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Der Einsiedler vom Moosgrund

 

 

Der Einsiedler vom Moosgrund.

 

Roman von

W. Belka.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

Dieser Roman erscheint als

– 51. Band –

der Sammlung „Liebfrauenromane“
im Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin 16.

Druck: P. Lehmann G. m. b. H.,
Berlin SO16.

 

1. Kapitel.

Es war ein selten blutiger Tag für das Regiment.

Mittags, gerade als das Schneetreiben etwas nachließ, war der Befehl von der Brigade gekommen, daß das Dorf, das vor den deutschen Stellungen auf einer die Umgebung beherrschenden Anhöhe lag, um je–den Preis zu nehmen sei. Von halb ein bis zwei Uhr nachmittags würde die Artillerie den Angriff vorbereiten, und punkt zwei Uhr fünf Minuten hätten die Sturmkompanien aus den Schützengräben vorzubrechen.

Ein blasser Unteroffizier mit verwildertem blonden Vollbart hatte soeben in dem kalten, feuchten Unterstand den Mannschaften seiner Gruppe den Befehl bekannt gegeben.

Still und ernst nahmen die Leute, von denen einige sich nun schon beinahe acht Monate auf dem östlichen Kriegsschauplatz mit den Russen herumschlugen, die Botschaft entgegen.

Unter ihnen war ein Berliner, ein junger Bursche, der bisher sicher nicht viel Gutes in seinem Leben getan hatte und ein Mundwerk besaß, wie es eben nur ein mit Spreewasser Getaufter haben kann. Aber als Feldsoldat war der Fritz Görke vorzüglich.

Auch jetzt machte er einen seiner berüchtigten faulen Witze. Im Nu wurde die Stimmung in dem vor Nässe triefenden Erdloch eine andere, denn Görkes Bemerkungen, er habe auf der linken Brustseite so ein Gefühl der Leere, dem heute vielleicht abgeholfen werden könne, verstanden alle, selbst der etwas stumpfsinnige Pawlowzick, der Litauer da oben von der Memeler Grenze.

Fritz Görke besaß bereits das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Jetzt kannte er nur ein Sinnen und Trachten, sich auch das 1. Klasse zu erringen. Und dieser soeben wieder offen zugestandene Ehrgeiz wirkte ansteckend.

Pawlowzick grinste mit einem Mal.

„Mir hat heit’ murgen getreimt, Major gibt mir Kreiz un sagt „Mein Sohn, das hast du gemacht gut …!“ – Na – wird ich also rangehn wie Deibel, damit Major mir einreicht!“

Sofort wurden auch andere Stimmen laut, die gleichfalls den Angriff auf das Dorf jetzt als vortreffliche Gelegenheit hinstellten, um sich auszuzeichnen.

Dann besprachen die acht Männer unter sich die Aussichten des Sturmes.

„Dreihundert Meter über freies Feld … Wenn nur das Schneetreiben anhalten würde … Der Russe hat den Dorfrand mit Maschinengewehren besetzt … Die Artillerievorbereitung ist die Hauptsache …“

Stumm hörte der blasser Unteroffizier, den ebenfalls schon das schwarzweiße Bändchen schmückte, zu. Er saß auf einem Reisigbündel, hatte den Kopf mit den feinen durchgeistigten Zügen in die Hand gestützt und träumte vor sich hin.

Draußen im Schützengraben jetzt Schritte und eine unterdrückte Stimme:

„Feldpost!“

Im Augenblick reckten sich dem Überbringer der Briefe und Päckchen neun Paar Arme entgegen. Nicht alle erhielten etwas. Aber der blonde Unteroffizier gehörte zu den Glücklichen, zu den von den leer Ausgegangenen bitter Beneideten.

… Zu den Glücklichen? – Bringt jeder Brief aus der Heimat den Kämpfern frohe Kunde – –?!

Der Unteroffizier schob die Zeltbahn, die vor dem Eingang zu dem Unterstand hing, noch mehr bei Seite. Das Dämmerlicht des schneeerfüllten Wintertages fiel auf dem großen Briefumschlag, auf krause, dünne Schriftzeichen einer Frauenhand.

Dann las er – las langsam, Wort für Wort. Sein Gesicht wurde noch blasser. Und seine Lippen preßten sich fest zu einer schmalen Linie unter dem blonden Haarwald zusammen.

Eine Schneeflocke tanzte in das Erdloch hinein und legte sich, schnell zu einem Tropfen gerinnend, wie eine Träne auf das letzte Wort des Briefes.

„Gritta“ stand da in der krausen, fast noch kindlichen Schrift …

Und „Gritta“ flüsterte der blonde Unteroffizier unwillkürlich, neigte den Kopf noch tiefer, schloß die Augen und sog den Duft des Papieres ein …

Abermals von draußen, jetzt aber aus der Ferne, eine Störung.

Das Artilleriefeuer begann.

Der Blonde schrak zusammen. Seine Finger zerrissen den Brief in ganz kleine Stücke, und seine Rechte streute dann die winzigen Fetzen hinaus in den breiigen Schneeschmutz auf der Sohle des Schützengrabens … – –

Anderthalb Stunden später. Die deutsche Artillerie schwieg. Das Schneetreiben hatte aufgehört; Offiziere sprangen als erste ins Freie auf das weiße Schneefeld …

„Vorwärts – ran an den Feind!“

Drüben setzte sofort unheimliches Knattern ein. Das Pfeifen der Geschosse vereinigte sich zu einem Ton wie das Zwitschern eines vorbeiziehenden Schwarmes kleiner Vögel.

Dann – die ersten Schrapnells, die ersten Verwundeten, die ersten wilden Aufschreie …

„Vorwärts!“ – Der blonde Unteroffizier brüllte es so laut, daß seine Stimme sich überschlug. Er sah nicht rechts, nicht links …

In der Luft ein Heulen, ein Krach … Die Granate platzte vor den Stürmenden, streute ihre Eisenstücke, streute die Vernichtung umher …

Der Blonde taumelte plötzlich, rollte in den Schnee.

Da war schon Fritz Görke neben ihm, beugte sich zu ihm herab.

„Nur der linke Arm, Görke,“ stöhnte der Liegende. „Weiter – wei–ter – da, – das Dorf … vor uns!“

Und der Berliner jagte wieder vorwärts …

* * *

Um dieselbe Stunde im Teeraum eines der vornehmsten Hotels der Reichshauptstadt.

Um dieselbe Stunde – ein Zufall!

Dort auf Ostpreußens Wintergefilden hielt der Tod seine Ernte. Hier hielt die Wohltätigkeit ihre Ernte zum Heil des Roten Kreuzes …

Im Teeraum fand das Mittagskonzert der berühmtesten Künstler statt, über die Berlin verfügte.

Eintrittskarte 10 Mark, Erfrischungen zu Preisen, die unvorstellbar übertrieben gewesen wären, würde all dies nicht dem guten Zwecke gegolten haben.

Man saß an kleinen Tischchen. Die Jugend stand wohl auch hier und da in Gruppen beieinander in den Gängen und an den Wänden, in deren vergoldetem Schmuck sich das Licht einer feenhaften Beleuchtung brach. – –

„Sagen Sie mal, Gnädigste, wo steht denn jetzt eigentlich das Regiment Ihres berühmten Verlobten?“

Gritta Sternheim krauste die Stirn und wollte ihren Nachbar strafend ansehen. Aber vor dessen heißen Blicken, die sich förmlich in die ihren einbohrten, vor diesem stummen Huldigen ihrer eigenartigen Schönheit brachte sie nur ein leises: „Stören Sie mich nicht in meiner Andacht …!“ über die vollen, roten Lippen.

Gritta log. Sie verstand nichts von ernster Musik, nichts von den Feinheiten der Rubinsteinschen Sonate, die der weltberühmte Pianist da oben auf dem Podium vortrug. Sie log … Sie dachte an anderes. Soeben hatte sie wieder festgestellt, daß dieser Mikulski im schwarzen Jackenanzug eine auffallende tadellose Figur hatte und daß er überhaupt für einen Mann gefährlich anziehend war …

Orlando Mikulski hatte zu diesem „stören Sie mich nicht!“ ein ganz klein wenig spöttisch gelächelt.

Jetzt beugte er sich dicht zu Gritta Sternheim hin.

„War diese Verlobung mit Ottomar Maroß nicht etwas voreilig?“ flüsterte er ihr zu. „Schade, daß ich damals gerade in Lissabon unabkömmlich war,“ fügte er scheinbar bewegt hinzu.

Gritta horchte auf. Eine heiße Welle war ihr plötzlich zum Herzen geströmt. Langsam wendete sie den Kopf und blickte ihn aus ihren halb verschleierten Nixenaugen wie in harmloser Neugier an.

„Sie sollen den Satz aber beenden – bitte, bitte …“

„Wozu?! Hätte das jetzt noch einen Zweck …?“

Er zuckte die Achseln und schwieg.

Das sagte sie schnell mit einem kaum vernehmbaren Seufzer:

„Ottomar Maroß’ Name war in aller Munde. Seine Romane haben ihn in zwei Jahren zu einem unserer geliebtesten Schriftsteller gemacht. Kein Mädchenherz ist frei von Eitelkeit. Es schmeichelte mir, daß dieser Mann, der die Frauenseelen zerpflückte und mit meinesgleichen so streng ins Gericht ging, mir willenlos zu Füßen lag. Dann kam der Krieg. Seine Begeisterung ging auf mich über. Er, der sich trotz seines schwächlichen Körpers freiwillig meldete, wurde für mich jetzt zum Helden. So wurde ich seine Braut. Aber – ich bin es nicht mehr. Vor sechs Tagen schon schrieb ich ihm, daß … daß …“

„Nun – daß …?“

„… daß die sechs Monate der Trennung mir die Augen geöffnet hätten. Der Gedanke, daß mein Verlobter schmutzstarrend, verwildert, behaftet mit …“

„… Ungeziefer, mit Läusen – sagen Sie ist es ruhig. Läuse sind heute durchaus salonfähig, heute im Weltkrieg.“

„… ja, der Gedanke war mir so entsetzlich, daß ich … seine Briefe stets erst von unserem Diener ausschwefeln ließ. Und dann – Ottomar Maroß, der sich wie ein Kind darüber freute, daß er Unteroffizier geworden war, kam mir … lächerlich vor. – Unteroffizier …! Wenn er wenigstens gleich Leutnant geworden wäre!“ – –

Die Sonate war zu Ende. Man jubelte dem Pianisten zu. Man klatschte Beifall ohne aufzuhören.

Und in diesem Lärm flüsterte der schöne Mikulski Gritta Sternheim zu:

„Sie beide hätten nie füreinander gepaßt – nie! – Und mir haben Sie mit dieser Mitteilung von der Auflösung Ihrer Verlobung die Freude am Leben wiedergeschenkt …“

Anderswo um dieselbe Stunde … In Berlin-Moabit stand in einer der ältesten Straßen dieses Stadtviertels ein schmales Häuschen mit zwei niedrigen Stockwerken und vier Fenster Front. Dicke Lindenbäume ragten hier am Rande der Bürgersteige, für die schmale Gasse eigentlich viel zu hoch und zu breit ausgeladen in den Kronen, in die Luft mit rissigen, knorrigen Ästen.

Vor den vier Fenstern des zweiten Stockwerks, deren Scheiben noch blanker leuchteten als die des übrigen Hauses, standen auf den Fensterbrettern gut befestigte, grüngestrichene Blumenkästen. Darin wuchsen, sorgfältig gepflegt, im Sommer allerlei buntblühende Blumen und Rankengewächse.

Wenn dann die alte Frau Deinert in der warmen Jahreszeit am offenen Fenster saß und eifrig wie immer an einer Handarbeit stichelte, dann glaubte sie sich in einem Garten zu befinden. Die grünen Linden vor dem Hause, deren Zweige den Dachfirst des Häuschens berührten und in denen das freche Spatzenvolk pfiff und lärmte, die Blumenpracht auf dem Fensterbrett und die Stille der wenig belebten Gasse machten die Selbsttäuschung so leicht, daß gar nicht einmal viel Phantasie dazu gehörte.

Freilich – sehr lange genoß Frau Deinert all dies Schöne noch nicht. Und zu dem Schönen rechnete sie auch die Dreizimmerwohnung, die sie jetzt seit drei Jahren innehatte und die ihr Pflegesohn ihr gemietet hatte, als er anfing berühmt zu werden und viel Geld zu verdienen. Früher hauste sie hoch oben im Norden Berlins in einer Mietskaserne in zwei Räumen, deren Fenster nach dem Hof hinausgingen. Da gab es keine Blumen, keine Linden und keine lustigen Sperlinge. Da hörte sie nur das Keifen und Schreien der Über- und Umwohner, nur das Lärmen unzähliger Kinder und sah nur zum Trocknen aus den Fenstern gehängte Wäschestücke, blasse, abgearbeitete Gesichter und wohl auch freche, geschminkte Larven von jungen Weibern, die eine ehrliche Beschäftigung verschmähten. So hatte sie sechsundzwanzig Jahre gelebt, in dieser Umgebung waren auch ihr Pflegesohn und ihr einziges eigenes Kind, ihre Tochter Elfriede, aufgewachsen. Gar hart war der Daseinskampf für die kleine, schwächliche Frau Deinert schon bei Lebzeiten ihres Mannes gewesen. Noch schwerer wurde er, als der dem Trunk etwas ergebene Mann, der in einer Fabrik als Kunstschlösser arbeitete, plötzlich verstarb und ihr die Sorge für ein fünfjähriges Mädelchen und den zehnjährigen, fremden Knaben hinterließ. Aber das rührige Weiblein verzagte nicht. Wohltätige Menschen fanden sich, die ihr ein wenig in diesem Ringen um das tägliche Brot halfen. Und so schlug sie sich durch unter allerlei Entbehrungen, bis die Tochter etwas dazuverdiente und auch der Pflegesohn von seinem bescheidenen Gehalt abgab, was er nur irgend erübrigen konnte. Da ging es Frau Deinert schon etwas besser, da legte sie bisweilen schon feiernd die Hände in den Schoß. Und mit einem Schlage kam dann der große Umschwung – so unerwartet, daß sie Wochen dazu gebrauchte, um sich an all das Neue, Schöne zu gewöhnen. – –

Frau Deinert erwachte soeben in ihrem bequemen Lehnstuhl am Fenster nach dem halbstündigen Nachmittagsschläfchen, das sie sich täglich gönnte.

Elfriede war mit dem Kaffeegeschirr leise eingetreten. Und das feine Klirren der Tassen hatte wie immer genügt, die Mutter munter zu machen.

„Mamchen – eine Karte von Otto. Soeben hat der Briefträger sie gebracht.“

Das junge Mädchen legte ihr den Gruß aus dem Felde in den Schoß und fügte hinzu:

„Siehst du, du hast dich wieder einmal unnötig geängstigt. Da – ließ nur. Otto geht es gut …“

Eilig schob Frau Deinert die Brille auf die Nase. Ihre Hände zitterten leicht. Und mit einem Seufzer und einem glücklichen Lächeln las sie dann, was der Pflegesohn dort oben aus Masuren schrieb, wo er im Schützengraben den Russen gegenüber lag. Allerlei teilte er mit. Und da standen auch ein paar Sätze, die den Gesichtsausdruck der alten Frau schnell veränderten.

„…Daß Gritta seit Wochen nicht mehr bei euch gewesen ist, wie Ihr mir im letzten Briefe auf meine Anfrage hin schreibt, schmerzt mich sehr. Freilich, auch mich verwöhnt Sie nicht. Nur mit Ansichtskarten hat sie mich in letzter Zeit abgespeist. Aber sie mag ja wirklich so sehr beschäftigt sein. Sie betätigt sich vielleicht zu viel im Dienste der Kriegswohlfahrtseinrichtungen …“

Frau Deinert seufzte. Aber dieser Seufzer war kein befreiender Laut der Erleichterung wie vorhin.

Ach – diese unselige Verlobung …! Wenn sie den Jungen doch nur vor diesem Schritt hätte bewahren können …! Und wenn doch ihrer Elfriede die herbe Enttäuschung erspart geblieben wäre, mit wehen Herzen zusehen zu müssen, wie all das Gute, das dieser prächtige Mensch zu verschenken hatte, einem Mädchen dargeboten wurde, das diese Gaben gar nicht zu würdigen wußte …

Still legte Frau Deinert, die in ihrem dunklen Tuchkleid und dem weißen Häubchen auf dem grauen Scheitel so recht wie eine feine, alte Dame aussah, die Karte auf den Fensterkopf. Dann aber dachte sie daran, daß sie doch irgendetwas sagen müsse – irgend etwas; sonst merkte Elfriede womöglich, daß sie um deren so strengen behütetes Herzensgeheimnis wußte. Und diesen frommen Betrug, als ahne sie nichts von den Seelenkämpfen ihres Kindes, wollte sie um jeden Preis aufrechterhalten.

„Hast du eigentlich das Paket für Otto fertig gemacht, Kind?“ fragte sie nun, indem sie die Feldpostkarte abermals zur Hand nahm. „Seine Adresse ist dieselbe geblieben. Also können wir es noch heute getrost abschicken.“

„Ja, Mamchen. Ich will nur noch nachher aus der Drogerie in der Turmstraße eine Büchse von dem neuen Lederfett holen, das die Stiefel völlig wasserdicht machen soll. – Doch nun – bitte, der Kaffeetisch ist gedeckt. Sonst werden die Brötchen wieder weich, die ich für dich frisch aufgeröstet habe …“

Frau Deinert faltete die bisher über ihre Knie gebreitete Decke zusammen und nahm dann ihren Platz am Mitteltisch ein. Mit einem Blick überschaute sie das hübsche Geschirr, die blinkenden Messer und Teelöffel, das Gläschen Marmelade, die goldgelbe Butter und die knusprigen Brötchen. All das sah so einladend, so anheimelnd aus. Und unwillkürlich wanderten da die Gedanken der alten Frau zu dem hin, der den Dank für dieses sorgenfreie, behagliche Leben verdiente: zu ihrem Pflegesohn, dem kriegsfreiwilligen Unteroffizier Otto Findling.

„Wenn ich so denke, wie unser Otto jetzt da draußen im rauhen Ostpreußen der Kälte und mancherlei Entbehrungen ausgesetzt ist, dann mache ich mir beinahe Vorwürfe, daß wir hier noch viel zu wenig an das unendliche Leid denken, welches jetzt über die Welt hereingebrochen ist,“ sagte sie sinnend. „Ein warmes Zimmer, ein weißgedeckter Tisch – wie sehr mag er sich wohl zuweilen danach sehnen, er und mit ihm Hunderttausende, die gleich ihm den Sinn für ein gemütliches Heim besitzen und nun das wilde Kriegsleben bis zum Grunde auskosten müssen …“

Elfriede Deinert erwiderte nichts. Nur ihre Lippen zogen sich wie im körperlichen Schmerz zusammen.

Otto – – ein gemütliches Heim …?! Ob er wirklich so viel Verständnis dafür besaß …?! – Hätte er sich sonst mit dieser oberflächlichen Modepuppe, dieser schillernden Nixe verlobt, der jedes Gefühl für ein beschauliches Familienleben fehlte …!

* * *

Acht Tage später kamen die ersten Verlustlisten der siegreichen Winterschlacht in Masuren heraus.

Und wieder saßen die beiden einsamen Frauen an demselben runden Tisch, heute aber blaß, mit starren Mienen und weiten, trostlosen Augen. Vor ihnen lag das große Blatt mit den vielen, vielen Namen, hinter denen mit grausamer Aufrichtigkeit traurigen Abkürzungen standen: „verm., gef., schwer verw., leicht verw. …“ Hinter dem Namen „Otto Findling“ aber waren wie ein Schicksalsspruch die drei Buchstaben in ihrer vernichtenden Vereinigung zu lesen: gef. – – gefallen …

 

2. Kapitel.

Die Moosgrund-Einsiedelei (zum Wohnhaus umgebautes Schiffswrack nebst Garten hart an der Seeküste unweit des Seebades Brake) ist zu verkaufen. Preis nebst Einrichtung zehntausend Mark. –

Kapitän Johann Schöttler, Adelshorst, Beckmannstr. 14

Diese Anzeige war es, die die Aufmerksamkeit eines Badegastes fesselte, der an einem sonnigen Junimorgen 1915 in der Veranda des Hotels „Gutzeit“ in Brake beim ersten Frühstück saß und dabei aus Langeweile auch den Anzeigenteil der Adelshorster Allgemeinen Zeitung durchblättert hatte.

Nach einer Weile rief er den alten Oberkellner heran, von dem er wußte, daß jener schon viele Jahre in diesem wegen seiner erstklassigen Verpflegung berühmten Hotel in Stellung war.

Der Fremde hatte sich an die richtige Adresse gewandt. Der Oberkellner vermochte ganz erschöpfende Auskunft zu geben. Er schilderte die Moosgrund-Einsiedelei – so hatte der Volksmund die seltsame Strandvilla getauft – als einen rechten Poetenwinkel.

„Nur etwas weit ab von Brake und jeder größeren Ortschaft liegt er,“ meinte der grauköpfige Alte. „Von hier aus kann man das ganz einsam gelegene Besitztum zu Fuß in anderthalb Stunden erreichen. Das nächste Fischerdorf Schamaiten ist auch eine gute halbe Meile entfernt.“

Der Badegast, ein mit unauffälliger Eleganz gekleideter Herr mit blondem Spitzbart, der merkwürdigerweise nie den linken Handschuh abzog, dankte für die freundliche Auskunft und fragte noch, wann am Vormittag ein Zug nach Adelshorst abginge. –

An demselben Tage fand sich bei Kapitän Schöttler um die Mittagszeit ein Herr ein, der bei der Vorstellung seinen Namen recht undeutlich aussprach. Er kam wegen der Moosgrund-Einsiedelei, die er zu erwerben beabsichtigte, obwohl er sie noch nicht einmal besichtigt hatte.

Schöttler besaß jedoch photographische Aufnahmen des zum Wohnhause umgestalteten Wracks, sogar Innenaufnahmen. Als er die Bilder dem Fremden vorlegte, erklärte dieser, das Besitztum gefalle ihm und er würde es kaufen.

