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Der Fürst im Netz

 

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Bibliothek der besten Romane

 

Band 296

 

Der Fürst im Netz.

 

Roman von

W. Belka.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

Die roten Jagdröcke der berittenen Teilnehmer an der ersten diesjährigen Sauhatz, die der Fürst von Haldenburg veranstaltet hatte, waren weit über die von einzelnen Gebüschstreifen bestandene, moorige Heide zerstreut, leuchteten bald hier, bald dort zwischen dem Grün des Buschwerks auf und strebten doch alle demselben Ziel zu, – der Stelle, wo die Meute der Hunde mit wütendem, heiserem Gekläff und gelegentlichem Aufheulen einer von den Hauern des gehetzten Wildes getroffenen Bracke[1] den kräftigen, jetzt aber völlig ermüdeten Keiler gestellt hatte.

Dieser hatte sich vor der Übermacht seiner vierbeinigen Feinde in ein großes Erdloch geflüchtet, das ihm gute Rückendeckung bot. Bellend und vor Jagdeifer zitternd hielten ihn hier die Hunde umzingelt.

Bald fanden sich auch die ersten Reiter ein, sprangen von den Schaumflocken werfenden Pferden und vereinigten sich zu kleinen Gruppen, die, erregt von der scharfen, langen Hetze, einzelne Zwischenfälle der Jagd besprachen.

Etwas abseits standen die Diener mit den Pferden und den Forstbeamten, soweit sie zur Teilnahme an der Hatz befohlen worden waren. Unter ihnen lenkte unwillkürlich die hohe, magere Gestalt des alten Hegemeisters Marschner die Aufmerksamkeit auf sich, der mit seinem verwitterten, faltigen Gesicht, dem prächtigen, weißen Bart und den unter buschigen Brauen hervorblitzenden, großen, dunklen Augen ein prächtiges Modell für jeden Maler abgegeben hätte. Er hielt die Saufeder, den kurzen Speer mit breiter, langer Stahlspitze, in der Hand, mit dem dem Keiler nachher der Fang gegeben werden sollte. Schon unter dem vor drei Jahren verstorbenen Fürsten Heribert, dem Vater des jetzigen regierenden Herrn, war es das Vorrecht des alten Marschner gewesen, die Saufeder zu tragen und sie dann demjenigen der Jagdteilnehmer mit einem kurzen Spruch zu überreichen, der das gestellte Wild weidgerecht abtun sollte.

Der Oberjägermeister Graf Palwitz, ebenfalls ein schon älterer Mann mit hochmütigem Gesicht und einer Untergebenen und Gleichgestellten gegenüber stets deutlich hervorgekehrten kühlen Überlegenheit, hatte sich der Gruppe der Mitglieder des fürstlichen Hauses angeschlossen. Es waren dies die Fürstin Helene von Haldenburg-Ortringen mit ihren beiden Kindern, dem Prinzen Arnulf und der Prinzessin Maria, und zwei entferntere Verwandte, die als Offiziere bei der Garde in Potsdam standen und eigens zu der Jagd sich Urlaub genommen hatten.

Graf Palwitz hatte schon verschiedentlich mit leiser Ungeduld nach der Richtung hingeschaut, aus der noch immer einzelne Nachzügler auftauchten. Jetzt wandte er sich mit einem leisen Lächeln, von dem man nicht recht wußte, ob es nur unterwürfig oder auch etwas spöttisch sein sollte, an die Fürstin, eine achtunggebietende Erscheinung, die noch immer trotz ihrer erwachsenen Kinder die schöne Frau zu spielen suchte und um deren Mund stets ein Zug von zuvorkommender Liebenswürdigkeit wie eingefroren lag.

„Seine Durchlaucht lassen sich wieder reichlich Zeit,“ meinte er, mit der Rechten auf einen einzelnen Reiter deutend, der soeben zwischen den Büschen in kurzem Galopp hervorsprengte.

„Mein Neffe bringt dem edlen Weidwerk kein übermäßige großes Interesse entgegen – das wissen wir ja!“ meinte die Fürstin. „Seit er von seiner Weltreise zurückgekehrt ist, erscheint er mir in vielem noch sonderbarer als vordem, – finden Sie das nicht auch, lieber Graf?“

Der Oberjägermeister strich sich mit den fast frauenhaft zarten Fingern seiner Rechten etwas geziert den weißgrauen Schnurrbart hoch. Das tat er immer, wenn er es für angebracht hielt, seine wahre Ansicht vorsichtig zu verschweigen. Es war also mehr ein Zeichen leichter Verlegenheit bei ihm, dieses kokette Spiel mit seinem wohlgepflegten Bart, und die Fürstin kannte Palwitz gerade gut genug, um zu wissen, daß er über ihre Frage doch nur mit einer nichtssagenden Redensart hinweggehen würde.

Ehe er daher noch Zeit zu einer Erwiderung fand, fuhr sie schon fort: „Ich beanspruche keine Antwort, lieber Graf, – wirklich nicht. Ich vergesse eben immer wieder, daß Sie in Borwins Diensten stehen und deshalb Ihre Zunge gebunden ist.“

Inzwischen war Fürst Borwin der hier versammelten Jagdgesellschaft so nahe gekommen, daß Graf Palwitz, ohne unhöflich zu erscheinen, die mit kaum merklichem Spott getränkte Äußerung der Tante seines jungen Gebieters nur mit einer tiefen Verbeugung quittieren konnte, um dann sofort dem Reiter entgegenzueilen, der sich bereits vom Pferde geschwungen hatte und nun langsam auf die Gruppe seiner Verwandten zuschritt.

Borwin III. von Haldenburg war etwas über Mittelgröße und dabei von so schmaler, zarter Figur, daß er leicht für jünger, als er es in Wirklichkeit war, hätte geschätzt werden können, wenn eben nicht auf diesem knabenhaft schmächtigen Körper einen Kopf gesessen haben würde, dessen Gesichtsausdruck ständig nachdenklichen Ernst und eine träumerische Versonnenheit, die besonders aus den dunklen Augen hervorleuchtete, verriet und auf eine in sich gefestigte Lebensreife hindeutete.

Der Oberjägermeister meldete jetzt seinem jungen Herrn, daß der Keiler gestellt sei, worauf Fürst Borwin nur zerstreut nickte und erwiderte:

„Dann können wir dieses Vergnügen ja wohl für beendet betrachten und heimkehren, Palwitz, – nicht wahr?“

„Ew. Durchlaucht verzeihen … Es ist aber stets Sitte gewesen, daß bei der ersten großen Jagd der regierende Fürst dem Keiler den Fang gab. Befehlen Ew. Durchlaucht, daß ein anderer dies heute tut?“

Fürst Borwin zuckte kaum merklich die Achseln.

„An althergebrachten Dingen darf man nichts ändern, wenn man das Oberhaupt eines Geschlechtes ist. – Ich habe Ihre leise Mahnung verstanden, Palwitz.“

Zufällig streifte sein Blick bei diesen Worten das Gesicht seiner Tante, der Fürstin Helene, deren Augen seltsam forschend und auch mit deutlicher Ironie auf dem Neffen ruhten.

Da richtete er sich unwillkürlich höher auf. Seine Stimme, die meist so weich und schleppend wie die eines versonnenen Gelehrten klang, wurde hart und bestimmt.

„Marschner, – die Saufeder!“ rief er dem alten Hegemeisters zu.

Der eilte mit frohem Gesicht herbei. Er hatte schon gefürchtet, daß sein junger Gebieter diesen feierlichen Schlußakt einem Dritten überlassen würde. Und das hätte den knorrigen Weißbart, der sein Fürstenhaus über alles liebte, als ein Zeichen von Gleichgültigkeit gegenüber dem edlen Weidwerk sehr schmerzlich berührt.

Fürst Borwin nahm die kurze, speerähnliche Waffe doch etwas zögernd in Empfang. Seit Jahren hatte er keinen Keiler mehr mit der Saufeder kunstgerecht erlegt, und der Gedanke, das arme, erschöpfte Tier vielleicht nicht gleich mit dem ersten Stich schmerzlos zu töten, machte ihn für einen Augenblick unsicher. Dann aber siegte auch sofort wieder das Bewußtsein über diesen Anfall von Schwäche, daß die Augen von einem halben Hundert Menschen jetzt auf ihn gerichtet seien und daß der regierende Fürst von Haldenburg vor diesem Kreise von kritischen Zuschauern sich keine Blöße geben dürfe.

Mit schnellen Schritten trat er auf die den Keiler blutdürstig umheulende Hundemeute zu, trieb sie in mit ein paar lauten Zurufen beiseite und stand nun dicht vor dem keuchendem Wildschwein, das den menschlichen Feind mit seinen kleinen, funkelnden Augen tückisch anblickte.

Hinter dem jungen Fürsten hatte wie üblich der alte Marschner mit einer längeren Saufeder in der Hand Aufstellung genommen, um jederzeit eingreifen zu können, falls das Wild womöglich zum Angriff überging.

Borwin hob jetzt den Speer. Und gleißend leuchtete der blanke Stahl der Spitze in dem hellen Sonnenschein des klaren Maimorgens auf. Wie ein Blitzstrahl war’s, der sich den Keiler als Ziel erwählt hatte. Und dieser schien auch das unheimliche Funkeln wie eine Warnung vor drohender Gefahr zu empfinden. Seine letzten Kräfte zusammenraffend, tat er urplötzlich einen Satz nach vorwärts gerade auf den Fürsten zu.

Doch der war auf seiner Hut. Mit einer Gewandtheit, die man ihm bei seiner wenig straffen Körperhaltung kaum zugetraut hätte, schnellte er sich zur Seite, und dicht an seinem rechten hohen Glanzlederstiefel fuhren die weißen Hauer des mit gesenktem Kopf vorstürmenden Keilers vorbei.

Der alte Marschner war weniger auf einen solchen unerwarteten Angriff vorbereitet gewesen. Er kam nicht mehr dazu, dem wütenden Tier auszuweichen, konnte nur noch eine halbe Wendung machen, wurde von dem Keiler überrannt und stürzte der Länge nach zu Boden.

In dem dichten Kreis der Jagdgesellschaft ertönten hier und da unterdrückte Schreckensrufe. Hatte das Wildschwein doch sofort wieder kehrt gemacht und bedrohte nun den sich schwerfällig aufrichtenden Hegemeister mit seinen gefährlichen Stoßzähnen. Doch bevor es noch zum Stoß ausholen konnte, fuhr ihm schon des Fürsten gutgezielte Saufeder in die Brust, und wie vom Blitz getroffen sank der Keiler von der Wucht des Speeres mitgerissen, auf die Seite, um nach wenigen Sekunden zu verenden.

Die Jagdhörner schmetterten sofort ihren Jägerruf über die in Frühlingsgrün prangende Heide hin, die Meute heulte wie besessen, und in den Reihen der Zuschauer wurde hier und da ein anerkennendes Bravo laut.

Fürst Borwin hatte inzwischen dem alten Marschner wieder auf die Beine geholfen. Dieser stammelte verlegen ein paar Dankesworte, die der Fürst jedoch mit der Bemerkung abwehrte:

„Jetzt sind wir quitt, lieber Marschner! Sie wissen doch noch – von damals, als der Sechzehnender mich nach dem Fehlschuß auf der Waldwiese annahm und mich mit seinem Geweih sicher übel zugerichtet hätte, wenn Sie ihn nicht durch eine Kugel vor die Stirn hingestreckt haben würden. – Ja, mein Alter, – das konnte sich auch nur der Hegemeister Marschner leisten, einem Hirsch eins mit so unfehlbarer Sicherheit zwischen die Lichter zu brennen …!!“ Und Fürst Borwin klopfte seinem treubewährten Beamten vertraulich auf die Schulter.

Bevor noch der glückstrahlende Weißbart etwas erwidern konnte, hatte schon Prinzessin Maria ihren Vetter angesprochen.

„Lieber Borwin,“ sagte sie, indem sie ihm mit schüchternem Lächeln die Hand reichte, „– mein aufrichtiges Kompliment! Diese Szene eben werde ich nicht so bald vergessen. Einen Augenblick stockte mir der Herzschlag … Ich sah Sie schon verwundet, fürchtete schon einen bösen Ausgang dieser sonst so schön verlaufenen Jagd … Aber Sie haben dann schnell bewiesen, wer hier Herr der Situation war …!“

Maria von Haldenburg-Ortringen hatte nichts von der imponierenden Erscheinung ihrer Mutter an sich. Sie war ein kleines, zartes Geschöpf mit einem unbedeutenden Gesichtchen, in dem die Augen das Anziehendste waren, – Augen von unbestimmter Farbe, in denen sich aber doch eine starke Seele und ein reiches Innenleben mit stets halb verschleiertem, träumerischem Ausdruck widerspiegelten. Vielleicht hätten diese lebhaften Augensterne genügt, um Marias sonstiges, wenig ansprechendes Äußere auszugleichen, wenn in ihrem Antlitz nicht stets ein deutlich hervortretender Zug von ängstlicher Schüchternheit gelegen hätte, der auch ihrem Lächeln regelmäßig etwas Wehmütiges und Unfreies gab.

Eine Anzahl neugieriger und zum Teil spöttischer Blicke war auf das junge Paar gerichtet, das jetzt vor dem toten Keiler Hand in Hand dastand. War es doch nicht nur für die Hofgesellschaft, sondern auch für die fürstlichen Beamten und die Dienerschaft kein Geheimnis mehr, daß die Prinzessin, die der wenig bemittelten Nebenlinie des Hauses Haldenburg angehörte, sich nun schon ein halbes Jahr lang alle Mühe gab, ihren Vetter als den Inhaber einer Fürstenkrone für sich zu erobern, ein Bestreben, das bisher allerdings sehr geringe Aussicht auf Erfolg zu haben schien.

Auch jetzt lag in des Fürsten Borwin feinem, geistvollem Gesicht nur höflich kühle Abweisung. Marias besorgte Worte machten keinerlei Eindruck auf ihn. Er liebte diese seine Verwandtschaft, die seit Monaten als Gäste in dem Residenzschloß Haldenburg weilten, überhaupt nicht besonders. Im Gegenteil, – trotz aller scheinbaren Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit, die die Ortringer ihm entgegenbrachten, gewann das Gefühl immer mehr bei ihm die Oberhand, daß sie, die Prinzessin vielleicht ausgenommen, seine heimlichen Gegner seien und gegen ihn irgendwelche Ränke schmiedeten, über deren Zweck und Ziel er sich freilich nicht klar zu werden vermochte.

Er war es denn auch, der seine Hand jetzt aus der seiner Kusine löste, nachdem er ihr erwidert hatte, daß sie die Gefährlichkeit eines Keilers doch wohl stark überschätze und sein Verhalten mithin kaum eine besondere Anerkennung verdiene.

Prinzessin Marias große, traurige Augen verschleierten sich noch mehr, als ob sie absichtlich einen Vorhang vor ihre Seele ziehe, um deren geheimste Gefühle zu verbergen. Ihre Wangen färbten sich gleichzeitig vor Verlegenheit tiefer, und verwirrt trat sie einen Schritt zurück, um ihrer Mutter und ihrem um fünf Jahre älteren Bruder Arnulf Platz zu machen, die nun gleichfalls wortreich den jungen Fürsten beglückwünschten, worauf dieser jedoch nur mit einer Handbewegung antwortete, mit der er die Geringfügigkeit dieses Zwischenfalls andeuten wollte.

Dann verteilte er die von dem alten Hegemeister inzwischen vorbereiteten Brüche, kleine Kiefernzweige, die er mit den Spitzen ein wenig in das Blut des erlegten Keilers tauchte und dann seinen Gästen mit ein paar Worten des Dankes für die Teilnahme an der Jagd aushändigte. Bei dieser Gelegenheit zeigte es sich wieder, wie schnell sein Geist von der Gegenwart abirrte und sich in weite Fernen verlor. Man merkte, daß er mit seinen Gedanken kaum bei der Sache war. Zerstreut und schon wieder mit jenem stark ausgeprägten nachdenklich ernsten Zug in dem schmalen, vornehmen Gesicht erledigte er diese seine althergebrachte Pflicht als Jagdherr. Dann ließ er sofort zum Aufbruch blasen. Aber er schloß sich selbst der Kavalkade von Reitern nicht an, erklärte vielmehr der Fürstin Helene mit ein paar recht knappen Worten, daß er sich später auf dem nahen Jagdschlößchen Hirschenstein einfinden werde und daß sie dort bis dahin für die Gäste sorgen möge, zu deren Empfang ein Frühstück bereitstände.

Die Fürstin beeilte sich zu versichern, wie gern sie sich dieser Aufgabe unterziehe. Aber als sie dann an der Seite ihres stattlichen, jedoch recht hochmütig dreinblickenden Sohnes den Pferden zuschritt, sagte sie leise:

„Er muß doch stets etwas Besonderes haben. Überhaupt – es gab heute wieder sehr viel Beachtenswertes festzustellen. Doch davon später …“

 

2. Kapitel.

Die weit auseinander gezogene Kette der Jagdgesellschaft verschwand allmählich zwischen den Büschen der grünen Heide.

Fürst Borwin hatte sich auf einen Baumstumpf in der Nähe des toten Keilers gesetzt und den Kopf in die Hand gestützt. Erst als Marschner auf ihn zutrat und fragte, ob das Wild weggeschafft werden dürfe, schaute er auf, nickte dem Alten kurz zu, warf einen Blick auf die sich immer mehr entfernenden, leuchtend roten Röcke der davonreitenden Jagdteilnehmer und erhob sich.

Auf seinen Wink brachte ihm der Stallmeister von Perland sein Pferd herbei. Leicht schwang er sich in den Sattel, nahm die Zügel in die Hand und sagte zu dem mit abgezogener Mütze Dastehenden:

„Ich brauche Sie nicht mehr, lieber Perland. Sie können den übrigen Herrschaften folgen. Ich will noch ein wenig allein diesen schönen Vormittag genießen.“

Dann ritt er nach derselben Richtung hin davon, auf der er vorher als letzter der Nachzügler aufgetaucht war.

Bald ließ er seinen schöngebauten, tänzelnden Fuchs in Trab fallen und strebte, absichtlich eine kleine Kiefernschonung zwischen sich und die bei dem Keiler zurückgebliebenen Forstbeamten bringend, einer entfernten Anhöhe zu, auf der sich ein aus rohen Baumstämmen erbauter Aussichtsturm erhob.

In fünf Minuten hatte er diesen erreicht, sprang ab und schlang die Zügel um den untersten Pfosten der auf den Turm führenden Treppe.

