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Ein düsteres Geheimnis

 

Ein düsteres Geheimnis.

Von W. K. Bell.

 

Den Engländern ist es nicht leicht geworden, in dem unermeßlich großen indischen Kaiserreich mit seinen 200 Millionen Einwohnern alle die Jahrhunderte alten Sitten und Gebräuche auszurotten, die dem verfeinerten Kulturempfinden des Europäers als blutige Greuel erschienen. Eine dieser nur schwer zu beseitigenden Einrichtungen war z.B. die der Witwenverbrennung. Hier sei nun noch über eine zweite Näheres erzählt, von deren einstigem Bestehen nur wenige etwas wissen dürften, trotzdem sie von dem Schriftsteller Rudyard Kipling sogar als Stoff für eine seiner phantastischen indischen Erzählungen benutzt worden ist, wobei er sich allerdings mit dichterischer Freiheit nur wenig an die Tatsachen gehalten hat.

Im Frühjahr 1872 hörte der englische Resident Kelburne in Jaipur, einer am Rande der großen Thar-Wüste liegenden Stadt, von einem zum Christentum übergetretenen Brahmanen zum erstenmal etwas von dem „Jenseits auf Erden“. Der Brahmane erzählte, daß es inmitten der Thar-Wüste einen Gebirgszug von geringer Ausdehnung, aber desto gewaltigerer Höhe gäbe, in dessen Mitte sich eine unzugängliche Schlucht befinde, die allen jenen Brahmanen zum Aufenthalt diene, welche einmal nach längerem Scheintod wieder zum Leben erwacht seien. Dorthin würden aus ganz Indien die Unglücklichen gebracht, die nach Auffassung der brahmanischen Religion im Zustande des Scheintodes bereits einen Blick in das Jenseits getan und daher das Anrecht auf eine Fortexistenz hier auf Erden verwirkt hatten. Willenlos sollten die Betreffenden von fanatischen Priestern sich fortführen lassen und geduldig die Strapazen einer oft wochenlangen Reise nach jenem versteckten Orte auf sich nehmen, alles in der Hoffnung, dadurch später besondere Bevorzugung in Brahmas Himmel zu genießen. – Weiteres vermochte der abtrünnige Brahmane nicht anzugeben, da er das „Tal der Toten“ selbst noch nicht gesehen hatte und Leute, die in jene Schlucht verbannt würden, lebend niemals wiederkehrten.

