Sie sind hier

In der Falle

 

In der Falle.

Erzählung von Walther Kabel.

 

Eines Vormittags ließ mich unser Chefredakteur in sein Zimmer rufen.

„Rittkens,“ begann er ohne alle Umschweife, „Sie sind von uns hier der einzige, der einigermaßen Russisch und zugleich fließend Französisch spricht. Sie werden daher, da unser Petersburger Korrespondent Steinberg sich soeben telegraphisch krank gemeldet hat, noch heute mit dem Abendzuge nach Petersburg abdampfen. Die nötigen Informationen wird Ihnen Steinberg geben, der schon weiß, worauf es uns ankommt. Nun besorgen Sie sich einen Paß – ich habe Ihnen an der zuständigen Stelle schon die Wege geebnet, damit die Sache sich glatt abwickelt, und hier sind sechshundert Mark Vorschuß. Auf eins aber will ich Sie doch noch aufmerksam machen: Vergessen Sie im heiligen russischen Reich nie, daß die Verhältnisse da drüben über der Ostgrenze gewaltig anders wie unsere hiesigen sind. Seien Sie nicht zu sparsam mit Trinkgeldern, desto mehr aber mit Äußerungen über Politik. Trauen Sie niemand und tragen Sie stets einen Revolver und ihre Ausweispapiere bei sich. – So, damit Gott befohlen.“

Unser Chefredakteur war dafür bekannt, daß er nie viel Worte machte. Trotz der gedrängten Kürze dieses Auftrages wußte ich aber doch völlig Bescheid, was ich in Petersburg sollte. Wäre auch traurig für mich als Zeitungsmenschen gewesen, wenn ich den wichtigsten politischen Vorgängen so wenig Beachtung geschenkt hätte. In der Hauptstadt des Zarenreiches sollte in drei Tagen der Präsident der französischen Republik eintreffen, und für diesen Besuch war ein endloses Festprogramm aufgestellt worden, über dessen Abwicklung wir als die vielgelesenste deutsche Zeitung natürlich mit aller Ausführlichkeit unsere Leser auf dem laufenden erhalten wollten. Und diese Berichte sollten nun aus meiner Feder fließen – ich, einer der jüngsten des Redaktionsstabes, würde in Petersburg als Vertreter unseres Blattes eine immerhin ziemlich bedeutungsvolle Rolle spielen! – Leicht verständlich, daß ich bei diesen Aussichten stolz erhobenen Hauptes, in der Hand die sechs blauen Lappen, das Zimmer unseres Ersten verließ und daß diese Freude auch durch die sogenannten guten Lehren – Witzeleien abgebrauchtester Sorte – meiner lieben, neidischen Kollegen nicht allzusehr getrübt werden konnte.

Am folgenden Vormittag war ich bereits in Petersberg – zum ersten Male in meinem Leben. Ich stieg in einer mir bestens empfohlenen deutschen Fremdenpension in der Kasanskajastraße ab, nahm ein Bad, frühstückte und suchte dann unseren ständigen Korrespondenten, Herrn Steinberg, einen älteren, etwas wunderlichen Junggesellen, auf. Dieser gab mir alle möglichen genauen Anweisungen, die ich mir Punkt für Punkt sogar in mein Notizbuch eintragen mußte. Nachdem ich etwa eine Stunde in dem Krankenzimmer – Steinberg litt an einem heftigen Anfall von Rheumatismus – geweilt hatte, machte ich mich nach der Privatwohnung des Polizeidirektors Wichugin auf den Weg, um dort die Ausstellung einer Legitimation, die zur Teilnahme als Pressevertreter bei den hauptsächlichsten Festakten des Präsidentenbesuchs berechtigte, für mich zu beantragen. Wichugin, für den Steinberg mir einen Brief mitgegeben hatte – sie kannten sich persönlich sehr gut – empfing mich mit ausgesuchtester Höflichkeit und gab mir dann im Laufe der Unterredung zu verstehen, daß es ihm gar nicht unangenehm wäre, seinen Namen als den des Leiters der polizeilichen Sicherheitsmaßregeln für die Festwoche auch in deutschen Zeitungen erwähnt zu finden. Ich sagte mit Freuden zu, erhielt meine von Wichugin unterzeichnete, gestempelte und mit einem allerdings recht oberflächlichen Signalement versehene blaue Legitimationskarte ausgehändigt und verabschiedete mich dann unter vielen Bücklingen von dem fraglos ebenso höflichen wie eitlen Polizeigewaltigen. Den Rest des Tages benutzte ich dazu, mir Petersburger Lokale anzusehen. Erst ziemlich spät dachte ich an den Heimweg, geradezu entzückt von dem eben durchkosteten, eigenartigen Weltstadtsgetriebe der Newastadt, nicht minder von den Menschen, denen ich bei dieser Streife begegnet war. Diese Russen waren doch wirklich ein vergnügtes Völkchen, anscheinend genußsüchtig wie die Pariser, und dabei so harmlos, so zuvorkommend. Im stillen lächelte ich jetzt schon über die Warnungen unseres Chefredakteurs. Mit diesen freundlichen Gedanken schlummerte ich auch bald ein.