Oben auf der von einem festen Geländer umgebenden Plattform saß vor einer Staffelei eine junge, einfach gekleidete Dame, die jetzt überrascht aufblickte, als Fürst Borwins flüchtiger Schritt auf den Treppenstufen hörbar wurde.

Dann stand er neben ihr, die schwarzsamtene Mütze in der Hand, verbeugte sich leicht und sagte:

„Sie sehen, meine Gnädige, – ich halte mein Versprechen! Da bin ich wieder. Und nun will ich die vorhin unterbrochene Erklärung der von hier sichtbaren Ortschaften und sonstigen Sehenswürdigkeiten fortsetzen, falls Sie noch Wert darauf legen.“

„Oh – gewiß. Ich bin hier ja völlig fremd und würde es nur unserer kaum zwei Stunden alten Zufallsbekanntschaft verdanken, wenn ich die Gegend durch Ihre liebenswürdige Vermittlung näher kennen lernte.“

Das junge Mädchen, das vielleicht zwanzig Jahre alt sein mochte und ein recht anziehendes, wenn auch nicht gerade schön zu nennendes Gesicht besaß, hatte in der ganzen Art des Auftretens etwas so Ungezwungenes und Sicheres, daß es schon dadurch die Zugehörigkeit zu den gebildeten Ständen verriet.

Der junge Fürst hatte sich der Malerin gegenüber an das Geländer gelehnt und erwiderte jetzt, indem er kaum merklich lächelte:

„Von einer Bekanntschaft kann leider kaum die Rede sein, gnädiges Fräulein. Kennen wir doch nicht einmal unsere Namen. – Bitte, schütteln Sie nicht ablehnend den Kopf …! Ich wollte damit durchaus nicht sagen, daß es mein Wunsch ist, unser gegenseitiges Inkognito zu lüften. Als ich Ihnen vorhin hier unten vor den Toren begegnete und Sie mich fragten, ob es vielleicht gestattet sei, dieses Bauwerk trotz der großen Warnungstafel der Fürstlich Haldenburgschen Forstverwaltung zu ersteigen, als wir dann in ein kurzes Gespräch gerieten und ich Sie auf den Turm hinaufgeleitete, da wiesen Sie meinen Versuch, mich Ihnen in aller Form vorzustellen, mit der mir durchaus verständlichen Begründung zurück, daß Sie es weit reizvoller fänden, wenn wir hier mitten in der Einsamkeit der Heide den Kulturmenschen sozusagen abstreiften und … „ganz harmlos wie ein paar von Europas Höflichkeit nicht angekränkelte Halbwilde miteinander verkehrten“ … – dies waren ja wohl Ihre freimütigen Worte, mit deren Inhalt ich mich hiermit nochmals vollkommen einverstanden erkläre.“

Die junge Dame, deren breitbandiger, nur von einem schwarzen Seidenband geschmückte Strohhut neben ihr auf dem Malkasten lag, verzog den Mund zu einem schalkhaften Lächeln.

„Sehen Sie, das ist brav von Ihnen, mein Herr Ritter. Wozu wollen wir auch die Gepflogenheiten der Salons hier in diese köstliche Landschaft verpflanzen?! Ich als halbe Künstlerin liebe all diesen Formenkram überhaupt nicht.“

Dann wies sie mit der Hand in die Ferne, wo der schlanke Turm des Jagdschlosses Hirschenstein über das grüne Meer der weiten Wälder hinausragte.

„Die Jagdgesellschaft hat jene Richtung eingeschlagen. Ich nehme daher an, daß der Turm dort das Ziel der Jäger ist.“

„Allerdings, meine Gnädige. Er gehört zu dem Schlößchen Hirschenstein des Fürsten von Haldenburg. Mehr zur Linken in dem tiefen Tal liegt das kleine Trinkbad Hellgenheim, leidlich berühmt durch seine heilkräftigen Quellen. Es befindet sich bereits außerhalb der Grenzen des Fürstentums Haldenburg, das ja überhaupt nicht an allzu großer räumlicher Ausdehnung leidet. Wenn Sie den Blick nach rückwärts wenden, so können Sie dort über jener Bergspitze auch den stumpfen Turm des alten Domes von Haldenburg sehen, in der Luftlinie mag die Entfernung bis zur Residenz etwa vier Meilen betragen.“

Die junge Dame hatte sich von ihrem Klappstühlchen erhoben und war neben Borwin getreten.

„Eine entzückend schöne Gegend hier, ein wahres Klein-Thüringen,“ meinte sie, in den Anblick der Landschaft versunken. „Ich beneide den jungen Fürsten von Haldenburg eigentlich so ein wenig um sein Land. – Sie, mein zuvorkommender Ritter, kennen den Fürsten sicher recht gut. Daß Sie mit zu der Hofgesellschaft gehören, die jetzt dem Schlößchen Hirschenstein zustrebt, haben Sie ja schon vorhin zugegeben, als Sie infolge der Unterhaltung mit mir dann als einer der letzten dort an jenem Platz angelangten, wo ich von hier aus all die roten Jagdröcke auf einem Punkt vereinigt sah.“

Borwin verneigte sich leicht.

„Ich kenne den Fürsten, und zwar sehr gut. Aber gerade deshalb bezweifle ich, ob er zu beneiden ist. Gewiß, sein kleines Ländchen hat seine landschaftlichen Reize. Dafür muß er aber auch all die Unbequemlichkeiten mit in Kauf nehmen, die nun einmal mit der Stellung eines regierenden Herrn verknüpft sind. Niemand ist unfreier als ein Herrscher. Und, je kleiner sein Land, desto mehr wachsen all die Schranken, die ihn einengen, desto mehr wird er von allen Seiten beobachtet und desto schonungsloser ist sein Tun und Lassen ständig der Kritik der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Sein Leben ist das eines Schauspielers, der fortwährend auf einer von allen Seiten sichtbaren Bühne steht und nur darauf aufzupassen hat, daß das Publikum auch einigermaßen mit ihm zufrieden ist.“

Das junge Mädchen schüttelte lächelnd den Kopf.

„Sehr begeistert sprechen Sie nicht gerade von dem Beruf Ihres fürstlichen Gebieters …! Das muß man sagen! – Nicht wahr – Borwin III. von Haldenburg ist ein etwas eigentümlicher Herr, wie ich gehört habe. Er soll für andere Dinge weit mehr Interesse haben als für seine Regentenpflichten.“

„So …?! Erzählt man sich derartiges? – Nun – vielleicht ist das mit gewissen Einschränkungen richtig. Doch, ich denke, wir wechseln besser den Gegenstand unserer Unterhaltung. Es kommt mir nicht zu, mich näher über den Fürsten auszulassen. Sie dürfen mir diese Bitte nicht verargen, meine Gnädige.“

„Oh – keineswegs. – Es war das eben von mir auch nicht bloße Neugier, wirklich nicht. Mich interessieren gekrönte Häupter. Schon auf der Schule habe ich mich stets sehr eingehend mit Schilderungen über das Privatleben dieser Auserwählten der Erde beschäftigt. Und auch jetzt noch treibe ich ähnliche Studien.“

„Dann sind Sie ja recht vielseitig, verehrtes Mädchen aus der Fremde. Malen tun Sie auch, und, wie ich an dem angefangenen Bilde dort auf der Staffelei sehe, keineswegs wie eine Dilettantin. Die ganze Anlage des Entwurfs beweist, daß Sie bei einem erstklassigen Künstler Unterricht genossen haben.“

So wurde das Gespräch ganz zwanglos auf ein anderes Gebiet übergelenkt. Und immer eifriger flogen Rede und Gegenrede hin und her, und dies mit einer Zwanglosigkeit, wie sie sich nur zwischen Menschen findet, die sich von vornherein sympathisch sind und die so ziemlich die gleichen Interessen haben.

Wie im Fluge verstrich die Zeit. Und der junge Fürst, der sich freute, hier dieser eigenartig fesselnden Unbekannten gegenüber wieder einmal nur Mensch sein zu können, erschrak leicht, als die junge Dame, nachdem sie einen Blick auf ihre offenbar sehr wertvolle goldene Armbanduhr geworfen hatte, plötzlich mitten in einem Meinungsaustausch über einen neuen Roman, der in kurzer Zeit zwölf Auflagen erlebt hatte, ausrief:

„Halb zwölf bereits …! Da muß ich schleunigst aufbrechen, schleunigst!“ Und sofort begann sie, unterstützt von ihrem namenlosen Ritter, ihre Malgerätschaften zusammenzupacken, die er ihr dann den Turm hinabtrug.

Unten verabschiedete sie sich hastig von ihm.

„Leben Sie wohl. Ich danke Ihnen für ein paar angenehme Stunden,“ sagte sie mit dem ihrer eigenen Freimut. „Und ich würde mich freuen, wenn uns der Zufall wieder einmal zusammenführen sollte.“

Er wollte sie jedoch noch begleiten und ihr die Sachen ein Stück tragen. Aber sie lehnte dankend ab.

Da fügte er sich. Mit einem kameradschaftlichen, festen Händedruck trennten sie sich, indem er erklärte:

„Der Zufall, der wieder eine Begegnung zwischen uns vermitteln sollte, ist ein launischer Gesell. Vielleicht helfe ich ihm etwas nach …!“

Sie erwiderte hierauf nichts, nickte ihm nochmals zu und schritt schnell und federnden, kraftverratenden Ganges auf einen Fahrweg zu, der in der Nähe vorbeilief.

Borwin bestieg sein Pferd und schlug die Richtung nach dem Jagdschloß ein. Wiederholt drehte er sich nach seiner Unbekannten um. Das Buschwerk entzog sie bald seinen Blicken. Da ließ er den ungeduldigen Fuchs in Trab fallen. Aber seine Gedanken verweilten noch weiter bei diesem jungen Weibe, von dem er nichts wußte, als daß es ein selten feingebildetes, offenherziges Wesen und sicherlich von guter Herkunft war. –

Fürst Borwin war ein Grübler. Er suchte allen Erscheinungen des Daseins, allen Empfindungen auch, die seine Seele bewegten, auf den Grund zu gehen. So kam es, daß er sich nur selten jenen Selbsttäuschungen hingab, mit denen oberflächliche Naturen sich so häufig ein unrichtiges Bild ihrer eigenen Charakterveranlagung schaffen.

Daß die Fremde ihn vom ersten Augenblick an in seltsamer Weise interessierte, daß der Wunsch, sie näher kennenzulernen, ihn nach Beendigung der Jagd wieder nach dem Turm geführt hatte, gestand er sich ohne weiteres ein. Und er hatte diese Fortsetzung einer Zufallsbekanntschaft wahrlich nicht bereut. Wie merkwürdig es doch war, daß sie beide so schnell beinahe miteinander vertraut geworden waren, daß sie in der Unterhaltung die fernliegensten Gegenstände berührt und dabei immer wieder festgestellt hatten, daß ihre Ansichten in den meisten Punkten über Kunst, Wissenschaft und Lebensauffassung übereinstimmten. Das war eben jene Harmonie gleichgesinnter Seelen, die Herz und Mund öffnet und den Eindruck erweckt, als ob man den anderen Teil schon viele Jahre gekannt hätte.

Dann dachte der junge Fürst an seine Gäste. Und da überkam es ihn wie Mißbehagen. Es war nicht ganz richtig von ihm gewesen, daß er sich für so lange Zeit von ihnen getrennt hatte. Er sah schon das verschlossene Gesicht seines Oberjägermeisters vor sich, der ohne Frage schwer gekränkt darüber war, weil er seine sorgfältig auswendig gelernte Rede bei der Frühstückstafel nicht hatte halten können, ebenso das eingefrorene Lächeln auf dem leicht geschminkten Antlitz seiner Tante Ortringen, für die das Hofzeremoniell die einzige Richtschnur ihres gedankenleeren Daseins war und die es ihm sicher auf ihre versteckte Art zu verstehen geben würde, wie unpassend sie seine lange Absonderung fände.

Mochte sie …! – Und Fürst Borwin schlug einen peitschenden Hieb mit der Reitgerte, als wolle er dadurch häßliche Gespenster vertreiben. –

Inzwischen hatte sein „Mädchen aus der Fremde“ längst ihr in einem einzelnen, mitten auf der Heide stehenden Bauernhause in Verwahrung gegebenes Rad bestiegen und war in scharfem Tempo den Feldweg bis zur Einmündung in die Chaussee gelangt, wo sie dann die Richtung nach Hellgenheim einschlug.

 

3. Kapitel.

„Sein Benehmen ist einfach empörend …! Diese Rücksichtslosigkeit übersteigt denn doch alle Grenzen …!“ sagte die Fürstin Haldenburg-Ortringen zu ihrer Tochter, mit der sie an einem Fenster des großen Salons stand, in dem sich auch die meisten anderen Jagdteilnehmer befanden.

Über zwei Stunden wartete man nun bereits auf das Erscheinen des Fürsten. Schon dreimal hatte der verzweifelte Küchenchef der übelgelaunten Tante seines Herrn gemeldet, daß das Frühstück unfehlbar verderben würde, wenn die Herrschaften nun nicht bald zu Tisch gingen.

„Ich begreife Borwin auch nicht …!“ meinte Prinzessin Maria zögernd. „Hoffentlich ist ihm nichts passiert … Vielleicht ist er mit dem Pferd gestürzt.“

Aus ihrer Stimme klang deutlich ehrliche Sorge um ihren Vetter heraus.

Fürstin Helene zuckte kaum merklich die Achseln, erwiderte auf diese Bemerkung sonst jedoch nichts. Nur ihre Augen öffneten sich ein wenig mehr, ein Beweis, daß sie in ihrem Innern diese Möglichkeit schnell nachprüfte. – Wenn er gestürzt wäre …! Wenn …! Aber er war ja ein so sicherer Reiter … – Leider …!

Prinz Arnulf, der sich bisher mit dem Staatsminister von Bompard, einem bereits recht greisenhaften Herrn, unterhalten hatte, kam jetzt auf seine Mutter zu.

„Ich denke, du befiehlst, daß zu Tisch gegangen wird, Mama,“ sagte er leise. „Länger können wir nicht warten. Hunger soll ja plebeisch sein – aber ich wette, daß jeder hier im Salon in diesem Augenblick seinen Magen knurren hört.“

Die Fürstin sah den Sohn gereizt an.

„Wenn du dir nur diese unfeine Ausdrucksweise, diesen Kasernenton abgewöhnen wolltest …! – Im übrigen habe ich keinerlei Veranlassung, hier irgendwelche Anordnungen zu treffen. Dazu ist Graf Palwitz da. Borwin hat mir zwar gesagt, ich solle ihn hier vertreten, aber ich fasse diesen Wunsch nicht so auf, als wäre ich berechtigt, so weitgehende Bestimmungen verantworten zu können.“

Ein Lakai war soeben vor der Fürstin stehen geblieben und meldete ihr nun auf einen fragenden Blick hin, daß der Reitknecht Francois Ihre Durchlaucht sprechen zu dürfen bitte.

Fürstin Helene verließ den Salon und winkte draußen im Flur ihren Vertrauten in eine Fensternische.

Francois, der eigentlich den ehrlichen deutschen Vornamen Franz führte, war ein kleiner, schmächtiger Mensch mit einem listigen Fuchsgesicht.

„Nun – was haben Sie festgestellt, Francois?“ fragte die Fürstin gespannt.

„Ich bin Seiner Durchlaucht wie befohlen heimlich gefolgt … Seine Durchlaucht war mit einer jungen Dame auf dem Aussichtsturm in der Heide zusammen, hat sich aber vor etwa zehn Minuten von ihr verabschiedet und muß jetzt jeden Augenblick hier eintreffen.“ –

Als die Fürstin nach einer Weile den Salon wieder betrat, winkte sie ihren Sohn herbei, mit dem sie sich in das anstoßende leere Musikzimmer zurückzog. Obwohl hier kaum ein Lauscher zu fürchten war, redete sie doch mit vorsichtig gedämpfter Stimme auf den Prinzen ein. Nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, was sie soeben von Francois erfahren, fügte sie hinzu:

„Wenn ich bei dir und Marie hinsichtlich meiner weitschauenden Pläne etwas Unterstützung finden würde, müßte zum mindesten einer derselben gelingen oder sich doch wenigstens demnächst zeigen, welcher von beiden mit der meisten Aussicht auf Erfolg durchzuführen wäre. Ihr wißt ganz gut, was ich vorhabe und was dabei für euch auf dem Spiele steht. Trotzdem zeigt ihr eine Gleichgültigkeit und eine Ungeschicklichkeit gegenüber den Verhaltungsmaßregeln, die ich euch gegeben habe, daß es mir schwer wird daran zu glauben, ob ihr auch wirklich jenen Ehrgeiz besitzt, der selbst mittelmäßig veranlagte Naturen Großes erreichen läßt.“

Prinz Arnold, der sich an den mitten im Zimmer stehenden Konzertflügel gelehnt hatte, hörte mit recht mäßigem Interesse zu. Erst als seine Mutter das weder für ihn noch für seine Schwester sehr schmei–chelhafte Urteil hinsichtlich ihrer beider geistigen Fähigkeiten abgab, hob er den Kopf und schaute sie etwas ironisch an. Als sie nun nicht sofort weitersprach, sagte er mit einer leichten Verbeugung:

„Verehrteste Mama, ich wüßte nicht, daß ich behauptet hätte, einen so weitgehenden Ehrgeiz zu verspüren, um nach einer Fürstenkrone zu trachten. Wenn ich deine … Verhaltungsmaßregeln bisher, soweit ich dazu imstande war, befolgt habe, so geschah das mehr aus kindlichem Unterordnungsgefühl als aus eigenem Wollen heraus. Ich fühle mich als Leutnant bei der Garde-Kavallerie in Potsdam s… so wohl wie nur möglich.“ Er hatte „sauwohl“ sagen wollen, verschluckte aber vorsichtigerweise dieses in das Kasernenton-Lexikon gehörige Wort rechtzeitig. „Und – ehrlich gestanden – auch Maria dürfte sich in der Rolle der durchaus und durchum von dir zur Fürstin von Haldenburg Bestimmten kaum recht behaglich fühlen. Borwin begegnet ihr mit einer Gleichgültigkeit, wie sie größer kaum sein kann. Du wirst mir zugeben, daß die ganze fade Bande hier am Hofe, Hofgesellschaft genannt, Maria bereits mit hämischen Blicken beobachtet. Jedenfalls fürchte ich, liebe Mama, daß wir ein klägliches Fiasko erleben werden, obwohl du zwei Eisen im Feuer bereit hast, insofern nämlich, als entweder Maria Fürstin von Haldenburg oder ich baldiger Nachfolger von Borwin auf Grund unserer Hausgesetze werden soll.“

Fürstin Helene hatte sich fast mit jedem der Sätze ihres Sohnes etwas höher gereckt. Steif aufgerichtet, und mit fest zusammengepreßten Lippen stand sie einen Augenblick schweigend da. In ihrer ganzen Haltung kam jetzt wieder jene auf einem unbeugsamen, nie um ein Mittel zur Erreichung ihrer Ziele verlegenen Charakter begründete Überlegenheit zum Ausdruck, der bisher noch jeder schließlich nachgegeben hatte.

