Von W. Kabel.
Über den Wortreichtum der einzelnen Sprachen veröffentlichte unlängst der österreichische Privatgelehrte Dr. Meyhöfer eine bemerkenswerte Abhandlung. Nach Meyhöfer gibt es heute auf der Erde etwa 860 verschiedene Sprachen und gegen 5000 Dialekte. Die geringste Anzahl Sprachen besitzt von den fünf Erdteilen Europa, nämlich nur 53, die meisten Asien mit 413. Von den 413 verschiedenen Sprachen der „Wiege der Völker“ fallen auf Indien allein 205, also die Hälfte. Wollte man nun den Kulturzustand eines Volkes lediglich nach dem Wortreichtum seiner Sprache beurteilen, und im allgemeinen dürfte diese Art der Einschätzung ziemlich zutreffend sein, da mit der steigenden Intelligenz der Volksseele auch die Menge der Wörter als der Vermittler des Gedankenaustausches notwendig wächst, so könnten wir Deutsche uns ohne weiteres rühmen, an der Spitze der Kulturnationen zu marschieren. Im ganzen beträgt die Menge der deutschen Wörter gegen 500 000, eine Zahl, die von keinem anderen Volke mehr erreicht wird, selbst wenn man die 70 000 Fremdwörter, welche ins Deutsche eingedrungen sind, die wir aber gar nicht mehr als fremde Sprachbestandteile empfinden, nicht mitzählt. Hinter dem Deutschen rangiert das Chinesische mit etwa 380 000 Wörtern. Dieses ist von allen übrigen Sprachen diejenige, die sich am reinsten erhalten, d. h. von anderen Sprachen so gut wie gar keine Wörter entlehnt hat, zugleich aber auch die älteste lebende Sprache, die sich im Laufe der Jahrhunderte am wenigsten geändert hat. Lediglich aus dieser Beständigkeit ist auch der heutige auffallende Wortreichtum des Chinesischen zu erklären. Es folgt das Englische mit 120 000 und dann erst, sehr zum Schmerze unserer westlichen Nachbarn, das Französische mit 110 000 Wörtern. Wie sich die Franzosen mit dieser Tatsache abzufinden wissen und aus ihr noch Kapital schlagen, zeigt ein Aufsatz des Pariser Professors der Philosophie Berand, in dem folgende Sätze wohl bei allen Nichtfranzosen ein lebhaftes Schütteln des Kopfes hervorrufen werden. „Die Summe der Intelligenz eines Volkes zeigt sich niemals in der Menge der Wörter, über die die Sprache der betreffenden Nation verfügt. Es wird stets nur ein Beweis von geistiger Schwerfälligkeit sein, wenn ein Volk zur Wiedergabe seiner Gedanken und Empfindungen sich genötigt sieht, den Wortschatz seiner Sprache ständig zu vergrößern. Wirklich hochstehende Intelligenz weiß auch mit einem mittelmäßigem Wortreichtum allem Ausdruck zu geben, was von dieser Intelligenz an Ideen hervorgebracht wird, und in dieser Beschränkung gerade sieht man die Fähigkeit zu höchster geistiger Konzentration.“ Diese Ansicht des französischen Professors ist denn auch von den berühmtesten Sprachforschern der Welt glatt abgelehnt worden, auch von solchen, wie z. B. der spanischen, norwegischen und der russischen. „Gerade das ständig fortschreitende, zielbewußte Erstarken eines Volkes in wirtschaftlicher und politischer Beziehung wird stets mit einer ungeahnten Vermehrung des Wortreichtums der Sprache Hand in Hand gehen,“ sagt z. B. der englische Publizist Chamberlain mit anerkennenswerter Aufrichtigkeit. Und Chamberlain hat uns Deutsche wahrlich nie geliebt!
Allerdings wäre es auch unrichtig, wollte man nun vielleicht aus der Wortarmut einer Sprache auf geistige Minderwertigkeit der betreffenden Nation schließen. Bei der Wortbildung innerhalb der einzelnen Sprachen haben eben zu verschiedene Momente mitgewirkt, um einen derartigen verallgemeinernden Satz aufstellen zu können. Zutreffend ist dieser Satz jedoch fraglos bei den Naturvölkern, wie die folgende Zusammenstellung deutlich zeigt. Die Reste der Ureinwohner Australiens stehen auf denkbar niedrigster Kulturstufe und verfügen nur über etwa 1500 Wörter, wie der Engländer Pellerton mühsam festgestellt hat. Noch bescheidener sind die Kubu, sicher das unzivilisierteste Volk der Erde. Ihnen genügen sogar 800 Wörter. Nicht viel größer ist der Wortschatz der Zwergvölker Innerafrikas mit etwa 1000. Überhaupt verfügen sämtliche Negervölker des schwarzen Erdteils durchschnittlich nur über 1000 bis 2500 Wörter. Die Eskimos sind in dieser Beziehung auch nicht gerade anspruchsvoll. Ihr Wortschatz umfaßt nur gegen 1200 Wörter. Diese Beispiele mögen genügen.
Für die Kulturvölker ist dagegen die durchschnittliche Wortanzahl ihrer Sprachen mit 45 000 berechnet worden. Dieselbe Wortzahl hat auch annähernd das Sanskrit, die alte Sprache Indiens, und das Altägyptische erreicht.