Die nächsten Tage vergingen mir wie im Fluge, da meine berufliche Tätigkeit meine ganze Zeit in Anspruch nahm. Oft schrieb ich in der Droschke an meinen Berichten, oft noch während eines schnell hinuntergeschlungenen Imbisses. Leicht hatte ich’s nicht, und bisweilen kamen Momente, wo ich ganz verzweifelt war, wo ich nicht wußte, wie ich mir die Stunden einteilen sollte, um nur überall dabei zu sein und nichts zu versäumen. Nachts schlief ich dann regelmäßig wie ein Toter, fest, traumlos, so abgehetzt und ermattet war ich. Trotzdem spornten mich meine Erfolge – unser Blatt war mit meinen Stimmungsbildern außerordentlich zufrieden – stets aufs neue an und ließen mich über die wirklich ungeheueren körperlichen und geistigen Anstrengungen leichter hinwegkommen. Meine Legitimationskarte bewährte sich dabei vorzüglich. Sie öffnete mir jede Truppenabsperrung und zwang sogar die scharfen, russischen Polizisten zur Höflichkeit und möglichsten Berücksichtigung meiner Wünsche. Alles in allem konnte ich mit dem bisherigen Verlauf dieser Reise jedenfalls sehr zufrieden sein. Das Schlimmste war ja auch schon überstanden. Von dem großartigen Programm blieb nur noch die Truppenparade und das Fest in der französischen Botschaft übrig. Dann war wieder Ruhe im Lande, und ich konnte nach Hause zurückehren, wo ich mich zunächst einige Tage auf meinen wohlerworbenen Lorbeeren auszuruhen gedachte.

Es war am Morgen der großen Parade. Ich hatte mich bereits um sieben Uhr wecken lassen, um ja rechtzeitig zur Stelle zu sein. Uns Pressevertretern war dicht vor der Haupttribüne ein Platz reserviert worden, auf den wir uns aber spätestens um elf Uhr, eine Stunde vor Ankunft der allerhöchsten Herrschaften, eingefunden haben mußten, da nach elf niemand mehr die Absperrungslinien passieren durfte. Als ich mir gerade vor dem Spiegel die weiße Krawatte umband, klopfte es an meiner Zimmertür. Ich öffnete ein wenig und das deutsche, sehr niedliche Stubenmädchen flüsterte mir durch den Spalt zu, es sei ein Diener in Livree draußen, der mich zu sprechen wünschte. Nun, vor dem brauchte ich mich trotz meiner unfertigen Kostümierung – Frack und Weste lagen noch auf einem Sessel sauber ausgebreitet – nicht zu genieren.

„Soll eintreten.“ befahl ich kurz.

Darauf erschien ein blondbärtiger, sehr würdig ausschauender älterer Mann, der eine dunkelblaue Dienerlivree anhatte und in den weißbehandschuhten Händen eine gleichfarbige Schirmmütze hielt.

„Ich habe die Ehre, Herrn Redakteur Rittkens vor mir zu sehen, nicht wahr?“ begann er in tadellosem Deutsch mit gemessener Verbeugung.