Dann begann sie wieder zu sprechen, und der Ton ihrer Stimme hatte nun geradezu etwas Metallisches an sich. Das zuvorkommende Lächeln war völlig verschwunden, und in ihrem Blick lag eine solche Strenge und Entschlossenheit, daß Prinz Arnulf seine nachlässige Körperhaltung aufgab und gerade aufgerichtet und mit leicht ängstlichem Gesicht das weitere abwartete.

„Ich möchte dir nur sagen, lieber Arnulf, daß ein Scheitern meiner beiden Pläne für uns … den Ruin bedeutet. Unser Vermögen ist bis auf einen geringen Rest verbraucht. Und dieser Rest genügt auch nicht entfernt dazu, unsere gesamten Schulden zu bezahlen. – Du siehst, ich spreche heute zum erstenmal ganz rückhaltlos offen mit dir. Mit einem vergnügten Leben in Potsdam dürfte es also demnächst aus sein. Gewiß – Borwin würde uns stets vor einer direkten Notlage schützen. Aber du kennst ja diese Ansichten von ihm. Er selbst ist für seine Person so anspruchslos, daß das Jahrgeld, das er uns aussetzen würde, gerade für meine und Marias Toiletten – vielleicht! – ausreichend sein dürfte. Er ist eben in jeder Beziehung völlig aus der Art geschlagen. Und in Abhängigkeit von einem Menschen zu leben, den ich für nicht ganz zurechnungsfähig halte und über den bereits hier im Lande allerlei Gerüchte seltsamster Art im Umlauf sind, – der Gedanke dürfte auch dir und Maria unerträglich sein.“

Prinz Arnulfs von der Sonne gebräuntes Gesicht, von dem sich die weiß gebliebene Stirn in scharfer Grenzlinie abhob, hatte bei diesen unerwarteten Eröffnungen einen fast entsetzten Ausdruck angenommen.

„Steht es wirklich so um uns, Mama?“ fragte er jetzt mit stockender Stimme. Und er dachte an all die kleinen Schulden, die er noch hier und da hängen und die er der stets zur Sparsamkeit mahnenden Mutter bisher verschwiegen hatte.

„Ich sage eher zu wenig als zu viel. Also richte dich danach. Auch Maria werde ich heute reinen Wein einschenken.“

Arnulf, dessen aristokratisches, schmales Gesicht für gewöhnlich einen müden, hochmütig blasierten Ausdruck zeigte, wurde jetzt lebhafter. Er war ein harmloser, wenig selbstständiger Charakter, der sich leicht zu Handlungen verleiten ließ, die eigentlich seinem wahren Wesen völlig fernlagen.

„Das ändert die Sache allerdings vollkommen,“ erklärte er jetzt eifrig. „Ich stehe also ganz zu deiner Verfügung, liebe Mama, und werde …“

Die Fürstin schnitt ihm mit einer ziemlich schroffen Handbewegung das Wort ab.

„Du kannst mir hier jetzt kaum noch nützen,“ sagte sie kühl. „Außerdem ist dein Urlaub in einer Woche abgelaufen. Brauche ich dich, so wirst du von mir hören. – Halt – noch eins! – Wie gefällt dir Fräulein von Sinßberg?“

Der Prinz wußte sofort, was es mit dieser Frage auf sich hatte.

„Die vergoldete Seite sehr gut. Im übrigen ist sie mir zu sehr – na sagen wir – kaufmännisch veranlagt. Junge Damen, die in einem Riesenfabrikbetriebe wie dem des geadelten Herrn Sinßberg beinahe besser Bescheid wissen als der erste Prokurist, sind mir unheimlich.“

„Das glaube ich gern.“ Ganz feiner Spott klang durch diese Worte hindurch. „Trotzdem sieh zu, daß du in diesen acht Tagen mit Ena von Sinßberg soweit vertraut wirst, daß ein späterer Briefwechsel zwischen euch möglich ist. Sie ist, um mich deiner Redewendung zu bedienen, das dritte Eisen, das ich im Feuer habe. Gelingt es nicht, auf Grund des für uns außerordentlich günstigen §9 des Hausgesetzes dir den Fürstenthron von Haldenburg zu verschaffen, so mußt du notwendig an eine reiche Partie denken. Und da kommt Ena von Sinßberg in erster Linie in Betracht. – Laß uns jetzt in den Salon zurückkehren. Borwin muß jeden Augenblick erscheinen.“ –

Gerade als die Fürstin und Prinz Arnulf vom Musikzimmer her den langgestreckten, mit steifer Vornehmheit ausgestatteten Raum betraten, öffnete sich auch die gegenüberliegende Tür und Oberjägermeister Graf Palwitz, der gleichzeitig am Haldenburgschen Hof das Amt des Oberzeremonienmeisters bekleidete, kündigte mit seiner knarrenden, wenig angenehmen Stimme an:

„Seine Durchlaucht, unser allergnädigster Jagdherr!“

Die Unterhaltung verstummte.

Gleich darauf erschien der junge Fürst in der Tür und schritt, die Verbeugungen seiner Gäste mit einem zerstreuten Kopfnicken erwidernd, bis zur Mitte des Salons. Hier blieb er unter der kostbaren, schillernden Kristallkrone stehen und sagte laut und offenbar ein wenig gereizt:

„Zu meinem Erstaunen höre ich soeben vom Grafen Palwitz, daß Sie, meine werten Jagdgäste, noch nicht zu Tisch gegangen sind, vielmehr auf mich gewartet haben. Dies war wirklich überflüssig und entspricht auch nicht meinen Anordnungen. Doch – ändern läßt sich jetzt leider an der Tatsache nichts mehr, daß Sie alle auf diese Weise zwei Stunden sicherlich recht tüchtig gehungert haben. Beeilen wir uns daher, das Versäumte nachzuholen.“

Nach diesen Sätzen, die er in ungezwungen sicherer Haltung vorgebracht hatte, schritt er auf seine Tante zu, bot ihr den Arm und führte sie in den Speisesaal, der mit dem Salon durch eine breite Schiebetür verbunden war.

Beim Eintritt des fürstlichen Paares, hinter dem die übrigen Anwesenden sich zu einem ziemlich langen Zuge aufgereiht hatten, blies der auf der Galerie aufgestellte Jägerchor ein schmetterndes Jagdsignal, das in einen flotten Marsch überging.

In der Mitte der Tafel nahm der Fürst mit seiner Tante Platz. Die anderen setzten sich, da es eine feste Tischordnung nicht gab, zwanglos nebeneinander.

Rechts von der Fürstin Ortringen saß Graf Palwitz. Dieser benutzte die erste Gelegenheit, wo Borwin sich mit dem Staatsminister von Bompard, der recht schwerhörig war, laut über die Tafel hinweg unterhielt, dazu, um seiner Nachbarin zur Linken zuzuflüstern:

„Ich habe einen bösen Wischer von seiner Durchlaucht einstecken müssen, weil wir auf ihn mit dem Frühstück gewartet haben. Heftig kann seine Durchlaucht werden – geradezu grob …!! Seit seiner Weltreise ist unser hoher Herr überhaupt wie umgewandelt. Für einen so alten Hofmann wie mich ist es doch recht schwer, sich an ein neues Regiment zu gewöhnen, – ja recht schwer!“

Fürstin Helene erwiderte darauf ebenso leise:

„Haben Sie auch schon etwas von den Gerüchten gehört, die über das Tempelzimmer umgehen, das mein Neffe sich im Residenzschloß hat einrichten lassen und das niemand außer ihm und seinem indischen Diener Bilawora bisher betreten hat …? Überhaupt dieser Inder …! Für mich ein widerwärtiger Mensch! Sich einen solchen Heiden aus Asien mitzubringen! Und ein Aufhebens macht Borwin mit ihm, als ob der lange, gelbbraune Bursche zum mindesten ein großer Gelehrter wäre. Er behandelt ihn ja auch weit mehr als Freund denn als Diener. Haben Sie diese Beobachtung nicht auch schon gemacht, lieber Graf?“

Palwitz, der sonst jeden Satz sich dreimal überlegte, ehe er ihn aussprach, war heute durch den scharfen Tadel, den der Fürst ihm in dürren Worten ausgedrückt hatte, so verärgert, daß er ausnahmsweise das sagte, was er auch wirklich dachte.

„Gewiß. – Die Gerüchte sind auch bis zu mir gedrungen, Durchlaucht. Ich begreife nur nicht, wie sie überhaupt gleich in so bestimmter Form auftauchen konnten, bevor ich selbst von all den seltsamen Dingen etwas erfahren hatte. Im Schloß war niemand hierüber unterrichtet. Und da geht plötzlich in der Stadt das Gezischel und Getuschel los. Was daran wahr ist, weiß ich nicht.“

„Jedenfalls muß doch irgend jemand von den Schloßbewohnern, vielleicht einer der Diener, Gelegenheit gehabt haben, den Fürsten und Bilawora in dem Tempelzimmer zu beobachten.“ meinte die stattliche Fürstin harmlos. In Gedanken aber setzte sie hinzu: „Du solltest ahnen, wer hinter dieser ganzen Geschichte als treibende Kraft steckt, mein lieber Graf …! Auf fein eingefädelte Intrigen verstehe ich mich doch ein wenig besser als du!“

Hier mußten sie jedoch ihr Gespräch abbrechen, da ein neuer Gang gereicht wurde, und Fürst Borwin den Staatsminister nicht weiter durch allerlei dem alten Herrn höchst unbequeme Fragen über die Möglichkeit einer Urbarmachung der großen Heide belästigte. Auch später kamen sie nicht mehr dazu, diesen Gegenstand während der Tafel mehr zu erörtern. –

Die Stimmung bei Tisch blieb trotz der vorzüglichen Speisen, der edlen Weine und der heiteren Musik eine gedrückte.

Der junge Fürst saß zumeist mit zerstreuter Miene da und starrte gedankenverloren vor sich hin. Man war das anders von ihm ja kaum gewöhnt. Heute fiel seine Geistesabwesenheit und das Verträumte in seinem Blick aber besonders auf. Auch nicht ein einziges Mal verzog er den Mund zu einem Lächeln.

Seine Pflicht, seinen Gästen durch eine Ansprache nochmals für ihre Teilnahme an der Jagd zu danken, erledigte er mit wenigen kühlen Sätzen.

Kein Wunder, daß fast jeder froh war, als gegen drei Uhr nachmittags Fürst Borwin die Tafel aufhob, indem er seine Tante auf die große, vor dem Speisesaal sich entlang erstreckende Terrasse führte, wo an kleinen Tischen der Kaffee eingenommen werden sollte.

Die Fürstin Helene schenkte ihrem Neffen hier eigenhändig die wappengeschmückte Tasse voll.

„Man könnte fast annehmen, lieber Borwin,“ sagte sie dann mit einem absichtlich recht besorgten Blick auf sein schwermütiges Gesicht, „daß dir heute etwas Unangenehmes begegnet ist. Hat dich der Zwischenfall mit dem Keiler etwas mitgenommen?“

Der junge Fürst hatte gerade seine Augen auf die Spitze des schlanken Turmes seines Jagdschlosses gerichtet gehabt und dabei an die Unbekannte gedacht, mit der er heute ein paar selten genußreiche Stunden in anregender Unterhaltung verbracht hatte.

Jetzt senkte er langsam den nach hinten übergebeugten Kopf und erwiderte förmlich:

„Schade, daß es nicht mit zu den Privilegien regierender Fürsten gehört, sich wie andere Sterbliche ihren wechselnden Stimmungen auch hingeben zu dürfen. Anscheinend habe ich die schwere Kunst noch immer nicht gelernt, stets gleichbleibend den äußeren und inneren Einflüssen in keiner Weise Zugänglichen zu spielen.“

Fürstin Helene wußte nicht recht, was sie ihrerseits auf diese von Bitterkeit und Auflehnung gegen jeden Zwang zeugende Bemerkung antworten sollte. Jedenfalls kam es ihr außerordentlich gelegen, daß gerade in diesem Augenblick sich ihrem Tischchen Graf Palwitz näherte, der dann von Borwin einige ergänzende Anweisungen für die Rückkehr nach dem Residenzschloß, die am Abend stattfinden sollte, erbat.

 

4. Kapitel.

Die Villa des Geheimen Kommerzienrates von Sinßberg lag außerhalb der Stadt Haldenburg auf einem Hügel inmitten eines großen, in Terrassen nach den bewaldeten Anhöhen zu ansteigenden, prachtvollen Parkes.

Die Sinßbergschen Farbwerke, die sich nicht weit von dem Heim ihres Besitzers wie eine kleine Stadt mit zahlreichen Gebäuden jeder Größe und hochragenden Essen aus den sie umgebenden Getreidefeldern erhoben, genossen einen Weltruf. Das Vermögen des alten Sinßberg, der nur ein einziges Kind besaß, schätzten Eingeweihte auf zahlreiche Millionen, – man sprach von zwanzig und mehr. Jedenfalls war er der reichste Mann des Fürstentums, dabei ein Wohltäter der Armen und für sich selbst so anspruchslos, daß böse Zungen behaupteten, er sei in Wahrheit eine Geizhals, der die hohen Summen für mildtätige Zwecke nur deswegen spende, um von sich reden zu machen.

Am nächsten Morgen nach der Jagd, zu der Sinßbergs nur deswegen keine Einlagerung erhalten hatten, weil nicht einmal die zwanzigjährige Tochter den Reitsport pflegte und weil die Geheimrätin den Tod ihrer Schwester betrauerte, saßen das Ehepaar und Ena auf der Terrasse der Villa, von wo man einen weiten Blick über die Residenz hatte, beim Frühstück und benutzten wie immer diese Stunde des Beisammenseins, um allerlei Tagesereignisse durchzusprechen.

Soeben sagte der Geheimrat, ein kleiner, etwas unansehnlicher Herr mit grauem Spitzbart, in dessen Gesicht aber doch für jeden Menschenkenner sich deutliche Anzeichen von jener Energie und überragenden Intelligenz zeigten, die zur Leitung einer so umfangreichen Weltfirma gehörten, etwas erregt zu seinen beiden Damen:

„Sogar im Kirchenrat, dem ich leider ebenfalls angehöre, ist gestern über dieses den Fürsten betreffende Gerücht gesprochen worden. Der zweite Domprediger Schellert will aus ganz sicherer Quelle vernommen haben, daß unser junger Landesherr in Indien sich zum Brahmanismus hat bekehren lassen und daß das vielbesprochene Tempelzimmer im Residenzschloß von ihm zu heidnischen Andachtsübungen benutzt wird, ebenso wie dieser angebliche Diener Bilawora nichts anderes als ein brahmanischer Priester sein soll. Ich glaube an diesen Unsinn nicht. Immerhin bleibt es auffallend, daß der Fürst seit seiner Heimkehr so wenig den Dom besucht, während er doch vor seiner Weltreise kaum bei einer Sonntagsandacht fehlte. Unsere braven Haldenburger sind ja nun derartig fromm, daß in allen Kreisen der Bevölkerung bereits eine gewisse Mißstimmung gegen ihn besteht, die auch gestern bei der Sitzung des Gemeindekirchenrates deutlich zum Ausdruck kam. Sehr beliebt ist Fürst Borwin schon als Erbprinz nicht gewesen, vielleicht lediglich deswegen, weil er zu sehr Mensch ist, wofür die blöde Menge kein Verständnis besitzt, die ihren Landesherrn eben ganz nach der alten Schablone der früheren Fürsten sich wünscht – stets liebenswürdig und heiter, lebenslustig, ohne Interesse für die Staatsgeschäfte, auf äußeren Prunk bedacht und kleinen Extravaganzen nicht abgeneigt.“

Ena von Sinßberg, die sich gerade aus dem Korbsessel erhoben hatte, um ihrem Vater die Tasse wieder vollzuschenken, lachte leise auf.

„Der böse Zufall hat eben mal in das Nest des fürstlichen Hauses Haldenburg ein Kuckucksei hineingelegt, aus dem sich dann zum Entsetzen aller Fürst Borwin entwickelte.“

Die Geheimrätin, eine etwas in die Breite gegangene Dame mit rosigem nichtssagenden Gesicht, blickte sich ängstlich um.

„Kind, sprich leise!“ warnte sie, beide Hände mit den funkelnden Ringen wie zur Abwehr erhebend. „Solche Bemerkungen, die wenig respektvoll klingen, können uns sehr schaden, wenn sie zu Ohren des hohen Herrn gelangen.“

Ena nickte der Mutter beruhigend zu.

„Fürst Borwin könnte meine Äußerung höchstens als Schmeichelei auffassen, liebe Mama. Alle Einsichtsvollen stehen ja überhaupt auf seiner Seite. Leider gibt es hier derer nicht viele. So sollen die Herren im Ministerium geradezu entsetzt darüber sein, mit welch’ weitschauenden Plänen der Fürst sie aus ihrer altgewohnten Beschaulichkeit, um nicht zu sagen Faulheit, wachrüttelt. Ohne Erfolg will Exzellenz von Bompard ihm klarmachen, daß zum Beispiel einem Urbarmachung der großen Heide ganz unmöglich ist, weil dann … keine Jagden mehr geritten werden können. Und das wäre doch ein Ausfall einer altgewohnten Zerstreuung, die durch den Gewinn von ein paar Quadratkilometer Ackerboden nach Ansicht der eingerosteten Hirne der Herren Hofschranzen nicht aufgewogen werden könnte.“

Ena, die bereits mit dem Frühstück fertig war, hatte sich mit beiden Händen leicht auf die Rückenlehne ihres Korbsessels gestützt und stand so etwa in der Haltung einer Volksrednerin da. Sie war ein wenig über Mittelgröße, besaß eine regelmäßige, volle Gestalt und ein Gesicht, das durch einen etwas überlegen spöttischen Ausdruck sofort auffiel. Gerade dieser hervorstechende Zug in ihrem Antlitz war es, der zusammen mit dem kühnen, kritischen Blick ihrer von langen Wimpern beschatteten, grauen Augen ihrer Erscheinung etwas Herbes, fast Kaltes gab, obwohl der Mund mit den vollen, leuchtend roten Lippen und ein ständiges Vibrieren der feinen Nasenflügel verrieten, daß in ihrer Brust ein den höchsten Lebensfreuden keineswegs abgeneigtes Herz schlug.

