Sie sind hier

Die verhinderte Exekution

 

Die verhinderte Exekution.

Von W. K. Abel.

 

Unter diesem Titel veröffentlichte unlängst der englische Hauptmann Percy Sowdner in einer Londoner Zeitschrift ein spannendes Abenteuer aus den letzten Kämpfen des dicht vor dem Untergange stehenden chinesischen Kaiserreichs mit den siegreichen Rebellen. Sowdner gehörte nebst vier weiteren englischen Offizieren zu den wenigen europäischen Instrukteuren, die bei Ausbruch der Revolution den ihnen vom kaiserlichen Generalissimus angebotenen Abschied ablehnten. Die fünf Engländer ließen sich jedoch, um als alte Bekannte zusammen zu bleiben, zu derselben, der 4. Infanterie-Brigade, versetzen, wo Hauptmann Sowdner als der Dienstälteste den Befehl über ein Bataillon erhielt, während die übrigen Kompagnieführer wurden. Die genannte Brigade fand auf dem nördlichen Kriegsschauplatz Verwendung und schlug sich im Verbande der 2. Division, zu der sie gehörte, mit wechselndem Erfolge mit dem Feinde herum. Lassen wir den englischen Offizier jetzt selbst erzählen:

„Im Oktober 1911 war die Division auseinandergezogen worden, um neue Rebellenlager, die nach uns zugegangenen Meldungen im Westen bei den Städten Lu-ngan und Tsin errichtet waren, zu zerstören. Unsere Brigade marschierte, die beiden zu ihr gehörigen Regimenter in etwa einer Meile Abstand voneinander, auf Lu-ngan zu. Durch Spione hatten wir inzwischen genaue Kenntnis von der Lage des befestigten Lagers der Revolutionäre erhalten, wo frisch eingestellte Mannschaften schleunigst etwas einexerziert werden sollten, um dann gegen uns losgelassen zu werden. Unserer Avantgarden-Kavallerie unter Befehl des früheren österreichischen Rittmeisters Baron Silgenstern gelang es dann am Abend des 19. Oktober, in einem Dorfe etwa zwanzig (englische) Meilen vor Lu-ngan mehrere Führer der Revolutionäre, die dort zu einer Beratung über die weitere Aktion auf diesem Teil des Kriegstheaters zusammengekommen waren, gefangenzunehmen. Unser Brigadegeneral, Li-Tschen, ein treuer Anhänger des Kaisertums, machte mit den sechs Rebellen kurzen Prozeß. Bereits am 21. mittags wurden sie standrechtlich erschossen, trotzdem ich mit Rücksicht auf die allgemeine politische Lage energisch davon abgeraten hatte. Denn daß die Kaiserherrlichkeit in China ihrem Ende unaufhaltsam entgegenging, hatte ich aus den mir von Bekannten aus anderen Provinzen heimlich zugeschickten Nachrichten längst ersehen. Wie wenig wir uns schon damals auf unsere Truppen – die Brigade zählte alles in allem 3000 Mann – verlassen konnten, zeigte sich so recht bei dieser Hinrichtung. Als vom 2. Regiment, zu dem auch ich gehörte, sich 20 Freiwillige als Exekutionsabteilung melden sollten, trat nicht ein einziger Mann hervor. Im Gegenteil, die Leute murrten laut und ihre finsteren Gesichter bewiesen, daß es mit ihrer Ergebenheit für die kaiserliche Sache nicht mehr weit her war. Schließlich wurde einfach eine halbe Kompagnie zur Vollstreckung des Urteils kommandiert. Sechzig Mann standen in drei Linien hintereinander, die vorderste Reihe kniend, vor den an Pfähle gebundenen Todeskandidaten. Als der Befehl „Feuer“ ertönte, schossen von den sechzig Leuten höchstens zehn, so daß die Salve noch dreimal wiederholt werden mußte, bevor auch der letzte der Revolutionäre abgetan war. Einer von diesen war unzweifelhaft ein japanischer Offizier gewesen, wie die Japaner ja überhaupt dafür gesorgt haben, das durch Parteihader zerrissene chinesische Reich durch schnellen Sturz des Kaisertums völlig an den Rand des Abgrunds zu bringen, natürlich nur aus dem Grunde, weil Japan auf diese Weise den bezopften Konkurrenten im Osten gründlich lahmlegen und nachher selbst im trüben fischen wollte.