In dem ganzen Sichgeben dieses Herrn, den Schöttler auf etwa dreißig Jahre schätzte und dessen linker Arm gelähmt oder doch recht wenig beweglich zu sein schien, lag eine so müde, abgeklärte Ruhe, daß der alte Seebär, der sich seiner Zeit aus Liebe zu seinem früheren Beruf das an den Strand geworfen Wrack eines Schoners namens „Orion“ als Sommerwohnsitz hergerichtet hatte, unwillkürlich auf den Gedanken kam, hier einen jener Unglücklichen vor sich zu haben, denen das Leben schon frühzeitig böse mitgespielt hat und die sich daher mit ihrem Seelenleid in die Einsamkeit vergraben wollen.

Im Laufe der Unterhaltung fragte Schöttler dann entschuldigend:

„Wie war doch Ihr Name? Ich habe ihn vorhin wirklich nicht verstanden.“

„Findling – Otto Findling,“ erwiderte der Fremde zögernd. „Da wir jetzt über das Geschäft einig sind, Herr Kapitän, möchte ich noch eine Bitte an Sie richten. Behalten Sie es bitte ganz für sich, daß die Moosgrund-Einsiedelei in anderen Besitz übergeht. Ich will nicht, daß womöglich die hiesigen Zeitungen diese Sache in die Öffentlichkeit tragen.“

Schöttler blickte etwas mißtrauisch auf. Man war ja im Kriege, und da war so allerlei möglich. Der Kapitän dachte an Spionage oder ähnliches.

„Sie sind doch deutscher Untertan, Herr Findling?“ fragte er daher aus Vorsicht.

Otto Findling lächelte kaum merklich.

„Ich bin eine einwandfreie Persönlichkeit, Herr Kapitän.“ Und nach kurzem Nachdenken fuhr er fort: „Vielleicht ist es besser, daß ich im Vertrauen auf Ihre strengste Diskretion – ich betone – „strengste!“ – Ihnen mehreren Aufschluß über meine Person gebe, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. – Ich bin der Schriftsteller Ottomar Maroß, von dem Sie vielleicht schon gehört haben.“

Schöttler nickte eifrig.

„Oh, nicht nur gehört. Ich habe Ihre sämtlichen Romane gelesen. Die sind mir aus dem Herzen geschrieben. Sie springen darin nicht gerade zart mit den Weibern um. – Welches ist denn nun Ihr richtiger Name, – Findling oder Maroß?“

„Mein richtiger Name?! Da fragen Sie mich zuviel. Den weiß ich selbst nicht. Man hat mich „Findling“ getauft und benannt, Otto, weil mein Pflegevater mit Vornamen so hieß. Maroß ist mein schriftstellerisches Pseudonym. Es ist ja ein Vorrecht meines Berufes, uns einen Namen zuzulegen, der uns gerade gefällt. Melden wir diesen den Behörden an, so ist er sogar gesetzlich geschützt und wir können ungestört unter demselben als ehrbarer Staatsbürger leben und wirken.“

„Was Sie sagen – ein Findling?! – Hm – und Sie haben keine Ahnung, wer Ihre Eltern sind?“ Schöttler verriet sein Mitgefühl durch den gedämpften Ton seiner sonst etwas poltrigen Sprache.

„Keine! Über meiner Herkunft schwebt das dichteste Dunkel. Aber ich dürfte aus gutem Hause stammen. Die Frau, die mich seiner Zeit als kaum halbjährigen Säugling sorgsam verpackt in ein weidenes Körbchen bei sich aufnahm, fand unter den feinen Kissen und Deckchen einen Briefumschlag, in dem ein Tausendmarkschein lag – nichts weiter. Aber diese Kissen und Deckchen waren aus einem Stoff gearbeitet, wie ihn sich nur ganz reiche Leute leisten können, und mein Kinderkörper soll so zierlich und so fein gewesen sein, daß alle Bekannten meiner lieben Pflegemutter erklärten, in meinen Adern müsse besonderes Blut enthalten sein, – kein gewöhnliches Plebejerblut …“

Schmerzliche Ironie klang durch die letzten Sätze hindurch.

Schöttler hörte das sehr wohl heraus. In aufrichtiger Anteilnahme sagte er daher leicht verlegen:

„Sie werden unter dieser ungeklärten Frage Ihrer Herkunft sicherlich schwer gelitten haben, Herr … Herr … – Ja, wie soll ich Sie denn nun eigentlich anreden?“

„Mit „Findling“, bitte. Ottomar Maroß ist tot. Die Presse hat dem auf dem Felde der Ehre gefallenen … „Helden“ genug Nachrufe gewidmet.“

„Richtig – richtig. Jetzt besinne ich mich …! Ich habe ja selbst in unserer Allgemeinen einen langen Artikel über Sie gelesen. – Hm – ja – aber – aber Sie leben doch nun, und …“

Der alte Herr war ganz verwirrt.

„Ja – ich lebe. Aber als Otto Findling. Ottomar Maroß soll vorläufig weiter als eines der Opfer der Masurenschlacht gelten. Ich habe meine Gründe dafür.“

Der Kapitän schüttelte den Kopf.

„Verzeihen Sie schon meine Neugierde, Herr Findling. Aber wie war es nur möglich, daß eine Berühmtheit wie Sie für tot erklärt werden konnte?! Und wie …“

„Wollte ich Ihnen das im einzelnen erklären, so würde ich dazu eine Stunde gebrauchen,“ unterbrach der Schriftsteller ihn. „Ganz kurz nur folgendes. Bei meiner Kompanie gab es noch einen zweiten Unteroffizier, der ebenfalls Otto Findling hieß und der auch aus Berlin stammte. Das aber war kein „Findling“ wie ich. Nein, der Mann hatte Eltern gehabt, richtige Eltern, die aber vor Jahren schon verstorben sind. Auch sonstige Angehörige besaß er nicht. Er war einer jener Armen, die draußen im Schützengraben nie einen Brief aus der Heimat erhielten, keine Zeile, keinen Gruß, nichts – nichts … In der Winterschlacht in Masuren wurden wir an einem Nachmittag fast gleichzeitig schwer verwundet und kamen in dasselbe Feldlazarett. Dort starb mein Namensvetter. Noch halb von Fiebervorstellungen gepeinigt, bestimmte ich ihn kurz vor seinem Tode dazu, – und er starb bald nach unserer Einlieferung in das Lazarett –, daß ich als der Buchdruckergehilfe Otto Findling gelten solle. Um ihn bekümmerte sich ja kein Verwandter, kein Freund. Und so gelang dieser Betrug, durch den niemand Schaden hatte, über Erwarten gut. Nur bei meinem Ersatztruppenteil, von dem aus ich nachher als dienstuntauglich meines amputierten linken Unterarmes wegen …“

„Also deswegen!“ warf Schöttler ein. „Deshalb der Handschuh! Sie tragen eine künstliche Hand?“

Der Schriftsteller nickte nur und fuhr fort: „… entlassen wurde, vertraute ich mich meinen Vorgesetzt an, die hochherzig genug waren, die Sache totzuschweigen. Natürlich wurde der Schriftsteller Otto Findling dann entlassen. Aber davon erfuhr niemand, und daran dachte auch niemand, daß dieser einarmige Invalide gleichzeitig das Recht hatte, sich Ottomar Maroß zu nennen. Nur ein ganz kleiner Kreis von Personen ist eingeweiht, so meine Pflegemutter, mein Verleger und die Bank, bei der ich ein Guthaben besitze.“

Der alte Kapitän nickte verständnisinnig mit dem Kopf.

„Das glaube ich sehr gern, daß in diesem Millionenringen einer verschwinden kann, als habe ihn die Erde verschluckt. Eigentlich muß es für Sie doch ganz spaßig gewesen sein, Herr Findling, Ihre eigenen Nachrufe in den Zeitungen zu lesen.“

Der Schriftsteller schien diese Bemerkung überhört zu haben. Seinen in sich gekehrten Blicken sah man es an, daß allerlei Erinnerungen in ihm wach geworden waren, die ihn der Gegenwart völlig entrückten. Und Kapitän Schöttler wartete geduldig, bis sein Gast sich von selbst in die Wirklichkeit zurückfand.

„Entschuldigen Sie, Herr Kapitän,“ sagte Ottomar Maroß endlich, indem er mit der Rechten leicht über seine Stirn hinstrich. „Wenn ich aber auf das Rätsel meiner Geburt zu sprechen komme, so werde ich stets zum Träumer. Es liegt etwas seltsam Verwirrendes für einen Menschen in dem Gedanken, nicht zu wissen, wer seine Eltern waren, wo seine Wiege stand, welches Weibes Mutteraugen zum ersten Mal auf ihm ruhten … – Doch ich will Sie nicht länger aufhalten. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir noch heute zu einem Notar und schließen den Kaufvertrag ab.“

Schöttler hatte nichts dagegen einzuwenden. Ebenso war er ganz damit einverstanden, daß Otto Findling seinen neuen Besitz sofort antrat.

„Die Schlüssel zur Einsiedelei hat eine Fischerfrau im Dorfe Schamaien in Verwahrung,“ erklärte er. „Ich werde Ihnen einen Brief mitgeben an die Witwe Daniel, damit sie Bescheid weiß. Das alte, aber noch sehr rüstige Weiblein hat mir stets die Wirtschaft geführt, wenn ich in den Sommermonaten im Moosgrund weilte. Ich kann sie Ihnen nur empfehlen. Sie kann auch einfache Gerichte kochen und ist absolut treu und ehrlich.“

* * *

Durch den hochstämmigen Kiefernwald, der hier und da fast undurchdringliches Unterholz von jungen Buchen- und Eichenschößlingen, Farnkräutern und üppig wuchernden Brennnesseln besaß, lief schnurgerade eine breite, kahle Schneise auf das Meer zu.

Zwischen den Baumstümpfen, den Erdbeer- und Blaubeerstauden dieser Schneise schlängelte sich ein kaum wahrnehmbarer Fußpfad hin, auf dem zu derselben Zeit, als Ottomar Maroß bei Kapitän Schöttler weilte, zwei Reiter in langsamem Schritt dem Seestrande zustrebten, von dem her immer vernehmlicher das Rauschen einer starken Brandung herüberklang und immer fühlbarer jene frische, erquickende Luft in den Forst hineinströmte, wie sie nur über den endlosen Wasserflächen der europäischen, nördlichen Meere lagert.

Die beiden Reiter waren Gritta Sternheim und Orlando Mikulski.

Die Tochter des Berliner Kommerzienrates ritt im Herrensattel. Ihre zierliche und doch volle Figur kam auf dem gutgebauten Halbpony vortrefflich zur Geltung. Mikulski dagegen schien sich auf seinem grobknochigen Braunen trotz dessen offenbarer Lammfrommheit keineswegs wohl zu fühlen und sah ziemlich verärgert aus.

„Man sollte als Mann den Launen einer schönen Frau nicht so ohne weiteres nachgeben,“ sagte er jetzt, indem er dem dicken Braunen einen leichten Schlag mit der Reitpeitsche versetzte. „Wer weiß, ob wir die berühmte Einsiedelei überhaupt finden. Wir irren nun schon drei Stunden hier im Walde umher. Und das holzsammelnde alte Weib, das uns auf diese Schneise wies, wird uns vielleicht auch wieder einen falschen Weg empfohlen haben.“

Bei der Enge des Pfades mußten die Pferde hintereinander gehen.

Gritta drehte sich jetzt im Sattel um, stützte die rechte Hand auf den Rücken ihres Ponys und erwiderte halb belustigt:

„Für das Romantische scheinen Sie nicht sehr zu schwärmen …! Die Sommervilla eines Originals von Seemann, die aus einem gestrandeten Wrack besteht, ist doch jedenfalls nichts Alltägliches.“

Dann schnalzte sie leicht mit der Zunge, und gehorsam setzten ihr Pferdchen sich in Trab.

Hinter ihr murmelte Mikulski eine Verwünschung. Mochte sie sich ruhig dem Sturz über eine der zahlreichen, den Pfad überquerenden Baumwurzeln aussetzen …! Er würde jedenfalls seine Knochen nicht riskieren …! Dazu waren sie ihm doch zu schade.

Obwohl Gritta merkte, daß ihr Begleiter zurückblieb, änderte sie die Gangart ihres Pferdes nicht. Und wenige Minuten später hatte sie dann wirklich von einer Anhöhe einen weiten Ausblick auf das Meer.

Die weißen Schaumstreifen der Brandung leuchteten im Vormittagssonnenschein wie Leiber unzähliger Schwäne, die sich auf den windgepeitschten Wogen wiegten. Und der hier recht flachen Strand mit seinen niedrigen Sandhügeln lag wie ein heller Pinselstrich zwischen dem dunklen Rand des Waldes und der grünblauen See.

Jetzt faßte der Wind Grittas flachen, schwarzen Reithut und trieb ihn ihr in den Nacken. – Mochte er dort hängen …! Die Hutnadel würde ihn schon auf ihrer reichen, vom Ritt ein wenig gelockerten Haarkrone festhalten.

Die See …! – Ganz dicht, keine fünfzig Meter vor ihr, lag sie mit allen ihren geheimnisvollen Reizen. Und merkwürdig, – – zuerst mußte Gritta jetzt an den Toten denken, der hier noch vor einem Jahr so viel davon geschwärmt hatte, wie sehr er das Meer liebe …

Ottomar Maroß war es gewesen, der ihr die Augen für die unendliche Vielseitigkeit dieser weiten, ländertrennenden und -verbindenden Wassermassen geöffnet hatte. Von ihm hatte sie es gelernt, das Meer von dem Standpunkt des Dichters aus zu betrachten, all das Geheimnisvolle, Dämonische zu erkennen, das seinen Reiz ausmacht für den, der nicht mit einer allzu nüchternen Seele ausgestattet ist.

Doch fort mit diesen Gedanken. Sie wollte den Toten vergessen, dem sie noch kurz vor seinem Ende das Jawort zurückgegeben hatte und der sich jetzt trotzdem immer wieder wie ein Gespenst in ihre Gedankenwelt eindrängte.

Weiter trieb sie ihr Pferd vorwärts, hinein in den lockeren Sand der Dünen, die sich langsam zum flachen Strande erweiterten. Nach beiden Seiten hin ließ sie die Augen die Küste entlang schweifen.

Da – unwillkürlich einen Ruck mit den Zügeln. Der Pony stand schnaubend wie angewurzelt. Keine dreihundert Meter zur Rechten hob sich von dem gerade dort tiefer in den Wald einschneidenden Dünen ein grüner, quadratischer Fleck ab, ein Garten, und in dessen Mitte wieder ragte das halb im Sande verschwindende Wrack eines Segelschiffes empor.

Gritta Sternheim stieß einen hellen Ruf aus winkte Mikulski zu.

Dann standen die beiden, ihre Pferde an den Zügeln haltend, an dem Eingangstor des hohen, aus starken Eichenbohlen bestehenden Zaunes, der die Moosgrund-Einsiedelei umschloß. Jenseits dieses festen Bollwerks, das oben noch eine Verlängerung von Stacheldrähten trug, wucherten schlanke Weiden mit langen, hellgrünen Blättern als undurchsichtige Hecke, so daß selbst durch die Ritzen des Eichenzaunes nichts von dem zur Wohnung umgestalteten Schiffsrumpf zu sehen war, nichts als die Stümpfe der beiden Masten, die gerade noch über die alles so neidisch verhüllenden Weidenbüsche hinausragten.

Gritta rüttelte enttäuscht an dem eisernen, verrosteten Drücker der Pforte.

„Schade, daß man sich diese Sommerresidenz des alten Kapitäns nicht ganz aus der Nähe ansehen kann,“ meinte sie.

Orlando Mikulski hatte jedoch für nichts anderes Gedanken als für das junge, berückende Weib, das heute mit den von der frischen Luft geröteten Wangen und den blinkenden Augen, denen die Anstrengung dieses Ausflugs zu Pferde ein eigenes Leuchten gegeben hatte, noch verführerischer als sonst schien.

„Lassen Sie doch den armen Kasten von Wrack …!“ sagte er jetzt, indem er Gritta noch einen Schritt näher trat. „Ich möchte Ihnen gern beweisen, daß auch mir der Sinn für Poesie nicht fehlt …“

Seine Stimme konnte weich klingen wie das Tönen von Harfensaiten. Und Mikulski hatte diese Stimme vollkommen in der Gewalt. Sie gehorchte ihm wie das schmiegsame Organ eines guten Schauspielers.

Da wandte Gritta ihr Gesicht ihm zu.

„Sinn für Poesie …? Wie meinen Sie das?“

Das Strahlen ihre Augen erlosch. Ihr Blick wurde weich, verschleiert. Die Nixe begann ihr Spiel …

Mikulski haschte nach ihrer Hand. Und Gritta überließ sie ihm, tat so, als merke sie gar nicht, daß er ihre Finger zwischen den seinen preßte und drückte.

„Seit Wochen, nein, seit Monaten vermeiden Sie es, mit mir allein zu sein, Gritta … Heute ist endlich die Gelegenheit da, um Ihnen hier, wo dies Rauschen der See uns umbraust, wo das Meer uns träumerisch stimmt, das zu sagen, was als heimliches Wünschen längst auf meinen Lippen wie eine unausgesprochene Sehnsucht liegt. Ich liebe Sie, Gritta, und …“

Ganz nahe hatte er sein Gesicht ihrem gesenkten Kopf gebracht. Sein Mund berührte fast die zarte, rosige Ohrmuschel, die unter der übrigen Haarfülle hervorlugte. Bei den letzten Worten ließ er ihre Hand fahren, umfing ihren schlanken Leib und wollte sie an sich ziehen.

Drei Möwen strichen kreischend über die Einsiedelei hin …

Gritta hörte den Ruf der graziösen Vögel. Wie ein Ruck ging es durch ihren Körper …

Sie schaute empor … Drei Möwen! … Gerade drei …

Da war es wieder, das Gespenst …

Im vorigen Jahr auf Borkum war es gewesen, als Ottomar Maroß eines Nachmittags neben ihr im Sande der Dünen gelegen und ein paar Verse auf ein Konzertprogramm gekritzelt hatte, die er ihr dann vorlas.

„Drei Möwen“ hatte er das kleine Gedicht benannt. Und Gritta war damals ganz begeistert gewesen, daß er so viel tiefe, sinnige Gedanken so schnell in zarte Reime gekleidet hatte … – –

Wieder schwebten die Möwen kreischend über den beiden hin.

Da entwand Gritta Sternheim sich Mikulskis Arm. Und bittend sagte sie:

„Sein Sie mir nicht böse, lieber Freund … Haben Sie Geduld mit mir. Noch ist Ihre Zeit nicht gekommen …“

Und in Gedanken fügte sie hinzu, während ihre Augen den auf ab gleitenden Vögeln folgten:

„Das Gespenst…! – Sollte es möglich sein, daß ich in diesen letzten Monaten einen Toten lieben gelernt habe …?! Der Lebende war nur die Erfüllung einer eitlen Laune, und der Tote gewinnt täglich mehr Macht über mich …“ –

Mikulski hatte ihr Gesicht scharf beobachtet. Ein Ausdruck war darin, wie er ihn noch nie bemerkt hatte, ein Ausdruck schmerzlicher Sehnsucht, nachdenklichen Ernstes.

„Sie sind ein gefährliche Sphinx, Gritta Sternheim!“ sagte er schroff.

Da seufzte sie leise auf, faßte ihr Pferd kurz am Zügel und schritt den durch Ziegelschutt gefestigten Weg entlang, der von der Einsiedelei auf den Forst zuführte.

 

3. Kapitel.

Das Rittergut Schamaiten, das etwa eine halbe Meile von dem gleichnamigen Fischerdorf entfernt lag, war seit reichlich vierhundert Jahren im Besitz der Familie der Freiherren von Lenzen.

Die Lenzen, ein uraltes Feudalgeschlecht, welches nur noch aus dieser einen Linie, eben den Lenzen-Schamaiten bestand, war mit der modernen Zeit nicht mitgegangen. Sie waren das geblieben, was sie schon zu Zeiten des großen Friedrich, der Preußen die Wege zur Weltmacht durch drei blutige Kriege geebnet hatte, ausschließlich gewesen: Berufssoldaten!

Und selbst die Freifräuleins von Lenzen kannten keine andere Bestimmtheit, als einen ihrer Standesgenossen, der den Rock des Königs trug, zu heiraten und dafür zu sorgen, daß stets frischer Nachwuchs für die Offizierskorps der Garderegimenter vorhanden war.

Soldaten waren die Lenzens. Aber auch nichts weiter. Vor 70/71 hatten sie noch eine Herrschaft besessen, die aus dem Stammgut Schamaiten und zwei anderen Rittergütern bestand. Drei von fünf Brüdern Lenzen waren auf den Schlachtfeldern von Metz, Sedan und Belfort geblieben. Der jüngste, bald auch der letzte männliche Lenzen, hatte ein etwas wildes Leben geführt, die beiden Rittergüter veräußern müssen und schließlich erst in reiferen Jahren eine Frau in das verwahrloste Herrenhaus von Schamaiten heimgeführt, und dies eigentlich nur deswegen, damit das Geschlecht nicht ausstarb.

Aus der Ehe Axel von Lenzens mit der Gräfin Annemarie von Werchem waren aber auch nur zwei Kinder hervorgegangen, der jetzige Besitzer von Schamaiten, Freiherr Karl-Egon, und seine um neun Jahre jüngere Schwester Isolde.

Karl-Egon, ein noch schlechterer Rechner als seine Vorfahren, war bisher unbeweibt geblieben, obwohl mit ihm die Familie Lenzen ausstarb. Berufssoldat wie alle Lenzens, hatte er stets in Potsdam, wo sein Regiment stand, gelebt und war nur hin und wieder zu kurzem Urlaub auf Schamaiten erschienen, dessen Verwaltung vor Beginn des Weltkrieges in den Händen eines Mannes lag, der sich später als einer der frechsten Spitzbuben herausstellte.