Die Geheimrätin schüttelte entsetzt den Kopf.

„Ena – Ena! – Hofschranzen – eingerostete Hirne …!! Was sind das für Ausdrücke!!“

„Vielleicht etwas kräftige, aber, was das „eingerostet“ anbetrifft, durchaus zutreffend. Papa wird mir recht geben, in der Verwaltung des Fürstentums herrschten seit jeher ein Schlendrian und eine Gleichgültigkeit gegenüber allen Anforderungen an eine vernünftige Ausnutzung der vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten, die schon beinah haarsträubend waren. Fürst Borwin ist offenbar auf seiner Weltreise bemüht gewesen, überall die Augen gut offen zu halten. Er hat erkannt, was hier bei uns alles im argen liegt, und will nun schleunigst sein schlafendes Ländchen zu neuem Leben erwecken, wodurch sich so verschiedene Herren jetzt erst bewußt werden, wie wenig sie sich noch für ihre Posten eignen, allen voran unser klappriger Herr Staatsminister von Bompard.“

Ena hätte wahrscheinlich ihrem Herzen noch mehr Luft gemacht, wenn nicht der Diener in demselben Augenblick erschienen wäre und gemeldet hätte, daß seine Durchlaucht Prinz Arnold soeben telephonisch anfragen lasse, ob das gnädige Fräulein sich heute vormittag an einer Tennispartie beteiligen wolle.

Bevor Ena noch etwas erwidern konnte, sagte die Geheimrätin schon eifrig:

„Aber selbstverständlich – selbstverständlich! Meine Tochter wird es sich zur Ehre anrechnen und pünktlich erscheinen.“

Ena und der Kommerzienrat tauschten einen schnellen, lächelnden Blick. Sie kannten die Schwäche der guten Mama für möglichst rege Beziehungen zum Hofe ja zur Genüge. – –

Eine Stunde später brachte das Sinßbergsche Auto Ena nach dem Residenzschloß. Dieses war ein mächtiger, Jahrhunderte alter Steinkasten von etwas verworrener Architektur. Hatten doch die verschiedenen Fürsten von Haldenburg der ursprünglichen Ritterburg je nach eigenem Geschmack hier und da einen neuen Flügel, einen Turm oder dergleichen hinzugefügt. Trotzdem wirkte der riesige, weitläufige Bau, der auf einem Bergrücken außerhalb der Stadt lag und noch auf der Vorderseite von Wall und Graben umgeben war, durchaus nicht unschön, zumal ehrwürdige Eichen und Linden ringsum in kleinen Gruppen sich vor den verwitterten Mauern hochreckten. Hinter der Rückfront des Schlosses zog sich ein selten geschmackvoll angelegter Park in das Tal hinab. Und hier war es, wo sich auf einem der beiden Tennisplätze Prinz Arnulf mit seiner Schwester, ferner Ena von Sinßberg und der erste Stallmeister des Fürsten, Herr von Perland, zusammenfanden.

Der Prinz hatte Ena bereits an der altertümlichen Zugbrücke, von der eine breite Auffahrt zum Schloßportal führte, erwartet.

Sie waren Jugendgespielen, da der Kommerzienrat Sinßberg auch ohne den ihm erst später verliehenen Adel schon damals von den Hofkreisen als der reichste Mann des Fürstentums sehr geschätzt und verwöhnt wurde, und besonders die Kinder des inzwischen verstorbenen wenig begüterten Fürsten von Haldenburg-Ortringen gern die verschiedenen Vorteile eines Verkehrs im Sinßbergschen Hause genossen hatten. Später war jedoch in diesen Beziehungen eine merkliche Abkühlung eingetreten, weil dem Herrn Kommerzienrat von Sinßberg dieser Luxus eines so erlauchten Umgangs mit der Zeit infolge der ständig größer werdenden Anleihen der Fürstin Helene an seine Kasse doch zu teuer wurde und die erste abschlägige Antwort auf eine erneute Bitte um eine „kleine Gefälligkeit“ einen plötzlichen Abbruch des so regen Verkehrs zur Folge hatte, worüber die ehrgeizige Kommerzienrätin sich längere Zeit gar nicht zu trösten vermochte.

Prinz Arnulf spielte heute auffallend schlecht. Er, der sonst kaum einen Ball verfehlte, machte seiner Partnerin Ena in diesem Doppel nicht wenig Mühe zu verhüten, daß sie von Prinzessin Maria und Herrn von Perland geschlagen wurden. Man merkte, daß er nicht bei der Sache war. Und tatsächlich erklärte er denn auch schon nach einer halben Stunde, er fühle sich körperlich nicht frisch genug, um das Spiel fortzusetzen. Seine angegriffene Lunge, derentwegen er auch den langen Urlaub bewilligt erhalten hatte, mache sich wieder einmal recht unliebsam bemerkbar. –

Freilich, sein blühend frisches Aussehen strafte diese Behauptung Lügen. Und Ena von Sinßberg, die so leicht nicht zu täuschen war, glaubte denn auch nicht recht an dieses körperliche Mißbehagen, argwöhnte vielmehr, daß Arnulf die Tennispartie nur verabredet habe, um sie aus irgend einem Grunde sprechen zu können. In dieser Vermutung wurde sie dann noch bestärkt, als der Prinz jetzt einen Spaziergang durch den Park vorschlug, wobei er es sehr geschickt verstand, sich mit ihr abzusondern.

Kein Wunder, daß Ena unter diesen Umständen sehr genau auf das Benehmen des Prinzen ihr gegenüber achtete. Sie wollte um jeden Preis feststellen, welche Zwecke er mit diesem Zusammensein im Auge hatte. Bald fühlte sie denn auch deutlich, wie er in ihre Unterhaltung einen wärmeren, vertrauteren Ton hineinzubringen suchte.

„In den letzten Jahren sind wir uns eigentlich recht fremd geworden, gnädiges Fräulein,“ sagte er, als sie auf einem Aussichtspunkt standen, von dem aus man einen weiten Fernblick bis hinüber zu den Sinßbergschen Werken mit ihrem riesigen Gebäudekomplex hatte. „Ihre Eltern haben sich bei Hofe wenig sehen lassen. Auch gestern bei der Jagd wurden Sinßbergs sehr vermißt. Graf Gallwitz sagte mir, Sie hätten Familientrauer.“

„Das ist richtig, Durchlaucht. Eigentlich sind wir vier Jahre lang nicht aus der Trauer herausgekommen. Zwei Brüder meines Vaters, meine Großmutter und eine Tante mütterlicherseits sind inzwischen dahingegangen.“

„Ich hörte davon. Gestatten Sie, daß ich Ihnen noch nachträglich mein herzliches Beileid ausspreche. – Jedenfalls ist es doch sehr bedauerlich, daß wir, die wir in der Jugend harmlos frohen Tagen uns so nahe standen, durch allerlei Umstände, an denen wir selbst nicht die Schuld tragen, uns gegenseitig entfremdet sind. Mir erscheint es wirklich immer etwas sehr lächerlich, wenn ich Sie jetzt stets so hochoffiziell mit „gnädiges Fräulein“ anrede, wo wir doch früher – na, es können acht bis neun Jahre her sein – das freundschaftliche „du“ gebrauchten.“

„Elf Jahren sind’s, Durchlaucht. Ich besinne mich genau. Zum letzten Mal waren wir als Jugendgespielen, die sich meist recht tüchtig zankten, auf dem Kinderfest zusammen, das meine Eltern veranstaltet hatten, um meinen Geburtstage recht feierlich zu begehen.“

„Ah – das stimmt. – Wirklich, jetzt besinne ich mich auch darauf. – Aber – wollen Sie mir nicht einen Gefallen tun? – Lassen Sie doch das förmliche, kalte „Durchlaucht“ und reden Sie mich irgendwie anders an. Ich bitte Sie herzlich darum. Auch Maria sagte mir heute Morgen, daß sie dafür sorgen wolle, unsere Beziehungen wieder enger zu gestalten. Sie wagt es Ihnen gegenüber als der etwas älteren wohl nur nicht, Sie wieder um das vertraulichere „du“ zu bitten.“

Ena von Sinßberg, die am Geländer des vorspringenden und jäh abfallenden Aussichtspunktes lehnte, schaute Arnulf von Ortringen mit ihren ernsten, kühlen Augen jetzt so forschend an, daß er den Blick leicht verwirrt zu Boden schlug.

Und wie sie ihn so seit langer Zeit zum ersten Male wieder genauer musterte, fielen ihr jene Monate wieder ein, wo sie als damals zwölfjähriges Mädchen nach dem plötzlichen Abbruch des Verkehrs mit den beiden Ortringenschen Altersgenossen recht schwer gerade unter der Trennung von dem Prinzen gelitten und heimlich manche Träne seinetwegen vergossen hatte. Gewiß – sie hatte mit Arnulf damals zumeist in harmlosem Unfrieden gelebt. Aber ihre Kinderherzen standen sich trotzdem nahe, und sie besann sich jetzt auf so manchen Zwischenfall, bei dem der junge Prinz in ritterlichster Weise wie ein echter Kavalier für sie eingetreten war.

Unwillkürlich lächelte sie jetzt gedankenverloren vor sich hin – über ihre eigenen törichten Träume, denen sie noch als Backfisch nur zu gern auf Grund der einstigen Freundschaft mit dem Sprossen des fürstlichen Hauses Ortringen nachgehangen hatte. Ihr Blick ruhte dabei noch immer auf seinem frischen, hübschen Gesicht, dem aber doch bereits in den Augenwinkeln die feinen Fältchen einer etwas stürmischen Junggesellenzeit eingegraben waren.

Gerade dieses versonnene Lächeln nahm ihrem Antlitz all das Herbe, Verschlossene und Strenge, das sich für gewöhnlich darin ausprägte. Und Prinz Arnulf, der soeben aufschaute, stellte zu seiner Überraschung fest, daß jetzt eine ganz andere Ena von Sinßberg ihm gegenüberstand, – nicht die, die er auf einen kühl berechnenden, von dem kaufmännischen Geist ihres Vater erfüllten Charakter eingeschätzt hatte, – nein, ein junges Weib mit selten lockenden, frischen Lippen und einem träumerisch weichen Blick, in dem es wie stilles Sehnen lag.

„Worüber lächeln Sie, Fräulein Ena …?“ sagte er ganz leise, um zu verhüten, daß nicht wieder jener andere, erkältende Zug in ihr Gesicht zurückkehrte.

Und wie er jetzt seine Stimme so sehr gedämpft hatte, daß daraus das Kurze, Herrische vollständig verdrängt war, da machte Ena eine sie seltsam beglückende Entdeckung, daß diese Stimme in der Klangfarbe sich zwar gegen früher geändert hatte, daß es aber doch noch die des ritterlichen, wenn auch etwas streitsüchtigen Knaben von einst war, dem Ena wie einer verlorenen Liebe lange, lange nachgetraut hatte.

Das Lächeln wurde noch versonnener, ihr Blick noch mehr nach innen gerichtet, noch tiefer und fast schwärmerisch.

„Mein Lächeln gilt gemeinsamen Kindheitserinnerungen, Prinz,“ erwiderte sie ebenfalls mit halblauter Stimme. „Es waren doch schöne Jahre, die wir zusammen verlebt haben. Wissen Sie noch, wie wir immer unseren jetzigen Landesherrn, Ihren Vetter Fürst Borwin, bedauerten, der stets nur hübsch sittsam in Gesellschaft seines Erziehers spazieren gehen durfte, wenn wir in froher Ungebundenheit umhertollten. Wie mag er uns beneidet haben …!“ –

Der Zauber der Jugenderinnerungen war’s, der die beiden Menschen, die länger als ein Jahrzehnt sich kaum umeinander gekümmert hatten, und so gut wie achtlos aneinander vorüber gegangen waren, mit seinen zarten Fäden umspann – immer fester, immer enger; der manch’ frohes, zwangloses Lachen über ihre Lippen lockte und manch’ übermütiges Scherzwort; der schließlich den Prinzen sagen ließ, ohne daß er noch daran dachte, daß diese Begegnung doch eigentlich nur auf Wunsch seiner Mutter zustande gekommen war:

„Mir ist’s, als hätten sich zwei Verirrte heute wiedergefunden, Fräulein Ena.“

Sie nickte nur zerstreut und ließ es ruhig geschehen, daß er sich über ihre Hand beugte und einen langen Kuß auf die leicht nach einem unaufdringlichen Wohlgeruch duftende Haut drückte … Kein Handkuß war’s wie sonst, kein bloßes tiefes Sichniederbeugen über die Rechte einer Dame, der man respektvoll huldigen will, – nein, es war ein Mehr darin, es war das Wiederaufnehmen alter, vertrauter Beziehungen zwischen zwei inzwischen ausgereiften Menschen.

Und als Ena von Sinßberg dann nachher in dem eleganten Auto heimwärts fuhr, hatte sie den Kopf tief gesenkt, achtete auf nichts, was um sie her vorging. Das verträumte Lächeln war geblieben, lag noch immer um ihrem schön gezeichneten Mund, dessen Lippen frischer blühten denn je. Einem seltsamen Rätsel ging sie mit ihren aufgescheuchten Gedanken nach. Und dieses Rätsel hatte ihr erst der heutige Vormittag, erst die mit Prinz Ortringen verplauderte Stunde aufgegeben …

 

5. Kapitel.

Vier Tage waren seit jener festlichen Jagd, bei der Fürst Borwin bewiesen hatte, daß auch ein stiller Träumer im entscheidenden Augenblick zum tatkräftigen Manne werden kann, anscheinend ohne besondere Ereignisse für die braven Haldenburger ins Land gegangen.

Anscheinend …

Aber die Residenzstadt glich in Wahrheit einem Weiher, unter dessen friedlicher, von Wasserpflanzen bedeckter Oberfläche die Bewohner, für die Außenwelt unsichtbar, sich in stets zunehmender Aufregung befinden, vielleicht infolge des plötzlichen Auftauchens eines riesigen Hechtes, der all die harmlosen Fischlein aus ihrer Ruhe aufgescheucht hat.

Das Gerücht, Fürst Borwin sei ein Heide geworden und verehre in dem geheimnisvollen Tempelzimmer allerlei Götzenbilder, nahm immer bestimmtere Formen an. Woher diese ergänzenden, ins einzelne gehenden Alarmnachrichten stammten, vermochte niemand zu sagen. Jedenfalls hieß es, einer der fürstlichen Diener habe durch das Schlüsselloch beobachtet, daß der junge Landesherr täglich, angetan mit phantastischen Gewändern und eingehüllt von Weihrauchwolken, den Gott Brahma zu mitternächtlicher Stunde anbete und daß diese heidnischen Andachtsübungen von dem angeblichen Diener Bilawora geleitet würden, den der Fürst dann stets mit einer Unterwürfigkeit wie einem hoch über ihm Stehenden begegne.

Hiermit nicht genug, wurde auch das sonstige Tun und Lassen Borwins III. zum Gegenstand von allerlei kritischen Erörterungen infolge von Ausstreuungen gemacht, deren tatsächlichen Hintergrund nur wenige nachzuprüfen imstande waren.

So erzählte man sich, der Fürst beabsichtige eine Abholzung der weiten Wälder Haldenburgs nur zu dem Zweck, um die Staatskasse mit Geld zu füllen und Prachtbauten nach dem Beispiel des unglücklichen, später in geistige Umnachtung verfallenden Königs Ludwig II. von Bayern ausführen zu können. Weiter solle er sich mit der Absicht tragen, die große Heide nördlich der Residenz an ein paar Berliner Spekulanten zu verkaufen, die dieses beliebte Ausflugsziel der Haldenburger zur Anlage von ertragreichen Rieselfeldern ausnutzen wollten.

Schließlich wollte die Fama wissen, daß der junge Landesherr, dessen einjährige Abwesenheit in fremden Erdteilen ihm von seinen Untertanen schon als höchst überflüssig und für einen Fürsten wenig angebracht, schwer verdacht worden war, sich mit einer bürgerlichen Dame morganatisch[2] zu vermählen gedenke, mit der er sich täglich vormittags bei dem Aufsichtsturm in der Heide treffe.

Kurz – an allen Stammtischen, in allen Familien, Bureaus, Kaffeehäusern, ja selbst während der Pausen der Aufführungen im Residenztheater war Borwin III. fast ausschließlich das allgemeine Gesprächsthema. Dieses „Haben Sie schon gehört …“, mit dem einer dem anderen die betrüblichen Neuigkeiten beibrachte, verbreitete sich wie eine böse Seuche bis in die untersten Schichten des Volkes hinab. Hier und da stattete dieser oder jener die umherschwirrenden Gerüchte noch mit allerlei Zutaten ureigenster Erfindung aus. Von Mund zu Mund gingen die abenteuerlichsten Dinge. Aber stets alles unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit.

Der, dessen Person dergestalt zum Mittelpunkt heimlichen Geschwätzes geworden war, ahnte nichts von diesen ersten Anzeichen eines wider ihn sich zusammenballenden Unwetters.

Tatsache war ja, daß Fürst Borwin jetzt die anhaltend schöne Witterung am Vormittag zu regelmäßigen Spazierritten ausnutzte, bei denen er sich nur von einem einzigen Reitknecht begleiten ließ, auf dessen Verschwiegenheit er rechnen zu können meinte. Aber dieser Reitknecht war ein guter Freund des geschmeidigen und klugen Herrn Francois, des Vertrauten der Fürstin Ortringen, und ließ nur zu leicht alles aus sich herauslocken, was man nur wissen wollte.

Fürstin Helene hatte jedenfalls diese vier Tage seit der großen Jagd aufs beste auszunutzen verstanden, hatte ihren Neffen mit Spionen förmlich umgeben und ließ jeden seiner Schritte sorgfältig beobachten. Ohne daß ihre Person im geringsten dabei beteiligt schien, schürte sie das glimmende Feuer immer mehr. – –

Am fünften Vormittag nach der ersten diesjährigen Sauhatz verließ Fürst Borwin wie immer in den letzten Tagen gegen zehn Uhr zu Pferde das Schloß, durchritt, gefolgt von dem Reitknecht Karl Lüttgen, den Park und lenkte dann in einen einsamen Waldweg ein, der in großem Bogen nach der Heide hinführte.