Kelburne schenkte diesem Bericht zunächst wenig Glauben, erstattete aber doch an seine vorgesetzte Behörde nach Kalkutta eine eingehende Meldung. Daraufhin wurden ganz im geheimen weitere Nachforschungen angestellt. Aber alle Versuche, Näheres über das „Jenseits auf Erden“ zu erfahren, scheiterten an der Verschwiegenheit der Eingeweihten. Ein halbes Jahr später fand man dann eines Morgens in Jaipur vor dem Palaste des Residenten jenen Brahmanen erdrosselt auf. Der oder die Mörder wurden nie entdeckt. Trotzdem ahnte der Resident, daß hier nur ein Racheakt der Brahmanensekte vorliegen könne, die inzwischen von dem Verrat ihres Genossen Kenntnis erhalten haben mußten. – Jahre vergingen. Inzwischen war der Posten des Residenten in Jaipur neu besetzt worden. Der Nachfolger Kelburnes, Sir Hislington, entdeckte einmal zufällig in dem Archiv der Residentschaft jenes Aktenstück, das über das geheimnisvolle „Tal der Toten“ handelte. Sofort nahm er die seinerzeit eingestellten Nachforschungen wieder auf, wobei er keine Gelegenheit vorübergehen ließ, um über die diesem Gerücht doch fraglos zugrunde liegenden Tatsachen Aufschluß zu erhalten. Unter anderem sicherte er auch einem älteren Brahmanen, der wegen eines Mordes zum Tode verurteilt worden war, Begnadigung zu, falls dieser über das Jenseits auf Erden genaue Auskunft geben würde. Der Brahmane blieb standhaft. Am Morgen des für die Hinrichtung bestimmten Tages ließ er jedoch Sir Hislington in das Gefängnis rufen und hatte eine lange Unterredung unter vier Augen mit ihm. Daraufhin wurde der Verurteilte noch an demselben Tage heimlich nach der Küste geschafft, damit er auf einem englischen Dampfer Indien für immer verlassen konnte. Über die weiteren Schicksale dieses Brahmanen ist nichts mehr bekannt geworden. Der Resident aber gab seiner Polizeitruppe auf Grund der von dem Brahmanen erhaltenen Fingerzeige besondere Anweisungen. Damals – es war im Sommer 1879 – wütete in ganz Indien die Cholera in furchtbarster Weise. In Jaipur, das eine sehr gesunde Lage hat, waren jedoch bisher nur wenige Fälle dieser mörderischen Seuche vorgekommen. Da meldete einer der Polizeibeamten eines Tages dem Residenten, daß in einem der benachbarten Dörfer ein von der Cholera befallener Brahmane nach mehrtägigem Starrkrampf wieder zum Leben erwacht sei und sich offenbar auf dem Wege zur Besserung befinde. Sir Hislington ließ nun die Hütte dieses Brahmanen Tag und Nacht unauffällig bewachen. Wochen vergingen, ohne daß etwas Besonderes geschah. Dann erschienen in dem Dorfe zwei fremde Brahmanen, die sich aber möglichst verborgen hielten. Nach zwei Tagen verließen sie den Ort wieder in Gesellschaft jenes inzwischen völlig von der Cholera Genesenen. Darauf hatte der Resident nur gewartet. Unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln nahm er in Begleitung von einigen gut bewaffneten Beamten die Verfolgung der drei Männer auf. Das Weitere sei wörtlich dem Buche des Engländers Braxton: „Dunkle Geheimnisse aus dem Innern des Indischen Kaiserreiches“ London 1905, entnommen: „Die Thar-Wüste gehörte noch heute zu jenen Landstrichen, die nur selten der Fuß eines Europäers durchquert. Es ist eine schaurige Einöde, in der dem von Felspartien durchzogenen Sande nur verkrüppelte, niedrige Sträucher und spärliches Gras entsprießen. Damals, als Sir Hislington, um endlich das Rätsel des „Tales der Toten“ zu lösen, der Spur jener drei Brahmanen folgte, war dieses ungeheure Gebiet noch völlig unerforscht. Nach achttägigem Ritt, der mit den größten Strapazen und Entbehrungen, hauptsächlich infolge des steten Wassermangels, verbunden war, näherte man sich einem Gebirgsstock, der aus der Ebene wie ein enormes Steinbauwerk herauswuchs. Bisher war es dem Residenten und seinen Leuten gelungen, sich vor den drei Verfolgten so vollkommen zu verbergen, daß diese keine Ahnung von der Anwesenheit des englischen Reitertrupps hatten. Als man jetzt der Felsengruppe ganz nahe gekommen war, hielt Sir Hislington es für angebracht, die Entfernung zwischen den drei Männern und seiner kleinen Schar zu verringern, damit jene ihm in den wildzerklüfteten Bergen nicht noch im letzten Augenblick entkämen. Die Brahmanen, die sich völlig sicher wähnten, umwanderten den Gebirgsstock, indem sie sich stets an den letzten Höhenausläufern hielten, und bogen erst nach mehrstündigem Marsch in eine Schlucht ein, die scheinbar keinen zweiten Ausgang hatte. In dieser Schlucht lagerten sie und verbrachten die erste Hälfte der Nacht an einem hellodernden Feuer, welches offenbar als Signal angezündet worden war. Der Resident hatte sich, bewaffnet mit einem guten Nachtglase, mit einem seiner Leute dicht herangeschlichen und konnte ihr Tun und Treiben genau beobachten. Gegen Mitternacht tauchten aus dem hinteren Teile der Schlucht zwei Gestalten auf, die sich zu den drei Brahmanen gesellten und sehr bald unter Mitnahme des aus dem Starrkrampfe wieder Erwachten nach dorthin verschwanden, woher sie gekommen waren. Sir Hislington ließ noch eine Viertelstunde verstreichen und bemächtigte sich dann der beiden in der Schlucht zurückgebliebenen Brahmanen, was ohne viel Lärm geschah. Hierauf begann beim Lichte des inzwischen aufgegangenen Mondes möglichst geräuschlos die Verfolgung der drei anderen. Nach längerem Suchen entdeckte man einen Pfad, der sich um einen Bergrücken in die Höhe wand. Doch schon nach kurzer Zeit endete er auf einem Geröllfelde. Man mußte daher die weitere Suche bis zum Morgen verschieben. Als es genügend hell geworden war, suchte man nach etwaigen Spuren, die auch wirklich trotz des steinigen Bodens gefunden wurden. Der Weg führte durch Bergtäler und über Abgründe, die man überspringen mußte, drei Stunden lang immer weiter in das Innere des Gebirgsmassives hinein und endete am Rande eines schroffen Abgrundes, von wo aus man in einen fast kreisrunden Talkessel von fast einem Kilometer Durchmesser hinabblickte. Die glatten Felswände dieses Kessels waren durchschnittlich 40 Meter hoch und hingen so weit über, daß ein Entrinnen aus diesem gewaltigen Felsgrabe völlig unmöglich war. Auf dem Grunde dieses enormen Felsloches, das eine Laune des Schöpfers zu einem festen Gefängnis ausgestaltet hatte, bemerke Sir Hislington eine Anzahl von Hütten, vor denen halbnackte Menschen, mager wie lebende Gerippe, sich hin und her bewegten. Das „Jenseits auf Erden“ war endlich entdeckt.