Als der Rittmeister Karl-Egon im Frühjahr 1915 nach schwerer Verwundung verabschiedet worden war, fand er auf dem Stammgut Verhältnisse vor, die, wie auch er bald einsah, der Anfang vom Ende waren. Von dem Verwalter, dem er bei Kriegsbeginn die weitestgehenden Vollmachten gegeben hatte, war Schamaiten inzwischen vollständig ausgesogen worden. Und acht Tage vor der Heimkehr Karl-Egons verschwand dieser Elende, der es so gut verstanden hatte, alle Welt über seine wahren Charaktereigenschaften zu täuschen, dann spurlos.

Der letzte Lenzen stand nun vor der niederschmetternden Tatsache, daß Schamaiten nicht mehr zu halten war. Er mußte verkaufen, mußte, um wenigstens noch für Isolde ein kleines Kapital zu retten, welches das junge Mädchen, falls er selbst plötzlich sterben sollte, vor der äußersten Not bewahrte.

Tagelang kämpfte Karl-Egon mit sich, klammerte sich an allerlei Hoffnungen, schmiedete Pläne. Er konnte sich nicht entschließen, einen Agenten mit dem Verkauf des Stammgutes zu beauftragen, obwohl er wußte, daß jede Stunde des Zögerns das Unheil nur größer machte.

Da erhielt er eines Morgens einen Brief von einem Kommerzienrat Sternheim aus Berlin. In dürren Worten bewies dieser ihm, daß eine Veräußerung von Schamaiten zu dem und dem Preis und unter den vorgeschlagenen Bedingungen das beste sei. Sternheim zeigte sich über die Verhältnisse geradezu unheimlich gut unterrichtet. Woher dieser Berliner seine Kenntnisse geschöpft hatte, war dem Rittmeister vollkommen unklar.

Der letzte Lenzen kannte eben Robert Sternheim nicht.

Wie eine Spinne mitten in einem riesigen Netz saß der Kommerzienrat in seinem Berliner Bureau. Es gab kein Geschäft, das Sternheim nicht machte. Die kleine Bank, die er in der Jägerstraße besaß, vermittelte alles, woran nur Geld zu verdienen war. Nicht nur in ganz Deutschland, nein auch im Ausland hatte Sternheim seine Agenten, zu denen wie die feinen Fäden eines Spinnennetzes die Telephon- und Telegraphenleitungen hinliefen. Von umständlichem schriftlichen Verkehr mit diesen seinen Untergebenen, die dauernd nach einem fetten Bissen auszuschauen hatten, der ein Zuschnappen verlohnte, war keine Rede. Depeschen, gekleidet in harmlose Familiennachrichten, und das Telephon genügten vollauf. Kündigte einer der Agenten auf diese Weise ein neues Opfer an, das des Aussaugens wert schien, so schickte Sternheim auch schon einen seiner Vertreter ab, die an Ort und Stelle prüfen mußten, ob und wie das Geschäft zu erledigen sei. Inzwischen hatte der Agent bereits für den Abgesandten des großen Robert Sternheim alles vorbereitet, Erkundigungen eingezogen, Besichtigungen vorgenommen und Berechnungen aufgestellt. Dann begann der Kampf dieser glänzenden Organisation, die allein Sternheims Werk war und die den harmlosen Namen „Bank- und Wechselgeschäft“ führte, gegen das auserkorene Opfer. Meist zappelte die arme Fliege nicht lange. Die Spinne hatte sie bald gänzlich ausgesogen. –

So war auch das Schreiben an den Freiherrn von Lenzen zustandegekommen.

Der hatte nach einigem Besinnen wirklich nach diesem Strohhalm gegriffen, der ihm in seiner Lage wie eine feste Rettungsleine erschien. Ein paar Briefe an und zwischen ihm und dem Kommerzienrat gewechselt. Und eines Tages fand dieser sich persönlich in Begleitung seiner Tochter und eines Bekannten auf Schamaiten ein. Es handelte sich ja um ein Objekt von nahezu einer Million. Und in solchen Fällen war Robert Sternheim sehr vorsichtig. Da nahm er die Erledigung der Sache stets selbst in die Hand.

Der Rittmeister hatte es nicht gut umgehen können, den drei Besuchern Unterkunft im Herrenhause anzubieten, wo sie nun bereits eine Woche weilten, ohne – das mußte man ihnen lassen – jemandem lästig zu fallen. Sternheim war ununterbrochen tätig. In alles steckte er seine dicke, fleischige Nase, überall schnüffelte er umher.

Gritta und Mikulski wieder – letzteren hatte Sternheim als landwirtschaftlichen Sachverständigen vorgestellt, was auch teilweise zutraf – benutzten das beständige, warme Wetter zu Ausflügen in die Umgebung. Zu diesem Zweck hatte der Rittmeister ihnen liebenswürdigerweise sogar zwei Pferde zur Verfügung gestellt, fast die letzten mit Ausnahme einiger Ackergäule, denen man noch einen Sattel auflegen konnte. – –

Drei Tage nach dem Besuch der Moosgrund-Einsiedelei saßen der Freiherr, seine Schwester und die drei Gäste beim Abendessen auf der Terrasse des Herrenhauses, von der aus man einen weiten Fernblick über die Felder und den angrenzenden Königlichen Forst, der bis an die See sich hinstreckte, genießen konnte.

Karl-Egon von Lenzen, schlank, mager, rassig und bedeutend jünger aussehend, als er es in Wirklichkeit war, reichte soeben Gritta Sternheim die Kompottschale hin.

„Es dürfte Sie interessieren, gnädiges Fräulein, daß die Einsiedelei einen neuen Bewohner bekommen hat,“ meinte er, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte. „Sie haben doch jetzt die merkwürdige Sommerwohnung besucht. Ich traf heute Vormittag in Brake unseren Landrat. Er erzählte mir, daß Kapitän Schöttler seinen Strandbesitz an einen Schriftsteller verkauft habe.“

Der Rittmeister war froh, einen Gesprächstoff gefunden zu haben. Die gemeinsamen Mahlzeiten waren nämlich keineswegs für ihn ein Genuß. Die Schuld daran trug seine Schwester, die den Gästen stets mit eisiger Höflichkeit entgegenkam und bei Tisch kaum ein Wort sprach. Alle Versuche Karl-Egons, sie zu einer Änderung ihres Benehmens zu bewegen, waren vergeblich gewesen. –

„Du weißt, daß ich alles andere nur nicht hochmütig bin,“ hatte sie erklärt. „Aber diese Leute, die uns von Haus und Hof vertreiben wollen, kann ich nicht freundlich behandeln. Außerdem habe ich schon ein übriges getan, als ich meine geringe Teilnahme an der allgemeinen Unterhaltung durch ständige Migräne entschuldigte.“ –

Damit mußte der Freiherr sich zufrieden geben. –

Gritta Sternheim zeigte für diese Neuigkeit denn auch wirklich eine sehr lebhafte Anteilnahme. Und diese war nicht einmal erheuchelt. Das Wort „Schriftsteller“ hatte sofort allerlei Erinnerungen in ihr geweckt.

„Den Namen dieses modernen Einsiedlers, den kann ich Ihnen leider nicht nennen, gnädiges Fräulein,“ erklärte er.

„Ich fragte auch nur, weil immerhin die entfernte Möglichkeit besteht, daß der neue Besitzer der Wrack-Villa ein Bekannter von uns ist. Bei uns verkehren so allerhand Künstler. Papa fördert gern junge Talente.“

Isolde von Lenzen, die an der einen Schmalseite des Tisches etwas abgesondert von den anderen ihren Platz hatte, erhob sich jetzt. Das Abendessen war vorüber, und mit leichtem Kopfneigen zog sie sich sofort in das Haus zurück.

Mikulski als gewiegter Frauenkenner schaute ihr mit abschätzendem Blick nach, wie sie mit ihrem schwebenden Gang selbstherrlich und langsam in der offenen Glastür verschwand.

Auch Karl-Egon von Lenzen stand jetzt auf, griff nach dem an seinen Stuhl gelehnten Stock und sagte zu Gritta:

„Ich stehe zu Ihrer Verfügung, gnädiges Fräulein. Sehr gern zeige ich Ihnen die Ahnenbilder derer von Lenzen. Im ganzen sind es achtunddreißig Gemälde. Aber ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein. Wirklich künstlerische Porträts sind kaum darunter. Nur ein einziges rührt von einem berühmten Maler her – sogar von Lenbach. Und darauf bin ich nicht wenig stolz.“

Er war neben Gritta, auf den Stock sich stützend, auf die Glastür zugehumpelt, die von der Terrasse auf eine riesige, mit Geweihen geschmückte Diele mündete. Von hier führte eine breite Treppe in die oberen Stockwerke.

Gritta war es keineswegs darum zu tun, die Ahnengalerie der Freiherren von Lenzen zu besichtigen. Dies hatte sie nur als Vorwand gewählt, um mit dem Rittmeister eine Weile allein zu sein. Schon seit Tagen beschäftigte sie ein Gedanke, den sie nicht mehr loswurde.

Als sie jetzt die in dem großen Speisesaal im ersten Stockwerk hängenden Gemälde, die infolge der drei bis zum Fußboden herabreichenden Fenster trotz der Abendstunde noch recht gut beleuchtet waren, sich von dem Freiherrn erklären ließ, der ihr zu jedem der Porträts eine kleine Episode aus dem Leben des Betreffenden zu erzählen wußte, waren ihre Gedanken doch nur bei der Frage, die sie so gern beantwortet haben wollte.

Der Rittmeister hatte soeben die Geschichte jenes Heinrich von Lenzen berichtet, der in den Freiheitskriegen nach der Schlacht bei Leipzig den tollkühnen Versuch gemacht hatte, den flüchtenden Napoleon mit einer Schwadron Husaren gefangenzunehmen, dabei selbst in die Gewalt der Franzosen geriet und lange Zeit für verschollen galt.

Diese Episode gab für Gritta eine gute Anknüpfung.

„Sagen Sie, Herr Baron,“ begann sie etwas zögernd, „halten Sie es nach Ihren Feldzugserfahrungen aus dem jetzigen Kriege wohl für möglich, daß ein Soldat von einem Lazarett als verstorben gemeldet wird und trotzdem noch lebt, – mit einem Wort, daß jemand sich absichtlich zu den Toten zählen läßt und unter anderem Namen dann ein neues Dasein beginnt?“

Der Rittmeister bejahte eifrig. „Derartige Fälle sind gar nicht so selten, gnädiges Fräulein. Mir ist zum Beispiel von einer Kriegsgerichtsverhandlung ein solches Begebnis bekannt, wie Sie es eben andeuteten. – Aber – wie kommen Sie auf diese Frage? Haben Sie irgendeine Person im Verdacht …“

„Durchaus nicht, durchaus nicht!“ fiel Gritta ihm ins Wort. „Ich las letztens einen Roman, in dem etwas Ähnliches vorkam. Mir erschien die Geschichte recht unwahrscheinlich.“

Inzwischen war sie an vier weiteren Porträts vorübergegangen. Diese toten Herren von Lenzen waren ihr herzlich gleichgültig. Und wahrscheinlich hätte sie auch den Lenbach nicht beachtet, wenn der Rittmeister sie nicht auf dieses Bild aufmerksam gemacht haben würde.

„Hier – mein Onkel Gisbert, gnädiges Fräulein, – gemalt von Franz von Lenbach[1], als dieser gerade anfing berühmt zu werden.“

Gritta schaute nun doch genauer hin.

Das bereits rötlich verfärbte Licht der untergehenden Sonne fiel in breitem Strahl auf das Gesicht dieses Gisbert von Lenzen, der dem Maler zu dem Bilde in einem hellen Zivilanzug gesessen hatte. Unter all den Uniformen sprang diese bescheidene Kleidung besonders in die Augen. Aber das war es nicht, was Gritta Sternberg erst wie gebannt regungslos auf das Gemälde starren ließ, bis sie dann mit wie zur Abwehr halb erhobenen Armen zwei Schritte zurücktrat und selbstvergessen ausrief:

„Welche Ähnlichkeit …! Welche Ähnlichkeit …! In jeder Linie gleicht dieses Gesicht …“

Da besann sie sich, daß sie nicht allein war, und schwieg plötzlich mitten im Satz.

„… Wem denn?“ fragte Karl-Egon von Lenzen. „Wem sieht Onkel Gisbert denn so sehr ähnlich?“

„Oh – einem Herrn, den Sie doch nicht kennen, Herr Baron, – – einem Angestellten meines Vaters.“

Bei diesen Worten überlief es sie wie ein Frösteln. Sie dachte an einen Toten, an Ottomar Maroß, den sie soeben abermals verleugnet hatte.

„So so,“ sagte der Freiherr ohne Argwohn. „Und die Ähnlichkeit ist wirklich so auffallend?“

„Verblüffend!“ erwiderte Gritta mit scheuem Blick auf das Porträt Gisbert von Lenzens. „Wirklich verblüffend. – Doch, sehen wir uns noch schnell die anderen Bilder an, bevor die Sonne ganz verschwindet.“

Der Rittmeister schritt weiter, erklärte aber dabei:

„Mein Onkel Gisbert war in mehrfacher Hinsicht etwas aus der Art geschlagen. Nicht nur, daß er sich von Lenbach, dem nachher weltberühmt gewordenen, malen ließ. Nein – auch sein Äußeres war anders, als bei den übrigen Lenzens. So feine, durchgeistigte Züge hat nicht ein einziger meiner Vorfahren aufzuweisen. Und in der Tat war er auch mehr Künstler als Soldat – leider! Er wäre glücklicher geworden, wenn er den allgemeinen Grundsätzen derer von Lenzen treu geblieben sein würde.“

Die letzte Bemerkung wurde mit ganz besonderer Betonung ausgesprochen. Dabei war in des Rittmeisters Gesicht ein Ausdruck erschienen, den Gritta noch nie an ihm beobachtet hatte. Etwas hochmütig Abweisendes, Selbstherrliches und deutliche Geringschätzung war es, die sicherlich den künstlerischen Neigungen jenes Gisbert galt. – –

Unten auf der Terrasse hatten der Kommerzienrat und Mikulski sich jetzt an einem kleinen, an der Brüstung stehenden Tischchen niedergelassen, rauchten sehr teure Zigarren, die aber nicht aus den Vorräten Karl-Egons stammten, und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme, um nicht von dem die Abendtafel abräumenden Diener verstanden zu werden.

Soeben sagte Mikulski, indem er die Augen ein wenig zusammenkniff und Sternheim scharf anschaute:

„Dieser Rittmeister, der in geschäftlichen Dingen das reine Kind ist, kann einem eigentlich leid tun. Er sollte ahnen, was Sie hier gerade von Schamaiten behauptet haben …! – Wie nun, wenn ich zu ihm ginge und ihm erklärte, daß der große Robert Sternheim auch eine Viertelmillion mehr für das Gut geben würde …?! Vielleicht würde dann aus Dankbarkeit für mich ein nettes, rundes Sümmchen abfallen …“

Sternheim lachte ironisch auf.

„Das war eben ein schlechter Scherz für einen Mann, den ich so gut kenne wie Sie. Derartige kleine Nebengeschäfte könnte sich nur jemand leisten, der auf ganz sicheren Füßen steht. Sie, lieber Mikulski, lahmen aber auf beiden und dürften sehr leicht … fallen, wenn ich es wollte. Selbst Ihre vor drei Jahren erworbene spanische Staatsangehörigkeit und die Umwandlung Ihres Vornamens Eduard in das poetischere Orlando würde Sie nicht vor Robert Sternheim schützen.“

Mikulski schaute den Kommerzienrat plötzlich sehr mißtrauisch an. Aber der lächelte nur harmlos. Und das beruhigte Mikulski wieder. –

Pah – was konnte Sternheim von ihm wissen …?! Jedenfalls nichts, was von Bedeutung war.

Daher sagte er achselzuckend:

„Ich könnte Ihnen dasselbe erwidern, Sternheim: … das war eben ein schlechter Scherz für einen Mann, der zwischen den Paragraphen des Strafgesetzbuches wie ein Seefahrer zwischen Klippen sich hindurchwindet … – Aber lassen wir diesen Gegenstand fallen. Wir beide werden einander nie etwas am Zeuge flicken. Daher sind derartige versteckte Drohungen recht überflüssig. – Zu etwas anderem.“

Er beugte sich weit über das Tischchen und senkte die Stimme zu einem Hauch, der keine zwei Schritte entfernt mehr zu verstehen war. „Ich will versuchen, die Moosgrund-Einsiedelei zu kaufen. Mir gefällt das weltabgeschiedene Plätzchen. Schade, daß ich dem jetzigen neuen Besitzer nicht zuvorgekommen bin. Aber ich denke, wenn man ihm ein paar tausend Mark mehr bietet, wird er sich zu sofortiger Räumung der Strandvilla verstehen. Nur eine Schwierigkeit ist dabei – ich bin Ausländer, Spanier. Vielleicht machen die Behörden mir jetzt im Krieg einen Strich durch die Rechnung. Erwerb von Grundbesitz durch Angehörige neutraler Staaten – eine sehr fragliche Sache. – Nun, wie wär’s, Sternheim, wenn Sie als Strohmann auftreten und für mich die Einsiedelei kaufen würden? Nachher lassen Sie mich dann aus Freundschaft dort einige Zeit wohnen …“

„Ich werde mir’s überlegen,“ meinte der Kommerzienrat.

Da kamen auch schon Gritta und der Freiherr zurück. Das hinderte Sternheim aber nicht, sein Taschenbüchlein zu ziehen und darin einige Eintragungen zu machen. Nicht etwa in gewöhnlicher Schrift. Oh nein! Diese Striche, Punkte, Häkchen und Schleifen konnte nur Robert Sternheim selbst lesen.

Was er eben geschrieben hatte, lautete: „Einsiedelei – Mikulski – dritter Auftraggeber – Vorsicht.“ –

Diese Stichworte genügten ihm, um die Angelegenheit im Drange anderer Projekte nicht so vergessen.

Eine halbe Stunde später schickte er, ohne daß Mikulski etwas davon ahnte, eine Depesche nach Berlin ab, in der sein Prokurist angewiesen wurde, die beiden Schecken und den Jagdwagen schleunigst zu verkaufen. – Das Telegramm sah also harmlos genug aus.

Und doch hatte die Spinne im Netz sich soeben wieder zu regen begonnen.

 

4. Kapitel.

Am nächsten Morgen war Gritta Sternheim schon sehr früh aufgestanden.

Die Nacht hatte ihr wenig Schlaf gebracht. Überhaupt – sie, die bisher kaum wußte, was Nerven waren, merkte seit einigen Wochen, daß auch ihrer widerstandsfähigen Natur die ständigen seelischen Aufregungen schadeten.

Gritta war an sich selbst irre geworden. Sie begriff sich nicht mehr. War sie allein, so grübelte sie stets über dieselbe Frage nach. Wie war es möglich, daß sie jetzt so viel an Ottomar Maroß denken mußte, der ihrem Herzen doch nie recht nahe gestanden hatte, – wie kam es, daß sie über ihn von Tag zu Tag anders zu denken, ihn und sein Wesen mehr zu begreifen lernte und daß die Augenblicke immer häufiger wurden, in denen sie sich nach ihm sehnte in einer Weise, wie dies dem Liebenden gegenüber nie der Fall gewesen war …?!

Besonders dies letzte, dieses stille, ihr bisher ganz fremde Versenken in Erinnerungen, die mit ihren früheren Verlobten irgendwie zusammenhingen, beunruhigten sie am allermeisten. Eine seltsame Unrast war über sie gekommen. Etwas Unstätes lag in ihrem ganzen Sichgeben. Sie fühlte es sehr wohl, kämpfte dagegen an, wollte alle diese Gedanken weit von sich weisen. Es gelang ihr nicht. –

Jetzt schritt sie durch den stillen, verwilderten Park des Herrenhauses von Schamaiten. In der Nacht hatte es ein wenig geregnet. In den Gräsern, auf den Blättern lagen noch überall schwere Tropfen. Und strich der Morgenwind durch die Bäume, dann fielen diese Tropfen wie ein bescheidener Hagelschauer klatschend zu Boden. Dann schrak Gritta Sternheim jedes Mal leicht zusammen.

Kein Wunder …! War ihr Denken doch schon wieder weit, weit weg. Sie achtete kaum auf ihre Umgebung, nicht auf die Sonne, die da drüben über dem dunklen Strich des Waldes stand, nicht auf den klaren Himmel, der einen schönen Tag verhieß.

Drei Möven …! Ja – wie die Möwenschreie sie damals wachgerüttelt hatten …! Damals am Eingang der Einsiedelei, als Mikulski schon am Ziel zu sein glaubte …

Mikulski …! – Gritta blieb stehen und beugte sich zu einer eben erblühten, wundervollen, dunkelroten Rose herab, saugte deren Duft ein und schloß die Augen.

Was galt ihr Mikulski noch …? – Nichts – nichts …! Einst, noch vor vierzehn Tagen, hatte ihre Nixennatur mit allen Künsten ihn umgarnt, hatte Gritta beseligende Genugtuung in der Erkenntnis empfunden, daß es ganz in ihrer Macht lag, jederzeit Braut dieses von den Frauen so sehr verwöhnten Mannes zu werden.

Jetzt …?! – Sie ging ihm aus dem Wege. Sie hatte ihn mit anderen Augen zu betrachten gelernt. Oft erschiene er ihr lächerlich in seinem Selbstbewußtsein, seiner stets so deutlich hervorgekehrten, überlegenen Art, seiner Eitelkeit und seiner Sucht, überall sich vorzudrängen. –

Gritta öffnete die Lider, richtete sich auf und ging weiter. Der liebliche Duft der taufrischen Rose schien sie noch ein Stück zu begleiten …

„Rätsel überall, überall Unerklärliches …“ setzte sie diese Abrechnung mit sich selbst fort. „Bin ich deshalb dem Häusermeer der Reichshauptstadt entflohen, um hier von Gespenstern verfolgt zu werden …?! Wer war jener Mann, den ich letztens auf meinem Spazierritt am Strande von weitem sah, der mich in seinen Bewegungen so sehr an einen Toten gemahnte und der dann in der Richtung nach der Einsiedelei hin verschwand? War es wirklich Ottomar Maroß …? Kann das sein, kann der Baron nicht vielleicht übertreiben, wenn er behauptet, daß viele dieses Millionenringen mit seiner reichen Todesernte dazu benutzen, um unter anderem Namen infolge allerlei ihrem Vorhaben günstiger Umstände wiederaufzuerstehen …? Und – woher diese geradezu in die Augen springende Ähnlichkeit zwischen dem Freiherrn Gisbert von Lenzen und Ottomar Maroß …?!’