Der junge Fürst war tief in Gedanken.

In der verflossenen Nacht hatte er nur wenig Schlaf gefunden. Seiner grüblerischen Natur und seinem Charakter entsprechend, der mit den eigenen Schwächen streng ins Gericht ging und alle Dinge bitter ernst nahm, hatte er sich mit der ihn nicht wenig beunruhigenden Frage beschäftigt, wohin diese freundschaftlichen Beziehungen führen sollten, die er mit einer ihn so stark fesselnden Unbekannten angeknüpft hatte.

In dieser Nacht war er sich darüber klar geworden, daß er höchst unbedacht ein für ihn recht gefährliches Spiel mit diesen täglichen Begegnungen mit der geistvollen, freimütigen Malerin getrieben hatte. Er mußte eingesehen, wie sehr sein Herz schon jetzt an dem frischen, eigenartigen jungen Weibe hing, von dem er noch nicht einmal den Namen kannte.

Fürst Borwin hatte bisher der Weiblichkeit gegenüber eine Zurückhaltung gezeigt, die weniger auf einem Mangel an Temperament als vielmehr auf dem Wunsch beruhte, auch in dieser Beziehung seinen Landeskindern ein gutes Vorbild zu geben und eine volle, durch nichts beeinträchtigte Liebesfähigkeit derjenigen entgegenbringen zu können, die er sich zur Lebensgefährtin erwählen würde. Daß bei dieser Wahl lediglich das Herz mitsprechen sollte, hatte er längst beschlossen. Deshalb war er bis jetzt auch trotz der eindringlichen Vorstellungen des Staatsministers von Bompard, der es mehr wie einmal für seine Pflicht erachtet hatte, seinen jungen Herrn auf die im Staatsinteresse notwendige Eingehung einer Ehe zwecks Sicherung der Thronfolge hinzuweisen, nicht dazu zu bewegen gewesen, um eine der ihm in Vorschlag gebrachten ebenbürtigen Prinzessinnen zu werben. Auch in dieser Beziehung war er völlig aus der Art geschlagen. Seine Vorgänger auf dem Haldenburgschen Thron hatten das Herz nie befragt, sobald die Staatsraison eine alsbaldige Eheschließung verlangte. Fürst Borwin hätte sich zu einer solchen Verstandesheirat nie verstehen können. Als ihm das Drängen seiner Räte zu viel wurde, hatte er kurz entschlossen die Weltreise angetreten, indem er in Übereinstimmung mit den Hausgesetzen für die Zeit seiner Abwesenheit in Ermangelung anderer in Betracht kommender Verwandter seine Tante Ortringen zur Regentin einsetzen ließ.

Und nun war ihm – ja, er konnte es nur so nennen – das Unglück widerfahren, einem jungen Weibe zu begegnen, zu dem er sich vom ersten Augenblick an seltsam hingezogen fühlte. Wie mit unwiderstehlicher Gewalt hatte es ihn an jedem Vormittag wieder nach dem Aussichtsturm gelockt. Und stets hatte er in jeder neuen Stunde, die er mit seinem ebenso geistvollen wie munteren „Mädchen aus der Fremde“ verplauderte, neue Vorzüge an ihr entdeckt. Wenn er sie dann wieder verließ, wenn er wieder Fürst Borwin III. wurde, den er in ihrer Gegenwart möglichst abstreifte, ja zu vergessen suchte, dann erschien doch nur zu oft ihr eigenartig reizvolles Gesicht mit den mandelförmigen, braunen Augen und dem vielleicht ein wenig zu großen, aber doch einer taufrischen, roten Rose vergleichbaren Munde wie eine beglückende Fata Morgana vor ihm, dann glaubte er immer wieder den weichen Klang ihrer Stimme zu hören und jenes leise, feine Lachen, das ihm so melodisch noch bei keiner Frau begegnet war.

Und während er jetzt ungeduldig seinem Pferd abermals die Sporen gab, um schneller ans Ziel zu gelangen, stellte er sich immer aufs neue die Frage, die nur sie allein ihm beantworten konnte …

Wer war dieses junge Weib …? War’s eine Künstlerin, eine Malerin? – Oder – arbeitete sie nur zum Zeitvertreib mit solchem Eifer an dem Landschaftsbild, das weit über eine dilettantische Durchschnittsleistung hinausragte …?! – Heute wollte er sich um jeden Preis Klarheit verschaffen. Er mußte wissen, wer sie war, sie mußte ihm Aufschluß über ihre Person geben. Aber – würde sie dann nicht auch von ihm dasselbe fordern …?! Und – würde nicht in derselben Minute der ganze romantische Reiz dieser heimlichen Zusammenkünfte dahin sein, wenn sie erfuhr, wen sie vor sich hatte …?! – Trotzdem – seine Seelenruhe verlangte eine solche Aussprache. Zu sehr hatte sie schon von seinem Herzen Besitz ergriffen, so heiß brannte bereits die Sehnsucht in ihm, wenn er ihr fern war … Darüber, was aus dieser aufkeimenden Liebe werden sollte, machte er sich keine Gedanken. Er wollte zunächst dieses harmlose Glück weiter genießen, bis … bis …

Und dieses „bis“ war die unüberwindliche Schranke, vor der sein Denken stets haltmachte.

In einem kleinen Gehölz sprang er wie immer in den letzten Tagen vom Pferd, warf dem Reitknecht die Zügel zu und eilte zu Fuß weiter. –

Sie saß oben auf der Plattform des Turmes vor ihrer Staffelei. Als sie seine Schritte auf der Treppe hörte, stand sie langsam auf, legte Pinsel und Palette beiseite und rieb sich schnell noch einen Farbklecks von dem linken Handrücken weg.

Doch die Begrüßung war dann so anders als sonst. Das Lächeln und das heitere „Guten Morgen, mein Herr Ritter“ blieben aus. Wie eine Wolke schwermütigen Ernstes lag es über ihrem Antlitz.

Das machte ihn verwirrt. Zögernd reichte er ihr die Hand zum Gruß hin.

„Sie scheinen verstimmt, liebe Unbekannte,“ meinte er forschend und behielt ihre lebenswarmen Finger in den seinen. „Ich kenne Sie kaum wieder. Wo ist denn der Frohsinn geblieben, wo die Schelmerei, die Ihr Herr Ritter so sehr liebte …?!“

Aber sie ging auf seinen scherzenden Ton nicht ein. Und das erste Wort, das sie heute sprach, belehrte ihn, daß er es nicht mehr nötig hatte ihr zu sagen, wie er hieß, wer er war.

„Durchlaucht, seit gestern Nachmittag weiß ich, wem ich …“

Er ließ sie nicht aussprechen. Sie hatte ihm ihre Hand sofort wieder entzogen. In ihrer ganzen Haltung, ihrer Sprache und dem Ausdruck ihres Gesichts trat unmerklich etwas wie ehrfurchtsvolle Scheu vor dem Inhaber des Fürstenthrones von Haldenburg hervor. Das war nicht das Mädchen aus der Fremde, dem Borwins sehnsüchtige Gedanken gehört hatten, – das war eine ihm Fremde … –

Aber das durfte nicht sein, nein – nie und nimmermehr …!

Mit bittendem Blick streckte er ihr jetzt beide Hände entgegen.

„Liebe Freundin – Sie gestatten doch, daß ich Sie so nenne, nicht wahr?! – Entschuldigen Sie vielmals, wenn ich Ihnen eben so unhöflich ins Wort fiel. Aber – für Sie will ich Ihr Herr Ritter bleiben, will ich nicht Durchlaucht sein …! Ihr schelmisches Lachen will ich wieder hören, Ihre vertrauliche Zwanglosigkeit wieder sehen …! Vergessen Sie, wer ich bin … Lassen Sie mich weiter irgend ein gewöhnlicher Sterblicher sein, mit dem es sich leidlich gut plaudern läßt.“

Aber sie schüttelte nur traurig den Kopf, trat einen Schritt zurück und sagte leise:

„Das heißt Unmögliches verlangen …! Wie soll ich je wieder vergessen, daß ich den Fürsten von Haldenburg vor mir habe …?! – Ein reiner Zufall war’s, der mich gestern Nachmittag eine in einer Buchhandlung ausgestellte Photographie Ew. Durchlaucht in Hellgenheim bemerken ließ. Bis dahin hatte ich tatsächlich nur vermutet, einen der Herren vom Hofstaat Ew. Durchlaucht auf diese eigenartige Weise etwas näher kennen gelernt zu haben.“

Borwins so bittend ihr hingereichten Hände sanken langsam herab. Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund.

„Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte er mit einem Seufzer stillen Verzichtens auf die sonnige Romantik, die über ihrer Bekanntschaft geschwebt hatte.

„Ich heiße Margot Werter; mein Vater ist Geheimer Sanitätsrat in Berlin. Zur Zeit wohnen wir in Hellgenheim, wo meine Eltern eine Brunnenkur machen.“

Sie schaute zu Boden, als sie dies wie ein auswendig gelerntes Sprüchlein vor sich hinsagte.

„Margot Werter …“, wiederholte Fürst Borwin leise. „Margot Werter … Den Namen werde ich so bald nicht vergessen …“

Er blickte ihr, als nehme er Abschied von diesen ihm teuer gewordenen Zügen, in das jetzt von einer dunklen Röte übergossene Antlitz.

So schwiegen sie eine ganze Weile. Er sah die holde Verwirrung auf ihrem Gesicht, sah das nervöse Spiel ihrer schlanken, schönen Hände, die leicht bebend an der langen, dünnen Goldkette ihrer Uhr hin und her fuhren, sah auch das Zucken um ihren Mund wie von mühsam zurückgedrängten Tränen. All das deutete er sich auf seine Art … Und ein heißes Glücksgefühl strömte ihm zum Herzen … –

Brauchte er denn noch weitere Beweise, daß auch er ihr nicht ganz gleichgültig war, daß auch sie unter der Kenntnis litt, ihre seltsame Freundschaft müsse nunmehr ein Ende haben …?!

Da schlug sie die braunen, heute so traurigen Augen zu ihm auf. Und hastig, als wolle sie dieses Beisammensein möglichst schnell beenden, sagte sie jetzt:

„Ich wäre auch nicht wieder hierher gekommen, wenn ich mich nicht für verpflichtet gefühlt hätte, Ew. Durchlaucht auf Grund unserer Bekanntschaft eine Warnung zugehen zu lassen. Aus unseren Gesprächen habe ich heraus gemerkt, daß Ew. Durchlaucht über allerlei dunkle Gerüchte, die in Haldenburg von Mund zu Mund gehen und die fraglos zu bestimmen Zwecken ausgestreut wurden, in keiner Weise unterrichtet sind. Mein Vater hat zu einigen angesehenen Bürgern der Residenz Ew. Durchlaucht nahe Beziehungen. Auf diese Weise erhielt er Kenntnis von dem Treiben jener dem Hofe wohl nicht ganz fernstehenden Personen, die … Ew. Durchlaucht die Liebe und Achtung der Haldenburger zu entziehen suchen.“

Sie hatte sich schnell in eine gewisse Erregung hineingesprochen, und ganz unbewußt war sie wieder das freimütige, ungeschminkt ihre Meidung äußernde „Mädchen aus der Ferne“ geworden, das er so sehr geschätzt und nach dem er sich noch mehr gesehnt hatte.

Ihre Worte freilich blieben ihm zunächst unverständlich.

„Warnen wollten Sie mich …?! – Ja, um was handelt es sich denn eigentlich?“ fragte er, ungläubig den Kopf schüttelnd.

Sie hielt mit dem, was sie zufällig erfahren hatte, nicht zurück. Und sie hatte von ihrem Vater so ziemlich alles gehört, was an Gerüchten in der kleinen Residenz wie eine gefährliche Massenbeeinflußung sich weiter und weiter ausbreitete.

Je länger sie sprach, desto mehr vertieften sich die Falten auf seiner Stirn, desto fester preßten sich seine Lippen zusammen. In seinen Augen glimmte ein Funke auf, der nichts Gutes verhieß. Seine Gestalt schien zu wachsen. Das, was er hier vernahm, konnte ihn ja nicht wie einen Schuldigen ängstlich niederdrücken.

„Ich wollte nicht, daß der Mann, den ich hier auf diesem Turm hoch über den Kleinigkeiten des Alltagslebens in mancher tiefgründigen Unterhaltung als aufrichtigen, edlen und sicher nur das Beste erstrebenden Charakter kennen gelernt habe, durch allerlei Ränke in ein falsches Licht gerückt wird,“ schloß Margot Werter jetzt die Eröffnungen. „Ew. Durchlaucht sollen nicht verkannt werden, sollen Gelegenheit haben, sofort gegen dieses Intrigenspiel energisch aufzutreten. Das glaube ich unserer kurzen Freundschaft schuldig zu sein. – Und nun gestatten Ew. Durchlaucht, daß ich mich verabschiede. Ich wünsche, daß es …“

Abermals fiel er ihr ins Wort. Und jetzt übersah sie seine ihr dankbar entgegengestreckten Hände nicht wie vorhin.

Und er preßte diese warmen Finger zwischen den seinen, als wolle er sie zerdrücken. Aus seinem Gesicht war das düster Entschlossene bereits wieder verschwunden. Aus seinen Augen strahlte ihr innige Dankbarkeit und ein stummes Flehen entgegen.

„Margot, meine liebe Freundin, – jetzt – jetzt werden Sie in meinem Leben, in meiner Erinnerung dauernd einen besonderen Platz einnehmen,“ sagte er mit einem glücklichen Lächeln. „Ich stehe unendlich tief in Ihrer Schuld. – Wer hätte sonst wohl gewagt, so offen mit mir zu reden …?! Wer …?! – Ahnungslos hätte ich diesen dunklen Machenschaften gegenübergestanden, völlig ahnungslos wäre ich geblieben, bis … es vielleicht zu spät gewesen wäre, meinen braven Haldenburgern die Augen zu öffnen.“

Unter seinen heißen, werbenden Blicken und bei dem warmen, herzlichen Ton seiner Stimme lief es jetzt wie ein Beben über ihre Gestalt hin.

Noch immer standen sie, sich an den Händen haltend, da.

Dann riß sie sich förmlich los, huschte an ihm vorüber auf ihre Malgerätschaften zu und packte alles hastig zusammen.

Hatte er sich geirrt …?! Oder – waren es wirklich zwei Tränen gewesen, die in ihren Augen geglänzt hatten …?! –

Regungslos lehnte er jetzt an der Brüstung, ihr den Rücken zukehrend, und schaute in die Tiefe hinab – hinab auf die gelbgrüne Heide, auf die dunkleren Flecken zwischen den Büschen und einzelnen Bäumen, wo man früher einmal in dem stellenweise moorigen Boden nach Torf gegraben hatte und wo schwarze Löcher mit steilen Rändern und blinkenden Wasserlachen zurückgeblieben waren.

Das Herz war ihm so trostlos schwer. Und – auch unzufrieden war er mit sich … Hin und wieder zuckten seine Lippen in Bitterkeit … Warum hatte er vergessen, daß er als Träger einer Krone nicht frei war in seinem Tun und Lassen wie andere Menschen, daß er Rücksichten zu nehmen hatte und diese Rücksichten ihn wie Fesseln drückten …!

Seine Augen ruhten weltverloren auf der Landschaft unter ihm … Und doch wurde er sich erst ganz allmählich bewußt, daß drei von der Pflanzendecke der Heide sich scharf abzeichnende Reiter einen schmalen Pfad entlang getrabt kamen, der gerade auf den Aussichtsturm zulief.

Dann zwang er sein Denken in eine andere Richtung.

Zwei Damen waren’s, von denen die eine einen Apfelschimmel ritt, und ihr Begleiter einen hochbeinigen Braunen. Also ohne Zweifel seine Tante Ortringen mit der Prinzessin Maria und der erste Stallmeister von Perland.

Ein unbestimmter Verdacht, daß die drei nicht ganz zufällig zu dieser Stunde auf den Turm zuhielten, zog in Borwin auf. Nun – wenn die Fürstin Helene vielleicht gehofft hatte, ihn hier mit seinem trauten Mädchen aus der Fremde überraschen zu können, so sollte sie sich getäuscht haben.

Ein Blick nach Margot hin belehrte ihn, daß sie sich inzwischen aufbruchbereit gemacht hatte. Mit einem kurzen „gestatten Sie bitte“ nahm er ihr ohne weiteres ihre Sachen ab und fuhr dann fort:

„Lassen Sie uns gehen, liebe Freundin – in Ihrem Interesse! Dort von Osten her nähern sich ein paar Reiter, die Sie nicht bemerken sollen.“

Wenige Minuten später hatten sie schon, stets gedeckt durch Buschstreifen und kleine Senkungen, eine entferntere Stelle des die Heide durchschneidenden Weges erreicht.

Hier machte Borwin in einer Anpflanzung junger Buchen halt.

Nun hieß es Abschied nehmen – wahrscheinlich für immer.

Wieder hielt er ihre Hand in der seinen.

„Leben Sie wohl, Margot Werter …!“ – Er fühlte, daß seine Worte kalt und förmlich klangen. Aber was sein Herz ihm zuflüsterte, mußte er fest in seinem Innern verschlossen halten …

Seiner Zunge konnte er freilich gebieten. Aber seine Augen redeten doch eine andere Sprache. Und ihre Blicke forschten in diesen Augen, bis sich ein wehes Lächeln um ihren Mund eingrub, ein Lächeln, das gleichzeitig dieser schweren Minute des Auseinandergehens und der frohen Überzeugung galt, daß seine Augen diese kühlen Worte Lügen straften …

„Leben Sie wohl,“ sagte sie ganz leise.

Dann wandte sie den Kopf zur Seite, suchte ihre Hand von der seinen frei zu machen. – Nur ihn nicht länger anschauen – nur flüchten – weit, weit fort – und vergessen – alles – alles, den ganzen Zauber dieser wenigen Tage, an denen sie abends stets mit pochendem Herzen gedacht hatte: „Wird er auch morgen dich wieder zu finden wissen …?“

Da drang’s an ihr Ohr, so flehend, so weich – nur ein einziges Wort …:

„Margot …“

Ein Schluchzen würgte ihr in der Kehle. Aber sie blieb stark, riß sich los und eilte zwischen den dichten Stämmen der Buchen hindurch der nahen Straße zu. Und rauschend schloß sich das grüne Laub hinter ihr wie ein neidischer Vorhang.