„Allerdings.“

„Ich bin der Diener des Herrn Wilmers, ersten Sekretärs des deutschen Generalkonsulats. Diesen Brief sollte ich abgeben und auf Antwort warten.“

Herr Wilmers war mir völlig unbekannt, trotzdem als höherer deutscher Konsulatsbeamter mit allem schuldigen Respekt zu behandeln. Ich schnitt also den Brief schleunigst auf und überflog den Inhalt, wenige Zeilen, die auf einem mit dem Konsulatsstempel versehenen, sehr offiziell ausschauenden Bogen standen. Sie enthielten die höfliche Bitte, mich möglich ohne Säumen in die Wohnung des Herrn Wilmers zu bemühen, da derselbe mir im Auftrage einer hochgestellten Persönlichkeit wichtige Aufschlüsse darüber geben solle, welche Folgen dieser Besuch des französischen Präsidenten am Zarenhofe für die allgemeine politische Lage in Europa haben würde und welche Bedeutung ihm besonders für den Dreibund beizumessen sei. Zu meiner Bequemlichkeit schicke er – Herr Wilmers – mir gleich seinen Wagen mit.

Ich witterte mit meiner Reporternase natürlich sofort sensationelle Nachrichten und erklärte daher dem Diener, ich würde in einer Viertelstunde fix und fertig sein und dann den mir liebenswürdigst zur Verfügung gestellten Wagen benutzen.

Dieses Gefährt, ein elegantes, seidengepolstertes Coupé mit zwei erstklassigen Rappen davor und einem noch würdiger als der Diener dreinschauenden, ebenso livrierten Kutscher auf dem Bock, bestieg ich mit vor Stolz geschwellter Brust. Ja, ich spielte hier wirklich eine Rolle in Petersburg, das merkte ich jetzt wieder. Wenn mich nur meine Kollegen in diesem auf Gummirädern lautlos dahinrollenden Wagen hätten sehen können! Der Neid! – Na, neidisch würden sie ja auch so genug sein, besonders wenn ich auf Grund der zu erwartenden Informationen erst einen die übrige Presse verblüffenden Artikel über die neue politische Konstellation usw. usw. losgelassen haben würde …!

Dieser Art waren meine Überlegungen, während das Coupé in einem geradezu unglaublichen, echt russischen Tempo durch die Straßen jagte – durch Straßen und Stadtteile, die ich nie gesehen hatte, Brücken und Alleen, die mir vollkommen „böhmische Wälder“ waren. – Endlich hielt der Wagen. Der Diener öffnete den Schlag und schritt mir dann voran. Es war ein altertümlich gebautes, mächtiges Gebäude mit einer endlosen Fensterfront, das ich jetzt betrat. Wir stiegen zwei läuferbelegte, halbdunkle Treppen empor. Dann waren wir am Ziel. Ich stand in einem langen Korridor, dessen Wände mit alten Waffen geschmückt waren und der durch eine Ampel an der Decke ein mattes Licht empfing, das sich in blinkenden Reflexen in den alten Helmen, Schwertern und Lampen widerspiegelte. Der Diener nahm mir Paletot und Zylinder ab und öffnete dann eine der in den Korridor mündenden Türen. Ahnungslos ging ich voran, auf einen Herrn zu, der in der Mitte des elegant eingerichteten Zimmers stand, offenbar der erste Sekretär, der mich schon erwartet zu haben schien. Aber ich kam nicht weit. Ich hörte noch die Zimmertür wieder ins Schloß fallen, dann … wurde mir plötzlich von hinten, fraglos von dem Diener, eine dickwattierte, große Decke über den Kopf geworfen, und in demselben Augenblick fühlte ich mich auch schon an Händen und Füßen so fest umklammert, daß ich kein Glied mehr rühren konnte.