Unwillkürlich hatte Gritta, von ihren hastenden Gedanken vorwärts getrieben, die Schritte beschleunigt. Jetzt stand sie dich vor dem lang gestreckten Parkteich und vor dem einmal weißgestrichen gewesenen, jetzt aber schon ganz windschiefen Badehäuschen. Von diesem lief ein Steg weit in das klare Wasser hinein. Und an der Spitze dieser Brücke stand der grauköpfige Diener Franz und huldigte seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Angelsport.

Beim Anblick des Alten, der unverwandt auf das rote, auf dem Wasser schwimmende Floß seiner Angel hinschaute, wurde Gritta schnell aus der Welt des Rätselhaften, Unerklärlichen in die Wirklichkeit zurückgeführt. Einer Eingebung folgend, gesellte sie sich dem Diener zu, indem sie ein Interesse für die verschiedenen Angelmethoden heuchelte, das nur die Überleitung zu dem herstellen sollte, was sie von dem langjährigen Vertrauten der Familie von Lenzen zu erfahren hoffte.

Und Franz ging wirklich in die Falle. Der so gut hinter weiblicher Neugier sich verbergenden Ausfragekunst einer Gritta Sternheim war dieser harmlose und etwas geschwätzige Alte nicht gewachsen.

* * *

Noch jemand anders von den Schloßbewohnern – das Schamaiter Herrenhaus hieß in der Umgegend ganz allgemein „das Schloß“, und zwar wegen des plumpen Turmes, den des jetzigen Besitzers Vater in einer Anwandlung von Eitelkeit dem Nordflügel hinzugefügt hatte – war an diesem Morgen frühzeitig munter geworden und dann allein durch die stillen Felder dem Walde zugeritten, der wie ein breiter Gürtel dem Seestrande vorgelagert war.

Isolde von Lenzen hatte sich denselben Halbpony satteln lassen, den der Baron zuvorkommenderweise Gritta Sternheim zur Verfügung gestellt hatte. Dann pfiff sie der mächtigen Dogge, die eigentlich dem Inspektor gehörte, sich aber ganz an das Freifräulein angeschlossen hatte, und fort ging’s in schlankem Trabe in den wundervollen Sommermorgen hinaus.

Seit Tagen hatte Isolde nicht mehr zu Pferde gesessen. Und dabei war sie eine begeisterte Reiterin. Früher, noch vor vier Jahren, stand für den damals sechzehnjährigen Backfisch ein edles Halbblut im Stall. Jetzt mußte das Freifräulein sich mit dem schon etwas bequemen Pony begnügen, der so allerlei Unarten besaß, und den Isolde, die überhaupt sehr tierlieb war, doch wie einen guten Freund behandelte, mit dem sie auf ihren einsamen Ritten, ihrer einzigen Zerstreuung, häufig zu plaudern pflegte, ohne sich daran zu stoßen, daß Max nie Antwort gab.

Auch heute vertraute Isolde ihren beiden vierbeinigen Begleitern – denn Hektor, die Dogge, wich so lange nicht von des Ponys Seite, als er seiner stellvertretenden Herrinnen Stimme hörte – ohne Scheu ihre Sorgen an. Das schaffte ihr Erleichterung. Mit Karl-Egon, ihrem Bruder, konnte sie über das, was ihr Inneres bewegte, kaum sprechen. Sie beide hatten sich nie recht verstanden. Isolde war eine tief angelegte Natur, die das leichtsinnigen Genußleben des letzten Freiherren von Lenzen schon als halbes Kind durch gelegentliche herbe Bemerkungen zu steuern suchte, ebenso wie sie auch eine Zeit lang ihre ganze Energie dafür eingesetzt hatte, den zunehmenden Verfall des Familiengutes aufzuhalten. Hierbei fand sie jedoch bei dem bequemen, fast das ganze Jahr in Potsdam lebenden Bruder so wenig Entgegenkommen, daß sie ihr Mühen bald wieder aufgab und nun mit bitterem Weh wortlos zuschaute, wie Schamaiten immer mehr heruntergewirtschaftet wurde.

Jetzt lenkte Isolde auf die nach dem Badeort Brake führende Chaussee ein. Hier begegnete sie einigen armen Frauen, die schwer beladen vom Bruchholzsammeln kamen. Die drei Weiber waren aus dem Fischerdorf Schamaiten. Isolde kannte jede einzelne bei Namen. Zwei hatten ihre Männer im Felde, die dritte war durch die Schlacht an den masurischen Seen zur Witwe gemacht worden.

Das Fräulein von Lenzen ritt eine Weile neben den Frauen her, erkundigte sich nach diesem und jenem und zog schließlich ihre schon recht abgeschabte Börse, schenkte jeder ein Fünfzigpfennigstück und entzog sich den herzlichen Dankesworten dadurch, daß sie den faulen Max zu einem paar Galoppsprüngen zwang.

Die Chaussee bog gerade hier in den Wald ein, und Isolde benutzte einen Holzabfuhrweg, um möglichst schnell an den Strand zu gelangen.

Sie liebte die See. Es gab für sie kaum etwas Schöneres, als sich von dem salzigen Windhauch des Meeres umwehen zu lassen und dem Rauschen der Wellen zuzuhören. Schon als Kind hatte sie mit geschlossenen Augen der nimmermüden Musik der Wogen gelauscht. Es war ihr stets, als ob sie in dem Branden der ruhelosen Wassermassen Stimmen vernahm, menschliche Stimme, die ihr allerlei zuriefen.

Und auch jetzt trieb sie eine förmliche Sehnsucht nach der Küste hin.

Da – vor ihr wütendes Hundegekläff. Sie hörte Hektors tiefe, zornige Stimme, und auch das jämmerliche Geschrei eines offenbar kleineren Tieres. Die Dogge war ein böser Raufbold; das wußte Isolde. Und schleunigst stieß sie dem Pony aufmunternd den Sporn in die Weichen und jagte um die Biegung des Weges herum, die ihr den Schauplatz des Kampfes bisher entzogen hatte.

Und wirklich. Hektor stand dort über einem am Boden liegenden, kaum halb so großen, grauschwarzen Wolfspitz und machte eben wieder Miene, den ängstlich aufheulenden schwächeren Gegner mit den Zähnen zu packen.

Bevor das Fräulein von Lenzen noch dazu kam, die Dogge fortzurufen, erklang von der Seite her eine erregte Stimme:

„Wenn Ihr Hund nicht sofort von dem meinen abläßt, schieße ich ihn nieder …!“

Isolde schrak leicht zusammen. Ein schneller Blick streifte den ihr fremden Herrn, dann glitt sie aus dem Sattel, nahm Hektor beim Halsband und verabreichte ihm ein paar ordentliche Hiebe mit der Reitpeitsche.

Leider nahm sie nun aber auch wahr, daß der Wolfspitz in dem ungleichen Kampf ein paar stark blutende Wunden am Kopf davongetragen hatte und sich nur mühsam zu erheben vermochte.

Inzwischen war auch der Fremde, der einen leichten Touristenanzug aus Lodenstoff trug, näher getreten, beugte sich zu seinem Hund hinab und sagte mitleidig:

„Armer Maugli, – wie böse hat dich dieses bissige Tier zugerichtet. Habe ich dich deshalb aus einer sicheren Hundepensionen in Berlin hierherkommen lassen, damit du gleich am zweiten Tage unseres Wiedersehens mir vielleicht elendiglich stirbst …?! – Armer, alter Freund, – wie du blutest …! Und bis nach Hause haben wir’s noch soweit, und dein Herr kann dich nicht einmal tragen …!“

Isolde stand dabei und wußte zunächst nicht recht, wie sie sich diesem Manne gegenüber verhalten sollte. Der Fremde grollte ihr offenbar, weil die Dogge den Wolfspitz so arg zerzaust hatte. Aber eine Dame hierfür so absichtlich vollständig als Luft zu behandeln, blieb ein grober Verstoß gegen die Pflichten des Anstandes. Trotzdem überwog bei dem Fräulein von Lenzen das Schuldbewußtsein alles andere. Sie war ehrlich genug sich zu sagen, daß Hektor bei seiner Rauflust und Stärke eigentlich nie ohne Maulkorb herumlaufen dürfte. Außerdem aber sah sie in dem besorgten Benehmen dieses Mannes, der ohne Frage den gebildeten Kreisen angehörte und der jetzt neben seinem Hunde kniete, etwas ihrer eigenen Veranlagung Verwandtes. Zwischen dem Wolfspitz und seinem Herrn schien ein selten zärtliches Verhältnis zu bestehen, das Isolde geradezu rührte.

So überwand sie sich denn und sagte in ihrer ruhigen, sicheren Art, die sie älter erscheinen ließ, als sie es in Wirklichkeit war:

„Es tut mir sehr leid, mein Herr, daß Hektor wieder einmal in seinen alten Fehler, den Wegelagerer zu spielen, verfallen ist. – Gestatten Sie, daß ich Ihnen helfe, aus Ihrem Taschentuch einen Notverband für den armen Maugli herzustellen. Ich sehe, Sie kommen damit nicht zurecht.“

Auch sie kniete jetzt nieder, nachdem sie Hektor durch einen Peitschenhieb in das Gebüsch gejagt und die Zügel des Ponys schnell über den Aststumpf einer Buche geworfen hatte.

Unwillkürlich schauten die beiden, die sich jetzt um das verwundete Tier bemühten, sich nun genauer an.

Isolde zuckte zusammen, als sie die Gesichtszüge des Fremden so aus nächster Nähe prüfend musterte. Sie konnte die Augen nicht von diesem Antlitz losbringen, das ihr so seltsam bekannt vorkam.

Da sagte Mauglis Herr, und er schaute Isolde dabei keineswegs freundlich an:

„Sie wissen nicht, mein Fräulein, was dieser Hund mir ist …! Geht er mir ein, so werde ich die Sache weiter verfolgen, darauf können Sie sich gefasst machen.“

Das Fräulein von Lenzen schlug verlegen die Augen nieder. Sie hatte kaum recht begriffen, wie unhöflich seine Worte waren, wie empört der Ton seiner Stimme klang. In ihrem Geiste irrte nur eine Frage Antwort suchend umher:

„Wem gleicht dieser Fremde doch nur – wem doch?!“

Dann raffte sie sich auf, zwang sich, an das Nächstliegende zu denken. Und das war, dem armen Tier Hilfe zu bringen.

Isolde verrichtete schweigend ihre Samariterwerk an dem Wolfspitz, der geduldig alles mit sich geschehen ließ. Trockenes Moos stillte schnell die Blutung der klaffenden Schädelwunde. –

Des Fremden linker Arm schien gelähmt zu sein, wie das Schamaiter Fräulein bald bemerkte. Hin und wieder tauschten die beiden jetzt auch einige Worte aus. Das brachte die Sachlage so mit sich. Und schließlich konnte Isolde, die jetzt ahnte, daß der Handschuh an der Linken des Maugli-Besitzers wohl ein künstliches Glied verhüllen sollte, eine hierauf abzielende Frage nicht unterdrücken. Und diese Frage wurde in so warmem Ton gestellt, klang so mitfühlend, daß der Fremde erwiderte:

„Verzeihen Sie, mein Fräulein, daß ich Ihnen bisher meinen Namen nicht genannt habe, wie dies wohl meine Pflicht gewesen wäre. Aber ich habe mich hier in der Nähe niedergelassen, um ganz für mich zu leben – ganz. Ich will keine Bekanntschaften machen. – Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie sich meines Hundes so liebevoll angenommen haben. Und – was Ihre Frage nach meinem linken Arm anbetrifft. Der liegt irgendwo da oben in der Nähe der Angerapp; dort haben mir die Ärzte ihn amputiert.“

Isolde horchte auf. – Angerapp? Dort spielte sich ja ein Teil der Winterschlacht ab, durch die Hindenburg die Russen aus Ostpreußen gänzlich vertrieb.

„Sie sind Kriegsteilnehmer, nicht wahr?“ meinte sie mit einem Aufleuchten ihrer ausdrucksvollen Augen.

Er nickte nur. Und dann sagte er, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben:

„Wenn ich Maugli nur erst glücklich daheim hätte …! Hoffentlich kann er das ganze Stück laufen, denn ihn zu tragen, dazu bin ich nicht imstande.“

Der Verband war fertig, und Isolde erhob sich. Sie schaute den Mann, der die Menschen fliehen zu wollen schien, offen an und erklärte:

„Sie sind der neue Besitzer der Moosgrund-Einsiedelei. Ich dürfte in dieser Annahme kaum irren. Da nun Mauglis Wunden sofort ausgewaschen werden müssen, werde ich Sie begleiten, da Sie diese Verrichtungen nicht vornehmen können. Oder – haben Sie sich jemanden zu Ihrer Bedienung mitgebracht, der bei Maugli den Arzt spielen kann?“

Ottomar Maroß schüttelte den Kopf.

„Ich brauche niemanden.“

Isolde errötete leicht. Diese Antwort war ja auch so aufzufassen, als ob er ihre Hilfe ablehne. Dennoch fragte sie:

„Auch mich nicht – im Interesse Ihres vierbeinigen Freundes?“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie für Maugli in meinem Heim etwas sorgen wollten. Aber – ich bin Junggeselle …“

Sie verstand ihn. Ihr klassisch schöner Kopf hob sich ein wenig höher.

„Isolde von Lenzen steht über derartigen Anstandsnormen der sogenannten „guten Gesellschaft“. – Kommen Sie! Hektor scheint die Jagdhiebe mit der Peitsche richtig aufgefaßt zu haben. Er ist nach Hause zurückgelaufen.“

 

5. Kapitel.

Halbwegs auf der Chaussee zwischen Schamaiten und dem Ostseebade Brake und zwar auf einer kleinen Lichtung im Walde war für den Landsturmposten, der in Stärke von einem Vizefeldwebel, einem Unteroffizier und achtzehn Mann die Küste von hier aus bis auf eine Meile westlich Schamaiten zu bewachen hatte, ein Blockhaus errichtet. Die Landsturmkompanie, die diesen alle drei Tage abzulösenden Posten neben zwei anderen, mehr westlich befindlichen stellte, lag in Brake.

Schwer war der Wachdienst für die wackeren Landsturmleute, die alle die Jugendjahre längst hinter sich hatten, insofern, als es galt, bei Tag und Nacht, bei Regen und Sturm ständig den Strand, in Patrouillen von zwei Mann geteilt, auf eine Strecke von zwei Meilen abzugehen und dabei auch auf alles zu achten, was auf See geschah.

Mit der Zeit hatten die beiden braven, graubärtigen Vaterlandsverteidiger, die über der Tuchmütze den charakteristischen graugrünen Wachstruchbezug trugen, das Blockhaus im Walde zu einer behaglichen Wohnstätte mit Vorgarten und kleinen Nebengebäuden ausgestaltet. In dem Garten blühten jetzt im Sommer in zierlich angelegten und mit weißen Muscheln eingerahmten Beeten allerlei Blumen, wuchsen in einer Ecke auch Kartoffeln und Gemüsepflanzen.

Für die jeweilige Wache von achtzehn Mann bedeuteten die drei Tage im Blockhaus Schamaiten, wie dieser Posten dienstlich benannt war, immerhin eine Abwechslung. Hier so mitten im Walde, von wo man zum Strand keine vier Minuten zu gehen hatte und wo man wegen der Verlassenheit dieses Küstenstriches bei den Patrouillengängen auch im Sande sich sonnende Seehunde schießen durfte, um das Überhandnehmen dieser gefährlichen Fischräuber zu steuern, verflogen die drei Tage immer bedeutend schneller als auf den beiden anderen Wachen der Kompagnie, die an einer öden Steilküste lagen. –

An demselben Morgen, als Gritta dem alten Diener beim Angeln Gesellschaft leistete und Isolde von Lenzen des Wolfspitzes Maugli wegen den Einsiedler vom Moosgrund nach seiner Klausel begleitete, hatte der wachhabende Vizefeldwebel einen seiner Leute vom Blockhaus nach dem Dorf Schamaiten geschickt, um dort im Krug allerlei einkaufen zu lassen.

Gemächlich wanderte der hagere Landsturmmann, Zivilberuf Tischlermeister, mit dem Gewehr und einer gerollten Zeltbahn über der Schulter, in die Zeltbahn sollten nachher die Einkäufe verstaut werden, die Chaussee entlang, die fast bis zum Dorf hin stets zwischen grünen Waldkulissen hindurchlief.

August Trebonius rauchte behaglich sein Pfeifchen, pfiff hin und wieder ein Marschlied, schaute hier und da nach dem Grade der Reife der zahlreichen Walderdbeeren und freute sich des köstlichen Sommermorgens.

Für gewöhnlich behauptet man, daß von den ehrbaren Handwerkern die Schumacher die am meisten philosophisch Veranlagten sei. Dies mag schon zutreffen.

Aber auch August Trebonius gehörte zu den besinnlichen Leuten. Obwohl nur ein Dorftischler, hatte er doch seinen Horizont durch eifriges Selbststudium erweitert und besonders viel Weltgeschichte getrieben. Über die Entstehung der Staaten Europas, die Kriege und deren Ursachen, die politischen Interessen der einzelnen Länder und manches andere wußte er besser Bescheid als viele Studierte. In der Braker Landsturmkompanie war er neben den beiden Offizieren und dem Unteroffizier Eckstein, der im bürgerlichen Namen Professor der neueren Sprachen an der Adelshorster Universität war, mit der gelehrteste. Diese Gelehrsamkeit hatte bei ihm aber nicht etwa dazu geführt, den Sinn für das Praktische und seine sonstigen natürlichen Geistesgaben zu überwuchern und abzustumpfen. Nein, August Trebonius war ein heller, kluger Kopf in jeder Beziehung, dabei auch ein Mann, der zu gern dem Vaterlande auch einmal draußen im Schützengraben gedient hätte. Doch dazu war es nie gekommen. Die Ärzte hatten ihn trotz seines äußerlich ganz kräftigen Körpers stets nur für garnisondienstfähig erklärt. Sein Herz sei nicht in Ordnung, hieß es stets. Und in der Tat, mit dem Laufen wollte es bei Trebonius nicht so recht gehen.

So gehörte er denn nun schon fast ein volles Jahr der Braker Landsturmkompanie an, und die Aussichten, je sich das heißbegehrte Eiserne Kreuz zu verdienen, waren gleich Null. Das schmerzte den langen, dürren Tischlermeister umso mehr, als sein achtzehnjähriger Junge, der als Kriegsfreiwilliger seit Beginn des Weltkrieges bei einem Reserveregiment stand, diese Auszeichnung längst besaß und letztens sogar Unteroffizier geworden war.

Schon eine ganze Weile war August Trebonius’ Pfeife ausgegangen, und kein Marschlied hatte wieder den Weg über seine Lippen gefunden. Er dachte eben zu angestrengt darüber nach, ob er es doch nicht möglich machen könne, wenigstens zunächst zu einer mobilen Landsturmformation ins Etappengebiet zu gelangen. Das weitere würde sich dann schon finden.

Da riß ihn aus dem Wald hervordringendes Hundegekläff aus seinem Sinnen heraus. Anscheinend waren’s zwei Köter, die einen erbitterten Kampf ausfochten. Immerhin konnte man ja aber mal nachsehen gehen, was dort eigentlich los war. Wildernde Hunde trieben sich genug in dem Königlichen Forst umher, und der Förster Gruber in Schamaiten hatte die Landwehrleute geradezu gebeten, jeden bei der Wildhetzte getroffenen Hund einfach niederzuschießen.

Schon war Trebonius ein Stück in den Wald eingedrungen, als das wütende Bellen und Heulen gänzlich verstummte. Er blieb daher stehen, lauschte eine Weile und wollte schon wieder, da alles still blieb, auf die Chaussee zurückkehren, schaute dann aber doch noch eine Weile dem munteren Spiel zweier Eichhörnchen zu, die sich blitzschnell am Stamm einer Kiefer auf und ab jagten.

Von seinem Platz aus konnte er zwischen den Bäumen hindurch die Chaussee überblicken. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit auf einen gut gekleideten Wanderer gelenkt, der die Chaussee entlang geschritten kam und in dessen Benehmen August Trebonius etwas Scheues, Ängstliches zu bemerken glaubte.

Der Fremde, der zu einem fein karierten, hellen Anzug braune Schuhe sowie einen weichen Filzhut trug und einen feinen Spazierstock mit Silberkrücke in der Hand hatte, blickte sich wiederholt vorsichtig um und betrachtete anderseits auch wieder prüfend die weißgekalkten Chausseesteine, als ob an diesen etwas Besonderes zu entdecken sei. Dann bückte er sich, richtete sich nach wenigen Sekunden wieder auf, sprang nach der Waldseite hin, in der Trebonius sich befand, über den Graben und kam beinahe direkt auf den Wehrmann zu, der, von einem unbestimmten Argwohn gepackt, schnell hinter einen Baum trat, um den Fremden heimlich weiterbeobachten zu können.

Neben einer alten, knorrigen Eiche blieb der Mann dann stehen, blickte sich wieder vorsichtig um und faßte nun in ein Astloch des Baumes hinein.

Trebonius, der keine dreißig Schritt entfernt war, sah deutlich, daß der Fremde aus dem Loch ein Stück Birkenrinde hervorholte, das er sich sehr genau anschaute und in welches er dann mit seinem Taschenmesser irgend etwas einzuritzen schien, worauf er es wieder in das Versteck zurücklegte.

Dem Tischlermeister begann plötzlich das Herz schneller zu schlagen. Schriftverkehr zwischen Liebesleuten? Oder – hatte die Sache mehr auf sich? – Und der Gedanke, daß diese letzte Annahme zutreffen könnte, beschleunigte August Trebonius’ Puls ganz gehörig.