Ich kehrte von dieser Exekution in recht nachdenklicher Stimmung in mein Quartier, eine Dorfschenke, zurück. Dort trafen gegen Abend auch meine vier Landsleute ein. Wir sprachen sehr eingehend über die Lage, und Hauptmann W., den seine Gattin als Diener verkleidet mit ins Feld begleitet hatte, wollte jetzt unter allen Umständen seine Kompagnie abgeben und schleunigst mit seiner Frau nach Peking zurückehren, da er eine Rebellion unter unseren eigenen Truppen befürchtete. Wir rieten ihm hiervon jedoch entschieden ab. Für zwei einzelne Europäer wäre es damals auch wirklich unmöglich gewesen, diese Reise glücklich zu Ende zu führen. Das ganze Land ringsum befand sich im hellen Aufruhr, und die Zahl der kaisertreuen Bewohner und Beamten verringerte sich von Tag zu Tag mehr. Mord und Todschlag waren an der Tagesordnung. Mit einem Wort: es herrschte überall völlige Anarchie. Schließlich ließ W. sich durch die von uns geäußerten Bedenken umstimmen. Wir vereinbarten noch, sofort nach Einnahme des Rebellenlagers bei Lu-ngan die Truppen zu verlassen, was wir auf Grund unseres Anstellungsvertrages als Instruktionsoffiziere ohne weiteres tun konnten. Mit unserer Dienerschaft, auf die wir uns unbedingt verlassen konnten, bildeten wir immerhin eine Reisegesellschaft von etwa zwanzig waffengeübten Personen. Gut beritten, war ein solcher Trupp wohl imstande, sich bis Peking oder doch zunächst nach Ping-jan, wo ein englischer Geschäftsträger und gegen hundert Mann englische Truppen seit Beginn der Unruhen stationiert waren, durchzuschlagen. Dann brachen meine Freunde auf. Hauptmann W. und der Leutnant Molliton vom 3.Regiment bestiegen sofort ihre Pferde und galoppierten in die Dunkelheit hinaus, während die beiden anderen Kameraden sich in ihre Quartiere begaben.

An dieser Stelle möchte ich noch einige Worte über Frau Hauptmann W., eine geborene Lady B.-St., einflechten. Sie war eine jener Damen, die der Nichtengländer so gern als exzentrisch bezeichnet, ohne dabei zu bedenken, daß die Vertreterinnen des englischen Adels, von Jugend an an alle möglichen Arten des Sports gewöhnt und außerdem mit einem guten Teil jenes echt britischen Unternehmungsgeistes ausgerüstet, mit den Frauen anderer Nationen kaum verglichen werden können, da persönlicher Mut bei ihnen etwas Selbstverständliches und kühne Abenteuerlust eine notwendige Folge der Erziehung und des Nationalcharakters ist.

Damen, die wie Frau W. ihrem Gatten auf den Kriegsschauplatz folgten und Beweise einer ungewöhnlichen Seelenstärke zeigten, haben in der Geschichte unserer Kolonialkriege stets eine große Rolle gespielt. Daß sich unter der Maske des englischen Dieners „James“, den Frau W. mit ihrem gebräunten Gesicht, dem kurz geschnittenen Haar und den energischen Bewegungen trotz ihrer zierlichen Figur vorzüglich darstellte, eine Dame verbarg, wußte außer uns Landsleuten nur noch der Brigadegeneral Li-Tschen, da W. vorher bei einer anderen Division im Süden Chinas gestanden hatte und zum 3. Regiment erst seit einem halben Jahre gehörte. Frau W. war eine vorzügliche Reiterin, handhabte Feuerwaffen mit größter Sicherheit und, auch dies sei erwähnt, rauchte mit Vorliebe schwere Zigarren. Notwendigerweise mußte die Art, wie wir mit „James“ verkehrten, davon abhängig gemacht werden, ob wir ganz unter uns oder ob Fremde anwesend waren, denen der wahre Charakter des „vertrauten Dieners seines Herrn“ verborgen bleiben sollte. Im übrigen führte Hauptmann W. überall während dieses Feldzuges ein neues, leicht aufzuschlagendes Patentzelt mit sich, in dem „James“ es stets recht gemütlich hatte.