Nur für einen Moment hatte der erste Schrei mich gelähmt. Dann verlieh mir die Erkenntnis, daß ich in eine Falle gegangen war, Riesenkräfte. Ich versuchte mich aus der Umschlingung zu befreien, mich hinzuwerfen, um wenigstens einen Arm frei zu bekommen – alles umsonst. Ich schrie, so laut ich es nur vermochte, um Hilfe. Es nutzte mir nichts. … Ich merkte, wie man mir die Hände auf dem Rücken und auch die Füße fesselte und mich auf den Teppich legte. Eifrige Finger durchwühlten dann immer aufs neue sämtliche Taschen meines Anzuges, bemächtigten sich auch meiner Brieftasche, in der ich die Legitimationskarte der russischen Polizei verwahrt hatte. Und da ich fühlte, daß man mein sonstiges Eigentum, Uhr, Börse und die anderen Kleinigkeiten mit Ausnahme meines Revolvers und der schönen Saffiantasche wieder an die alten Plätze zurücksteckte, da durchzuckte mich mit einem Male eine furchtbare Erkenntnis. Hatte mich doch Polizeidirektor Wichugin, als er mir die Legitimation einhändigte, um die großmöglichste Vorsicht und Achtsamkeit gebeten. Ich solle die Karte ja nicht verlieren oder mir stehlen lassen, da mit ihrer Hilfe sich nur zu leicht ein Attentäter bis in die Nähe des Zaren vordrängen und so ein unabsehbares Unglück angerichtet werden könne. – Kein Zweifel, dieser Überfall war nur deswegen mit so großem Raffinement und diesem Aufgebot von Hilfskräften in Szene gesetzt worden, um mir die blaue, so überaus wertvolle Karte zu rauben. Irgendein Verbrechen war geplant, und ich Unglücklicher, ich blinder, leichtgläubiger Tor hatte nun den Mordbuben das Mittel an die Hand gegeben, das ihnen den Zutritt überallhin, auch zu den sorgfältigst abgesperrten Plätzen, verschaffte …!

In ohnmächtiger Wut, gefoltert von einer entsetzlichen Angst, bemühte ich mich immer wieder meine Bande zu sprengen. Es blieb bei dem Versuch. Inzwischen hatte man mich in ein anderes Zimmer getragen und dort die dicke Decke, die meinen Kopf verhüllte, so weit gelockert, daß ich wenigstens zu atmen vermochte. Da lag ich nun, zerrte an den Fesseln, rollte mich hin und her, drehte und wand mich wie ein Aal und schrie, nein, brüllte unausgesetzt um Hilfe. Aber ich bin überzeugt: selbst wenn sich über meinem Gefängnis in der oberen Etage Leute aufgehalten haben, so konnten sie doch nichts hören, nichts. Denn in dem Raume, der an den mir für meine vergeblichen Befreiungsversuche angewiesenen grenzte, wurde unausgesetzt Klavier gespielt, bis – ja bis ich mich so heiser geschrien hatte, daß ich keinen Laut mehr herausbekam, meine Körperkräfte vollends versagten und ich mich still verhielt wie ein Toter. Es war ja auch das Klügste, was ich tun konnte. Zu helfen vermochte ich mir ja doch nicht.

In dumpfem Brüten brachte ich die Stunden hin. Die schrecklichsten Bilder malte ich mir aus. Ich sah das Unglück schon geschehen, stellte mir vor, wie die politische Polizei nach dem Täter fahnden und dabei herausbringen würde, daß meine Leichtgläubigkeit und eitle Vertrauensseligkeit allein das Verbrechen ermöglicht hätten, wie man mir den Prozeß machen und mich dann nach Sibirien in irgendein Bergwerk schicken, wie die liebe Kollegenschaft daheim mit sogenanntem aufrichtigem Bedauern sagen würde: Der Rittgens nahm immer den Mund so voll, und nun hat er sich die Finger mal ordentlich verbrannt. – Doch nein – so gemein würden sie doch nicht sein! Denn Sibirien – damit treibt man doch keinen Scherz.

Das und ähnliches produzierte damals mein Hirn in tollen, jagenden Bildern. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie lange ich nun eigentlich schon so sauber umschnürt als wehrloses Paket dalag, keine Ahnung, wie spät es sein mochte. Meine Geduld wurde aber noch auf eine viel härtere Probe gestellt. Ich hatte inzwischen einen geradezu wütenden Hunger bekommen, und außerdem schmerzten mich auch die Stellen, an denen die Stricke um meine Gliedmaßen gelegt waren. Schließlich – so unwahrscheinlich das auch klingen mag – schlief ich infolge des ungeheuren geistigen und körperlichen Kräfteverbrauchs fest ein und wurde erst wieder munter, als ich mich hochgehoben und fortgetragen fühlte. Anscheinend brachte man mich eine Treppe hinab. Ich ließ alles mit mir geschehen. Widerstand war ja nutzlos, wie ich schon genügend ausprobiert hatte. Dann wurde ich in eine gepolsterte Ecke gesetzt. Erst dachte ich an einen hochlehnigen Sessel. Aber bald stellte ich an den fortwährenden Erschütterungen fest, daß ich in einem sehr schnell dahineilenden geschlossenen Wagen saß. Vielleicht eine Stunde dauerte diese unheimliche Fahrt, worauf das Gefährt mit einem Ruck hielt. Ich wurde vorsichtig hinausgetragen und aufrecht hingestellt. Flüsternde Stimmen drangen an mein Ohr, ich merkte auch, wie man sich an meinen Fesseln zu schaffen machte. Dann wurde alles still. Nur flüchtige Hufschläge glaubte ich einen Augenblick zu vernehmen.