Der Unbekannte war inzwischen wieder auf die Chaussee zurückgekehrt und verfolgte diese in Richtung auf das Dorf Schamaiten zu. Der Landsturmmann aber war einen Augenblick nicht recht einig mit sich, was er unter diesen Umständen tun solle. Nun – vielleicht gelang ihm beides ist, das Astloch auf seinen Inhalt hin zu untersuchen und auch dem Fremden auf den Fersen zu bleiben.

Schleunigst nahm er das Stück Birkenrinde heraus. Es war noch frisch und ganz unregelmäßig geformt bei reichlich Handtellergröße. Hätte es jemand zufällig gefunden, so würde der Betreffende es sicher achtlos bei Seite geworfen haben, da die eingeritzten Zeichen nur bei genauem Hinsehen auffielen.

Diese Zeichen bildeten zwei voneinander getrennte Gruppen, und bestanden aus römischen Ziffern und kunstvollen Zeichnungen. Die obere Gruppe war ohne Frage schon vor einiger Zeit hergestellt worden. Es machte daher den Eindruck, als ob die zweite, eben erst von dem Fremden eingeschnittene untere Gruppe die Antwort auf die frühere Bilderschrift sein sollte.

Daß er die Zeichen nicht sofort würde enträtseln können, falls ihm dies überhaupt gelang, sah der wackere Wehrmann schon nach kurzem Prüfen dieser geheimen Mitteilungen ein. Er tat daher das einzig Richtige, legte das Rindenstück wieder in das Astloch zurück und eilte am Rande des Chausseegrabens, gedeckt durch den Baumbestand, dem Fremden nach.

Der hatte inzwischen schon einen ziemlichen Vorsprungs gewonnen. Trebonius mußte sich daher zu einem kleinen Dauerlauf entschließen, um ihm wieder näher zu kommen.

Diese Verfolgung endete schließlich unweit der dem Wehrmann längst bekannten Einsiedelei, wo der Mann mit dem karierten Anzug sich im Schutze eines Gebüsches niederließ, sich eine Zigarre anzündete und offenbar die seltsamen Strandvilla dann scharf beobachtete.

Trebonius wurde die Geschichte immer rätselhafter. Umsonst versuchte er einen Zusammenhang zwischen seinem Fund im Astloch der Eiche und dem jetzigen Verhalten des Fremden herauszuklügeln. Trotzdem wartete er, ebenfalls gut verborgen hinter einigen etwa zwanzig Meter entfernten Brombeersträuchern, auf die weitere Entwicklung der Dinge.

Diese nahmen dann folgenden Verlauf. Die nach dem Walde zu gerichtete Zaunpforte der Einsiedelei öffnete sich nach einer guten halben Stunde, und der neue Besitzer der Klause, dem Trebonius bei Strandpatrouillengängen schon zweimal begegnet war, geleitete eine junge Dame, die ein Pferd am Zügel führte, eine Strecke in den Forst hinein.

Auch die Dame kannte der Wehrmann von Ansehen. Es war die Schwester des Besitzers des Gutes Schamaiten.

Daß der Fremde für dieses Paar großes Interesse hatte, ging aus seinem Verhalten deutliche hervor. Sehr vorsichtig schlich er den beiden nach, während Trebonius wieder ziemlich dicht hinter diesem merkwürdigen Menschen blieb, der auf nicht ganz einwandfreien Pfaden zu wandeln schien.

Die junge Dame verabschiedete sich dann von dem Einsiedler, mit dem sie ein lebhaftes Gespräch geführt hatte. Die beiden tauschten noch einen Händedruck aus, worauf die Reiterin davontrabte.

Trebonius war gespannt, was der Unbekannte jetzt unternehmen würde, der mit eiligen Schritten der Strandbehausung zugeeilt war, als er kaum bemerkt hatte, daß das Paar sich trennen würde.

Nun, er sollte hierüber sehr bald Aufschluß erhalten. Der Mann im karierten Anzug tat so, als ob er soeben vom Strande käme und schritt dann auf den ihm entgegenkommenden Einsiedler zu, lüftete den Hut und verbeugte sich. Was die beiden miteinander sprachen, konnte Trebonius nicht verstehen. Immerhin machte die Begegnung aber den Eindruck, als ob der Fremde sie absichtlich herbeigeführt habe, um mit dem Klausner bekannt zu werden.

Die beiden Herren blieben eine ganze Weile auf demselben Fleck stehen, unterhielten sich und gingen schließlich mit kühlem Gruß auseinander. Der Einsiedler verschwand in Richtung auf sein einsames Heim, und der Karierte verfolgte den Waldweg nach der Chaussee zu. –

Eine Stunde später wußte Trebonius, daß dieser Herr nach dem Gut Schamaiten hingehörte. Und diese Feststellung genügte dem Wehrmann vorläufig. Nachdem er dann seine Einkäufe im Dorf besorgt hatte, fand er Gelegenheit, auf dem Fuhrwerk eines Händlers den Rückweg nach dem Blockhaus des Küstenpostens zurückzulegen.

Hier angelangt, nahm er seinen Gönner, den Unteroffizier und Universitätsprofessor Eckstein bei Seite und erzählte ihm haarklein sein ganzes Erlebnis.

Eckstein wurde sehr nachdenklich und sagte schließlich:

„Behalten Sie die Sache für sich, lieber Trebonius. Ganz reinlich kommt sie mir nämlich nicht vor. Ich werde mal mit unserem Wachthabenden sprechen, damit er uns beide für den Rest des Tages vom Dienst befreit. Kuttner ist ein verständiger, verschwiegener Mann, dem selbst etwas daran liegen muß, daß diese Geschichte aufgeklärt wird. Wären wir nicht im Kriege, so würde ich Ihrem Abenteuer keinerlei Bedeutung beimessen. Aber jetzt – da muß man doppelt mißtrauisch sein.“

Der Wachthabende, Vizefeldwebel Kuttner, im Zivilberuf Gerichtsassistent, beurlaubte die beiden sofort, als Eckstein bei der Schilderung von Trebonius Erlebnis betonte, daß es sich hierbei aus dem einfachen Grunde um eine Angelegenheit von Bedeutung handeln müsse, weil das Rindenstück und die darauf befindlichen, in einer Art Bilderschrift abgefassten Mitteilungen mit Sicherheit auf Dinge hinwiesen, die das Licht des Tages zu scheuen hätten.

Nachdem Eckstein und Trebonius sich mit einigen Eßvorräten versehen und auch ihre Feldflaschen mit Kaffee gefüllt hatten, begaben sie sich vorsichtig nach jener Stelle des Waldes hin, wo die bewußte Eiche stand, legten sich hier auf die Lauer und ließen sich von den zahlreichen Mücken zerstechen, die sie im Interesse ihres Vorhabens nicht durch eine Zigarre oder Pfeife zu verscheuchen wagten.

Bevor sie ihren Lauscherposten bezogen, hatte der Professor schnell noch das Rindenstück angesehen und die beiden Gruppen von Zeichen in sein Notizbuch möglichst genau eingetragen.

Während sie nun nebeneinander in einem Haselnußgebüsch saßen und lediglich mit ihren Taschentüchern einen erbitterten Kampf gegen die Plagegeister von Mücken ausfochten, grübelte Eckstein mit zäher Ausdauer über die Bedeutung der Bilderschrift des Rindenstückes nach. Doch auch er war nicht glücklicher und gescheiter als Trebonius. Der Sinn der Zeichen blieben ihm ebenso unklar.

Gegen zwei Uhr nachmittags tauchte dann auf der nahen Chaussee eine aus der Richtung von Brake kommende Radlerin auf. Sie trug einen kleidsamen Sportanzug, einen breitrandigen Strohhut und war, wie die beiden Wehrmänner bald feststellen konnten, über die erste Jugend zwar schon hinaus, trotzdem aber noch hübsch zu nennen.

Das Benehmen dieser Person bewies, daß sie etwas vorhatte, wobei sie nicht beobachtet sein wollte. Sie war gerade gegenüber der Stelle, wo die Eiche sich erhob, vom Rade gestiegen, schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um, trug dann erst ihre Maschine schnell durch den Chausseegraben und rollte sie ein Stück in den Wald hinein, lehnte sie hier an eine Buche und begann dann, nachdem sie eine Weile angestrengt gelauscht hatte, die Umgebung der Eiche abzusuchen, indem sie diese in weitem Kreise umschritt. Zum Glück ging sie hierbei ziemlich oberflächlich vor. Sonst hätte sie die beiden Lauscher in ihrem Versteck unbedingt bemerken müssen.

Als sie sich dergestalt überzeugt hatte, daß sie – wenigstens ihrer Meinung nach – fremde Blicke nicht zu fürchten brauche, holte sie das Rindenstück aus dem Astloch hervor, betrachtete und zerriß es darauf in kleine Teile, die sie fortwarf. Dann brachte sie ihr Rad wieder auf die Chaussee zurück, schwang sich in den Sattel und fuhr in der Richtung nach dem Dorf Schamaiten langsam davon, scharf beobachtet von Unteroffizier Eckstein, der sein gutes Fernglas nicht von den Augen ließ. Daher entging es ihm nicht, daß sie den in Abständen von hundert Meter aufgestellten nummerierten Chausseesteinen besondere Beachtung schenkte, bis sie plötzlich wieder vom Rade stieg und nach vorsichtigem Umherblicken sich etwas an einem der Chausseebäume, einer Linde, zu schaffen machte.

Da die Straße hier weit über einen Kilometer schnurgerade verlief, war keine ihrer Bewegungen dem Unteroffizier verborgen geblieben. Jetzt stand die Radlerin mitten auf der Chaussee und hatte etwas Weißes in der Hand, offenbar einen Brief, den sie las und dann in die vorn aufgesetzte Tasche ihres Sportrockes steckte.

Der Professor sagte jetzt zu dem neben ihm stehenden Wehrmann:

„Wir haben wirklich Glück gehabt, Trebonius. Ein Teil der Bilderschrift ist mir nunmehr klar geworden. Die Dreiecke, in die die römischen Zahlen eingetragen sind, sollen Chausseesteine vorstellen. Und die Dinger, die wie Stäbe aussehen, sind offenbar Bäume. Jedenfalls sollten die Zeichen, die der Fremde als zweite Gruppe in das Rindenstück eingeschnitten hatte, die Radlerin zu dem Baum neben dem Chausseestein mit der Nummer 1,3 und damit zu dem Versteck des Briefes hinführen. Sie sehen also, Kamerad, wie überaus vorsichtig die beiden zu Werke gingen, indem die geheime Mitteilung, wo der Brief zu finden war, und dieser selbst an verschiedenen Orten versteckt wurden. – Halt, da kommt die Person ja auch schon zurück. Trebonius, wir machen jetzt kurzen Prozeß. Wir nehmen sie fest. Am besten, wir tun so, als ob wir hier im Chausseegraben Erdbeeren suchen.“

Als die verdächtige Dame dann ganz nahe war, rief der Unteroffizier sie an.

„He, Fräulein, Sie könnten mir einen Gefallen tun.“

Der Erfolg blieb nicht aus. Die Radlerin verlangsamte den Lauf ihrer Maschine, und Eckstein ging ihr langsam entgegen.

„Fahren Sie nach Brake, Fräulein? – Dann könnten Sie so gut sein und mir einen wichtigen Brief mitnehmen und vielleicht auf der Post in den Kasten werfen.“

„Ja, ich fahre dorthin. Geben Sie mir den Brief.“ Sie sprach etwas gebrochen, und jetzt so aus nächster Nähe stellte der Professor auch fest, daß sie zweifellos einem slawischen Volke angehörte.

„Den haben Sie ja schon dort in der Tasche,“ erwiderte der Professor und griff nach der Lenkstange des Rades. – Inzwischen war auch Trebonius näher gekommen.

Bei Ecksteins Worten verfärbte die Dame sich leicht. Mißtrauen und Angst lagen in dem Blick, mit dem sie in dem gutmütigen Gesicht des gelehrten Unteroffiziers zu lesen suchte.

Dann ließ sie plötzlich das Rad fallen, schnellte sich zur Seite und wollte in den Wald entweichen. Doch der Tischlermeister war auf einen solchen Fluchtversuch gefaßt gewesen. Mit zwei Sprüngen hatte er sie eingeholt. Und trotz ihres wütenden Sträubens wurde ihr der Brief abgenommen.

Er war in deutscher Sprache abgefaßt und enthielt nur Mitteilungen eines gewissen Franz Meier an eine mit „liebe Marie“ angeredete Person über allerlei Verwandte, die an den verschiedensten Orten in Deutschland wohnten.

Eckstein ahnte jedoch sofort, daß diese so harmlos erscheinenden Familiennachrichten ohne Zweifel sämtlich einen anderen Sinn hatten. Denn ein tatsächlich ganz unverfängliche Schreiben hätte „Franz Meier“ seiner „lieben Marie“ wahrscheinlich ohne alle Vorsichtsmaßregeln zugestellt, ebenso wie „Marie“ bei reinem Gewissen wohl kaum den Fluchtversuch unternommen haben würde.

Nachdem die beiden Wehrmänner dann noch die Linde neben dem Chausseestein 1,3 besichtigt und herausgefunden hatten, daß das Schreiben, das in einem Umschlag ohne Aufschrift gesteckt hatte, nur hinter einem halb losgelösten Teil der Baumrinde verborgen gewesen sein konnte, brachten sie die Gefangene nach dem Blockhaus, welches mit der in Brake liegenden Kompanie telephonisch verbunden war.

Die Angelegenheit wurde mit größter Verschwiegenheit behandelt. Drei Stunden später holte ein von der nahen Provinzialhauptstadt Adelshorst eingetroffener Kraftwagen, in dem zwei Offiziere saßen, die Dame ab.

 

6. Kapitel.

Trotz der Verwundung seines Wolfspitzes durch die bissige Dogge hatte Ottomar Maroß infolge des kurzen Besuches Isolde von Lenzens in seiner Klause sich in so heiterer Stimmung wie seit langem nicht befunden. Leider sollte sich dann aber durch das Zusammentreffen mit Mikulski, der die Begegnung mit dem Einsiedler absichtlich herbeigeführt hatte, nur zu schnell ändern.

Mikulski suchte nämlich in ziemlich aufdringlicher Art den Schriftsteller, der bei der gegenseitigen Vorstellung seinen Namen recht undeutlich ausgesprochen hatte, zu einem Verkauf der Strandvilla zu bewegen, was Maroß rundweg ablehnte.

Da war der internationale Abenteurer, der aus Nützlichkeitsgründen sein deutsches Vaterland gegen ein anderes, Spanien, eingetauscht hatte, plötzlich auf einen neuen Gesprächstoff übergegangen, als er einsah, daß der jetzige Besitzer der Einsiedelei sich selbst durch das verlockende Angebot nicht umstimmen ließ. Wollte Mikulski doch auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, daß er ein besonderes Interesse an der einsamen gelegenen Behausung habe.

Mit scheinbar größter Liebenswürdigkeit hatte er zu dem Schriftsteller gesagt:

„Gut – lassen wir also die Sache fallen. Im übrigen sind sie mir nicht ganz unbekannt, mein Herr. Ich glaube mich nicht zu täuschen, Ihr Bild in einem Hause gesehen zu haben, zu dem ich in mehreren Beziehungen stehe. Ich meine das des Kommerzienrates Sternheim. Ich war längere Zeit vor dem Kriegsausbruch im Ausland, und deshalb sind wir uns bei Sternheims nie begegnet. – Nicht wahr – Sie sind doch Ottomar Maroß? – Im ersten Augenblick, als ich Sie sah, bewirkte Ihre neue Barttracht, daß ich mich nicht gleich auf Ihre Ähnlichkeit mit jener Photographie im Salon des Kommerzienrates besann. Jetzt aber zweifle ich nicht mehr daran, daß ich jenen totgesagten Schriftsteller vor mir habe, dessen frühes Ende von allen Freunden moderner Literatur so aufrichtig bedauert wurde.“

Maroß schaute Mikulski, von dem er gelegentlich bei Sternheims dies und jenes gehört hatte, nicht eben freundlich an. Daß sein Geheimnis jetzt in die Hand dieses Mannes gegeben war, dessen Verschwiegenheit zu erbitten kaum einen Zweck gehabt hätte, verscheuchte auch den letzten Rest seiner seltsam gehobenen Stimmung, die er lediglich auf die anregende Unterhaltung mit Isolde von Lenzen zurückführte.

Außerdem hatte er aber auch eingesehen, daß er sich sein jetziges Dasein unter dem neugewählten Pseudonym Karl Deinert doch, was das Verbergen seines wahren Namens und seiner Person anbetraf, all zu einfach vorgestellt hatte. Als er damals Gritta Sternheim am Strande von weitem erblickte, war er im unklaren darüber getrieben, ob die junge Dame wirklich seine frühere Braut sein könne. Stark beunruhigt durch diese Ungewißheit, hatte er seine Ausflüge nur noch mit größter Vorsicht unternommen, um eine neue Begegnung zu verhüten. Schließlich war er dann aber doch zu der Überzeugung gelangt, er müsse sich geirrt haben. Wie sollte Gritta gerade hierher kommen …?! Nur ein Zufall hätte sie in diese Gegend geführt haben können. Daß sie absichtlich ihm nachgespürt und sein Geheimnis entdeckt haben und daß sie ihm dann nachgereist sein sollte – diese Möglichkeit war ja ebenso ausgeschlossen wie der blinde Zufall eines Kuraufenthaltes in dem benachbarten Brake.

Heute nun hatte Isolde von Lenzen, der gegenüber er der namenlose Einsiedler trotz des gegenseitigen Einvernehmens geblieben war, ohne zu ahnen, welche Bedeutung diese Nachricht für den Herrn des blessierten Maugli hatte, ihn darüber aufgeklärt, daß es doch Gritta gewesen war, die er am Strande getroffen hatte. Isolde war im Laufe des Gesprächs die bittere Bemerkung entschlüpft, wie schwer ihr der Abschied von der alten Heimat werden würde, die sie demnächst für immer aufgeben müsse. Teilnehmend und aus Unkenntnis der traurigen Gründe dieses bevorstehenden Umzuges nach Berlin, wo der Freiherr mit seiner Schwester sich niederlassen wollte, hatte Ottomar Maroß gefragt, weswegen Isolde denn die ungemütliche Weltstaat gegen das friedliche Leben auf dem Lande zu vertauschen beabsichtigte. Mit einer Aufrichtigkeit, die ihn in Erstaunen setzte, antwortete das Fräulein von Lenzen darauf, daß ihr Bruder das völlig heruntergewirtschaftete Schamaiten an den Berliner Kommerzienrat Sternheim zu verkaufen gezwungen und daß der zukünftige Herr des Stammgutes derer von Lenzen in Begleitung seiner Tochter und eines Bekannten vor einigen Tagen dort bereits eingetroffen sei, um das Geschäft persönlich zum Abschluß zu bringen.

Diese Bemerkung der ihm schon ihrer Tierliebe wegen so sehr sympathischen jungen Dame genügte, um Ottomar Maroß die Gewißheit zu geben, das Gritta tatsächlich jetzt in seiner nächsten Nähe weile.

Als Mikulski ihm daher mit verbindlichstem Lächeln erklärt hatte, daß er dem totgeglaubten, vom Publikum so hochgeschätzten Schriftsteller gegenüber zustehen glaube, gab er es nach kurzem Nachdenken endgültig auf, diese Frage zu verneinen.

Sehr frostig hatte er erklärt, Mikulski vermute das Richtige. Und sofort hatte er hinzugefügt, um diesen Menschen, dessen ganze Art geradezu abstieß, möglichst schnell loszuwerden: „Ich muß mich jetzt verabschieden, da ich dringende Briefe zu schreiben habe. – Guten Morgen.“

Mikulski biß sich auf die Lippen. Hatte er doch gehofft, daß Maroß ihn bitten würde, über diese Begegnung Stillschweigen zu bewahren, was er auch versprochen haben würde, wenn auch unter einer Bedingung, daß der Schriftsteller ihm die Einsiedelei käuflich überlasse. In dieser Erwartung sah er sich jetzt getäuscht. Der stolze, abweisende Gesichtsausdruck Ottomar Maroß’ und die fast unhöfliche Form, in der dieser sich verabschiedete, brachte in dem allen niedrigen Instinkten zugänglichen Abenteurer allerlei rachsüchtige Gedanken zur Entstehung.

Als er dann allein den Waldweg nach der Chaussee zu entlangschritt, überlegte er sich kaltblütig, wie er die Erlebnisse dieses Morgen am besten für seine Zwecke ausnutzen könne. War ihm doch die Tatsache, daß die stolze Isolde von Lenzen den Schriftsteller in seiner neuen Klause besucht hatte, was seines Erachtens auf vertrautere Beziehungen schließen ließ, nicht minder bedeutungsvoll als die Entdeckung, wer der Einsiedler vom Moosgrund eigentlich war. – –

Ottomar Maroß wieder kehrte verärgert in seine einsame Behausung zurück. Nachdem er die Zaunpforte wie immer sorgsam hinter sich verschlossen hatte, ging er langsam durch die blühenden Blumen des Gartens auf das graugestrichene Wrack des Schoners zu, stieg die Holztreppe zum Deck empor und betrat seine eigentliche Wohnung, die aus drei kleinen Räumen bestand, welche in dem Aufbau des Hinterdecks lagen.

Maroß warf den Panama auf das kleine Ledersofa in seinem Arbeitsraum und sah dann zuerst nach seinem vierbeinigen Gefährten, der im Schlafzimmer auf einem Lager von Kissen und Decken untergebracht war.

Maugli ging es schon bedeutend besser. Schweifwedelnd empfing er seinen Herrn, der einen Klappstuhl herbeizog und sich zu dem treuen Tier setzte. Maroß streichelte den Hund, den er schon jahrelang besaß und der ihm stets ein anhänglicher, verschwiegener Freund gewesen war, fast zärtlich.