Als der Resident durch seine Leute die Umgebung des Tales absuchen ließ, wurden in einer einigermaßen wohnlich eingerichteten Höhle auch jene beiden Brahmanen aufgestöbert, die das neue Opfer eines wahnwitzigen religiösen Brauches den Überbringern abgenommen und an diesen Ort des Schreckens befördert hatten. Denn dies war das „Tal der Toten“ in der Tat, wie die näheren Untersuchungen zeigten. Nicht weniger als 115 Personen, Männer, Weiber und Kinder, fand Hislington in dem Talkessel eingesperrt. Sie lebten wie Tiere zusammen. Ihre Nahrung bestand aus den wenigen Feldfrüchten, die in einer Ecke des Tales gediehen, und aus einer Kaninchenart, die sie in aus Steinen erbauten Ställen züchteten. Wasser spendete ihnen ebenso unzureichend ein tiefes Felsloch, in dem sich der Regen wie in einer natürlichen Zisterne ansammelte. Die armen Wesen, tierisch, stumpf, dem Wahnsinn nahe, starrten vor Schmutz. Ihre fast völlig unbekleideten Körper waren mit Geschwüren bedeckt. Starb einer dieser lebendig Begrabenen, so scharrten seine Gefährten den Leichnam oberflächlich in den harten Geröllboden ein, wo die zahlreichen Aasgeier, die auf den nahen Höhen nisteten, ihn jedoch sehr bald wieder herauszerrten und als ekle Mahlzeit verspeisten. Eine furchtbare Luft, Verwesungsgeruch und andere üble Düfte, erfüllten den Talkessel, in den man nur mit Hilfe eines langen Hanffaserstrickes gelangen konnte. Auf dieselbe Weise wurden auch stets die neuen Ankömmlinge in dieses offene Massengrab hinabgelassen.

Der Resident ließ sofort die unglücklichen Bewohner dieser grauenvollen Stätte herausholen und brachte sie sämtlich nach Jaipur. Alle folgten sie freiwillig. Schon wenige Tage der Gefangenschaft an jenem Orte hatten bei jedem einzelnen genügt, um ihn den Augenblick verfluchen zu lassen, in dem er sich freiwillig dazu verstanden hatte, sein Leben in dem „Jenseits auf Erden“ nach den Gesetzen des Gottes Brahma zu beschließen. Doch die Reue kam zu spät. Aus dem Tale war ein Entweichen gänzlich ausgeschlossen. Außerdem wachten die beiden Brahmanen, die der Resident in ihrer Höhle festgenommen hatte, darüber, daß jeder Fluchtversuch unterblieb. – Die englische Regierung leitete eine strenge Untersuchung ein. Doch irgendwelche Schuldigen konnten nicht ermittelt werden. Das Tal der Toten hatte, wie sich herausstellte, eben schon jahrhundertelang als eigenartige Einrichtung des brahmanischen Kultes bestanden, und man konnte daher nur durch strenge Strafandrohungen für die Folgezeit ähnliche Vorkommnisse zu verhindern suchen. Jeder, der mit den indischen Verhältnissen genauer vertraut ist, wird jedoch berechtigte Zweifel hegen, ob durch diese Maßregel die Einrichtung des „Jenseits auf Erden“ wirklich für alle Zeiten aus der Welt geschafft worden ist. Es gibt genug entlegene Örtlichkeiten in Indien, die noch heute keines Weißen Auge geschaut hat, und wer das starre Festhalten der Brahmanen an ihren alten überlieferten Gebräuchen kennt, muß zugeben, daß aller Wahrscheinlichkeit nach an einer anderen, ebenso versteckten Stelle längst wieder ein neue „Stadt der Toten“ entstanden ist. Hierfür sprechen auch dunkle Gerüchte, die bei meinem letzten Besuch in Indien (1904) unter den englischen Beamten kursierten.“

Soweit Braxton. Es sei bemerkt, daß man bisher ein neues „Jenseits auf Erden“ im Gebiet des Indischen Kaiserreiches nicht entdeckt hat.

 

 

Anmerkung:

  1. Erschien gekürzt als Ein Jenseits auf Erden von W.K. in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens; Jahrgang 1912, Band 11 Seite 211 – 216.
  2. Walther Kabel arbeitete diese Erzählung in der gekürzten Fassung Ein Jenseits auf Erden teilweise wörtlich in den Roman Das Auge des Brahma auf den Seiten 120–127 ein.