Minuten vergingen. Nichts regte sich in meiner Nähe, nichts. Endlich wurde mir diese Situation doch langweilig. Außerdem war durch die kühle, frische Luft, die mich jetzt umwehte, meine Energie aufs neue erwacht. Vorsichtig begann ich abermals an meinen Fesseln zu zerren und war dann auch wirklich zu meiner großen Überraschung innerhalb weniger Sekunden frei. Wie ich nachher sah, hatte man vorhin die Stricke bis auf wenige Hanffäden durchschnitten, so daß sie nur noch zur Not zusammenhielten. Mit einem Ruck riß ich mir nun auch die Decke vom Kopf und schaute mich neugierig um. Ich befand mich in tiefster Dunkelheit auf einer breiten Fahrstraße, die zwischen Wiesen und Feldern entlang lief. In der Ferne aber erblickte ich jenen rötlichen Glanz am Nachthimmel, der über jeder großen Stadt wie der Widerschein einer gewaltigen Feuersbrunst lagert. Das war Petersburg, kein Zweifel. Da hatten mich meine Peiniger ja ein ganz gehöriges Stück hinausgeschleppt.

Mit Hilfe eines Wachsstreichhölzchens leuchtete ich nun meine nächste Umgebung ab. Was ich vermutet hatte, fand ich bestätigt: auf einem Chausseestein dicht neben mir lagen mein Paletot und mein Zylinder. Fröstelnd zog ich den Mantel über, drückte den Zylinder auf mein wüst zerzaustes Haupt und tappte langsam und vorsichtig in der Richtung auf den Lichtschein am Himmel die Straße entlang. Unterwegs begann ich meine Habseligkeiten zu revidieren. Alles war vorhanden. Selbst der Revolver und die Brieftasche steckten im Paletot. Nur das Wichtigste fehlte – die Legitimationskarte.

Nach einer halben Stunde sah ich dann vor mir die ersten Laternen aufblinken, und bald darauf traf ich auch eine leere Droschke mit einem völlig verschlafenen Kutscher auf dem Bock. Ich rief den Mann mehrmals an. Endlich kam er zu sich und stand mir Rede und Antwort. Da links das hohe Gebäude sollte die armenische Auferstehungskirche sein, die an der äußersten Westgrenze Petersburgs liegt. Zagend fragte ich den Kutscher weiter, ob denn die große Parade ohne Zwischenfälle glücklich verlaufen sei. Ich käme von auswärts und hätte noch nichts darüber erfahren. – Die Entgegnung des Wagenlenkers nahm mir einen Stein vom Herzen. Nichts Außergewöhnliches wäre passiert, nichts. Der Zar hätte auch abends an dem Fest in der französischen Botschaft in bester Laune teilgenommen und wäre erst gegen elf Uhr, vor zwei Stunden etwa, in das Winterpalais zurückgekehrt.

