Hiernach waren die weiteren Gedankenverbindungen leicht, besonders da die beiden Arbeiter seit dem Todestage des Uhrmachers spurlos verschwunden blieben. Willberg war nicht das Opfer eines Unfalls, sondern eines wohlüberlegten Attentats geworden. Die schweren, glasierten Dachziegel hatte man ihm aus dem Bodenfenster mit voller Wucht auf den Kopf geschleudert, und die Täter waren fraglos russische Revolutionäre gewesen. Denn wie aus Willbergs chiffrierten Aufzeichnungen hervorging, hatte er vor wenigen Wochen der russischen Regierung von einer Sendung revolutionärer Schriften, die aus New York an eine Deckadresse nach Rußland gehen sollten, Mitteilung gemacht, was zur Folge hatte, daß die Pakete an der Grenze in Eydtkuhnen beschlagnahmt wurden. Drei Wochen später war der Geheimagent eine Leiche. Seine Mörder konnten trotz aller Anstrengungen nicht ausfindig gemacht werden.

Nach einem halben Jahre ereignete sich in einer der achtzehnstöckigen Mietskasernen der 165. Straße in der Nähe des Hafens ebenfalls ein Unfall, hinter dessen wahre Bedeutung man auch erst nach längeren Nachforschungen kommen sollte. Die New Yorker Deutsche Zeitung brachte am 12. August 1905 in ihrer Abendausgabe darüber die folgende Nachricht: „Heute vormittag verunglückte der Zigarren-Stadtreisende der Firma Jefferts & Co., namens Sergius Rodanoff tödlich, als er den Fahrstuhl in seinem Hause benutzte. Rodanoff bewohnte in dem Hause Nr. 64 der 165. Straße in der 17. Etage eine Zwei-Zimmerwohnung. Als er diese heute verließ und den Fahrstuhl betrat, geriet die Maschinerie in Unordnung und der Fahrstuhl sauste mit vollem Schwung auf den Zementbelag des Kellers auf. Rodanoff konnte nur als Leiche aus den vollkommen zertrümmerten Eisenteilen herausgezogen werden. Auffallend ist es, daß der achtzehnjährige junge Mensch, der den Lift bediente, seit gestern verschwunden ist. Auch findet man keine rechte Erklärung dafür, daß an dem Fahrstuhl alle Sicherheitsbremsen und Bremshebel der neuesten Konstruktion gleichzeitig nicht funktioniert haben.“ Bei dieser Nachricht war dem Berichterstatter der New Yorker Zeitung merkwürdigerweise gerade der Umstand entgangen, der wohl am meisten auffallen mußte und nachher auch sofort der Polizei aufstieß: Wie kam es, daß man den Zigarrenreisenden allein aus dem zertrümmerten Fahrstuhl herausgeholt hatte und nicht auch den Liftbedienten, der doch vorschriftsmäßig jede Fahrt hinauf und hinunter mitmachen sollte? Die Erklärung fand sich bald. Eine Untersuchung der Maschinerie zeigte, daß diese durch Verlegen einiger Triebräder und Transmissionen derart verändert war, daß das Ausschalten der Antriebsvorrichtung nur durch eine Person geschehen konnte, die von diesen Veränderungen Kenntnis hatte. Zwar waren diese Eingriffe mit größter Sachkenntnis hergestellt und bei flüchtiger Besichtigung kaum bemerkbar, aber die gleichzeitige Unbrauchbarmachung der Bremsvorrichtungen aller Etagen sprach trotzdem deutlich genug. Fachleute stellten dann noch fest, in welcher Weise es dem Liftbedienten möglich gewesen war, den Fahrstuhl gerade in dem Augenblick, als Rodanoff ihn betrat, zum Absturz zu bringen. Es lag also fraglos ein Verbrechen vor, nach dessen Beweggründen man allerdings lange Zeit vergeblich suchte. Erst glaubte man an einen Racheakt aus Eifersucht, was den Umständen nach ja auch am wahrscheinlichsten schien. Doch mit der Zeit klärte sich der geheimnisvolle Unglücksfall immer mehr auf. Rodanoff war erst etwa ein Jahr vor seinem Tode aus Petersburg nach Amerika gekommen, und auf eine Anfrage bei der russischen Regierung kam es dann heraus, daß er – was die New Yorker Polizei sehr bald vermutet hatte – Geheimagent gewesen war und aus Rußland vor seinen Feinden hatte flüchten müssen. Aber der rächende Arm der russischen Revolutionäre erreichte ihn doch. Mit zäher Energie und ohne jede Übereilung hatte man den Mordanschlag auf ihn vorbereitet. Ein Mitglied der New Yorker Gruppe der russischen Revolutionspartei, der gelernter Mechaniker war, bewarb sich bei der ersten Gelegenheit um die Stellung des Liftbedienten im dem Hause Rodanoffs und hatte sie dann über sechs Monate inne, bevor er zur Ausführung des von ihm mit aller Sorgfalt vorbereiteten Verbrechens schritt. Im diesem Falle gelang es der Polizei, den Mörder zu fassen. Er wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, weigerte sich aber standhaft, seine Mitschuldigen und Helfershelfer zu nennen. Er starb bereits nach zwei Jahren an der Schwindsucht, wie die New Yorker Deutsche Zeitung am 26. Oktober 1908 berichtete.