„Armer Kerl, du wirst böse Schmerzen haben,“ sagte er. „Nun, trösten wir uns damit, daß dieser freche Angreifer dich noch weit übler hätte zurichten können.“ Und nach einer Weile fuhr er fort: „Ja, Maugli, mit unserem Idyll hier ist’s jetzt zu Ende. Die, die dich nie hat leiden mögen, die dich stets nur Köter titulierte, hält sich in unserer Nachbarschaft auf. Du ahnst nicht, was in deinem Herrn vorging, als er dies erfuhr. Die Liebe zu ihr ist ja längst erstorben. Es galt nur noch die Enttäuschung, die Scham zu überwinden, daß ich ihr nur ein Spielball einer Laune, das Mittel zur Befriedigung eitler Regungen gewesen bin. Sieh, alter Freund, und gerade mir mußte das passieren, gerade mir, der einen so feinen Instinkt für die Schwächen dieses unvollkommenen Etwas besitzt, das man Weib nennt …“

Der Wolfspitz hatte den Kopf wieder in die Kissen gedrückt und war vor Erschöpfung eingeschlafen.

Ottomar Maroß erhob sich leise und ging auf das Deck des Schoners hinaus.

Die Sonne strahlte mit gleißender Helle vom klaren Himmel herab, die See und der nahe Wald rauschten, und die Weidenhecke, die Rosenstöcke und die wenigen Obstbäume des Gartens machten stets gleichzeitig vor den Windstößen eine tiefe Verbeugung. Es war ein Tag, für den Ottomar Maroß den Schöpfer dankbar hätte preisen müssen, und doch war nichts als Bitterkeit in seinem Herzen. Hier in der Einsamkeit hatte seine Seele genesen, hier hatte die Vergangenheit mit ihren Erinnerungen gänzlich verblassen sollen …

Und nun war Gritta erschienen … War’s nicht, als ob das Schicksal sie ihm absichtlich in den Weg geführt hatte …?! – Seine Ruhe war dahin. Dieses Losgelöstsein von allem, was mich ihr zusammenhing, hatte ihm hier so wohlgetan. Warum konnte es nicht so bleiben …?! Warum mußte er jetzt immer wieder an jene Stunde denken, als er die Fetzen ihres Abschiedsbriefes unter dem Donner der Geschütze in den Schmutz des Schützengrabens flattern ließ, als er dann mit dem Wunsch gegen das befestigte Dorf vorstürmte, eine mitleidige Kugel möchte ihn von dieser Pein erlösen, die ihm das Leben ohne Gritta Sternheim zu sein schien. Er hatte sie geliebt, wie nur ein Mann zu lieben vermag, der mit vollen Händen die besten Gaben aus der Tiefe eines reichen, edlen Herzens für die Geliebte zu verschenken hat.

Ottomar Maroß fühlte plötzlich, daß die Einsamkeit ihn bedrückte, daß er gerade jetzt Menschen brauchte, irgend eine Ablenkung, damit er sich nicht wieder in stetem nutzlosem Grübeln über die Unbeständigkeit der Weiberseele verlor. Er brauchte jemanden, zu dem er Vertrauen hatte, dessen Hand er in die seine nehmen konnte, um dann die Augen zu schließen und das köstliche Gefühl des Geborgenseins ganz auszukosten …

Seine Gedanken eilten hin in das Steinmeer der Riesenstadt. Dort wohnte die, die nicht seine Mutter war und die er doch stets so genannt, als solche betrachtet hatte. Eine einfache Frau war’s nur. Aber ihr Denken und Fühlen hob sie weit aus ihren Kreisen empor, adelte sie mehr als ein klingender, alter Name… –

Und als eine Stunde später der Postbote Herrn „Karl Deinert“ einen Brief aus Berlin-Moabit brachte, einen aber auch mit so viel inniger Herzlichkeit in jeder Zeile, da schickte dieser Karl Deinert noch an demselben Tage eine Depesche nach der Reichshauptstadt. – –

Kommt zu mir. Ihr sollt Elfriedes Ferien hier bei mir verleben. Ich habe Sehnsucht nach euch. Herzlichst – euer Otto.

* * *

Mikulski begegnete Gritta bei der Rückkehr von seinem Morgenspaziergang im Park, wo sie sich mit einem Buch, dem letzten Roman Ottomar Maroß’, gerade in eine versteckte Laube hatte zurückziehen wollen.

„Heute scheint ja in Schamaiten alles recht früh aufgestanden zu sein,“ sagte Gritta anzüglich. „Vor einer halben Stunde kam Fräulein von Lenzen von einem Spazierritt zurück, und jetzt zeigt sich, daß auch Sie die Morgensonne zu einer Wanderung verführt hat. Ich denke, Sie schätzen Fußtouren nicht sehr?! Und nun sind Sie ganze vier Stunden unterwegs gewesen. Wenigstes hat Franz, unser bedienender Geist, Sie schon gegen sieben Uhr das Herrenhaus verlassen sehen.“

Mikulski schritt neben Gritta weiter.

„Sind Sie etwa eifersüchtig?“ fragte er selbstgefällig. „Das wäre, sowie die Dinge liegen, beinahe spaßig.“

Gritta horchte auf. Mikulski war nicht der Mann, der ohne bestimmten Grund derartige Andeutungen machte. So wie die Dinge liegen …? … Was sollte das heißen? Was meinte er damit?

Zunächst glaubte sie ihn aber hinsichtlich des „eifersüchtig“ in seine Schranken zurückweisen zu müssen.

„Es würde mir Leid tun, wenn Sie aus der gleichzeitigen Erwähnung des Fräulein von Lenzen und Ihrer Person Schlüsse gezogen hätten, die nicht die geringste Berechtigung haben,“ sagte sie gelassen „wenn ich diese kalte Schönheit mit dem poetischen Namen Isolde auch nicht gerade liebe, – jedenfalls traue ich es ihr nie zu, daß sie sich mit einem Herren ein Stelldichein geben würde. Im übrigen wäre mir dies auch sehr gleichgültig.“

Mikulski war stehen geblieben. Sie befanden sich gerade in dem verwildertstem Teil des Parkes, wohin sich kaum je ein Mensch verirrte.

„Gritta – wozu tun Sie mir stets aufs neue weh?“ meinte der Abenteurer in Tone eines schmachtenden Salonheldens. „Begreifen Sie noch immer nicht, daß Sie mich unsäglich quälenden …!“

Er hatte ihre Hand ergriffen und war dicht vor sie hingetreten.

„Gritta – schauen Sie mich an …! Dieses Spiel halte ich nicht länger aus! Seien Sie barmherzig! Letztens versprachen Sie mir doch am Tor der Einsiedelei, daß …“

Mit einem Ruck hatte sie ihre Finger von den seinen befreit.

„Sie sollen nicht so zu mir sprechen!“ unterbrach sie ihn leidenschaftlich. „Ich gebe zu, daß es Unrecht von mir war, in Ihnen Hoffnungen zu erwecken, die nie in Erfüllung gehen können. Ich – ich muß Ihnen ein Geständnis ablegen, Mikulski …“ Ihre Stimme wurde leise und weich. „Mein Gewissen ist erwacht. Ich sehe jetzt ein, wie schlecht ich an Ottomar Maroß gehandelt habe und – mir selbst ist es fast unbegreiflich! – das, was ich für den Lebenden nicht empfand, gehört jetzt dem Toten – eine große, tiefe Liebe, ein weihevolles Sehnen … – Und deshalb, wenn wir wenigstens Freunde bleiben wollen, so dürfen Sie nie wieder sich Rechte anmaßen, die Sie nicht haben und nie haben werden.“

Mikulski wurde bleich. Die Enttäuschung über diese unerwartete Eröffnung prägte sich deutlich in seinem Gesicht aus. Dann lachte er höhnisch auf.

„Wirklich – mit den Frauen kennt man sich doch nie aus. Also jetzt erst ist Ihnen klar geworden, daß Sie Ottomar Maroß lieben – jetzt erst?! Fürwahr, man erlebt Wunderdinge hier im Schamaiten! Besonders dieser Morgen überhäuft uns mit Überraschungen. Vielleicht interessiert es Sie ein wenig, meine Gnädigste, so einiges über diese Neuigkeiten zu hören. – Wissen Sie, woher ich soeben komme? – Von der Einsiedelei. Ich war mit der bestimmten Absicht dorthin gegangen, mir den seltsamen Kauz von Klausner einmal aus nächster Nähe anzusehen, setzte mich am Rande des Waldes nieder und beobachtete die Strandvilla. Hm – und wer, meinen Sie wohl, verließ diese in eifrigem, vertrautem Gespräch mit dem Einsiedler …? – Na – raten Sie mal …!“

„Isolde von Lenzen etwa? – Das wäre allerdings merkwürdig,“ meinte Gritta unsicher.

Wieder lachte Mikulski ironisch vor sich hin.

„Oh – das Merkwürdigere kommt aber noch! – Der Einsiedler ist nämlich niemand anders als …“

Er schwieg und blickte sie triumphierend an.

Grittas Augen ruhten groß und erwartungsvoll auf seinen Lippen.

„… niemand anders als … – so sprechen Sie doch weiter,“ sagte sie scheu und ahnungsvoll.

„Ja – als Ihr totgesagter Verlobter, mit dem ich mich dann selbst eine Weile unterhalten habe.“

Grittas Kopf sank matt auf die Brust. Aber vergeblich wartete Mikulski auf irgendein Zeichen von Überraschung bei ihr.

„Ich wußte es, daß er es war,“ flüsterte sie nach einer Weile.

„So?! – Na, jedenfalls wird Maroß sich wohl nicht ohne Grund in der Nähe von Schamaiten niedergelassen haben – sicherlich nicht! Seine Bekanntschaft mit dieser Bettelprinzessin, oder, um respektvoller von der Schwester unseres Gastgebers zu reden, mit dem Freifräulein von Lenzen dürfte nicht mehr ganz neu sein. Er hat sich schnell getröstet. Auf Gritta folgte eine blaublütige Muse und Herzenskönigin. – Ja, meine Gnädige, und Sie, glaube ich, haben sich noch eingebildet, dem Ärmsten würde über dieser auseinandergegangenen Brautschaft das Herz brechen…!!“

Gritta hatte inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen.

„Ein Glück, daß ich Sie noch rechtzeitig richtig erkannt habe!“ sagte sie kalt, ließ ihn stehen und eilte schnellen Schrittes dem Herrenhause zu.

Mikulski schaute ihr unzufrieden nach.

 

7. Kapitel.

Gritta suchte ihren Vater, nachdem sie Mikulski verlassen hatte. Sie hatte dem Kommerzienrat allerlei mitzuteilen, wollte auch seinen Rat hören über eine ganz bestimmte Angelegenheit.

Morgens hatte der alte Diener ihr gesagt, Herr Sternheim sei nach den Torfbrüchen gegangen. Jetzt erfuhr sie von dem Freiherrn, der zusammen mit seiner Schwester auf der Terrasse saß, daß der Kommerzienrat nach Adelshorst gefahren war und zwar auf eine Depesche hin, die er vor zwei Stunden erhalten hatte.

Der Seelenzustand, in dem Gritta sich befand, ähnelte dem einer Fieberkranken. Wirr und ungeklärt stürmten leidenschaftliche Gedanken auf sie ein. Ihre Empfindungen liefen in jähem Wechsel die ganze Stufenleiter von bitterer Reue, gekränkter Eitelkeit, Verzweiflung und Sehnsucht durch. Sie konnte nicht daran glauben, daß Ottomar Maroß sie wirklich so schnell vergessen haben sollte. Was Eifersucht war, hatte sie nie gewußt. Jetzt lernte sie auch dieses Gefühl mit seinen Qualen kennen. Sie glaubte Isolde von Lenzen zu hassen, sah in ihr bereits diejenige, die ihre Zukunftspläne störte. Daß sie versuchen mußte, Maroß zu versöhnen und ihn wieder für sich zu gewinnen, war ihr fester Entschluß. Gleich nach dem Mittagessen wollte sie sich den Pony satteln lassen und nach der Einsiedelei reiten. Dann wieder kam ein unsicheres Zagen über sie. Sie hatte Angst vor dieser Aussprache mit ihrem früheren Verlobten, die sie um jeden Preis erzwingen mußte. Die geistige Unruhe teilte sie auch ihrem Körper mit. Ihre Wangen brannten in ungesunder Röte. Ihren Bewegungen waren hastig und ihre Nerven überreizt. Als der alte Diener beim Mittagessen einen Teller fallen ließ, bekam sie beinahe einen Weinkrampf, und nur die erstaunten, kühlen Augen des Freifräuleins ließen sie all ihre Energie zusammennehmen, um mit einem verzerrten Lächeln zu erklären, sie leide unter starker Migräne und sei deswegen so schreckhaft.

Aus dem Ritt nach der Einsiedelei wurde heute nichts. Noch während man bei Tisch saß, schob sich von Westen her eine dunkle Wolkenwand über den Himmel, und die Windstille, die drückende Schwüle und ein fernes Grollen kündigten ein Gewitter an.

Nachher regnete es in Strömen, und der Donner und die zuckenden Blitze tobten stundenlang. Ein Gewitter löste das andere ab.

Gritta saß zusammengekauert mit verschlungenen Händen am Fenster ihres Fremdenzimmers. Furcht vor dieser Naturerscheinung mit ihren gewaltigen Lauten und Lichterscheinungen kannte sie nicht. Sie zürnte dem Himmel, der die beabsichtigte Zusammenkunft mit Ottomar Maroß vereitelte.

Dann wieder sprang sie auf und begab sich in das Erdgeschoß hinab. Hier traf sie im Musikzimmer mit dem Freiherrn zusammen, der in einem verborgenen Wandschrank nach Familienpapieren suchte. Bei ihrem Eintritt erschrak er leicht. Sie entschuldigte sich und wollte das Zimmer wieder verlassen. Aber er bat sie zu bleiben.

„Wenn Ihr Herr Vater Schamaiten kauft, hat er ein gutes Recht, auch die Geheimnisse dieses Hauses kennenzulernen,“ meinte er. „Dieser Schrank rechnet dazu. Er stellt unser Familienarchiv dar. Sie sehen, wie tief er ist, meine Gnädige. Fast ein kleiner Alkoven. – Bitte – wenn Sie Interesse an alten Chroniken haben, – hier ist reichlich Material vorhanden. Meine Vorfahren haben zumeist tagebuchartige Aufzeichnungen hinterlassen. Diesem Brauch blieben die Lenzens bis in die neueste Zeit treu.“

Während Gritta in den verstaubten, in Ledereinbände gesammelten Aufzeichnungen blätterte, suchte Karl-Egon sie zu unterhalten. So blieben sie längere Zeit allein. Zum erstenmal merkte Gritta, daß der Rittmeister doch mehr war als nur ein oberflächlicher Lebemann, wofür sie ihn bisher gehalten. Er schien das Bedürfnis zu fühlen, ihr zu erklären, weshalb er sich nie um die Bewirtschaftung von Schamaiten gekümmert habe. Er gab seiner Erziehung die Schuld. –

„Wir Lenzens sind alle von Jugend an lediglich für den Soldatenberuf dressiert worden. Wir lernten nur gerade so viel, als unbedingt notwendig war, um eine allgemeine Bildung vortäuschen zu können.“ –

Diese und Ähnliche Bemerkungen kamen ihm über die Lippen. Er war in dieser Stunde von einer Offenheit Gritta gegenüber, als habe er eine alte Bekannte vor sich.

Sie begann Mitleid mit ihm zu fühlen, mit dem Geschick seines Geschlechts, das für Preußens Größe mit einer stolzen Selbstverständlichkeiten auf allen Schlachtfeldern sein Blut vergossen hatte.

Und auch der Rittmeister sah sich heute einer ihm fremden Gritta Sternheim gegenüber. Heute nutzte sie ihre Schlagfertigkeit, ihre vielseitige Bildung und die Fähigkeit, sich gewandt und geistvolle auszudrücken, nicht zu jenen übermütig spöttischen Zwischenbemerkungen aus, unterließ sie alle jene raffiniert koketten kleinen Künste, die mit ihrer Nixennatur unlöslich verbunden schienen. – –

Als gegen fünf Uhr nachmittags das Unwetter vorüber war, zeigten sich die Wege derart aufgeweicht, daß Gritta notwendig auf einen Spazierritt verzichten mußte.

Mikulski hatte sie beim Mittagessen mit besonderer Zuvorkommenheit behandelt. Auch beim Abendessen suchte er nach Kräften den schlechten Eindruck zu verwischen, den das Gespräch im Park am Vormittag bei Gritta zurückgelassen haben mußte.

Während man noch bei Tisch saß, kehrte Sternheim zurück, der sich in Brake zur Fahrt nach Schamaiten einen Wagen gemietet hatte.

Über das, was er in Adelshorst zu erledigen gehabt hatte, machte er nur ganz allgemeine Andeutungen: Geschäfte. –

Im übrigen war er vortrefflicher Laune.

Nachher aber, als er seine Tochter bei Seite nahm und sie bat, sich noch heute auf seinem Zimmer einzufinden, war sein Gesicht auffallend ernst.

„Ich habe dir wichtiges mitzuteilen, Kind,“ sagte er mit Nachdruck. „Es betrifft Mikulski und … den Freiherrn.“ –

In Schamaiten ging man früh zur Ruhe. So konnte Gritta bereits gegen halb zehn zu ihrem Vater ins Zimmer schlüpfen, das neben dem ihrigen lag.

„Setz’ dich, Gritta,“ begann Sternheim, der wieder eine seiner schweren Importen rauchte.

„Wie stehst du mit Mikulski?“ fragte er dann.

Sie schaute ihn gelassen an.

„Wie mit einem mir völlig gleichgültigen Herrn, Papa.“

Er nickte befriedigt.

„Diese Antwort ist mir sehr lieb,“ erklärte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme. „Es hat eine Zeit gegeben, wo es mein Wunsch war, daß aus dir und Mikulski ein Paar würde. Du bist mein einziges Kind. Da wollte ich mein Lebenswerk, mein Geschäft, einem Schwiegersohn einmal übergeben, an dessen Fähigkeiten ich allerhand Ansprüche stellen mußte, denen ein Durchschnittsmensch nicht genügt hätte. Mikulski steht weit über dem Durchschnitt. Aber schon seit einiger Zeit argwöhnte ich, daß er seine Vielseitigkeit in den Dienst einer Sache gestellt hat, die nicht nach meinem Geschmack ist. Ich bin als Kaufmann gewiß weitherzig. Doch die Dinge, die er jetzt als Haupttätigkeit treibt, wie ich inzwischen herausgebracht habe, – und du weißt, daß ich bei meinen Beziehungen genauer und erfolgreicher arbeite als das beste Detektivinstitut – haben mir Mikulski in einem so schlechten Licht gezeigt, daß ich ihn schleunigst abschütteln werde. Er wandelt so gefährliche Pfade, daß man ohne ernste Widerwärtigkeiten für sich selbst nicht mehr mit ihm verkehren kann. Meine heutige Fahrt nach Brake und Adelshorst galt ebenfalls der Aufklärung des wahren Treibens dieses Menschen, den ich bisher als klugen Kopf sehr geschätzt habe. Heute habe ich, wie gesagt die Gewißheit erlangt, daß er …“

Die Stimme des Kommerzienrates sank zu einem Flüstern herab.

Gritta schaute den Vater beinahe entsetzt an, als er ihr mit einem einzigen Wort klarmachte, womit Mikulski sich jetzt in Deutschland beschäftigte.

Dann erwiderte sie:

„Zuzutrauen ist ihm eine solche Schurkerei schon! Nun weiß man ja auch, woher seine reichen Geldmittel stammen …!“

Sternheim machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Für uns ist er abgetan – für immer! – Nun aber zu etwas anderem. – Hättest du nicht den Ehrgeiz, Gritta, Freifrau von Lenzen zu werden? – Du verstehst mich wohl. Was meinst du zu diesem Plan? Er ließe sich meines Erachtens leicht durchführen.“

Grittas Gesicht blieb völlig unbeweglich. Nur ihre Augen ruhten auf dem Charakterkopf ihres Vaters, auf dem Munde mit den schmalen, gefühllosen Lippen und der breiten, brutalen Kinnpartie.

„Möglich wäre ein solcher Handel. Das stimmt,“ sagte sie langsam. „Aber – ich gebe mich dazu nicht her. – Ich habe dir nämlich ebenfalls eine mehr als absonderliche Neuigkeit mitzuteilen, Papa. Ottomar Maroß lebt. Er ist der Einsiedler vom Moosgrund.“

Sie hatte erwartet, daß Sternheim bei dieser Nachricht zum mindesten ungläubig den Kopf schütteln würde. Aber er … lächelte nur.

„So hat er sein Geheimnis also doch nicht bewahren können,“ meinte er. „Daß er lebt, weiß ich seit Monaten. Ich hatte ein Interesse daran, mich etwas genauer um ihn zu kümmern. Auch daß er hier in der Nähe sich niedergelassen hat, ist mir bekannt. – Was hat aber Maroß mit diesem Heiratsprojekt zu tun?“

Gritta hatte schon des öfteren Beweise dafür erhalten, daß ihr Vater über eine Macht verfügte, die bisweilen fast unheimlich war. Ihre Überraschung bei diesem seinem kühlen Eingeständnis machte sie für eine Weile stumm.

Dann sagte sie leicht erregt: „Und das – das hast du mir alles verschwiegen?!“

Er zuckte die Achseln. „Was ging dich Maroß noch an?! Du hattest dich zu meiner großen Freude von ihm freigemacht. Damit war er für dich erledigt, zumal gleich darauf sein Name in den Verlustlisten auftauchte. Ich betone, für dich erledigt! Für mich nicht. Ich wollte sicher gehen, daß hier keine irrtümliche Totmeldung, wie dies in diesem Kriege schon häufiger vorgekommen ist, vorlag. So deckte ich sein Spiel auf und – schwieg.“

Gritta war sich jetzt darüber klar geworden, wie sie sich zu verhalten habe.