Dieselbe Droschke brachte mich dann nach der Wohnung Steinbergs, wo mein Erscheinen – ich mußte erst mindestens zehn Minuten an der Haustüre läuten ehe mir geöffnet wurde – allgemeine Aufregung hervorrief. Kaum hatte ich unserem Korrespondenten mein Abenteuer mitgeteilt, als er sich ganz entsetzt in seinem Bett aufrichtete. Ich solle umgehend zu Wichugin, dem Polizeidirektor, fahren und dem alles melden, meinte er. Sonst könnte die Sache sehr böse Folgen für mich haben. – Der Polizeidirektor war leider nicht daheim. Er sei noch auf dem Fest in der französischen Botschaft, gab man mir zum Bescheid. Dort gelang es mir denn wirklich ihn zu sprechen. Aber jetzt war der Russe wie verwandelt. Keine Spur von Höflichkeit. Im Gegenteil, er fuhr mich geradezu grob an, fluchte, jammerte – mit einem Wort, er nahm die Sache noch viel tragischer, als ich gefürchtet hatte, trotzdem sich bisher doch nichts Schlimmes ereignet hatte. Jedenfalls befahl er mir, nachdem er mich nach den geringfügigsten Einzelheiten meines Erlebnisses ausgefragt hatte, bis auf weiteres das Pensionat in der Kasanskajastraße nicht zu verlassen.

Völlig geknickt, das Herz voll trüber Ahnungen, daß diese Geschichte für mich doch noch böse ablaufen würde, kehrte ich heim. Es war vier Uhr morgens, als ich mein Zimmer betrat und das elektrische Licht andrehte. Langsam, mit wirrem Kopf, entkleidete ich mich. Ich hatte nur einen Wunsch: schlafen, recht fest und lange schlafen. – Wie ich dann nach alter Gewohnheit meine Börse, Uhr und Revolver in die Schublade des zu Häupten meines Bettes stehenden Nachttischchens lege und dabei einen Umschlag, in dem sich Hühneraugenpflaster befand – ich leide sehr an diesen peinigenden Hornhautbildungen – etwas beiseite schiebe, da, kein Wunder, daß ich förmlich zu Stein erstarre – da … liegt dort friedlich die unglückselige Legitimationskarte, die ich, wie mir jetzt erst einfällt, am Abend vorher aus meiner Brieftasche herausgenommen hatte, um die gedruckten Vorschriften darauf nochmals im Bett genau zu studieren, und die ich nachher in dem Nachttischchen unterbrachte, weil ich zu bequem war, deswegen besonders aufzustehen. Am Morgen hatte ich an die Karte, abgelenkt durch den Besuch des angeblichen Konsulatsdieners, gar nicht mehr gedacht und sie auch nicht bemerkt, als ich meine anderen Sachen in der Hast aus der Schublade herausnahm, weil sie eben durch einen unglücklichen Zufall unter den besagten Umschlag geraten war.

Keine drei viertel Stunden später stand ich wiederum vor Polizeidirektor Wichugin. Auch er atmete erleichtert auf, als er die Legitimationskarte sah und verwandelte sich nun auch umgehend wieder in den früheren, so überaus höflichen Beamten.

„Ohne Zweifel haben Sie sich in der Gewalt von Mitgliedern der Revolutionspartei befunden, die es ebenso zweifellos nur auf die Erlangung der Karte abgesehen hatten,“ gab er im Laufe unserer Unterredung seiner Ansicht Ausdruck. „Ich werde natürlich alles daransetzen, die Verüber dieses Streiches ausfindig zu machen. Viel Hoffnung auf Erfolg habe ich jedoch nicht, da Ihre Angaben kaum genügen, um das betreffende Haus, in dem Sie gefangen gehalten wurden, aus dem Häusermeer unserer Stadt heraussuchen zu können.“

In der Tat sind die Leute, die gerade mich mit so schlauer Ausnutzung des Umstandes, daß ich in Petersburg völlig unbekannt war, für ihre verbrecherischen Pläne ausgewählt hatten, niemals entdeckt worden. Als ich mich dann nach zwei Tagen bei unserem Chefredakteur zurückmeldete, drückte er mir seine Verwunderung darüber aus, weswegen meine beiden letzten Berichte über die Parade und den Ball im französischen Botschafterpalais so farblos ausgefallen wären, ganz im Gegensatz zu meinen übrigen Stimmungsbildern. Da erklärte ich ihm ganz ehrlich, daß ich die genannten Festveranstaltungen gar nicht persönlich mitgemacht und die Berichte daher teils aus der Phantasie, teils nach der spärlichen Angaben einiger Kollegen von anderen Blättern abgefaßt hätte. Und als Grund für diese Versäumnis erzählte ich ihm die Geschichte von der gefährlichen Legitimationskarte, wodurch ich hinlänglich entschuldigt war.