Fürst Borwin starrte noch immer dorthin, wo er ihr weißes Leinenkleid zuletzt hatte aufschimmern sehen. Dann nahm er mechanisch den weichen Filzhut ab, fuhr sich mit der Hand über die Stirn hin.

Es mußte sein …!

Seine Gestalt straffte sich, in sein Gesicht kam ein neuer Ausdruck hinein – etwas wie selbstbewußte Härte und drohende Unbeugsamkeit.

Er wollte vergessen …! Und vielleicht würde ihm die Arbeit Vergessen bringen, die Arbeit und der Kampf gegen die giftspritzende Schlangenbrut, die dort in seiner Residenz ihr Unwesen trieb.

 

6. Kapitel.

In weitem Bogen hatte Fürst Borwin sich dem Gehölz genährt, in dem er sein Pferd unter der Obhut des Reitknechtes zurückgelassen hatte.

„Lüttgen, ist jemand hier vorübergekommen?“ fragte er beiläufig, indem er seinem Lieblingspferd den schlanken Hals klopfte.

Die Antwort kam etwas zögernd heraus.

„Nein, Ew. Durchlaucht, – nur der Hegemeister Marschner, der dort drüben nach einem Fuchsbau sehen wollte.“

Borwin schaute jetzt den Reitknecht scharf an. Und unter diesem ungewohnt strengen Blick wurde der junge, glattrasierte Bursche verlegen und rot.

„So – also Marschner … Ich habe gerade mit dem noch etwas zu besprechen. Sie können nach Hause reiten.“

Kurz und befehlend klang das, so ganz anders wie sonst.

Dann war Borwin allein.

„Also auch auf der Gegenseite, dieser Lüttgen, dieser Lügner!“ murmelte er vor sich hin. „Wem kann ich überhaupt noch trauen …?! Eine Fremde muß mich vor den Ränken, die wider mich gesponnen werden, warnen – eine Fremde! Und meine Räte schweigen …! Obwohl sie sicher von allem unterrichtet sind.“ – –

Der alte Marschner saß im Schatten eines mit Erlenbüschen bestandenen Hügels und schmauchte aus seiner Jägerpfeife dichte Wolken eines nicht gerade allzu wohlriechenden Krautes in die heiße, stille Luft des wolkenlosen Sommertages.

Jetzt hob der neben ihm liegende Hühnerhund, dessen Unterkieferhaare das Alter bereits weiß gefärbt hatte, wachsam den Kopf. Und gleich darauf vernahm Marschner auch dumpfen Hufschlag.

Es war Fürst Borwin, der nun im Schritt um das Erlengebüsch bog und auf seinen treuen Hegemeister zuhielt. Der erhob sich schnell und riß den grünen Hut mit dem Hahnenstutz von dem schon etwas kahlen Kopf.

„Morgen, Marschner! – Na – haben Sie den Fuchsbau gefunden? – Lüttgen wies mir den Weg zu Ihnen.“

Dann sprang er aus dem Sattel und band die Zügel geschickt um einen der dünnen Erlenstämme.

„Eigentlich müßte ich mich schämen, Ew. Durchlaucht,“ meinte der Alte freimütig. „Ich stehle hier dem lieben Herrgott nur den Tag weg. Die Füchse hatten Ruhe vor mir. In meinen Jahren träumt man gern ein wenig vor sich hin, überdenkt so allerlei und vergißt dann alles um sich her.“

„Setzen Sie sich wieder, Marschner!“ meinte Borwin mit einer Handbewegung auf das grüne Moospolster. „Auch ich will mich ein wenig ausruhen. – So – hier stecken Sie sich eine von meinen Zigarren an. – Woran dachten Sie denn eben, als ich kam?“

Der Hegemeister streichelte etwas verlegen seinem Hund den Kopf.

„An Ew. Durchlaucht, – um ganz ehrlich zu sein,“ meinte er dann doch.

„So? An mich?! Was Sie sagen! – Da bin ich wirklich gespannt, weshalb gerade ich Ihre Gedanken beschäftigt habe.“

Marschner reichte dem Fürsten erst ein brennendes Streichholz, ehe er erwiderte:

„Ew. Durchlaucht werden es mir nicht verargen, wenn ich bitte, mir die Antwort allergnädigst zu erlassen. Lügen tut der Gottlieb Marschner nicht gern, nur so viel eben, wie zu jeder Jagdgeschichte gehört. Wenn ich aber Ew. Durchlaucht jetzt die Wahrheit sagen würde, so dürfte das zu Erörterungen führen, bei denen für Ew. Durchlaucht vielleicht so was wie Ärger bei herauskommt.“

Borwin paffte nachdenklich einige Züge aus seiner grünbraunen, kräftigen Havanna in die Luft, klopfte dann dem treuen Weißbart vertraulich auf die Schulter und fragte leise:

„Handelt es sich um das, mein Alter, was man jetzt in Haldenburg über mich spricht?“

„Jawohl, Ew. Durchlaucht, – darum handelt es sich. Und dies Geschwätz ist Grund genug, um einem Mann wie mir, der mit Ew. Durchlaucht Familie sozusagen schon wie die wilde Hopfenstaude mit der Buche verwachsen ist, das Herz vor Ingrimm umzukehren.“

„Sie sind eine ehrliche Haut, lieber Marschner. Das haben Sie soeben wieder bewiesen. – Nun aber heraus mit allem, was Sie wissen. Verschweigen Sie nichts! Schonen Sie mich nicht! Vergessen Sie, daß Ihr Landesherr neben Ihnen sitzt. Und – fürchten Sie nicht, daß Sie mir etwa die gute Laune verderben werden. Es ist noch keine Stunde her, da habe ich aus einem anderen Munde schon dasselbe gehört. Ich will jetzt nur noch feststellen, ob diese Person mehr oder weniger wußte oder weiß als Sie.“

Der Hegemeister unterschlug denn auch nichts von dem, was ihm zu Ohren gekommen war. In seiner derben Art berichtete er mit teilweise recht kräftigen Ausdrücken von dem Gerede, das in der Residenz umging.

„Sogar der christliche Arbeiterverein hat gestern abend in einer Versammlung sich nebenbei auch mit diesen Dingen, hauptsächlich mit dem Inder, Ew. Durchlaucht farbigem Diener Bilawora, beschäftigt. Einer meiner Waldarbeiter, der Milkus, war auch da. Der hat’s mir wiedererzählt. Der Haupthetzer soll der Küster von der Domkirche, der Lehnert, dieser Schleicher, gewesen sein. Er hat eine große Rede gehalten und an das alte Reich Israel erinnert, wo die falschen Propheten aus fremdem Lande gesteinigt wurden.“

Fürst Borwin hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und hielt den Kopf tief gesenkt. Seine Finger schlossen und öffneten sich wie im Krampf.

Also soweit war es in seiner Residenzstadt schon gekommen – so weit! Ganz offen wagte man sich bereits an die Personen heran, die ihm nahestanden. Versteckte Drohungen wurden in aller Öffentlichkeit schon laut …! – Wahrhaftig – höchste Zeit war’s, daß er endlich dazwischenfuhr. Aber erst mußte er sich Gewißheit verschaffen, wer hier die eigentliche treibende Kraft war, wer hinter den Kulissen tätig war und welche Zwecke man mit diesen gefährlichen Gerüchten verfolgte.

„Marschner, wer mag nur hinter alledem stecken?“ fragte er jetzt ohne Umschweife. „Sie sind beinah der einzige Mensch, zu dem ich uneingeschränktes Vertrauen habe. Wenn Sie auch nur vermuten, wem ich diese Anfeindungen, diese zu meinem Schaden gesponnenen Netze zu verdanken habe, so sprechen Sie ohne jede Scheu – sei es, wer es sei!“

Der Weißbart streichelte wieder den Kopf seines Hundes.

„Ew. Durchlaucht befehlen, und ich gehorche gern,“ sagte er langsam. „Bestimmtes weiß ich nicht. Ich werde mir aber Gewißheit verschaffen. Ich habe drei Schwiegersöhne in der Residenz wohnen – drei Männer, die ebenso treu unserem verehrten Fürstenhause ergeben sind wie ich selbst. Die drei hören so allerlei. Sie werden mir helfen, Ew. Durchlaucht in dieser Sache Klarheit zu verschaffen.“

„Sie weichen mir so etwas aus, mein Alter. Ich sagte vorhin, Sie sollten mir auch eine bloße Vermutung Ihrerseits mitteilen. Und, wenn Sie eben erklärten, Sie wollten sich erst Gewißheit verschaffen, so müssen sie notwendig bereits gegen irgend jemand Verdacht haben.“

Fürst Borwin hatte dabei seine Rechte unwillkürlich auf des Hegemeisters Arm gelegt und umschloß diesen nun mit fast hartem Druck, ein Beweis, wie erregt er innerlich war.

Marschner wandte den ehrwürdigen, verwitterten Charakterkopf zur Seite und schaute nach einer freien Stelle der Heide hin, wo soeben die Fürstin Ortringen mit ihrer Tochter und Herrn von Perland aufgetaucht war.

Borwins Augen folgten dem Blickes seines Jägermeister, der nun leise sagte, als scheue er sich, derartiges mit voller Stimme zu äußern:

„Ew. Durchlaucht gnädigste Frau Tante hält auf den Kammerdiener Francois große Stücke. Und doch scheint es, als ob dieser der Verbreiter all der scheinbaren Lügen ist.“

Der Fürst nickte gedankenverloren mit dem Kopf. Marschner drückte sich vorsichtig aus. Den Diener nannte er, und die Fürstin war gemeint. – Die Fürstin …! An sie hatte Borwin ja auch selbst sofort gedacht, als Margot Werter ihm über die Vorgänge in Haldenburg die Augen geöffnet hatte.

Eine Weile blieb es still zwischen den beiden Männern, um die herum die Grillen im Grase zirpten und geschäftige Bienen von Blüte zu Blüte flogen. Himmlischer Friede rings in der Natur mit ihrer ernsten Schönheit. Aber in den Herzen des jungen Fürsten und seines treuen Dieners schaute es anders aus. Ihre Gedanken spürten häßlichen, dunklen Dingen nach, die ein ränkesüchtiges Weib ausstreute wie giftigen Samen, der nur allzu üppig ins Kraut schoß.

Dann sagte Borwin, indem er sich jäh erhob und den Kopf etwas zurückwarf, als wolle er sich hinausrecken aus allen diesem Niedrigen und Verächtlichen …

„Also Francois …! Ich kenne ihn. Ein unangenehmer Mensch. Ihm wäre derartiges schon zuzutrauen. – Es bleibt also dabei, Marschner, Sie suchen herauszubringen, aus welcher Quelle all diese Gerüchte fließen. Es ist eine halbe Spitzeltätigkeit, die ich Ihnen und Ihren Schwiegersöhnen zumute, – mithin nichts Erfreuliches. Aber – es geht nicht anders.“

„Für Ew. Durchlaucht tun wir alles!“ meinte der Alte schlicht, der gleichfalls aufgestanden war.

Borwin reichte ihm die Hand.

„Ich danke Ihnen schon im voraus! – Auf Wiedersehen, Marschner!“

Dann ritt er im Schritt davon. –

Eine Stunde später hatte er sich bereits mit Hilfe seines Kammerdieners umgekleidet. Er trug jetzt die Uniform des Haldenburger Infanterie-Regiments, den blauen Überrock mit dem roten Kragen, und dazu den Orden vom weißen Greif, der am goldenen Ringe aus dem Kragen heraushing. Seit Monaten war’s nicht mehr vorgekommen, daß er Uniform angelegt hatte. Heute tat er’s absichtlich. Für sein kleines Land sollte jetzt eine neue Zeit beginnen. Er hatte eingesehen, daß er zu wenig Fürst und zu sehr Mensch gewesen war, daß er Äußerlichkeiten unbeachtet gelassen hatte, die dem Träger einer Krone aber erst das Ansehen verschaffen, das nötig ist, um in Wahrheit Landesherr zu bleiben.

Dann begab er sich in sein Arbeitszimmer hinüber.

In dem großen, hellen Raum mit den drei bis zum glänzenden Parkettfußboden herabreichenden Fenstern und den kostbaren, alten Möbeln wartete bereits sein persönlicher Adjutant, Hauptmann Baron von Pölitz.

Etwas erstaunt musterte Pölitz seinen jungen Gebieter. –

Uniform …?! – Das hatte doch irgend etwas zu bedeuten.

„Morgen, Pölitz,“ begrüßte Borwin den Hauptmann wortkarger als sonst. „Wer ist im Vorzimmer außer den täglich zum Vortrag befohlenen Herren?“

„Niemand weiter, Ew. Durchlaucht,“ erwiderte der Baron ein wenig unsicher. Er wurde aus seinem Fürsten heute nicht recht klug. Der kameradschaftliche Händedruck, der ihm schon als selbstverständlich galt, war fortgefallen. Und ehrlich mußte er sich eingestehen, daß Borwin III. in Uniform und mit dieser verschlossenen Miene nicht mehr der stets so liebenswürdig versonnene Träumer, sondern ganz der Landesherr war, der befehlen durfte und der jetzt ohne Frage als solcher behandelt sein wollte.

Borwin hatte sich in den schweren Sessel vor seinem Schreibtisch gesetzt.

„So – niemand?“ meinte er, indem er die von seinem Privatsekretär bereitgelegten Briefe durchzusehen begann. „Ich finde, daß die schöne Sitte meiner Landeskinder, die mein Vater so sehr gepflegt hat, das Nachsuchen von Privataudienzen, leider in Vergessenheit geraten zu sein scheint. In den ersten anderthalb Jahren meiner Regierung, vor meiner Weltreise, schien man mehr Vertrauen zu mir gehabt zu haben.“

Der Baron stand jetzt hinter dem frei im Zimmer aufgestellten, wuchtigen und reich mit künstlerischen Beschlägen verzierten Schreibtisch, stand da mit verräterisch rotem Kopf. Und unter dem forschend auf ihn gerichteten Blick des Fürsten wurde selbst dieser glatte, geschmeidige Hofmann verlegen.

„Ew. Durchlaucht verzeihen,“ meinte er mit tiefer Verbeugung. „Ich glaubte aber in Ew. Durchlaucht Sinne zu handeln, wenn ich Gesuche um Audienzen nur in beschränktem Umfang berücksichtigte.“

„Lieber Pölitz, ich wüßte nicht, daß ich Ihnen je derartige Anweisungen gegeben hätte. In Zukunft wird mir die Liste der um eine Audienz Nachsuchenden wie früher vorgelegt.“ –

Das klang recht scharf, und der Baron knickte wie unter einem unvermuteten Schlage förmlich zusammen.

„Ganz wie Ew. Durchlaucht befehlen,“ stotterte er mühsam. Und in Gedanken fügte er hinzu …: „Hier weht ja plötzlich ein ganz anderer Wind …! Da heißt es sich in acht nehmen …!“

Und laut sagte er dann:

„Darf ich seine Exzellenz den Herrn Staatsminister vorlassen, Ew. Durchlaucht?“

„Bitte …!“

Der Baron verschwand lautlos. Draußen im Vorzimmer flüsterte er Exzellenz von Bompard noch schnell zu: „Durchlaucht sind heute sehr schlechter Laune. Vorsicht ist geboten …!“

Der schon recht zitterige verantwortliche Leiter der gesamten Staatsmaschine des Fürstentums schaute den Adjutanten ängstlich an, nahm dann die Aktenmappe mit den Papieren zur Hand und betrat das Arbeitszimmer seines jugendlichen Herren wohl zum erstenmal mit einem etwas unbehaglichen Gefühl.

Aber die Art der Begrüßung beruhigte ihn schnell. Fürst Borwin erschien ihm unverändert. Der Baron hatte sicher übertrieben.

„Setzen Sie sich, Exzellenz,“ meinte Borwin laut, da er auf des alten Herrn Schwerhörigkeit Rücksicht nehmen mußte. „Etwas Neues, Bompard?“ fügte er dann hinzu.

„Nicht daß ich wüßte, Ew. Durchlaucht.“

Borwin hielt einen langen Bleistift in der Rechten. Mit einem leisen Splittern brach dieser zwischen seinen Fingern jetzt mitten durch. Die Stücke flogen in den Papierkorb.

„Doch anders als sonst,“ dachte die greise Exzellenz mit leichtem Unbehagen.

„So, also nichts von Bedeutung … – Erledigen wir zunächst die Angelegenheiten der Urbarmachung der Heide,“ begann der Fürst nun, indem er ein Aktenstück von der Schreibtischplatte nahm. „Diese Berechnung hier, nach der der zu erwartende Gewinn so wenig günstig erscheint, dürfte wohl einige Irrtümer aufzuweisen haben. Es wird nötig sein, einen Fachmann hier zu Rate zu ziehen, einen praktisch erfahrenen Kulturtechniker. Unsere gelehrten Herren in der Abteilung für Forstwirtschaft besitzen doch wohl nicht genügend freien Blick zur Prüfung derartiger Fragen.“

Der Staatsminister mußte nach der Lehne seines Sessels greifen, um nicht völlig in sich zusammenzusinken. –

Aber bei dieser einen Überraschung blieb es nicht. Durchlaucht kam heute vom hundertsten ins tausendste, verlangte Auskunft über Dinge, um die er sich bisher nie gekümmert hatte, und gab allerlei Ansichten zu Neuerungen von sich, die wieder eine Unmasse Arbeit in Aussicht stellten.

Jedenfalls war Exzellenz nach einer halben Stunde völlig erschöpft und konfus – richtig konfus.

„Sie scheinen sich heute etwas angegriffen zu fühlen, mein lieber Bompard,“ sagte Durchlaucht schließlich, als der arme Staatsminister sich verstohlen die feuchte Stirn trocknete.

„Ew. Durchlaucht – die Jahre – die Jahre!“ kam es kläglich von dem alten Herrn.

„Richtig – ich vergesse, daß Sie bereits die Siebzig überschritten haben. Da muß Ihr Amt Ihnen freilich schon recht beschwerlich fallen.“

Exzellenz horchte auf. –

Was war das eben gewesen …?! Sollte das ein Wink sein, daß er zurückzutreten habe … Als überaltert, als seiner Stellung nicht mehr gewachsen …?! – Nur das nicht … nur das nicht! Er hing ja an seinem Posten mit jeder Faser seines alten, verknöcherten Herzens …

Ganz blaß war er geworden. Und wieder fuhr er sich halb unbewußt mit dem Seidentuch über die Stirn hin.

