Von W. K.
Unter den Negerstämmen der Sierra-Leone-Küste von Westafrika herrscht noch heute trotz der zahlreichen europäischen Faktoreien, die über das ganze Land verstreut sind, der krasseste Aberglauben. Ein französischer Faktoreileiter, der mehr im Innern einen verlorenen Posten verwaltete, berichtet über die sogenannten Gottesgerichte der Schwarzen folgendes: „Die schlimmsten Halunken unter den Negern sind stets die Jujumänner oder Priester, vor denen die übrige Bevölkerung eine heillose Angst hat, da ihnen das Recht zusteht, gegen jede Person, ob Mann, Weib oder Kind, öffentlich Anklage wegen Mißachtung der religiösen Gebräuche und Zauberei zu erheben. Diese Prozesse nehmen zumeist den Ausgang, daß der Angeschuldigte sich der „Gedu-Probe“ unterwerfen muß, damit dadurch seine Schuld oder Unschuld erwiesen würde. Der Gedu-Baum besitzt nämlich eine rötliche Rinde, das sogenannte Rotholz, deren Absud äußerst giftig ist und für unfehlbar zur Entdeckung von Verbrechen gehalten wird. Es ist also gewissermaßen ein Gottesgericht. Bleibt der, der den Gedu-Trank schlürfen muß, am Leben, so ist er unschuldig – stirbt er, so ist er schuldig. – Es geschah nun oft, daß von den Priestern geradezu Anklagen erkauft wurden, um sich eines kranken Weibes, eines altersschwachen Vaters oder eines reichen Verwandten zu entledigen, und da der Jujumann den Gifttrank selbst mischte und ganz nach Belieben stärker oder schwächer braute, so blieb der Erfolg selten aus, wenn der Trinkende auf Wunsch irgendeines lieben Nächsten, der zahlungsfähig war, sterben sollte.
Derartige „Gottesgerichte“ ereigneten sich in meiner Nachbarschaft täglich und rafften eine Menge Unschuldiger dahin, die der Habgier oder der Tücke anderer zum Opfer fielen. Ich hatte bald genauen Einblick in dieses freventliche Treiben gewonnen und sann daher auf Mittel, diesem Unfug auf irgendeine Weise ein Ende zu machen. Mit Gewalt war hier jedoch nichts auszurichten. Auf achtzig Meilen im Umkreis war ich der einzige Weiße, und es wäre mir sicher übel ergangen, wenn ich mich in die Angelegenheiten der fanatischen Schwarzen eingemischt hätte. Tat dies doch nicht einmal die Kolonialregierung, die mir auf meinen Bericht hin antwortete, sie würde „demnächst“ die Beschwerde untersuchen lassen. Dieses „demnächst“ kannte ich aus Erfahrung. Ich mußte also schon selber die Sache in die Hand nehmen.
Als daher das nächstemal in der kleinen Ansiedlung, die sich um meine Faktorei gebildet hatte, wieder ein solches „Gottesgericht“ stattfinden sollte, bat ich höflich, daß man den Angeklagten zur größeren Sicherheit in meinen Lagerschuppen einsperren möge, bis der verhängnisvolle Trank bereitet und die Stunde für dessen Anwendung gekommen sei. Der Angeschuldigte war ein Krumann, dem man vorwarf, den Tod seines Neffen durch verderbliche Beschwörungen herbeigeführt zu haben. Der Priester war befragt worden, hatte die Anklage bestätigt und überließ mir den armen Burschen tatsächlich zur vorläufigen Einkerkerung.
In der Frühe des folgenden Tages zerstieß der Juju seine Rinde, mischte sie mit Wasser und dampfte den Trank über einem schwachen Feuer ab, um die Stärke des Giftes auszuziehen. Da ich mit gutem Grunde glaubte, daß eine besondere Feindseligkeit gegen den eingekerkerten Krumann herrschte, so besuchte ich den Juju in seiner Hütte, während er die Mischung zubereitete, und bestach ihn mit einer Flasche Rum dem Gifttranke dreifache Kraft zu geben. Ich sagte ihm, mein Matta-Matta (weissagende Gottheit) habe dem seinigen widersprochen und den Angeklagten für unschuldig erklärt, so daß mir außerordentlich viel daran liege, die Wahrhaftigkeit unserer beiderseitigen Propheten auf die Probe zu stellen.
Der Schurke versprach genaue Erfüllung meines Wunsches. Ich eilte darauf in die Faktorei zurück, um die verhängnisvolle Stunde zu erwarten. Bis zum Moment der Verabreichung des Trankes blieb ich mit dem Angeklagten allein, gab ihm, gerade bevor das Tor geöffnet wurde, eine doppelte Dosis Brechweinstein und führte ihn dann mit Ketten beladen hinaus. Der kühne Neger, den das Bewußtsein seiner Unschuld stärkte, verschluckte voll Vertrauen auf die größere Zaubermacht des weißen Mannes den Trank, ohne eine Miene zu verziehen, und in weniger als einer Minute bewies das wieder ausgeworfene Gift seine Unschuld und brachte den afrikanischen Hexenmeister in arge Verwirrung. – Dieser Ausgang des Prozesses erregte natürlicherweise unter einer so abergläubischen Bevölkerung nicht geringes Aufsehen. Der gerettete Krumann erzählte seinen Gefährten von dem ihm durch mich eingegebenen „Rotholztranke des weißen Mannes“, und die Angeklagten wurden nachher stets in mein Heiligtum gebracht, wo der widerstrebende Zauber meines Brechmittels bald das einheimische Gift besiegt und gar manches nützliche Leben rettete. Nach kurzer Zeit verschwand der schändliche Brauch ganz und gar.“