Am 1. November traf die Brigade endlich nach einem sehr beschwerlichen Marsche durch von Regengüssen aufgeweichte Felder vor der Stadt Lu-ngan ein. Die hier versammelten Rebellen sollten etwa 3000 bis 4000 Mann stark sein, wie uns Spione mitteilten, und hatten sich, soweit mit dem Glase erkennbar, in ihrem durch Verhaue und Schanzen befestigten, östlich der Stadt gelegenen Lager zur Verteidigung bereit gemacht. Bei einem nächtlichen Rekognoszierungsritt bemerkte ich in der linken Flanke der feindlichen Position etwa 1200 Meter davon entfernt eine jener alten Pagoden, wie man sie in China überall antrifft. Mir war dieser phantastische Tempel nur insofern interessant, als er auf einem aus der Ebene unmittelbar herauswachsenden, etwa zwanzig Meter hohen Felsplateau von geringem Umfang lag, das steil abfallende Wände und nur einen Zugang, eine in das Gestein sauber eingehauene, steile, breite Treppe auf der Südseite, hatte. Sofort sagte ich mir, daß dieser von dem Heiligtum gekrönte Felshügel – fraglos ein einsamer Vorposten des im Westen sichtbaren Hosch-Gebirges, ein strategisch äußerst wichtiger Punkt sei und unserer Artillerie – wir führten vier leichte Geschütze außer den fünf auf die Brigade verteilten ganz neuen Maschinengewehren mit uns – eine vorzügliche Stellung bieten würde.“

Hauptmann Sowdner schildert dann in etwas weitschweifiger Art die Entwicklung der Brigade gegen den Feind, den Angriff am Morgen des 3. November und dessen trauriges Resultat, das hauptsächlich dadurch veranlaßt wurde, daß gleich zu Beginn des Gefechts die kaiserlichen Truppen, häufig samt ihren Offizieren, massenhaft zu den Rebellen übergingen.

„Nachmittags gegen zwei Uhr befahl General-Tschen dann den Rückzug, da er nur noch über ungefähr 1500 Mann verfügte. Diese Anordnung kam jedoch viel zu spät. Inzwischen hatten die Revolutionäre, die vortrefflich geleitet wurden, uns vollständig umzingelt. Von allen Seiten erhielten wir jetzt Feuer, wodurch auch der letzte Rest von Ordnung aus den Formationen verschwand. Wieder begannen unsere Leute in ganzen Haufen zum Feinde überzugehen, indem sie zum Zeichen ihrer friedlichen Gesinnung ihre Mützen auf die Gewehrmündungen deckten. Zu unserem Unglück gelang es den Rebellen dann auch, unsere Verbindung mit der Pagode, wo unsere Geschütze standen, abzuschneiden. Und mit einem Male krepierten die Granaten nicht mehr in den Reihen des Gegners, sondern in unseren eigenen, – ein Beweis, daß unsere Artilleristen sich ebenfalls auf die Seite der Sieger geschlagen hatten. In Voraussicht dessen, was nun kommen mußte, raffte ich als Befehlshaber des linken Flügels die Reste meines Bataillons zusammen und machte urplötzlich einen verzweifelten Durchbruchsversuch auf das Felsplateau hin. Dieser gelang. Leider beging der General jetzt den zweiten schweren Fehler an diesem Tage. Anstatt nämlich sofort hinter mir herzudrängen, versuchte er sich nach Norden hin durchzuschlagen, wo er auf die gegen die Stadt Tsin ausgeschickte zweite Brigade unserer Division zu stoßen hoffte. Während es mir gelang, den Zugang zu der Pagode glücklich zu erzwingen und mit vier Maschinengewehren und etwa dreihundert Mann das Felsplateau zu besetzen, wurden Li-Tschens Truppen nunmehr vollkommen aufgerieben, oder, richtiger gesagt, sah sich der General bald von all seinen Soldaten verlassen und wurde mit sechzehn ihm treu gebliebenen Offizieren gefangengenommen. Unter den Gefangenen befand sich leider auch, wie sich bald herausstellte, Hauptmann W., dessen Gattin und Leutnant Molliton.

Die Rebellen, die wohl einsehen mochten, daß ich in meiner Stellung auf dem schroffen, von Maschinengewehren, Geschützen und einigen hundert Gewehren verteidigten Felsplateau so gut wie unangreifbar war – der Feind selbst verfügte über keine Artillerie – ließ mich den Rest des Tages über völlig in Ruhe. Trotzdem wußten wir drei Engländer, die wir uns hier zusammengefunden hatten, nur zu gut, daß wir auf unserem einsamen Posten verloren waren, da der Feind uns in wenigen Tagen ausgehungert haben mußte. Wir ließen uns den Leuten gegenüber jedoch nichts von unserer gedrückten Stimmung anmerken, erklärten vielmehr sehr zuversichtlich, wir hätten Boten zu General Li-ba-djung, dem Kommandeur der bei der Stadt Tsin operierenden 3. Brigade, geschickt und um schleunige Hilfe gebeten. Dies war auch Tatsache. Nur verschwiegen wir, daß der General unmöglich zur rechten Zeit eintreffen konnte, um uns zu entsetzen.