„Lieber Bompard, Sie sollten wirklich mehr auf Ihre Gesundheit bedacht sein,“ meinte Fürst Borwin scheinbar teilnahmsvoll. „Sie sehen nicht gut aus – wirklich nicht! Nehmen Sie doch mal einen längeren Urlaub. Wir werden ja gerade in den nächsten Monaten wohl mehr Arbeit bekommen als sonst. Und unter diesen Umständen dürfte es in Ihrem Interesse liegen, sich etwas zu schonen.“

Der greise Minister zerknüllte das feine Tüchlein mit seiner welken Hand. –

Kein Zweifel – das war ein deutlicher Wink den Abschied einzureichen, – ein mehr als deutlicher Wink. Aber noch wollte er ihn nicht verstehen – noch nicht …! So leicht ließ er sich nicht verdrängen …! –

Eine Hoffnung blitzte in ihm auf: Fürstin Helene …! Und sofort wurde er ruhiger, gefaßter.

„Ew. Durchlaucht sind zu gütig,“ sagte er mit tiefer Verneigung. „Es handelt sich bei mir heute lediglich um ein augenblickliches Unwohlsein. Und Ew. Durchlaucht gestatten daher auch wohl gnädigst, daß ich mich für heute zurückziehe.“

„Bitte, lieber Bompard.“

Das hatte sehr kühl geklungen.

Der Staatsminister verabschiedete sich. Im Vorzimmer trat er an Baron von Pölitz heran, zog diesen in eine Ecke und sagte flüsternd:

„Hier ist irgend etwas im Werke, – irgend etwas stimmt hier nicht mehr! Halten Sie nur die Augen offen, Baron! Es soll Ihr Schade nicht sein!“

Da ertönte auch schon in des Fürsten Zimmer die silberne Glocke. Und der hagere, lange Adjutant mit der aristokratischen, schmalen Hakennase eilte davon. –

„Pölitz, ich will eine Weile nicht gestört werden,“ befahl der Fürst kurz. „Die übrigen Herren sollen warten.“

Der Adjutant verließ wieder das Zimmer. Und Fürst Borwin trat an das eine Fenster und schaute auf die breite Auffahrt hinab, die von der altertümlichen Zugbrücke zum Hauptportal des Schlosses führte.

Aber der Wagen des Staatsministers von Bompard, in dem dieser regelmäßig sich zum Vortrag einfand, erschien nicht. –

Zehn Minuten vergingen so. Noch immer stand Borwin am Fenster.

Dann griff er nach der Klingel und schellte. –

Pölitz kam eilig herein.

„Sehen Sie zu, ob Exzellenz Bompard noch im Schloß ist. Ich habe ihm etwas Dringendes mitzuteilen vergessen. – Oder ist Exzellenz bereits nach der Stadt zurückgekehrt?“

Der Adjutant überlegte sich blitzschnell, was er antworten sollte. Aber heute wagte er keine Notlüge.

„Exzellenz wollte noch Ihrer Durchlaucht der Frau Fürstin seine Aufwartung machen,“ erwiderte er daher der Wahrheit gemäß.

„So – dann wollen wir ihn nicht stören. Die Sache hat schließlich auch bis morgen Zeit. – Ich bitte dann den Herrn Geheimrat Trübing.“

 

7. Kapitel.

Die Fürstin Helene hatte ihren offenbar unter einer nur mühsam unterdrückten Erregung leidenden Gast auf dessen Wunsch in den kleinen Wintergarten geführt, der zu der im ältesten Teil des Schlosses liegenden Zimmerflucht gehörte, die die Ortringer bei ihren Besuchen in der Residenz schon stets bewohnt hatten.

„Hier sind wir vor Lauschern ja wohl sicher,“ hatte der Staatsminister dann gesagt und sich aufseufzend auf eine zierliche Bank niedergelassen, nachdem die Fürstin die breite Glastür, den einzigen Zugang zum Wintergarten, hinter sich verschlossen hatte.

Exzellenz weilte nicht zum erstenmal in dieser feuchtwarmen Luft, in der die exotischen Palmen und andere tropische Pflanzen so vortrefflich gediehen. Als nun die Fürstin ihm beruhigend zunickte, begann er sehr vorsichtig von den Gerüchten zu sprechen, die in Haldenburg umgingen. Daß dies in einer bestimmten Absicht geschah, merkte die Fürstin sehr bald. Aber sie war nicht minder vorsichtig in ihren Äußerungen als Exzellenz von Bompard, der schließlich einsehen mußte, daß er so nicht zum Ziele kam.

„Durchlaucht, wir müssen mit offenen Karten spielen,“ sagte er daher leise zu der ihm in einem Rohrsessel Gegenübersitzenden. „Ich habe Grund anzunehmen, daß gemeinsame Interessen bei uns vorliegen. – Fürst Borwin hat mir heute in versteckter Form nahegelegt, von meinem Posten zurückzutreten.“

Dieser letzte Satz genügte der intriganten Frau. – Also so lagen die Dinge …! Dann war es freilich ratsam, mit Bompard schon jetzt gemeinsame Sache zu machen, dessen Unterstützung sie später ohnehin gebraucht haben würde.

„Ah – „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen!“ – wirklich recht undankbar von meinem Herrn Neffen,“ sagte sie scheinbar empört. „Dann haben Sie allerdings keinerlei Ursache mehr, für Borwin einzutreten, Exzellenz, der eine Rücksichtnahme ja auch im Interesse des Landes kaum noch verdient.“

Nun war es heraus. Nun hatte sie die erste Andeutung über das, was geschehen sollte, fallen lassen.

Der alte Herr biß denn auch sofort mit Eifer an.

„Ich habe gleich vermutet, als mir jene Gerüchte zu Ohren kamen, daß Durchlaucht als ältestes Mitglied der fürstlichen Familie zu diesen Dingen irgendwie Stellung nehmen würde. Deshalb bin ich jetzt auch hierher gekommen.“ Er drückte sich sehr klug aus, tat, als traue er es der Fürstin gar nicht zu, daß sie selbst die Urheberin dieses geheimen Feldzuges gegen ihren Neffen sein könne.

„Sehr richtig, Exzellenz. Ich beabsichtige tatsächlich hierzu Stellung zu nehmen. Wie schmerzlich mich dieses Gerede, dessen Ursprung mir ganz unbekannt ist, berührt hat, können Sie sich wohl denken. Noch schmerzlicher war es mir dann aber, als ich feststellen konnte, daß die Gerüchte den Tatsachen vollauf entsprachen, wenigstens was den einen Punkt, den Abfall von der Landeskirche anbetrifft. Ich wollte dies zunächst nicht glauben. Aber mein Kammerdiener Francois schaffte mir die Beweise. Zufällig hat er einen geheimen Gang entdeckt, der aus meinem Salon bis nach dem jetzt als Brahmatempel eingerichteten Zimmer läuft und dort vor einer verborgenen Tür in der Wandtäfelung endet. So fand er Gelegenheit, den Fürsten und den Inder zu belauschen. Was er, der der englischen Sprache mächtig ist, auf diese Weise von den Gesprächen Borwins und Bilaworas auffing, genügt vollauf, um den Tatbestand des §9 des Haldenburgschen Hausgesetzes zu erfüllen, der bekanntlich lautet: „Um zu verhüten, daß je ein regierender Fürst der Familie Haldenburg seine Religion wechselt, wird bestimmt, daß, sobald sich Anzeichen für eine Sinnesänderung in dieser Beziehung bemerkbar machen, ein Familienrat zusammenzutreten hat, der sich aus den volljährigen Mitgliedern der thronfolgeberechtigten Zweige des Hauses Haldenburg zusammensetzt und im Verein mit dem Staatsrat die Angelegenheit aufs strengste prüfen soll. Sind beide, Familien– und Staatsrat, sich einig, daß offenbar ein Abfall von der Landeskirche vorliegt, so hat der betreffende Fürst als unwürdig der Krone seiner Väter abzudanken, und es tritt die gewöhnliche Thronerbfolge ein“.“

Exzellenz Bompard nickte eifrig und erklärte feierlich:

„So lautet der Paragraph, der seiner Zeit in das Hausgesetzes aufgenommen wurde, weil Fürst Heribert I. im Jahre 1718 unter dem Einfluß einer andersgläubige Mätresse beinahe den Glauben gewechselt hätte, zum Glück aber noch rechtzeitig die bösen Folgen einer solchen Handlungsweise erkannte und deshalb für alle Zeiten ähnliche Vorfälle verhindern wollte.“

Die Fürstin Helene reichte ihm jetzt die Hand.

„So, Exzellenz, von jetzt an werden wir dann also Verbündete, die sich die Aufgabe stellen, im Interesse des Fürstentums zu wirken, – Sie als Vorsitzender des Staatsrates, ich als ältestes Familienmitglied und als die zur Einberufung des Familienrates Berechtigte. Dieser Familienrat besteht zur Zeit nur aus drei Personen, – mir und meinen Kindern. Mit diesen werde ich demnächst die Angelegenheit erörtern und zwar in Ihrer Gegenwart, Exzellenz. Es ist nötig, daß darüber ein Protokoll aufgenommen wird, welches Sie als verantwortlicher Minister mit zu unterzeichnen haben. Dann wäre noch notwendig, dem Staatsrat die unwiderleglichen Beweise für den Religionswechsel meines Neffen zu verschaffen. Dies könnte in der Weise geschehen, daß drei der Herren sich von Francois zu nächtlicher Stunde hinter die geheime Tür des Tempelzimmers führen lassen und sich durch Augenschein überzeugen, was dort vor sich geht.“ –

Nach einer halben Stunde hatten die Fürstin und der Staatsminister alles genau vereinbart und verließen den Wintergarten.

Kaum waren sie in den Salon zurückgekehrt, als Prinzessin Maria, die auf einem versteckten Plätzchen hinter einer Gruppe breitblättriger Palmen ungewollt Zeugin des ganzen Gesprächs geworden war, lautlos mit bleichem Gesicht hinaushuschte und unbemerkt nach den Zimmern ihres Bruders eilte, der gerade ein Gesuch um Nachurlaub an seinen Regimentskommandeur schrieb, wozu ihn seine Mutter am Morgen in Änderung ihrer bisherigen Pläne veranlaßt hatte.

Maria ließ sich erschöpft in einen Sessel neben dem Schreibtisch fallen und brach dann sofort in Tränen aus. Schluchzend teilte sie dem Bruder mit, was sie soeben gehört hatte.

„Denke nicht, daß ich absichtlich die Lauscherin gespielt habe,“ suchte sie diesen häßlichen Verdacht von sich abzuwehren. „Aber ich konnte mich nicht bemerkbar machen, weil ich … weil ich gerade bitter auf jener verborgenen Bank geweint hatte und meine geröteten Augen mich verraten haben würden. – Sieh mich nicht so erstaunt an, Arnulf …! Ja – geweint habe ich! Was mein armes Herz zu leiden hat, ahnt ja niemand! Ich liebe Borwin …! Die drei Worte erklären alles …“

Der Prinz hatte sich erhoben, trat jetzt neben die Schwester und strich ihr mitleidig über das volle Haar hin.

„Arme Kleine – arme Kleine …! Ich habe das geahnt …“ meinte er leise.

Dann begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. Er wollte Maria Zeit lassen, sich wieder etwas zu beruhigen.

Deren Tränen versiegten langsam. Nun hob sie den Kopf und schaute den Bruder fest an.

„Ich werde dieses Ränkespiel nicht weiter mitmachen,“ erklärte sie mit Nachdruck. „Auf keinen Fall …!! Alles in mir empört sich dagegen. Selbst wenn Borwin wirklich schuldig sein sollte und sich durch den Inder hat zum Abfall von unserer Religion bewegen lassen, werde ich alles aufbieten, um ihm zu schützen.“

Prinz Arnulf schüttelte ernst den Kopf.

„Gegen Mama ist schwer aufzukommen,“ sagte er. „Vergiß das nicht …! Sind Beweise gegen Borwin vorhanden, so kannst du nichts an der Sache ändern – nichts!“

Vor Aufregung riß sie ihr Spitzentüchlein in Stücke.

„Natürlich – natürlich stehst du auf Mamas Seite,“ rief sie mit bebender Stimme. „Wie konnte ich auch anderes annehmen! Du bist ja der, dem die Krone zufällt, wenn Borwin abdanken muß.“

Er hatte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch gelehnt. Und gelassen erwiderte er jetzt:

„Du irrst, Maria! Ich strebe nicht mehr nach dem Thron von Haldenburg. Seit … seit zwei Tagen nicht mehr. Da ist in meinem Innern eine folgenschwere Wandlung vor sich gegangen. Ich befinde mich jetzt in einer viel schlimmeren Lage als du – glaube mir. Mama hatte gewünscht, ich solle mich Ena von Sinßberg wieder nähern. Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich selbst, besser Ihren ehrgeizigen Plänen, hiermit schadete. Ich bin jetzt täglich mit meiner einstigen Jugendgespielin zusammen gewesen, – täglich vor– und nachmittags, – das weißt du ja. Und, um es kurz zu sagen, hierbei habe ich Ena … aufrichtig lieben gelernt. – Sieh, Maria, ich mag ja bisher ein leichtsinniger Mensch gewesen sein, – leichtsinnig und jeder ernsten Arbeit abhold, wie das so unsere zumeist ganz verkehrte Erziehung mit sich bringt. Schlecht war ich nie …! Ich strebte nur nach der Möglichkeit, dieses bequeme Dasein unbeschränkt fortsetzen zu können. Dazu kamen noch meine Geldsorgen, der ewige … Dalles!! Nur deshalb war ich ein gefügiges Werkzeug in Mamas Händen. Jetzt – jetzt habe ich nur einen Wunsch, daß Borwin diese Schleicherbande, allen voran diesen klapprigen, kläglichen Bompard, enttäuscht! Denn ehrlich gestanden, Maria, ich kann es mir nicht denken, daß Borwin wirklich Heide geworden ist und sich zum Brahmanismus unter dem Einfluß seiner philosophischen Neigungen und seiner Grüblernatur bekehrt hat.“

Die Prinzessin streckte dem Bruder jetzt beide Hände hin.

„Verzeih’ mir, Arnulf! Ich habe dir bitter unrecht getan.“

„Laß nur, Maria …! Mein Verdienst ist es nicht, daß ich mich auf mich selbst noch rechtzeitig besonnen habe. Ena von Sinßberg hat es verstanden, mir schon jetzt etwas von ihrer ernsten Lebensauffassung beizubringen. Ich weiß jetzt, daß sie alles andere nur keine verknöcherte Kaufmannsseele ist, wofür ich sie noch vor kurzem hielt. Sie vertritt eben den Standpunkt, daß jeder Mensch, mag er noch so reich sein, zur Arbeit da ist und sich einen Pflichtenkreis schaffen muß. Ach, du ahnst nicht, Schwester, wie oft ich mich in den letzten Tagen tief beschämt fühlte, wenn sie ihre Ansichten über Daseinsführung vor mir entwickelte …!“

Maria hatte kaum hingehört. Andere Dinge beschäftigten ihre Gedanken. Und daher fragte sie nun auch ganz unvermittelt:

„Was soll nur werden, Arnulf? Sollen wir wirklich ruhig zusehen, wie Borwin in diese Netze gerät, die Mama ihm gestellt hat? – Das dürfen wir doch nicht! Ich hätte ja nie mehr eine freudige Minute, wenn ich nicht wenigstens versuchen würde, das Unheil von Borwin abzuwenden. Könnten wir ihn nicht irgendwie warnen? Und – wie verhalten wir uns, wenn Mama uns als Mitglieder des Familienrates zu einer bestimmten Meinungsäußerung zu veranlassen sucht?“

Prinz Arnulf zuckte die Achseln.

„Es ist schwer, sich aus alledem herauszufinden. Ich sehe keinen Ausweg. – Warnen?! – Das könnte man doch nur, wenn es einem ganz gleichgültig wäre, ob unsere Mutter dadurch bloßgestellt wird! Vergiß das nicht! – Und, was den Familienrat anbetrifft, – ja, – eigentlich haben wir uns ja schon mit allem einverstanden erklärt.“

Maria erhob sich jäh und trat dicht vor den Bruder hin.

„Trotzdem – ich werde nicht tatenlos bleiben – ich nicht!“ sagte sie erregt. „Oh – ich weiß jetzt ja, woher Mama über die Vorgänge im Tempelzimmer so gut unterrichtete ist!“

Hier wurde das Gespräch der Geschwister durch den Eintritt der Fürstin unterbrochen.

„Meine lieben Kinder,“ rief sie heiter, indem sie ihnen mit einem triumphierenden Lächeln zunickte, „unsere Sache steht vorzüglich …! Denkt euch, soeben hat mich Exzellenz Bompard verlassen. Der Staatsrat, so erzählte er mir, will jetzt baldigst eingreifen.“

Dann sah sie, mit welch’ verlegenen Gesichtern ihre Kinder dastanden. Aber sie deutete deren Mienen sich anders.

„Ja, ich glaube, daß Ihr ganz sprachlos seid,“ meinte sie. „Jedenfalls steht die Entscheidung nahe bevor. – Doch ich habe jetzt nicht lange Zeit. Ich will noch in der Stadt einige Besuche erledigen. Auf Wiedersehen …!“

Damit rauschte sie stolz hinaus.

Arnulf und Maria waren wieder allein. Eine Weile verharrten sie in bedrücktem Schweigen.

Dann sagte die Prinzessin leise: „Ich weiß, was ich tue. Und du mußt mir helfen, Arnulf.“

Eifrig und eindringlich entwickelte sie dem Bruder nun ihren Plan. Und Arnulf erklärte nachher mit einer gewissen Bewunderung, als sie nichts mehr hinzuzufügen hatte:

„Wahrhaftig, Maria, – das ginge! – Gut, ich bin einverstanden! Nur eine Gefahr ist dabei, wir können leicht mit der Gegenpartei zusammentreffen!“

„Das müssen wir freilich auf uns nehmen,“ sagte sie gleichmütig. Ihr war ja nur darum zu tun, Borwin zu helfen. Alles andere trat dagegen in den Hintergrund.

 

8. Kapitel.

Zwei Tage waren wieder verstrichen.

