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Der Stärkere

 

Der Stärkere.

Novellette von W. Kabel.

 

Als Gerhard Mallings in die stille Menzelstraße einbog, verlangsamte er seine Schritte unwillkürlich noch mehr. In demselben Augenblick, wo ihm dies zögernde Tempo aber zum Bewußtsein kam, schalt er sich auch schon einen Feigling, der – wahrscheinlich völlig überflüssigerweise! – vor einer Aussprache zurückschreckte, die nun einmal jeder Mann herbeiführen muß, wenn er an die Gründung eines eigenen Herdes denkt und hinsichtlich der Person der Herzenserkorenen mit sich im klaren ist. Und – was sollte denn wohl selbst eine so verwöhnte Frau wie Ellen Wiegand an ihm auszusetzen haben? War er nicht mit seinen 35 Jahren bereits ordentlicher Professor der Philosophie! Und äußerlich stellte er doch erst recht seinen Mann, das wußte er trotz seiner Bescheidenheit ganz gut. Und sein innerer Mensch – mit dem konnte Ellen Wiegand wohl ebenso zufrieden sein. Gewiß, er hatte wie jeder andere seine Fehler und Schwächen, aber diese verdarben den Gesamteindruck sicherlich nicht derart, um ihn als unerwünschten Freier erscheinen zu lassen. Also – wozu diese Angst vor dem Kommenden! Er hatte es ja auch gar nicht mehr nötig, viele Worte zu machen. Sie mußte längst wissen, wie es um ihn stand, und wären ihr seine häufigen Besuche unangenehm gewesen, so würde sie diesen freundschaftlichen Verkehr fraglos längst eingeschränkt haben.

Inzwischen war er an dem Gitter des Vorgartens angelangt, welches das Eigentum der jungen Witwe gegen die Straße hin begrenzte. Die kleine Villa, die Frau Wiegand mit ihrer Tante und zwei weiblichen Dienstboten allein bewohnte, lag ein Stück zurück inmitten eines weiten Parkes unter uralten Buchen- und Tannengruppen, die im Verein mit den wohlgepflegten Wegen, Blumenbosketten und einigen geschmackvollen Sandsteinfiguren der ganzen Besitzung nicht nur ein hochvornehmes, sondern auch einen Zauber von Behaglichkeit verbreitendes Aussehen verliehen.

Gerhard Mallings wollte gerade die Gitterpforte öffnen, als plötzlich eine gewaltige Dogge mit wütendem Gebell herbeigestürzt kam und sich zähnefletschend an den schmiedeeisernen Stäben aufrichtete. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich durch die an der eisernen Tür angebrachte elektrische Klingel Hilfe herbeizurufen, zumal er von ähnlichen Attacken her wußte, daß Hektor durch keinerlei Schmeichelreden zur Freigabe des Einganges zu bewegen war.

Er stand also auf dem Bürgersteig und wartete. Und wie es seine Gewohnheit war, die geringfügigsten Vorfälle in seinem Leben als glück- oder unglückverheißende Vorbedeutung mit zukünftigen, von ihm herbeigewünschten Ereignissen in Zusammenhang zu bringen, schloß er aus dem unfreundlichen Empfang durch die Dogge auf eine ihm drohende Niederlage bei dem bevorstehenden Angriff auf das Herz der ebenso vielumworbenen wie kapriziösen Frau. Sein Mut war daher schon wieder um ein beträchtliches gesunken, als er jetzt dem Stubenmädchen, das den Hund zuvor in der neben dem Hauptgebäude liegenden Autogarage eingesperrt hatte, voranschritt und dann auf dem dielenartig gebauten Flur mit klopfendem Herzen seinen Paletot ablegte.

„So feierlich, lieber Professor?“ empfing ihn Ellen Wiegand mit einem erstaunten Blick auf seinen tadellos sitzenden Frackanzug und den ebenso tadellos glänzenden Zylinder. Dann aber erinnerte sie sich an Hektors ungezogenes Benehmen, das sie vom Fenster aus beobachtet hatte, und fuhr in leichtem Plauderton fort:

„Entschuldigen Sie bitte, daß mein Zerberus so gar keinen Unterschied zwischen gern gesehenen und lästigen Gästen macht. Ich habe wirklich eine rechte Plage mit dem Hunde. Letztens hat er wieder den Briefträger angefallen, und die Boten meiner Lieferanten weigern sich seinetwegen ebenfalls schon hartnäckig, mein Haus zu betreten. Am liebsten würde ich ihn abschaffen. Es werden ja so viele Hunde hier in der Villenkolonie gestohlen. Nur an Hektor vergreift sich niemand. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, lieber Freund.“

Gerhard Mallings erschien das Hundethema als ein recht günstiger Übergang auf das andere, weniger profane Gebiet, welches er heute notwendig streifen mußte.