„Mit diesem Verschweigen hast du einen schweren Fehler begangen. Der lebende Maroß war für mich ungefährlich. An den toten habe ich mehr zurückdenken müssen, als es für meine Seelenruhe gut war. Wenn ich meinen früheren Verlobte damals, als er noch mein ergebener Sklave war, nicht geliebt habe, – jetzt liebe ich ihn. Wie sich diese Umwandlung meiner Gefühle vollzogen hat, ist mir selbst ein Rätsel. Aber sie ist Tatsache. Und deshalb scheidet Karl-Egon von Lenzen gänzlich für mich aus – gänzlich.“

Sternheim nahm dies mit größtem Gleichmut hin.

„Schade!“ sagte er nur.

Gritta überhörte das. Und zugleich fuhr sie fort:

„Meine erste Neuigkeit war keine Sensation, wie ich soeben gesehen habe. Dafür dürfte die zweite auch für dich ein spannendes Kapitel aus einem dir noch unbekannten Roman, den das Leben selbst geschrieben hat, darstellen. – Ich will mich kurz fassen. Ein Onkel des jetzigen Besitzers von Schamaiten, Gisbert von Lenzen, war etwas sehr aus der Art geschlagen. Er war eine Künstlernatur, kümmerte sich nicht um Standesvorurteile und heiratete die bildhübsche Tochter eines reichgewordenen Fleischermeisters. Mit seiner Familie kam er deshalb ganz auseinander. Aber die Ehe wurde keine glückliche. Die Schönheit seiner Frau langweilte ihn bald; er begann sie zu vernachlässigen, betrug sie. Da keimte der Haß in der Hintergangenen auf, ein Haß, der etwas Dämonisches an sich gehabt haben muß. Das Ehepaar besaß ein Kind, einen Knaben. Dieser verschwand eines Tages spurlos, wurde angeblich von Zigeunern gestohlen, wie die Gattin jenes Gisbert behauptete, die sich damals gerade in Wiesbaden aufhielt. Alle Nachforschungen nach dem Kinde blieben erfolglos. Und vier Wochen nach dem Raub des erst einige Monate alten Knaben starb dessen Mutter an einer Lungenentzündung. Noch auf dem Totenbett soll sie ihrem Gatten bewiesen haben, wie sehr sie ihn haßte. Er war an ihr Krankenlager geeilt, und in ihrer letzten Stunde soll sie ihm das Geständnis triumphierend ins Gesicht geschleudert haben, daß das Kind mit Hilfe einer bestochenen Person irgendwo … ausgesetzt worden sei. Das sei ihre Rache gewesen für all die Folterqualen glühendster Eifersucht, die sie durchgemacht habe. – Gisbert von Lenzen wollte einen öffentlichen Skandal vermeiden und ließ nur durch einen Privatdetektiv nochmals Erkundigungen nach dem Verbleib seines Sohnes einziehen. Diese verliefen im Sande. – – Das, was ich dir soeben erzählt habe, Papa, erfuhr ich von dem alten Diener Franz. Und bestätigt wurde mir diese abenteuerliche Geschichte durch Aufzeichnungen des Gisbert von Lenzen, die mir heute in die Finger gerieten, als der Freiherr im Musikzimmer in dem Familienarchiv herumstöberte und mir gestattete, alles das durchzublättern, was mich gerade interessierte. Oben im großen Speisesaal hängt nun ein Bild jenes Gisbert von Lenzen. Schau’ es dir morgen an. Es gleicht Zug um Zug … Ottomar Maroß, von dem wir ja wissen, daß über seiner Herkunft bisher ein unergründliches Dunkel schwebte.“

Gritta schwieg. Ihr Vater schaute nachdenklich vor sich hin. Auch jetzt hatte er kein Zeichen der Überraschung merken lassen. Wie sehr er Kaufmann und nur das war, bewies er jetzt abermals.

„Die Rechtslage ist sehr einfach. Ist Ottomar Maroß der Sohn jenes Gisbert, so gehört Schamaiten ihm, da sein Vater ein älterer Bruder des Vaters des jetzigen Besitzers ist, wie dieser mir selbst erzählt hat, als wir über die Vorbesitzer des Stammgutes sprachen. Es wäre also ganz ratsam, sich dem Einsiedler vom Moosgrund wieder zu nähern.“

Gritta hatte eine scharfe Erwiderung auf den Lippen. Aber sie unterdrückte sie. Zum ersten Mal stieß die berechnende, kaltblütige alle Vorurteile abwägende Art ihres Vaters sie ab.

„Ich werde Ottomar Maroß für mich zurückzugewinnen suchen, weil ich ihn liebe,“ sagte sie einfach, erhob sich und wünschte Sternheim gute Nacht.

 

8. Kapitel.

Der nächste Tag brachte starken Westwind und strahlenden Sonnenschein. Die Nässe auf den Feldern und Wegen, die der gestrige Gewitterregen noch zurückgelassen hatte, trocknete schnell.

Mikulski saß gerade mit dem Kommerzienrat und dem Rittmeister beim Morgenkaffee, als der Freiherr eine Depesche erhielt.

„Merkwürdig – dieses Telegramm kann nicht für mich bestimmt sein,“ meinte Karl-Egon von Lenzen, als er es überflogen hatte. „Der Absender hat es entschieden an einem von Ihnen, meine Herren, richten wollen und wohl in der Eile die Adresse unvollständig ausgefüllt. – Hier steht:

Lenzen, Schamaiten bei Brake.

Berliner Vertreter Zug versäumt. Zusammenkunft unmöglich. –

Ilgenstein

Ich kenne weder einen Ilgenstein, noch weiß ich etwas von einer Zusammenkunft.“

Sternheim beobachtete Mikulski scharf, aber unauffällig. Dieser verfärbte sich, als der Freiherrn die Depesche vorlas.

Jetzt erklärte er jedoch auf einen fragenden Blick des Gutsherrn hin:

„Mich geht dieses Telegramm ebenfalls nichts an. – Vielleicht Sie, Herr Kommerzienrat?“

„Die Möglichkeit will ich nicht abstreiten, obwohl ich zur Zeit mich nicht besinne, daß ein Ilgenstein etwas mit mir geschäftlich zu erledigen hat. Bei meinen ausgedehnten Beziehungen ist das weiter kein Wunder. Vielleicht läßt sich dieses Rätsel auch so erklären, daß ein Brief, der zu dem Inhalt der Depesche die Aufklärung geben würde, mich nicht erreicht hat, was jetzt in Kriegszeiten wohl vorkommen kann.“

Mikulski erhob sich. Und es entging Sternheim nicht, daß es ihn die größte Anstrengung kostete, seine nervöse Unruhe zu verbergen.

„Die Herren werden mich entschuldigen. Ich will zu Fuß nach Brake, um dort einige Einkäufe zu erledigen. Mein Zahnwasser ist mir ausgegangen. Auch sonst fehlt mir manches. Das Wetter läd ja auch geradezu zu einem längeren Spaziergang ein. – Auf Wiedersehen!“ –

Eine Viertelstunde später verließ Mikulski mit einem langen Sportmantel über dem Arm das Gutshaus und schritt durch den Park einem Feldweg zu, der in weitem Bogen auf den Forst zuführte.

Dann eine Stimme hinter ihm:

„Warten Sie, Mikulski, ich habe noch etwas mit Ihnen zu besprechen.“

Es war Sternheim, der auf ihn gewartet hatte.

„Wenn die Sache nicht gerade sehr dringend ist, können wir es später erledigten,“ meinte Mikulski ungeduldig.

Der Kommerzienrat sah seinen Bekannten prüfend an.

„Später?! – Ich fürchte dieses „später“ dürfte ein „niemals“ werden.“

„Was soll das heißen?“ fuhr Mikulski auf.

„Das werden Sie sofort erfahren. Ich werde Sie ein Stück begleiten. – Weshalb benutzen Sie eigentlich nicht die Chaussee als nächsten Weg nach Brake?“

Mikulski blieb stehen. Seine Augen bohrten sich drohend in die Sternheims ein.

„Weshalb fragen Sie?! Geht Sie das etwas an?!“

„Doch. Insofern nämlich, als ich es war, in dessen Begleitung Sie nach Schamaiten kamen. Eine Bekanntschaft mit Ihnen ist nicht ungefährlich. Das habe ich leider zu spät herausbekommen. – Sie brauchen nicht so entsetzt dreinzuschauen. Ich werde Sie nicht verraten – aus alter Freundschaft. Nur eine Bedingung stelle ich! Sie verlassen Deutschland in spätestens drei Tagen für immer oder doch mindestens bis zur Beendigung des Krieges. Ich werde meine Vorkehrungen treffen, daß Sie Ihr Versprechen auch halten.“

Mikulski lachte ironisch auf.

„Verraten …?! Was meinen Sie eigentlich? Sie sprechen in Rätsel.“ Aber sein Gesicht drückte deutlich heimliche Angst aus.

Da legte Sternheim ihm warnend die Hand auf die Schulter.

„Ich denke, Sie sollten mich kennen, Mikulski! Wie mein Geschäft organisiert ist, wie bei mir ein Rädchen ins andere greift und wie genau dieses Uhrwerk läuft, wissen Sie!“

Bevor er weiter sprach, schaute er sich vorsichtig um. Der andere stand mit gesenktem Kopf vor ihm. Leise und eindringlich redete der Kommerzienrat, fügte dann zum Schluß mit Nachdruck hinzu:

„Wenn ich nicht wüßte, daß Sie bisher kein Unheil angerichtet haben, würde ich Vorsoge treffen, um Ihr Entweichen zu verhindern. Sie sind aber bisher nicht über die Vorbereitungen hinausgekommen. Das rettet Sie. Die Einsiedelei wollten Sie auch nur für Ihre dunklen Zwecke erwerben. Und die Depesche vorhin war nichts als ein schlau vereinbarter, für Sie berechneter Alarmruf: Gefahr im Anzug!! Und jetzt befinden Sie sich auf der Flucht. Deshalb vermeiden Sie auch die Chaussee. – Leben Sie wohl, Mikulski! Und – hören Sie auf mich. Mit Ihnen nimmt es kein gutes Ende, wenn Sie nicht dieses Treiben aufgeben! – Nochmals – in drei Tagen sind Sie vogelfrei! Richten Sie sich danach!“

Mikulski hielt den Kopf noch immer gesenkt. Dann schob er die Rechte wie absichtslos in die Tasche seines Beinkleides. –

Aber Sternheim war auf seiner Hut.

„Lassen Sie Ihren Revolver nur stecken!“ sagte er kaltblütig. „Sie sehen, ich habe den meinen schon bereit. Es wäre sehr bequem für Sie, mich hier zwischen den Feldern als lästigen Mitwisser niederzuknallen und in das Getreide zu schleppen, um … als Mörder sich sicherer fühlen zu dürfen. – Gehen Sie! Für einen Robert Sternheim sind Sie doch noch nicht schlau genug!“

Er drehte sich um und schritt gelassen wieder dem Gutsparke zu.

Mikulski aber eilte mit einer halb lauten Verwünschung dem Walde entgegen.

* * *

Um dieselbe Zeit öffnete Ottomar Maroß einem Landsturmunteroffizier, der eine goldene Brille trug und dem man den in Uniform steckenden Gelehrten auf zehn Schritte ansah, das Tor seiner Klause.

„Bitte – treten Sie näher. – Womit kann ich Ihnen dienen?“

Der Wehrmann verbeugte sich sehr unmilitärisch.

„Sie gestatten – Prof. Dr. Eckstein – zur Zeit Unteroffizier, wie Sie sehen.“

„Ottomar Maroß, Schriftsteller. – Sie wünschen, Herr Professor?“

„Maroß – Maroß?! Aber Sie heißen doch Karl Deinert.“

„Als Schriftsteller führte man verschiedene Namen. Maroß ist mir jetzt wieder lieber geworden.“

„Ah so. – Dann sind Sie wohl gar der berühmte Ottomar Maroß, der …“

„Allerdings. – Aber bitte, Herr Professor, – kommen Sie! Ein Glas kühlen Rheinweins werden Sie wollen nicht abschlagen.“ –

Maugli begrüßte die Herren schweifwedelnd und schon wieder ganz munter trotz des verbundenen Kopfes. In der Wohnkajüte, wo das bequeme Sofa stand, bewirtete Maroß dann den Gast.

Eckstein kam in einer dienstlichen Angelegenheit, wie sich herausstellte. Früh am Morgen hatte eine Patrouille zweihundert Meter westlich der Einsiedelei eine an den Strand getriebene Seemine gefunden, die mittags durch Feuerwerker, die aus Adelshorst erwartet wurden, entladen werden sollte. Da nun immerhin die Gefahr bestand, daß die Mine hierbei explodierte und durch den Luftdruck die Einsiedelei schwer beschädigt werden könnte, sollte Maroß sein Heim während der kritischen Zeit verlassen.

„Ich habe Ihnen also den Befehl zu überbringen,“ sagte Eckstein mit höflicher Verbeugung, „von zwölf bis zwei Uhr mittags Ihr Heim zu räumen und sich mindestens fünfhundert Meter landeinwärts aufzuhalten.“

Im weiteren Verlauf der Unterhaltung erfuhr Ottomar Maroß dann noch, daß es gar nicht so selten vorkäme, daß Seeminen infolge anhaltender starker Winde hier an die Küste geworfen würden und daß zwei von diesen gefährlichen Vernichtungsmitteln unlängst in der Nähe von Brake sogar von selbst explodiert wären, indem sie gegen in der Brandung liegende große Steine stießen. Zum Glück hätten sie aber weiter keinen Schaden angerichtet.

Nach einer Stunde verabschiedete sich Eckstein wieder. Die beiden Männer trennten sich mit einem freundschaftlichen Händedruck an der Pforte der Einsiedelei, und der gelehrte Unteroffizier versprach, bei nächster Gelegenheit den Schriftsteller besuchen zu wollen.

Rüstig schritt Eckstein dem nahen Walde zu. Schon wollte Maroß die Pforte wieder schließen, als er eine Reiterin bemerkte, die in flottem Trab auf die Einsiedelei zukam. In der Annahme, daß es Isolde von Lenzen sei, blieb er stehen. Zu spät erkannte er seinen Irrtum.

Es war Gritta Sternheim. Sie winkte ihm schon von weitem eifrig zu. –

Was sollte er tun?! In seine Klause flüchten und auf alles Klopfen und Rufen nicht öffnen?! Würde das nicht so aussehen, als habe er Furcht vor diesem jungen Weibe, dem einmal seine Liebe gehört hatte?!

Er blieb. Ruhig schaute er ihr entgegen. Dicht vor ihm sprang sie gewann aus dem Sattel, zog den linken Arm durch die Zügel und trat auf ihn zu.

„Otto …!“

Ihm klang dies eine Wort wie Sirenengesang, wie das Locken einer verführerischen Circe, der alle Töne menschlichen Empfindens ganz nach Wunsch zur Verführung stehen.

Und doch tat er Gritta unrecht. Dieses „Otto“, das so weich, so sehnsüchtig über ihre Lippen gekommen war, von einem flehenden Blick begleitet, drang aus den Tiefen eines übervollen Herzens heraus.

Doch er schaute sie nur kalt und fremd an, sagte nichts – nichts …

Da stahlen sich zwei Tränen aus ihren umflorten Augen.

„Otto – du lebst …?!“ Halb Frage, halb jubelndes Glück war’s.

All das prallte wirkungslos an ihm ab.

„Ich weiß nicht, was Ihnen das Recht gibt, mich noch beim Vornamen zu nennen,“ meinte er streng. „Ich denke, Sie waren vor einigen Monaten froh, als Sie sich endlich zu dem Abschiedsbrief an mich durchgerungen hatten, nachdem Sie erkannt hatten, – so stand es wörtlich in Ihrem Schreiben –, daß ich Ihren Ansprüchen an einen Lebensgefährten doch nicht genüge.“

Britta schlug die Augen zu Boden. Heiße Röte flutete ihr in die Wangen, die Röte der Scham.

„Verzeih’ mir, Otto,“ bat sie ganz leise. „Ich war damals noch ein unreifes Geschöpf, als ich jenen Brief abschickte. Heute …“

Er ließ sie nicht aussprechen.

„Heute sind wir beide klüger geworden – das ist richtig!“ setzte er ihren begonnenen Satz fort. „Und weil es so ist, tun wir am besten, diese Unterredung schleunigst zu beenden. – Leben Sie wohl, Gritta. Ich grolle Ihnen nicht mehr. Mögen Sie glücklich werden …“

Sie sah ein, daß er nichts mehr für sie empfand. Reichlicher flossen ihre Tränen. Und schluchzend sagte sie:

„Geben Sie mir wenigstens noch einmal die Hand zum Abschied, Otto …“

Jetzt erst merkte er, daß dieses seltsame junge Weib litt, daß sie wirklich bereute.

Er streckte ihr die Hand hin.

„Zu spät, Gritta, – zu spät! Die Liebe zu Ihnen ist tot … In qualvollen Monaten habe ich verzichten gelernt. – Nochmals – leben Sie wohl!“

Er wollte dieser Szene schnell ein Ende machen – nur aus Mitleid mit der einstigen Geliebten, deren Tränen ihm wehtaten.

Für einen Augenblick ruhten ihre Hände ineinander. Dann schritt Gritta, ohne Ottomar Maroß nochmals anzusehen, dem Walde zu. Sie weinte nicht mehr. Sie wiederholte sich nur stets denselben Satz:

„Das ist die gerechte Strafe … Das ist die gerechte Strafe …“

 

9. Kapitel.

Grittas ganzes Innere war wie erstarrt. Ganz unbewußt bewegte sie sich vorwärts, bog den Hindernissen auf der Schneise, den vielen Wurzeln, die wie Schlangen sich über ihren Pfad hinzogen, aus und ließ den Pony hinter sich herstolpern.

Und doch war es nicht Verzweiflung in der höchsten Steigerung, die sie wie eine Schlafwandlerin, wie ein Automat dahinschreiten ließ. Gerade weil sie auch nicht im entferntesten daran gedacht hatte, daß Ottomar Maroß’ einst so heiße, tiefe Liebe zu ihr in diesen vier Monaten seit jenen unseligen Abschiedsbrief so völlig erstorben sein könne, weil sie gehofft hatte, daß ihre aufrichtige Reue mit schnellem Verzeihen belohnt werden würde, trafen sie seine abweisende Kälte, seine Bitterkeit und seine Gleichgültigkeit gegenüber den sichtbaren Äußerungen ihres Seelenschmerzes um so stärker.

Verzweiflung war es nicht, nein, vielmehr das Bewußtsein, daß sie seit dem heutigen Tage zu denen gehörte, die nie ein volles Glück an der Seite eines geliebten Mannes kennenlernen würden, daß eben der eine für sie verloren war, und ein anderer diesen einen nie ersetzen konnte. –

Gritta erwachte erst, als sie auf die Chaussee einbog, aus dem Zustand der Erstarrung. Und auch diese Rückkehr in die Wirklichkeit wurde nur durch eine Gruppe von Leuten veranlaßt, die aufgeregt miteinander sprechend im Schatten der Chausseebäume stand.

Zwei Herren in Zivil waren’s und drei Landsturmmänner. Unter letzteren befand sich ein Unteroffizier mit einer goldenen Brille.

Einer der Zivilisten trat auf Gritta zu.

„Verzeihung – gehören Sie vielleicht zum Gute Schamaiten, mein Fräulein?“

Gritta bejahte. „Freilich nur als Gast,“ erklärte sie.

„Ah – dann sind Sie Fräulein Sternheim. – Haben Sie Herrn Mikulski vielleicht im Walde gesehen?“

Das junge Mädchen wurde aufmerksam. Hier ging irgend etwas Besonderes vor. Das merkte sie.

„Nein – bedaure. Herr Mikulski soll nach Brake gegangen sein, um dort einiges einzukaufen.“

Einer der Landsturmmänner, ein hagerer Mann, – es war Trebonius, der Tischlermeister –, platzte mit der Bemerkung heraus:

„Das ist eben Schwindel, Fräulein. Mein Kamerad hier und ich begegneten ihm …“

„Schweigen Sie!“ unterbrach ihn der eine der Zivilisten kurz. Und zu Gritta gewandt: „Danke, gnädiges Fräulein. Weiter wollten wir nichts wissen.“

Gritta setzte ihren Weg fort. Sie hörte noch, wie einer der Männer etwas von Polizeihund und „auf die frische Fährte legen“ sprach.

Da wurde ihr alles klar. Mikulski war das Wild, das man jagte.

Als sie auf dem Gutshof anlangte und ihr Pferd einem der Knechte übergab, kam der Kommerzienrat auf sie zu, nahm sie bei Seite und flüsterte ihr zu:

„Man ist bereits hinter Mikulski her. Zwei Herren waren vorhin hier und erkundigten sich nach ihm.“

„Ich weiß, Papa. Ich traf die Herren auf der Chaussee.“

Und nach kurzer Pause fügte sie hinzu:

„Ich habe nichts mehr dagegen, daß wir dem Heiratsprojekt mit Karl-Egon von Lenzen nähertreten. Aber bitte überlasse mir alles Weitere. Ich werde mit ihm sprechen, sobald ich es für angebracht halte.“

Sternheim schaute sein einziges Kind prüfend an.

„Hm,“ meinte er. „Heiratsprojekt – na ja! Aber – vergiß nicht, daß Ottomar Maroß vielleicht der rechtmäßige Besitzer von Schamaiten ist.“

Da sagte sie ruhig: „Maroß wird, selbst wenn er der Sohn jenes Gisbert von Lenzen sein sollte, nie Ansprüche auf Schamaiten erheben. Ich kenne ihn.“

„Unpraktisch genug ist er dazu. – Wir wollen also dann abwarten, wie die Sache mit dem Rittmeister sich entwickelt. Ich werde den Abschluß des Kaufvertrages noch hinausschieben.“

Gritta nickte nur zerstreut und verschwand im Hause, um sich um–zukleiden.

* * *

Während Ottomar Maroß und Gritta Sternheim am Tor der Einsiedelei die kurze Unterhaltung hatten und Maugli dicht dabei im warmen Seesand lag, war vom Strand her ein Mann sehr gewandt über den hohen Zaun geklettert und hatte vorsichtig und scheue Blicke nach der Pforte werfend das Wrack betreten, wo er schnell die Ladeluke des Vorschiffes aufhob und in den dunklen Raum, der jetzt zur Aufbewahrung von allerlei Gartengeräten und anderen Dingen diente, hineinschlüpfte.