Die Nacht kam. Unermüdlich schritten wir drei europäischen Offiziere – unsere chinesischen Herren Kameraden hatten es sämtlich vorgezogen, fernerhin auf Seite der Revolutionäre zu kämpfen – die aufgestellten Posten ab. Gegen Mitternacht war’s, als einer der beiden Buddhistenmönche, die in dem Heiligtum als Priester hausten und die gut kaiserlich gesinnt waren, mich heimlich darauf aufmerksam machte, daß unter unseren Soldaten, die vor dem Tempel auf dem nackten Fels lagerten, eine ungewöhnliche Bewegung herrschte. Schlimmes ahnend sollte ich gerade auf die Leute zugehen, um ihren Mut durch eine neue Ansprache zu beleben, als einige Unteroffiziere vor mich hintraten und mir erklärten, die gesamten Mannschaften hätten, da sie von den Rebellen im Falle einer Erstürmung des Plateaus aus Rache erschossen zu werden fürchteten, mit wenigen Ausnahmen beschlossen, dem Beispiel ihrer Gefährten zu folgen und zum Feinde überzugehen. Falls wir dieses Vorhaben zu verhindern suchen würden, mußten sie uns, so ungern sie es auch täten, niederschießen.

Wenige Minuten später waren wir drei Europäer mit genau achtundzwanzig uns treu gebliebenen Leuten, darunter unsere drei Diener, und den beiden Priestern auf dem Plateau allein. In welcher Stimmung, läßt sich denken. Wir entschlossen uns nun, einen der Priester als Parlamentär zum Feinde zu senden und unsere kleine Feste zu übergeben, da weiterer Widerstand Wahnsinn gewesen wäre. Nach zwei Stunden, als eben der Morgen zu grauen begann, kehrte der Mönch sehr niedergeschlagen zurück. Der Befehlshaber der Revolutionäre hätte ihm hohnlachend bedeutet, es wäre ihm gleichgültig, ob wir die Waffen strecken wollten oder nicht. Dem Tode würden wir drei Engländer doch nicht entgehen, ebenso wie er auch die gefangenen kaiserlichen Offiziere samt General Li-Tschen zur Vergeltung für die unlängst erfolgte Hinrichtung der sechs Rebellenführer füsilieren lassen würde.

Offen gestanden hatte ich etwas Ähnliches gleich gefürchtet, da die ganze Revolution ja von vornherein neben der Beseitigung der Mandschu-Dynastie auch die Ausrottung sämtlicher Fremden bezweckte und der Haß der Rebellen in seiner wildesten Erbitterung sich gerade gegen uns europäische Instrukteure richtete. Während wir noch stumm und gedankenvoll in dem kleinen Wohnraum der Buddhisten-Priester beieinander standen und bereits den sicheren Tod vor Augen sahen, kam uns die Rettung von einer Seite, von der wir es nie gehofft hatten. Schweigend hörten wir den Vorschlag des einen der Priester mit an und erklärten uns dann sofort bereit, darauf einzugehen.

Ich übernahm es, unsere Leute dazu zu bewegen, nunmehr gleichfalls ihr Heil bei den Rebellen zu versuchen, da wir Europäer, wie ich ihnen vorredete, in einer Verkleidung noch vor Tagesanbruch fliehen müßten, wenn wir unser Leben retten wollten. Sie glaubten uns und schlichen einer hinter dem anderen die steile Treppe hinab. Nur unsere chinesischen Diener, treue ehrliche Burschen, machten Schwierigkeiten, indem sie nicht ganz mit Unrecht einwendeten, man würde sie bei den Rebellen nicht viel besser als uns selbst behandeln. Schließlich behielten wir sie denn auch bei uns. In aller Eile wurden nun die Verschlußstücke aus den Geschützen und den Maschinengewehren entfernt. Die Artilleriemunition ließen wir stehen, nur die Maschinengewehrpatronen nahmen wir nebst den Verschlußstücken mit in das Versteck, in das uns jetzt die Priester führten.