„Aus ihren Reden schließe ich, Frau Ellen,“ begann er diplomatisch, nachdem er sich in einem der Sessel niedergelassen hatte, „daß Sie gar nicht so sehr traurig wären, wenn Hektor eines Tages verschwinden würde. Weswegen verkaufen Sie den Hund denn nicht? Ein Liebhaber für das schöne Tier würde sich schnell finden.“

„Das glaube ich schon. Aber ich habe meinem Manne, der sehr an der Dogge hing, versprechen müssen, sie nie fortzugeben. Mir sind also die Hände in dieser Beziehung gebunden.“

„So, so, das ist allerdings etwas anderes. Nun, wenigstens haben Sie den einen Trost, daß Hektor Ihrem Hause ein ganz zuverlässiger, gerade in dieser Gegend, wo die Gebäude so weit verstreut liegen, nicht zu unterschätzender Wächter ist, falls Sie eben nicht die Absicht haben sollten, einem Manne das große Glück zu bereiten, Sie bis an Ihr Lebensende aufs sorgsamste beschützen – nein, nicht nur das – auf Händen tragen zu dürfen – eine Aufgabe, die ich mit Freuden übernehmen würde.“

Nun war es heraus. Und wenn der Professor die letzten Sätze auch etwas stoßend vorgebracht hatte, der leise vibrierende Ton seiner Stimme ließ die junge Frau die volle Bedeutung dieser Worte sofort richtig erfassen. Zudem hatte Gerhard Mallings sich von seinem Sessel erhoben und stand ihr nun mit bittendem Ausdruck in seinen weichen, dunklen Augen gegenüber.

Eine geraume Weile verging, ehe Frau Ellen sich zu einer Erwiderung aufraffte.

„Wenn ich Sie recht verstehe, lieber Freund,“ begann sie jetzt, während ihr eine heiße Blutwelle ins Gesicht schoß, „so … so soll dies wohl Ihrerseits ein … Antrag sein, nicht wahr?“

„Ja – das soll es sein, Frau Ellen. Und der, der hier vor Ihnen steht, kann Ihnen nur versichern, daß er Sie wirklich über alles liebt und daß er nur den eine Wunsch kennt, Sie glücklich zu machen,“ erwiderte er eifrig.

Doch der Erfolg dieser mehr korrekten, als von großer Leidenschaft diktierten Antwort blieb aus. Ellen Wiegand schaute sinnend vor sich hin. Sie fühlte nichts wie eine große Enttäuschung. Anders, ganz anders hatte sie sich einst den Augenblick ausgemalt, wo der von den Frauen so sehr verwöhnte Professor das entscheidende Wort sprechen würde. So schien sie sich also doch nicht in ihrer Vermutung getäuscht zu haben, daß Gerhard Mallings’ weiche, ja fast mädchenhaft weiche Seele großer Erregungen gar nicht fähig wäre, daß er eben trotz seines vorteilhaften Äußeren kein Temperament besäße. Aber in diese Enttäuschung mischte sich schnell ein anderes Empfinden, das des Bedauerns. Denn sie schätzte ihn nicht nur wegen seines untadeligen Lebenswandels und seiner äußeren Erscheinung, sondern auch wegen der steten zarten Aufmerksamkeiten, mit denen er sie in stillem, geduldigem Werben umgeben hatte. Und – wäre er heute nicht in dieser so wenig selbstbewußten, so alltäglichen Art und Weise vor sie hingetreten, dann würden sich ihr die längst im stillen gehegten Bedenken sicher nicht mit dieser zur Vorsicht mahnenden Deutlichkeit in diesem Moment aufgedrängt haben. Jetzt aber … Nein, nicht noch einmal eine Ehe, wie ihre erste, in der die stete Güte und Nachgiebigkeit ihres Gatten sie nur gelangweilt und schließlich zum Widerspruch und zu allerlei launenhaften Einfällen gereizt, in der sie sich zu einer kleinen Tyrannin herausgebildet und allzu schwache Charaktere geradezu verachten gelernt hatte.

Die Situation wurde für den Freier, der so geduldig auf die Entscheidung wartete, mit der Zeit doch recht unangenehm. Frau Ellen hatte sich derart in ihre Gedanken eingesponnen, daß er sie endlich durch ein leises Räuspern an seine Gegenwart erinnern zu müssen glaubte. Beinahe erschreckt fuhr sie zusammen.