Maroß hatte sich von Gritta verabschiedet und schritt nun über das Deck seinen Wohnräumen im Hinterschiff zu. Er war so stark von allerlei ernsten Gedanken in Anspruch genommen, daß es ihm völlig entging, in welch auffälliger Weise sein vierbeiniger Freund auf den Planken des Decks herumschnupperte, zur Ladeluke lief und dort mit gesträubtem Haar leise winselte.

Nachdem Maroß bereits gegen halb zwölf seine selbst zubereitete Mahlzeit eingenommen hatte, wollte er, dem erhaltenen Befehl gemäß, die Einsiedelei für einige Stunden in Mauglis Begleitung verlassen. Da verlangte jemand am Tor Einlaß. Es war ein Depeschenbote, der ihm ein Telegramm aushändigte. Frau Deinert und Elfriede zeigten ihre Ankunft in Brake für den nächsten Vormittag an.

Maroß empfand ehrliche Freude über diese schnelle Beantwortung seiner Einlagerung. Elfriede, die als Korrespondentin bei einer großen Firma tätig war und im Sommer Anspruch auf vier Wochen Urlaub hatte, würde sich hier schon erholen. –

Da fiel ihm das Entladen der angetriebenen Mine ein. Hoffentlich explodierte die riesige Stahlkugel nicht. Maroß hatte seine Strandvilla bereits so lieb gewonnen, daß es ihn bitter geschmerzt haben würde, wenn sie irgendwie beschädigt worden wäre, besonders jetzt, wo er Besuch erwartete.

Seine Sorge war überflüssig. Als er nachmittags gegen drei Uhr zurückkehrte, fand er alles in bester Ordnung und unversehrt wieder vor. Maugli zeigte abermals das lebhafteste Interesse für die Ladeluke, winselte und knurrte und ließ sich gar nicht vom Vorschiff wegbringen.

Aber auch jetzt schenkte Maroß dem Benehmen seines Hundes keine weitere Beachtung. Vom nahen Walde verirrten sich oft genug Eichhörnchen nach der Einsiedelei, auf die Maugli dann stets wütend Jagd machte. Wahrscheinlich wittert er da vorn Eichhörnchenspuren, dachte der Schriftsteller. Von dem heimlichen Eindringling ahnte er nichts, der jetzt in dem Lagerraum des früheren Schoners sich aufhielt und dort genügend Eßvorräten, zumeist in Form von Konserven, vorgefunden hatte, um hier eine ganze Weile zubringen zu können.

* * *

Am nächsten Vormittag holte Maroß die beiden Frauen von Brake ab und brachte sie in einem dort gemieteten Wagen mit ihrem Gepäck nach seiner Klause.

Das Wiedersehen war überaus herzlich gewesen. Frau Deinert drückte ihren geliebten Pflegesohn immer wieder an ihr Herz.

Elfriede zeigte sich etwas verwirrt.

„Nun, Schwester, bekomme ich keinen Kuß?“ meinte Maroß scherzend, indem er sie wohlgefällig betrachtete. Sie war auch äußerlich ganz Dame, tadellos und geschmackvoll angezogen und – beinahe schon zu hübsch. Die Mitreisenden auf dem Bahnsteig, besonders die Herren, schienen dies auch zu bemerken.

Elfriede errötete, bot ihm dann aber doch die frischen Lippen dar. Er zog sie halb an sich und küßte sie …

Da – wie ein leiser Ruck ging es durch seinen Körper. Wie weich diese Lippen waren, wie warm …! Und … hatte in diesem Kuß nicht mehr gelegen als nur schwesterliche Zuneigung …?! Irrte er sich …?!

Er gab sie frei, schaute sie prüfend an. Reizend sah sie aus … Und wie rot sie wieder wurde …!

Maroß fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen …

* * *

Mutter Deinert konnte über die merkwürdige Behausung ihres Pflegesohnes gar nicht genug staunen. Daß die Strandvilla aus einem richtigen früheren Schiff bestand, hatte Maroß ja nach Berlin in seinen Briefen berichtet. Aber so hatte Frau Deinert sich die Einsiedelei doch nicht vorgestellt. Sie fand alles ganz wunderhübsch, besonders den Garten und die vielen Blumen.

Der Schriftsteller hatte den beiden Frauen die zwei größeren Kajüten eingeräumt und begnügte sich selbst mit der kleinsten, die einen Eingang für sich vom Deck aus besaß. –

Gerade als sie drei Menschen, die sich so viel zu erzählen hatten und auf deren Gesichtern noch immer der Schimmer der Wiedersehensfreude lag, in der Laube des Gartens beim Nachmittagskaffee saßen, hörte man vor dem Tor ein lautes „Hallo“!

Es war Isolde von Lenzen, die auf diese Weise um Einlaß bat.

Mutter Deinert wurde sehr verlegen, als ihr die adlige junge Dame vorgestellt wurde. Aber Isoldes ungekünsteltes Benehmen verscheuchte schnell ihre Befangenheit.

Als Maroß dem Gast eine Tasse Kaffee anbot, wurde diese dankbar angenommen. Dann sagte Isolde, nachdem das Gespräch eine Weile bald diesen, bald jenen Gegenstand gestreift hatte:

„Ich bin nicht nur hierher gekommen, um mich nach Mauglis Befinden zu erkundigen und nötigenfalls den Verband zu erneuern, – nein, auch aus einem anderen Grunde. Und es ist ein glücklicher Zufall, daß gerade Sie, Frau Meinert, Zeugin der Unterredung sind, die ich im Auftrage meines Bruders als des letzten männlichen Mitgliedes der Familie von Lenzen mit Ihnen, Herr Maroß, herbeiführen sollte. – Ich liebe keine langen Einleitungen. Außerdem ist es auch besser, die Angelegenheit, um die es sich handelt, recht kurz und sachlich zu erledigen. – Heute Vormittag hat Fräulein Sternheim, die zur Zeit in Schamaiten weilt, meinem Bruder von Ihnen, Herr Maroß, so einiges erzählt, was das über Ihre Herkunft schweben Dunkel anbetrifft.“

Drei Augenpaare waren erwartungsvoll auf Isolde gerichtet, die jetzt von dem Lendbachschen Gemälde des Gisbert von Lenzen, von dessen Ähnlichkeit mit Ottomar Maroß, von der unglücklichen Ehe dieses Gisbert und dem angeblichen Kindesraube sprach.

Der Schriftsteller war ganz bleich vor innerer Erregung geworden. Und auch Frau Deinerts Hände, die sie im Schoße gefaltet hielt, zitterten wie im Fieberfrost.

„Es ist leicht erklärlich, daß uns, meinem Bruder und mir, sehr viel daran liegt, diese Sache recht schnell aufzuklären,“ fuhr Isolde nach kurzer Pause fort. „Zu diesem Zweck bin ich ich hierher geeilt. Und besser konnte ich es ja gar nicht angetroffen haben. Denn Sie, liebe Frau Deinert, werden mir ja wohl mit genauen Einzelheiten darüber dienen können, wie Herr Maroß seiner Zeit als Kind zu Ihnen gelangte und ob sich unter den Wäschestücken des Kleinen vielleicht einige befanden, die ein Monogramm hatten.“

Mutter Deinert, so plötzlich zur Hauptperson einer wichtigen Untersuchung geworden, rückte unruhig auf ihrem Korbsessel hin und her, strich sich verlegen das Haar glatt und berichtete zuerst nur in abgerissenen Sätzen, bald aber übersichtlicher und fließender, das, was man von ihr wissen wollte.

Es war an einem Septemberabend gewesen, als sie im Hausflur ihrer damaligen Wohnung ein längliches Deckelkörbchen aus Weidengeflecht in einer Ecke bemerkt hatte. Zu ihrer Überraschung fand sie darin einen kaum fünf Monate alten Säugling, der sehr sauber und sorgfältig gebettet war. Sie hatte das Kind sofort mit in ihre Wohnung genommen und dort erst das Körbchen näher besichtigt. Es enthielt nicht das Geringste, was auf die Herkunft des Knaben schließen ließ. Selbst auf dem Briefumschlag, in dem ein Tausendmarkschein lag, stand nicht ein Wort. Offenbar sollte die Feststellung der Herkunft des Knaben nach Möglichkeit erschwert werden.

Das war in der Hauptsache alles, was Mutter Deinert angeben konnte.

Isolde von Lenzen hatte ein Blatt Papier hervorgeholt, auf dem allerlei Notizen standen.

„Der Sohn meines Onkels Gisbert ist in Wiesbaden am 2. September 1886 geraubt worden,“ sagte sie, nachdem sie in die Notizen eingesehen hatte. –

„Wann war es, als Sie das Kind auffanden, liebe Frau Deinert? Besinnen Sie sich noch auf das Datum des Tages?“

„Ganz genau – ganz genau! Es war am 4. September 1886.“

„Ah – dann unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß Sie mein Vetter sind, Herr Maroß. Wenigstens für mich nicht. Wir können die Sache aber noch sicherer feststellen. In den hinterlassenen Aufzeichnungen meines Onkels steht auch die Bemerkung, da das geraubte Kind auf der Innenseite des linken Unterarmes ein Muttermal in der ungefähren Form eines kleinen Dreiecks besaß.“

Frau Deinert begann plötzlich laut zu weinen. Freudentränen waren’s. Und unter Schluchzen rief sie, indem sie die gefalteten Hände dankbar zum Himmel erhob:

„Er ist’s – er ist’s! Er hat ein solches Mal am linken Arm … Otto, Otto – endlich hat Gott dir kundgetan, wer deine Eltern waren …!“

Ottomar Maroß erhob sich.

„Die Damen entschuldigen mich,“ sagte er mit gepreßter Stimme. „Ich möchte eine Weile allein sein …“

Und nur vom Maugli begleitet ging er hinab an den Strand, setzte sich auf einen angetriebenen Baumstumpf und schaute regungslos über die endlose Wasserfläche ins Weite …

 

10. Kapitel.

„Ich bin gespannt, was Ihre Schwester in der Einsiedelei ausrichten wird,“ sagte Gritta zu Karl-Egon von Lenzen, mit dem sie allein auf der Terrasse des Herrenhauses saß.

„Ich auch,“ meinte der Rittmeister nachdenklich. „Sollte Maroß tatsächlich mein Vetter sein, so werde ich keinen Augenblick zögern, ihn in seine Rechte einzusetzen. Schamaiten gehört dann ihm. Leider ist es ja kein Erwerb, über den er sich freuen kann.“

„Schamaiten wird nie von Ottomar Maroß beansprucht werden, und nie wird er in diese Besitzabtretung einwilligen, nie!“ erklärte Gritta leise. „Ich kenne ihn genau, sehr genau … Ich war beinahe acht Monate mit ihm verlobt …“

Karl-Egon blickte sie ungläubig an.

„Ja, es ist Tatsache!“ sagte Gritta ernst. „Ich habe mir die Liebe dieses seltenen Menschen verscherzt, ich trug die Schuld daran, daß wir auseinandergingen. Zu spät sah ich ein, was ich in ihm verloren hatte … Aber eines habe ich ihm zu danken. Ich war früher ein eitles, leichtfertiges Geschöpf. Das ist nun anders geworden, ganz anders …“

Ihre Stimme klang so weh, so traurig, daß der Rittmeister verlegen wurde. Er wußte nicht recht, ob er sie trösten sollte … Eigentlich war sie ihm ja noch so fremd …

Da sprach Gritta schon weiter:

„Nein, Ottomar Maroß wird Schamaiten von Ihnen nie annehmen, Herr Baron. Er ist sehr vermögend. Ich weiß genau, daß er mit seinen beiden letzten Romanen sehr viel verdient hat. Berühmte Schriftsteller werden schnell reich.“

Karl-Egon lächelte bitter.

„Und doch wird er es nehmen müssen, falls er ein Lenzen ist. Unser Stammgut muß für die Familie erhalten bleiben. Gut, daß er die Mittel besitzt, es wieder hochzubringen.“

Gritta schaute an dem Freiherren vorbei auf die grünen Baumkronen des Parkes. Sie kämpfte mit einem Entschluß.

„Herr von Lenzen,“ sagte sie dann leise, indem sie ihn offen anblickte, „haben Sie nie daran gedacht, durch eine reiche Heirat Ordnung in Ihre Verhältnisse zu bringen?“

Karl-Egon sah plötzlich sehr hochmütig aus. Aber Gritta ließ ich nicht zu Worte kommen.

„Vielleicht werden Sie es von mir recht unweiblich finden, wenn ich dieses Thema noch weiter ausspinne. Ich bin ein moderner Mensch. Die Zeiten, wo jede Ehe aus Liebe geschlossen wurde oder wenigstens der Anschein bewahrt werden sollte, daß dies so wäre, sind vorbei. Und hinter mir liegt eine trübe Lebenserfahrung, die ich schwer verwinden werde, am leichtesten wohl durch Arbeit, durch einen Pflichtenkreis, der mir kaum Zeit zum Grübeln läßt. Vielleicht würde ich eine recht brauchbare Gutsherrin abgeben, die an der Seite eines gleichfalls durch traurige Erfahrungen innerlich ausgereiften Mannes getreulich mithelfen würde, aus Schamaiten eine Musterwirtschaft zu machen.“

Karl-Egon von Lenzen verstand sie sofort. Sein Blick flog wie prüfend über dieses junge, eigenartig schöne Weib hin, das sich selbst und die Millionen des großen Robert Sternheim ihm soeben angeboten hatte.

Er stand auf, ging, sich auf seinen Stock stützend, zu ihr hin, ergriff ihre Rechte und drückte seine Lippen auf die zart duftende Haut.

„Ich bin ein Krüppel, Gritta …“, sagte er leise. „Vergessen Sie das nicht …“

Da tastete sie nach seiner Hand, drückte sie zwischen ihren warmen Fingern und erwiderte:

„Und ich eine Kranke, – krank an der Seele. Stützen, helfen wir uns gegenseitig, Karl-Egon. Vielleicht wird aus der gegenseitigen Achtung auch ein größeres Gefühl …“

Abermals zog er ihre Hand an seine Lippen.

Am nächsten Vormittag fuhren Isolde und Karl-Egon nach der Einsiedelei.

Der Rittmeister trat Ottomar Maroß mit größter Herzlichkeit gegenüber.

„Es steht nunmehr fest, daß Sie mein Vetter sind, und daher heiße ich Sie in unserer Familie mit aufrichtiger Freude willkommen. Den vorliegenden Beweisen gegenüber werden die Behörden nicht zögern, Sie als einen Lenzen anzuerkennen. Meine Schwester und ich tun dies schon heute, lieber Vetter.“

Ottomar Maroß drückte Karl-Egon kräftig die Hand. Sprechen konnte er nicht. Innere Bewegtheit preßte ihm die Kehle zusammen. –

Leider sollte dieses erste Zusammentreffen der neuen Verwandten sehr bald durch das Erscheinen einiger Herren in Zivil und zweier Wehrmänner unterbrochen werden, die laut und dringend Einlaß in die Einsiedelei verlangten. Auch zwei Polizeihunde befanden sich bei dieser Häscherschar, die, wie sich herausstellte, seit der Flucht Mikulskis die ganze Umgegend nach diesem abgesucht hatte.

„Bestimmte Anzeichen sprechen nun dafür, daß Mikulski sich hier bei Ihnen verborgen hält,“ sagte einer der Zivilisten zu Maroß, indem er ihn scharf fixierte.

Inzwischen war auch der Freiherr bis zur Pforte gehumpelt, um zu sehen, was vorgefallen war. Er bemerkte den mißtrauischen Blick, mit dem der Zivilist den Schriftsteller musterte, und mischte sich sofort ein.

„Rittmeister Freiherr von Lenzen,“ stellte er sich vor. „Sie waren doch schon letztens bei mir in Schamaiten dieses Mikulski wegen. Nun – für den Herrn hier verbürge ich mich. Der steckt mit jenem jämmerlichen Patron niemals unter einer Decke.“

„Schon möglich, Herr Rittmeister. Trotzdem habe ich die Pflicht, die Behausung dort zu durchsuchen.“

Ottomar Maroß hatte sich mittlerweile an das auffallende Benehmen Mauglis erinnert, der auch gestern wieder der Vorderluke eine recht auffällige Beachtung geschenkt hatte.

Gerade als er diese seine Wahrnehmung dem Herrn in Zivil mitteilte, hörte man im Garten einen lauten Ruf. Es war Isolde von Lenzens Stimme, die klar und durchdringend die Worte vernehmen ließ: „Hier–her – Karl-Egon – hierher! Mikulski klettert soeben über den Zaun!“ –

Der Flüchtling, der durch eines der kleinen in die Bordwand des Wrackes eingeschnittenen Fenster seine Verfolger an der Pforte gesehen hatte, sollte jedoch nicht weit kommen. Am Strande entlang laufend, bemerkte er sehr bald die hinter ihm drein hetzenden Hunde. Einen schoß er nieder. Dann hatte er das kleine Ruderboot erreicht, das mit zu der Klausel gehörte und in dem Ottomar Maroß und Elfriede am Morgen eine kurze Ruderpartien auf der heute spiegelglatten See unternommen hatten. Das leichte Kielboot lag nur halb auf dem Ufer, ein Stoß genügte, um es flott zu machen. Mikulski schwang sich hinein, ergriff die Ruder und trieb das kleine Fahrzeug mit kräftigen Schlägen auf die offene See hinaus.

Seine Verfolger hatten inzwischen ebenfalls den Strand erreicht. Als er der Aufforderung umzukehren nicht gehorchte, knallte gleich darauf ein Schuß, den der Wehrmann Trebonius abgefeuert hatte. Aber die Kugel pfiff unschädlich ein Stück neben Mikulski vorbei. Ebenso wenig Erfolg hatte der gelehrte Unteroffizier Eckstein mit seiner Waffe.

Gut dreihundert Meter war das Boot jetzt schon vom Strande entfernt. Da ereignete sich etwas, das niemand voraussehen konnte.

Urplötzlich wurde das leichte Fahrzeug wie von unsichtbarer Gewalt haushoch in die Luft geschleudert. Ein donnernder Krach ward vernehmbar, und aus der See stieg an derselben Stelle, wo eben noch das Boot sich befunden hatte, eine riesige Wassersäule auf. Der Luftdruck der explodierenden Mine, auf die das Boot aufgefahren war, äußerte seine Wirkung in vielfacher Weise. Die am Ufer stehenden Männer flogen meterweit durch die Luft und kugelten dann noch in dem weichen Sand ein Stück weiter; auf dem Wrack des „Orion“ sprangen die Türen des Deckbauten auf, und der Vordermast dicht davor knickte um. Und dann flutete noch eine gewaltige Brandungswelle bis zu den Dünen empor und durchnäßte Mikulskis Verfolger bis auf die Haut.

Zum Glück war dieser Zwischenfall für niemanden außer dem Flüchtling von nachteiligen Folgen.

Nachher suchte man noch nach Mikulskis Leiche, fand aber auch nicht eine Spur mehr von ihr. – –

Zu gern hätten Eckstein und Trebonius erfahren, was aus der geheimnisvollen, von ihnen verhafteten Radlerin geworden war. Aber sie erfuhren nichts – nichts. Nur eins belehrte sie darüber, daß sie einen sehr wichtigen Fang mit dieser Person gemacht haben mußten. Vier Wochen später erhielten sie „in Anerkennung ihres umsichtigen Verhaltens bei einem Patrouillengang“ jeder das Eiserne Kreuz.

Tischlermeister Trebonius wurden die Augen feucht vor Freude, als der Kommandeur des Landsturmbataillons ihm die Auszeichnung an die Brust heftete. Nun brauchte er sich doch vor seinem Jungen, dem Kriegsfreiwilligen, nicht mehr zu schämen …! Nun war er kein „nackter Spatz“ mehr, wie die dekorierten Frontsoldaten die „Garnisononkels“ nannten.

* * *

Mutter Deinert blühte in der frischen Seeluft förmlich auf. Den ganzen Tag über war sie im Garten, auch viel in der kleinen Schiffsküche tätig. So blieben Elfriede und Ottomar Maroß sich nur zu häufig selbst überlassen, falls nicht gerade von Schamaiten liebe Gäste herüberkamen oder die Bewohner der Klause dort behagliche Stunden verbrachten.

Gritta und Karl-Egon verlobten sich vierzehn Tage nach ihrer ersten bedeutungsvollen Aussprache öffentlich. Vielleicht saß der Schmerz über den endgültigen Verlust ihres ersten Bräutigams bei Gritta doch nicht so tief, als es geschienen hatte, vielleicht war sie auch eine Natur, die ihre Gefühle gut zu verbergen wußte, jedenfalls machte das Paar einen ganz glücklichen Eindruck, zumal Karl-Egon seine Braut geradezu mit zarten Aufmerksamkeiten überschüttete.

An demselben Tage war es, als Ottomar Maroß bei einem Morgenspaziergang am Strande in glücklichem Übermut mit Elfriede ein wenig Haschen spielte. Nur zu bald hatte er sie eingeholt, umschlang sie lachend und zog sie an sich.

„Einen Kuß als Lösegeld – bitte, bitte, – aber einen solchen, wie bei eurer Ankunft auf dem Bahnsteig in Brake,“ sagte er leise.

Das schmiegte sie sich fester an ihn. Aus ihren Augen strahlte ihm eine Welt von Liebe entgegen – und es blieb nicht bei dem einen Kuß … – –

Mutter Deinert verdarb heute zum erstenmal das Mittagessen vollständig. Es war total versalzen – total. Vielleicht waren die Freudentränen daran schuld, die ihr immer wieder über die Wangen rollten.

 

 

Anmerkung:

  1. Zu Franz Seraph Lenbach (* 13. Dezember 1836 in Schrobenhausen; † 6. Mai 1904 in München), seit 1882 Ritter von Lenbach, gibt es einen Wikipedia-Artikel: Franz von Lenbach.