Dieses lag unter der Pagode im Innern des Felsplateaus, in das sicher schon vor Jahrhunderten zu irgendwelchen Zwecken ein wahres Labyrinth von Höhlen und Gängen ausgehauen war. Der Zugang zu diesen unterirdischen Kammern, die, soweit sie sich an den Außenseiten des Felskegels befanden, durch ganz unauffällig angelegte Öffnungen Licht und Luft erhielten, war so geschickt unter der drehbaren Riesenstatue des Gottes Buddha in der Haupthalle der Pagode angebracht, daß wir uns hier völlig sicher fühlen konnten, zumal niemand sonst von diesem geheimen Schlupfwinkel, wie die Priester immer wieder versicherten, eine Ahnung hatte. Nachdem die Mönche uns noch reichlich mit Wasser und gedörrtem Reis versehen hatten, ließen sie uns allein.

Draußen wurde es heller und heller. Durch die Schießscharten ähnlichen Öffnungen in den Felswänden konnten wir nach allen Seiten hin Umschau halten. Mit unseren Ferngläsern beobachteten wir genau jede Bewegung der Rebellentruppen, die die Pagode völlig umzingelt hielten. Plötzlich ging ein schweres Gewitter mit wolkenbruchartigen Regenschauern nieder. Diese Dunkelheit bedeckte abermals für eine reichliche Viertelstunde die Erde. Als das Unwetter sich dann verzogen hatte, ergriff der Feind, dem unsere Leute wahrscheinlich unsere Absicht zu fliehen mitgeteilt hatten, Besitz von dem Felsplateau. Bange Stunden folgten für uns. Fürchteten wir doch jede Minute, daß die Rebellen den Zugang zu den unterirdischen Räumen entdecken würden. Um unser Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, hatten wir uns am Fuße der kleinen, von dem Buddha-Bilde aus in die Tiefe führenden Treppe aufgestellt, die Gewehre in der Hand, die Pistolen lose im Gürtel. Aber unseren Köpfen hörten wir deutlich das leise Dröhnen zahlreicher Schritte. Das war das einzige Geräusch, das zu uns herabdrang. Allmählich fühlten wir die Beklemmung von unseren Herzen weichen. Die furchtbare Nervenanspannung, dieses beständige Horchen und Harren, ließ nach. Schließlich machten wir uns sogar mit gutem Appetit über unsere bescheidenen Nahrungsmittel her.

Der Tag verging. Nichts geschah, woraus wir auf eine Verschlimmerung unserer Lage hätten schließen dürfen. Bei Einbruch der Dunkelheit erschien dann der eine der Priester bei uns und teilte uns mit, daß die Rebellenführer überzeugt seien, wir wären ihnen in der Verkleidung einfacher Soldaten entkommen. Aber was er dann zögernd noch weiter berichtete, ließ uns das Blut in den Adern erstarren: Morgen früh würden General Li-Tschen und die beiden englischen Offiziere – dies waren Hauptmann W. und Leutnant Molliton! – sowie der englische Diener – !!! – standrechtlich erschossen werden. Die übrigen gefangenen Offiziere seien begnadigt worden.

Wir haben in jener Nacht kein Auge zugetan. Gedanken ohnmächtiger Wut und der Trauer, auch allerlei Pläne zur Rettung unserer Kameraden, Pläne, die leider nicht auszuführen waren, jagten durch unser Hirn. Es wurde eine endlose, endlose Nacht.

Hell beschien die Sonne am nächsten Morgen die Ebene von Lu-ngan, das Lager der Rebellen und die Trupps von bunt uniformierten Soldaten, die sich in der Nähe der Pagode umhertrieben. In atemloser Spannung standen wir mit unseren Ferngläsern an den Felsöffnungen, suchten die Umgegend ab, um festzustellen, wo die Exekution stattfinden sollte. Wir mußten endlos lange Zeit warten, bis sich endlich ein geschlossener Zug aus dem Lager auf die Pagode zu bewegte. Die Truppen formierten dicht zu unseren Füßen ein gegen das Felsplateau hin offenes Karree. Neue Truppen rückten nach. Und dann erschienen inmitten einer starken Eskorte die, die dem Tode verfallen waren: General Li-Tschen, neben ihm Leutnant Molliton, hinter diesen Hauptmann W. und … James … James!!

Während wir noch bleich vor innerer Erregung hinausstierten, ertönte hinter uns ein leiser Schritt. Es war einer der Priester. Er brachte uns einen halben Sack Reis und eine Holzkanne Wasser. Die Pagode sei jetzt völlig verlassen, meinte er erklärend. Alles sei fort, um der Hinrichtung beizuwohnen. Nur am Fuße der Pagode ständen zwei Posten.