Schließlich sei hier noch ein drittes Verbrechen erwähnt, das im Jahre 1904 in Genf die Polizei lange Zeit in Atem hielt und eigentlich nur durch einen Zufall entdeckt wurde. Es ist vielleicht das listigste, welches man auf die Rechnung der russischen Umstürzler zu setzen hat. In Genf in der Rue des Grottes bewohnte seit Jahren ein russischer Student, der nicht mehr ganz jung war, ein Vorderzimmer in der ersten Etage eines großen Miethauses. Er schien sehr fleißig zu sein, empfing aber auch viel Besuch und hatte eine auffallend ausgedehnte Korrespondenz. Sonst war in seiner Lebensführung nichts, was Anlaß zu besonderer Teilnahme für seine Person gab. Zum besseren Verständnis des Folgenden sei noch gesagt, daß durch die Rue des Grottes die elektrische Straßenbahn geht, die Oberleitung besitzt, d. h. die Motoren in den Wagen erhalten den elektrischen Strom durch einen Draht zugeführt, der in der Mitte der Straße in der Höhe der ersten Etagen entlangläuft und mit den Wagen durch eine Zuleitungsstange verbunden ist. Eines Morgens fanden Hausbewohner den Studenten Wladimir Ustkow in seinem Zimmer, das einen unmittelbaren Eingang von der Treppe hatte, tot auf dem Teppich liegen. Die Türe zu seinem Zimmer war nur angelehnt gewesen, in der Stube selbst zeigte sich keinerlei Unordnung, und die völlig angekleidete Leiche wies auch nicht die geringsten Anzeichen auf, die auf ein Verbrechen hindeuteten. Der Polizeiarzt fand allerdings einige auffällige Brandwunden auf dem Kopfe unter den Haaren, maß ihnen aber weiter keine Bedeutung zu und entschied, daß Ustkow an Herzschlag verschieden sei. Die Beerdigung des Toten verzögerte sich jedoch, da man an Ustkows Angehörige nach Riga depeschiert hatte und deren Eintreffen abgewartet werden sollte. Da, am fünften Tage nach dem Tode des Studenten, meldeten sich auf dem Hauptpolizeiamt zwei einfache Frauen, die übereinstimmend angaben, daß ihr Mieter, ein russischer Student, seit mehreren Tagen sich nicht habe sehen lassen. Sie baten um Auskunft, ob vielleicht einem Herren, der so und so aussehe, etwas zugestoßen sei. Die Beschreibung der beiden Frauen, die an den äußersten Grenzen der Stadt, aber in gerade entgegengesetzten Vierteln wohnten, stimmte so genau überein, daß die Beamten stutzig wurden. Man führte sie darauf in die Leichenhalle, und beide wollten in Wladimir Ustkow ihren Mieter wiedererkennen, der sich bei ihnen allerdings unter anderen Namen und mit anderen Ausweispapieren eingeführt hatte. Der Verstorbene war also im Besitz von nicht weniger als drei möblierten Zimmern gewesen, die in ganz verschiedenen Stadtteilen lagen. Jetzt begann sich die Polizei etwas lebhafter dieses Studenten anzunehmen, der sich durch drei fraglos echte Pässe, die genau zu seiner Person paßten, jederzeit nach Belieben aus einem Ustkow in einen Salpatschin oder Vanhofen verwandeln konnte. Man durchsuchte die drei Zimmer nunmehr aufs genaueste, ebenso wurde die Leiche seziert, und das Ergebnis war mehr wie überraschend, wenigstens was die Todesart anbetraf: Der Student, ein russischer Geheimagent, der nebenbei noch in Basel zwei Absteigequartiere gemietet hatte, konnte nach dem Sektionsbefunde nur durch die Wirkungen eines elektrischen Starkstromes ums Leben gekommen sein. Die Genfer Polizei stellte dann durch mühsame Ermittelungen einwandfrei weiter fest, daß hier ein Racheakt russischer Revolutionäre vorlag und Ustkow in seinem Zimmer durch den Strom der elektrischen Straßenbahn, den man durch einen wahrscheinlich über die Hauptleitung geworfenen Draht durch das Fenster in die Stube geführt hatte, getötet war. Wie es seine Henker möglich gemacht hatten, all die Vorbereitungen für diese Hinrichtung derart zu treffen, daß die Tat selbst in ein so geheimnisvolles Dunkel gehüllt und wirklich nur zufällig entdeckt wurde, ist nie aufgeklärt worden, da die Mörder nicht gefaßt werden konnten.