„Verzeihen Sie,“ sagte sie mit leichter Verwirrung, „meine Gedanken waren soeben unwillkürlich einige Jahre zurückgewandert.“ Und dann, schon wieder völlig gefaßt, fuhr sie schnell fort, indem sie an ihm vorüber auf das lebensgroße, an der Wand hängende Porträt ihres verstorbenen Gatten blickte: „Ich habe Vergleiche angestellt – zwischen Ihnen und dem, dem ich zuerst angehörte. Und da, lieber Freund, sind so viele Bedenken in mir aufgestiegen, daß ich, so leid es mir auch tut, Ihren ehrenden Antrag nicht annehmen kann. Setzen Sie sich wieder – bitte, und lassen Sie uns als verständige Menschen in Ruhe eine Angelegenheit besprechen, die für unser beider Leben von so großer Tragweite werden könnte. Sehen Sie, lieber Freund – ich stehe, was die Ehe anbetrifft, auf einem nach heutigen Begriffen fast veralteten Standpunkt. Für mich hat der alte Bibelsatz „Und er soll dein Herr sein“ eine tiefe Bedeutung. Ich habe es in den wenigen Jahren, die ich als Gattin mit dem, dessen Bild dort über dem Nippschränkchen hängt, zusammenlebte, zu meinem eigenen Schaden erfahren, wie unbedingt nötig es ist, daß ein bestimmter Frauentyp, zu dem auch ich gehöre, stets die feste, energische Hand eines ‚Herrn‘, um bei demselben Ausdruck zu bleiben, fühlt. Mein Mann gehörte nicht zu denen, die einer geliebten Frau eine Bitte abschlagen können. Ich war als Mädchen schon von meinen Eltern sehr verhätschelt worden, und nachher war er es wieder, der all meinen Launen nachgab, allen. Höchstens schaute er mich einmal vorwurfsvoll an. Szenen habe ich in unserer Ehe nie kennen gelernt. Ich selbst war damals noch zu jung, zu unerfahren, um mir meine eigenen Fehler klarzumachen und bessernd auf mich selbst einwirken zu können. So kam es, daß langsam zwischen meinem Gatten und mir eine Entfremdung entstand. Er mit seinem weichen, allzu weichen Herzen vermochte nicht zu begreifen, daß ein Charakter wie der meine mit Strenge angefaßt sein wollte. Er nahm meine kleinen Tollheiten, meine harmlosen Ungezogenheiten als – Lieblosigkeit hin. Und hätte doch aus dem eigenwilligen, für seine ganze Veranlagung allerdings wohl auch zu jugendfrischen Wesen sich eine verständige Lebensgefährtin erziehen können. So wurde unsere Ehe zu einem stillen, düsteren Weiher, dessen Wasser kein Windhauch je in Wallung brachte. Die Langeweile kam, dieses gleichgültige Nebeneinanderhergehen, das meine impulsive Natur unsäglich marterte und mich zuweilen zu noch törichteren Streichen veranlaßte, die dann wenigstens eine kleine Abwechslung, ein wenig Aufregung in dieses bedrückende Einerlei brachten. Und so blieb’s bis zum Ende. Gewiß, ich bin mittlerweile älter und einsichtsvoller geworden. Und doch möchte ich nicht zum zweiten Male das gefährliche Experiment unternehmen, einem Manne meine Hand zum Lebensbunde zu reichen, der es meiner Schätzung nach nicht fertigbringen würde, einer Frau gegenüber den Herrn und Gebieter herauszukehren, der eben für meinen Kribbelkopf, wie ich es bin, zu nachsichtig wäre.“

Gerhard Mallings hatte aufmerksam zugehört. „Ich habe Sie vollkommen verstanden,“ sagte er ernst. „Nach diesen Erfahrungen müssen Sie allerdings bei der Wahl Ihres Lebensgefährten vorsichtig sein. Ich könnte ja nun versuchen, Ihnen von meiner Charakterveranlagung, meinem Temperament eine andere Überzeugung beizubringen. Aber derartige theoretische Ausführungen würden Ihre vorgefaßte Meinung kaum abändern. Lassen wir dieses Thema daher, liebe Freundin. Am besten – vergessen wir diese Unterredung ganz. Ich möchte den mir liebgewordenen, freundschaftlichen Verkehr mit Ihnen nicht verlieren.“

Er reichte ihr die Hand hin. Daß es in seinem Gesicht dabei merkwürdig zuckte wie von einer großen, nur mühsam unterdrückten Erregung, entging ihr.

„Gut,“ sagte Frau Ellen mit kühler Höflichkeit, „bleiben wir also Freunde, gute Freunde.“ Also so schnell hatte er den Kampf aufgegeben! Nicht einmal einen Versuch hatte er gemacht, sie umzustimmen. Wie richtig er doch von ihr beurteilt worden war, wie richtig!