Plötzlich packte mein Kamerad Warnley hart meinen Arm. Seine an den Priester gerichteten Fragen überstürzten sich. Ich begriff sofort, was er damit bezweckte.

Wir würden die da draußen nicht allein sterben lassen – wenn sie schon sterben mußten!!

In wilder Jagd ging’s nach oben in die Halle der Pagode, wo die Rebellen die unbrauchbar gemachten und für sie daher wertlosen Geschütze und Maschinengewehre aufgestellt hatten. Danach hatte Warnley gefragt, danach …!

Die Verschlußstücke wurden eingesetzt, unsere Dienen schleppten die Kisten mit den Patronenstreifen herauf. In wenigen Minuten war das alles getan.

Da erst ahnten die beiden Priester, was wir vorhatten. Sie machten Schwierigkeiten, wollten aus Angst um ihr Leben unser Vorhaben verhindern. Es blieb uns nichts anderes übrig, als sie zu fesseln und zu knebeln. Dann krochen wir zum Nordrande des Plateaus hin, dessen einem Mauerkranz ähnlicher ungleichmäßiger Felsenrand vorzügliche Deckung bot. Langsam schoben wir die vier Maschinengewehre in Stellung. Mein Diener Pi-Weng, ein heller Bursche, der einfach alles verstand, sollte das vierte bedienen. Dreitausendachthundert Patronen standen uns zur Verfügung. Das genügte … – Erst probierten wir vorsichtig, ob der Mechanismus überall auch tadellos funktionierte. Dann krochen die Leinwandstreifen mit den blanken Patronen in die Kammern hinein. Wir waren bereit …

Unter uns, keine sechzig Meter entfernt, hatte sich jetzt eine Abteilung Rebellen, zwanzig Mann etwa, Gewehr bei Fuß den Verurteilten gegenüber aufgestellt. Diese selbst sahen wir nicht, da man sie offenbar ganz dicht an die Felswand geführt hatte. Um das große Truppenkarree aber drängte sich Kopf an Kopf die ganze Bevölkerung der Stadt Lu-ngan, um ebenfalls das seltene Schauspiel einer Hinrichtung von drei verhaßten Europäern mitzugenießen.

Der Offizier, der die Abteilung kommandierte, ließ jetzt laden und wandte sich dann an einen dicken Chinesen in Mandarinenkleidung, anscheinend den obersten der Rebellenführer. Es wurde Zeit für uns. Noch einige kurze Worte der Verständigung, dann … dann flog eine wahre Kugelsaat auf die Rebellentruppen zu. Wer die Wirkungen eines modernen Maschinengewehres auf so kurze Entfernung und auf ein so dicht gedrängt stehendes Ziel kennt, wird begreifen, daß schon nach den ersten fünfhundert Schüssen, die unaufhörlich aus den Läufen blitzten, die ganze Menschenmasse unter uns in wildester Panik in alle Winde sich zerstreute. Und hinterher feuerten wir, so schnell die Kugeln nur heraus wollten. Rasend schnell klang das nervenaufreizende knackende Knallen der Maschinengewehre.

Schon als die allgemeine Flucht begann, war Warnley die Pagodentreppe hinabgeeilt, in jeder Hand eine Mehrladepistole, hatte die beiden Posten durch ein paar Schreckschüsse in die Flucht gejagt und, um das Felsplateau herumlaufend, die vier Delinquenten glücklich nach oben zu uns geleitet.“

Hauptmann Sowdner erzählt weiter, wie die Rebellen dann noch an demselben Tage drei vergebliche Angriffe auf das Plateau machten, stets aber mit blutigen Köpfen mit Hilfe der Maschinengewehre und der Geschütze, die die Engländer mit Kartätschen luden, zurückgewiesen wurden. Am Spätnachmittag zeigte der Feind plötzlich eine besondere Geschäftigkeit und verließ dann bei einbrechender Dunkelheit in der Richtung nach Osten das befestigte Lager. Kurz darauf erschien im Norden die Vorhut der 3. Brigade, die das Rebellenlager bei der Stadt Tsin verlassen gefunden hatte und in der Annahme, daß die Schwesterbrigade jetzt überlegenen feindlichen Streitkräften gegenüberstehe, sofort in Eilmärschen auf Lu-ngan zu weiter vorgerückt war.

Acht Tage später trafen die englischen Offiziere und Frau Hauptmann W. wohlbehalten in Peking ein. Und wieder zwei Monate später, im Februar 1912, befahl ein Edikt des Kaisers von China die Bildung der Republik.