Aber Gerhard Mallings ließ ihr keine Zeit, ihr Denken beliebig auszuspinnen. Als ob er ihnen beiden möglichst schnell über die Peinlichkeit dieser Situation hinweghelfen wollte, begann er von gleichgültigen Dingen zu plaudern, indem er sie durch die Art, wie er die Unterhaltung führte, auf seine Gedanken einzugehen zwang. Erst als eine halbe Stunde verflossen war, erhob er sich und verabschiedete sich mit einer Ungezwungenheit, die auch Frau Ellen ihre ganze Sicherheit wiedergab und für die sie ihm im stillen dankbar war.

„Am besten, ich begleite Sie noch bis zur Gartenpforte, lieber Freund,“ meinte sie dann im Flur, als auf ihr Klingeln niemand von den Dienstboten erschien, „sonst attackiert Hektor Sie womöglich nochmals.“

Sie traten in den Garten hinaus. Die Dogge, die in der Garage, wo sie noch immer eingesperrt war, die Stimme ihrer Herrin erkannt hatte, sprang jetzt mit lautem Bellen gegen die Tür an.

„Man hat wirklich ein wahres Kreuz mit dem bissigen Tier,“ meinte Frau Ellen ärgerlich. Und „Pfui, schäm’ dich, Hektor!“ rief sie laut nach der Garage hin.

Es war, als ob der Hund durch diese Vermahnung nur noch wütender wurde. Unter seinem Ansprung rüttelte das schwere Tor klappernd hin und her. Vielleicht hatte er jetzt auch die Stimme des ihm schon immer unsympathischen Professors vernommen, dessentwegen er schon so oft aus der Nähe seiner Gebieterin verbannt worden war.

Die beiden sind inzwischen bis dicht an die Gartenpforte gelangt. Da plötzlich hinter ihnen ein lauter Krach. Die Dogge, die im Sprunge den Drücker der Garagentür niedergestoßen haben muß und diese mit vollem Schwung gegen die Mauer geschleudert hat, kommt in langen Sätzen mit gefletschten Zähnen den Kiesweg entlang gestürmt.

Ellen Wiegand schreit entsetzt auf. Sie will den Hund anrufen. Ihr versagt vor Schreck die Stimme. Leichenblaß, mit weiten Augen, schaut sie auf den Professor, den das mächtige Tier in den nächsten Sekunden unfehlbar zerfleischen muß.

Jetzt der letzte Satz Mallings’ direkt nach der Kehle. Er taumelt nach hinten über, der spiegelblanke Zylinder rollt in den Sand. Aber schon hat er sich wieder aufgerichtet. Seine beiden Hände halten mit eisernem Griff den Hals des Hundes umspannt, der wild mit den Füßen um sich schlägt, ihm den Paletot, die schneeweiße Hemdbrust zerfetzt und beschmutzt. Aber er läßt nicht los. In seinen sonst so versonnen, so gütig dreinblickenden Augen ist ein unheimliches, hartes Leuchten. Die Adern auf der Stirn sind angeschwollen, und um den weichen Mund liegt ein Zug von eiserner Willenskraft, von grausamem Kraftbewußtsein.

Frau Ellen sieht in ein ihr völlig fremdes Antlitz. Und da, in diesem furchtbaren Moment, taucht blitzartig in ihr die Erkenntnis auf, daß in diesem Manne doch mehr Energie, mehr kräftig pulsierendes Blut lebt, als er’s hinter der Maske steter Korrektheit vermuten läßt.

Die Bewegungen des Hundes werden schwächer und schwächer. Schon beginnt er zu röcheln. Sein mächtiger Körper zuckt in schweren Erstickungsanfällen. Gerhard Mallings hält noch immer die Kehle umspannt. Dann schleift er das willenlose Tier in die Garage zurück. Ellen Wiegand schreitet wie im Traum hinter ihm her.

„Schließen Sie schnell die Türe!“ ruft er ihr befehlend zu und schleudert den Hund in den benzinduftenden Raum bis zwischen die Vorräder des Autos, wo er matt, mit hervorquellenden Augen liegen bleibt. Die Tür schnappt ins Schloß.

Jetzt erst löst sich die entsetzliche Spannung bei dem jungen Weibe in einem befreienden Tränenstrome auf. Vorsichtig führt Mallings die Wankende in das Haus, in den Salon zurück, setzt sie dort behutsam in einen Sessel.

„Beruhigen Sie sich doch, liebe Freundin,“ bitten er und streichelt ihr liebkosend über das Haar. Hektor wird zum zweiten Male keinen Angriff mehr auf mich wagen. Er hat den Stärkeren in mir erkannt.“

„Ebenso wie ich, Gerhard,“ sagte sie leise, hascht nach seiner Hand und preßt sie an ihre tränenfeuchte Wange. Und voll hingebender Zärtlichkeit zu ihm aufblickend, fragt sie demütig …

„Willst du noch immer mein Herr und Gebieter werden, Gerhard?“

„Ich will!“ Und ungestüm reißt er sie in seine Arme.