In dem weitläufigen Residenzschloß herrschte eine seltsame Schwüle wie vor einem nahenden Gewitter. Es schien, als sei die Luft in all den Sälen, den langen Fluren, den endlosen Zimmerfluchten mit einem besonderen Etwas vermengt, das jedes laute Wort, jedes Geräusch verbot. Man ahnte förmlich, daß nicht alles so war wie früher. Niemand konnte jedoch sagen, wodurch man sich so unheimlich bedrückt fühlte, niemand vermochte sich aber auch dieser Beklommenheit zu entziehen. Das ging vom Oberzeremonienmeister, dem Grafen Palwitz bis zur letzten Abwaschfrau der fürstlichen Küche herab. Nur verstand dieser oder jener sich besser zu beherrschen, und die innere Gespanntheit hinter einer kühlen Maske zu verbergen. Zu diesen wenigen gehörte die Fürstin Helene, deren fest eingefrorenes Lächeln seit der Rücksprache mit Exzellenz Bompard noch liebenswürdiger geworden war. –

Fürst Borwin bekam man wenig zu sehen. Er hatte sich ganze Aktenstöße in sein Arbeitszimmer schaffen lassen, mit deren Durchsicht er den größten Teil des Tages verbrachte. Bei der gemeinsamen Mittagstafel war er schweigsam und insichgekehrt. Im übrigen trat bei ihm immer deutlicher das Bestreben hervor, seine Pflichten als Landesherr bis ins einzelne zu erfüllen, aber auch nach außen hin in allem den regierenden Fürsten zu betonen.

In der Residenz selbst gärte es weiter. Aber nicht mehr lediglich im geheimen unter der Oberfläche. Nein – es war sogar vorgekommen, daß der Inder Bilawora, als er die Vorstadt passierte, mit Steinen beworfen wurde und daß ein Haufen halbwüchsiger Burschen ihn so zudringlich verfolgte, daß er sich in eine Polizeiwache flüchten mußte. – –

Der junge Fürst saß in seinem Arbeitszimmer bei geöffneten Fenstern am Schreibtisch. Soeben hatte die Stutzuhr auf dem Kamin elf geschlagen. Draußen über den Bäumen des Parkes lagerte die Licht der Dämmerung einer warmen Sommernacht. In den Fliederbüschen schluchzte eine Nachtigall. Und von dem verwitterten Eckturm her, in dem allerlei geflügeltes Getier nistete, klang zuweilen der unheimliche Schrei eines Käuzchens durch die nächtliche Stille bis zu dem einsamen Mann hin, der zurückgelehnt in seinem Sessel mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin brütete.

Jetzt lachte er bitter auf … –

Woran dachte er?! – –

Und gleich darauf sprach er leise einen Namen vor sich hin …

„Margot – Margot …!“ –

Wie ein sehnsüchtiger Seufzer war’s …

Nach einer Weile klopfte es leise. Borwin rührte sich nicht. –

Das Klopfen an der Tür wurde dringender.

Der Fürst erhob sich langsam und schob den Riegel zurück. Vor ihm stand der Inder Bilawora, gekleidet in den hellen Brahmanenmantel, die Priesterbinde um die Stirn und um den braunen Hals die weiße Schnur mit den drei heiligen Knoten.

Lautlos huschte er ins Zimmer. Er war hoch gewachsen, hatte einen langen, pechschwarzen Bart und in dem edelgeschnittenen Gesicht die glühenden Augen eines religiösen Fanatikers.

„Was wünscht du, Bilawora?“ fragte der Fürst auf Englisch, indem er auf einen Sessel deutete und gleichzeitig die Flammen der elektrischen Krone einschaltete. –

Dem Halbdunkel folgte blendende Helle.

Ernst schaute der Inder dem jungen Fürsten in das müde, abgespannte Gesicht.

„Begleite mich dorthin, wo wir so manche Stunde den Rätseln des Lebens nachgespürt haben,“ sagte er gleichfalls in englischer Sprache, da er das Deutsche erst sehr wenig beherrschte. „Wir wollen heute zum letzten Mal zusammen vor Brahmas weltweises Antlitz treten, mein Freund, – zum letzten Mal. – Frage nichts! Ich lese das Staunen in deinem Blick. Bilawora wird dir alles nachher erklären.“ –

Schweigend schritten sie durch die stillen Flure dahin, in denen nur hier und da eine Milchglasbirne brannte. Auch an den Gemächern, die die Fürstin Helene und ihre Kinder bewohnten, mußten sie vorüber. Als sie des Prinzen Arnulf Tür passiert hatten, öffnete sich diese lautlos ein ganz klein wenig und ein Männerantlitz erschien für einen Augenblick in dem Spalt. – –

Das Tempelzimmer war ein mittelgroßer, viereckiger Raum. Die Tür, die vom Flur hineinführte, war mit einem Kunstschloß versehen, zu dem nur Fürst Borwin und der Inder Schlüssel besaßen.

Nachdem die beiden eingetreten waren, riegelte der Brahmane die Tür sorgfältig ab und zog auch die schweren Vorhänge wieder zusammen. Borwin blieb abwartend in der tiefen Dunkelheit stehen. Sehr bald blinkte ein bläuliches Licht knisternd in einer flachen Schale auf. Weiter spendeten dann auch ein paar altertümliche Kupferlampen genügend Helle, um den Raum überschauen zu können.

Dieser war, selbst die Decke, vollständig mit dunkelfarbigen indischen Teppichen verkleidet. An der einen Wand erhob sich ein Altar aus Ebenholz, dessen Schnitzereien reich mit Elfenbein und mattglänzendem Silber ausgelegt waren. Auf diesem Podium stand eine Statue des Gottes Brahma, offenbar ein sehr altes Kunstwerk. Mit unter dem Leibe gekreuzten Beinen saß der Götze da. Seine drei Armpaare ragten in seltsamen Verrenkungen vom Körper ab. Auf dem nur grob herausgearbeiteten Gesicht lag ein eigenes Lächeln. In seiner bunten Bemalung und dem Licht der vier jetzt auf dem Alter schwelenden Weihrauchbecken wirkte der Götze zugleich abstoßend und doch auch wieder merkwürdig geheimnisvoll. Der schwere Duft der qualmenden Harze durchzog schnell das ganze Gemach, in dem sich außer dem großen Altar nur noch wenige Gegenstände – ein paar geschnitzte Säulen, niedrige Holzsessel und zwei Truhen – befanden. Die Kupferlampen hingen an Schnüren von der Decke herab, und ihr rötliches Licht wurde bald von den feinen Dunstschleiern des Weihrauchs immer mehr getrübt.

Fürst Borwin hatte sich auf einen Schemel gegenüber dem Altar niedergelassen. Vornübergebeugt saß er da und schaute dem braunen Freund zu, der lautlos vor dem Bildwerk Bahamas seine Andachtsübungen verrichtete, die Stirn mit dem geweihten, gelblichen Ton des heiligen Flusses, des Indus, einrieb, Räucherstäbchen anbrannte und sie dem Gott zwischen die gespreizten Finger steckte.

Dann wandte Bilawora sich dem Fürsten zu. Seine Stimme besaß einen eigenartigen Reiz. Sie klang so, als ob der Inder ganz unbewußt die Worte formte, als zwänge ihn eine besondere Macht zum Sprechen.

„Denkst du noch an jenen Tag, da du mich aus den Krallen des Tigers errettetest …?“ begann er leise. „Noch an jene Stunde, da ich dich zum ersten Mal mitnahm hinab in die Felsengänge der heiligen Inseln Kilwanani? Erinnerst du dich noch deiner Ergriffenheit, als du tief unter der Erde dem großen Fest zu Ehren Brahmas beiwohnen durftest …? – Du wirst alles das nicht vergessen haben. Deine Seele gehörte damals mir, der ich dich einweihte in die Geheimnisse meiner Kaste, in die Besonderheiten einer Religion, die um ein Jahrtausend älter ist als die christliche und die Auferstehung des Menschen in stets neuer Gestalt lehrt, – das, was ihr Seelenwanderung nennt. Als du dann fort mußtest aus Indien, da batest du mich dich zu begleiten. Wir waren Freunde geworden. Du wolltest weiter prüfen und vergleichen, wolltest dich mit meiner Hilfe, aber unbeeinflußt von mir, durchringen zu der wahren Erkenntnis. – Du bist ein ehrlicher, offener Charakter, mein weiser Freund. Du trägst eine Krone, du hattest Rücksichten zu nehmen. Und doch stand dir die Wahrheit höher. – Ich weiß, daß du sie jetzt gefunden hast. Der Glaube deiner Väter hat über Brahma gesiegt. – Sag’, ist es nicht so?“

„Du verstehst in der Seele der Menschen zu lesen, Bilawora. Es ist so,“ entgegnete der Fürst ohne Zögern. „Ich habe eingesehen, daß eine Religion wie die deine nur unter die Glutsonne des Zauberlandes Indien paßt, wo die menschliche Phantasie sich nicht begnügt mit dem Glauben an einen einigen Gott, wo sie mehr Spielraum haben will, wo die Wunder einer farbenprächtigen, tropischen Landschaft wie ein beständiger Rausch wirken. – Ja, ich habe mich jetzt durchgerungen, – ich war ein Zweifler geworden und bin nun wieder Christ – und dies aus ehrlicher, streng geprüfter Überzeugung.“

Um des Inders Mund spielte ein feines Lächeln.

„Ich wußte, daß es so kommen würde, mein Freund. Ich grolle dir deswegen nicht, ich bin nicht enttäuscht, daß du deinen einigen Gott meinem Brahma vorziehst. Nur bedauern tue ich eins. Dein Streben nach Erkenntnis hat dich deinem Volk entfremdet. Du wirst Mühe haben, dir das Vertrauen deiner Untertanen wieder zu erringen. Mich hassen sie, weil sie glauben, ich hätte die Zweifel in dein Herz gesät. Gestern hat man mich mit Steinen beworfen. Ich habe darüber geschwiegen. Aber ich weiß jetzt, daß es Zeit für mich ist, in meine Heimat zurückzukehren. Du wirst dich auch ohne meine Hilfe zurückfinden zu den hohen Pflichten, die deiner warten. Morgen reise ich. Nicht etwa, daß ich vor dem Groll deines Volkes flüchte. Mein Gewissen ist rein. Ich habe dir nicht geschadet. Die Kämpfe, die du in deinem Innern durchgefochten hast, haben gute Früchte getragen. Du bist reifer geworden, männlicher. Und wenn du einst …“

Er brach mitten im Satz ab, schien gespannt zu lauschen.

Dann ein Sprung nach der dem Altar gegenüberliegenden Wand hin … Hier riß er die lose herabhängenden Teppiche zur Seite. Die dunkle, etwa mannshohe Holztäfelung wurde sichtbar. Und in dieser gähnte eine schmale, schwarze Öffnung.

Auch Borwin hatte sich schnell erhoben und trat nun neben den Inder. Ein unterdrückter Ruf der Überraschung entfuhr seinen Lippen.

„Wir sind belauscht worden, Bilawora,“ sagte er dann. „An diese geheime Tür hatte ich nicht gedacht, als ich deinem Gott hier ein würdiges Heim schuf.“

Der Brahmane nahm eine der Kupferlampen herab und leuchtete damit in den dunklen Gang hinein. Dann bückte er sich und hob einen weißen Gegenstand auf, – ein feines Spitzentaschentuch, dem ein zarter Wohlgeruch entströmte. In einer Ecke war eine Krone eingestickt, darunter ein Buchstabe – ein „M“.

„Maria Ortringen,“ sagte Fürst Borwin leise.

„Mir war’s vorhin, als hörte ich das Rauschen von Frauenröcken,“ erklärte der Inder. „Das machte mich aufmerksam.“

Um des jungen Fürsten Mund lag ein verächtliches Lächeln. Aber er schwieg. Langsam zog er die geheime Tür wieder ins Schloß. Dann trat er zurück vor die Statue des indischen Gottes. Noch einmal schaute er sich in dem seltsamen Gemach um.

„Gehen wir, Bilawora!“ sagte er darauf ernst und fast wehmütig. „Die Stunden, die ich hier zugebracht habe, rechne ich nicht zu den verlorenen meines Lebens.“

Der Inder verlöschte die Lampen, drückte das schwelende Harz mit einer Handvoll Sand aus. Dann traten sie in den Flur hinaus. Und Fürst Borwin ließ die Tür des Tempelzimmers weit offen, als sie den Rückweg nach seinem Arbeitsgemach einschlugen.

Lange saßen sie dort noch beieinander. –

Am nächsten Vormittag geleitete der Fürst seinen braunen Freund dann persönlich zur Bahn. Bilawora trug jetzt europäische Kleidung. Als der Wagen mit den feurigen Füchsen und dem stattlichen Diener neben dem würdigen Leibkutscher Borwins durch die Hauptstraße der Residenz rollte, reckten die Leute auf den Bürgersteigen die Köpfe hoch. Aber nur wenige der Männer zogen die Hüte.

Es wurde ein schweigsamer Abschied zwischen dem Brahmanen und seinem weißen Freund. Beiden fiel die Trennung unendlich schwer. –

Noch ein letzter Händedruck, ein paar leise Worte, und der Zug entführte Bilawora für immer …

Als Fürst Borwin allein nach seinem Schloß zurückkehrte, war’s ihm, als habe er einen Teil seiner selbst hingegeben, indem er den braunen Weltweisen ziehen ließ, der ihm ein wahrhafter Freund gewesen war.

 

9. Kapitel.

Für die Fürstin Helene kam die Abreise des Inders höchst ungelegen. Kaum hatte sie durch ihren gewandten Spion Francois hiervon erfahren, als sie sich auch sofort an demselben Vormittag noch in die Stadt begab und Exzellenz von Bompard im Ministerium aufsuchte.

Der selbstsüchtige alte Herr, dem alles daran lag, seine Dienstentlassung zu verhindern, war arg enttäuscht, als er hörte, daß Bilawora so plötzlich das Feld geräumt habe.

„In der verflossenen Nacht ist mein Neffe mit dem Inder nochmals für kurze Zeit in dem Tempelzimmer gewesen,“ berichtete Fürstin Helene. „Ich hatte aber nicht mehr Gelegenheit, Sie, Exzellenz, und die beiden anderen Herren telephonisch zu verständigen, wie dies zwischen uns verabredet war. Denken Sie, Exzellenz, welche Überraschung meinem Francois zuteil wurde, als er in den geheimen Gang eindrang, um sich zu überzeugen, ob der Fürst und der Inder längere Zeit in dem Tempelzimmer zu verweilen gedächten. Der Platz vor der verborgenen Tür war bereits durch zwei völlig vermummte Gestalten besetzt, denen mein Kammerdiener beinahe in die Arme gelaufen wäre. Diese beiden unbekannten Personen haben einen anderen Zugang zu dem geheimen Verbindungsweg nach dem Tempelzimmer, eine in einem eingemauerten Wandschrank befindliche bewegliche Rückwand, benutzt, wie ja überhaupt der älteste Teil des Residenzschlosses über eine ganze Anzahl derartiger Geheimnisse verfügt.“

Exzellenz von Bompard schien lebhaft beunruhigt.

„Wer können die beiden nur gewesen sein? – Etwa Wächter, die seine Durchlaucht aufgestellt hatte, um ein Belauschtwerden zu verhüten?“

„Das glaube ich nicht. – Sei es, wie es sei, jedenfalls haben wir jetzt alle Ursache, sofort zum letzten Schlag auszuholen. Es tut mir nur leid, Exzellenz, daß Sie und die beiden anderen Herren auf diese Weise umsonst in den letzten Tagen teilweise Ihre Nachtruhe geopfert haben, um jeder Zeit bereit zu sein, in Ihrem Auto sich schleunigst auf dem Schloß einzufinden. – Ich bin dafür, daß Sie sofort den Staatsrat einberufen und die Herren sich dann zu meinem Neffen begeben. Francois hat genug von den verfänglichen Gesprächen Borwins und des Inders gehört und sich teilweise notiert, um als Zeuge auftreten zu können. Außerdem wird mein Neffe bei seiner ganzen Charakterveranlagung nie zu leugnen versuchen. Dazu ist er viel zu stolz und zu wahrheitsliebend. Gleichzeitig werde ich dann meine Kinder benachrichtigen, daß sie zusammen mit mir ebenfalls vor dem Staatsrat ihre Entschließung zu Protokoll geben sollen. Das ist der einfachste Weg.“

Herr von Bompard wiegte zögernd den Kopf hin und her.

„Der einfachste Weg – und ein gefährliches, sehr gefährliches Spiel,“ meinte er.

„Haben Sie Furcht vor der Entscheidung, Exzellenz?!“

Das klang unendlich ironisch.

„Bedenken Sie, daß Ihre Tage als Staatsminister sicher gezählt sind, wenn Borwin nicht bald zur Abdankung gezwungen wird.“

„Durchlaucht haben leider recht … – Nun gut! Ich habe bei dem Spiel ja eigentlich auch nur zu gewinnen.“ – –

Als die Fürstin Ortringen in das Schloß zurückgekehrt war, konnten jedoch Prinz Arnulf und Prinzessin Maria nicht aufgefunden werden. Erst nach längerem Nachfragen stellte die Fürstin fest, daß ihre Kinder zusammen mit Fräulein von Sinßberg ein Autotour nach dem Trinkbade Hellgenheim unternommen hätten. Es gelang ihr aber, mittels Fernsprecher die Ausflügler zurückzurufen, die fraglos noch rechtzeitig wieder in Haldenburg eintreffen mußten. –

„Pölitz, sind Audienzen nachgesucht worden?“ fragte Fürst Borwin seinen Adjutanten, der in abwartender Haltung neben seinem Schreibtisch stand.

„Nein, Ew. Durchlaucht.“

Borwin preßte für einen Moment die Lippen fester zusammen. Täglich hatte er nun diese Antwort erhalten, die ihm bewies, daß er tatsächlich das Vertrauen seiner Landeskinder nur zu sehr eingebüßt hatte.

„Ich lasse dann also zunächst Exzellenz von Bompard bitten,“ befahl er kurz. –

Herr von Bompard betrat das Arbeitszimmer seines Landesherrn. Er war auffallend blaß. Außerdem trug er heute die große Uniform mit sämtlichen Orden und auch den Dreispitz unter dem Arm.

„Morgen, Exzellenz. – Heute so feierlich?! Was hat denn das zu bedeuten?!“ Borwin schob den schweren Schreibtischsessel zurück und erhob sich. Und dem Minister, der sich heute noch unbehaglicher als sonst fühlte, schien es, als ob ein leises Lächeln überlegenen Spottes um des Fürsten Lippen spielte und er nur so tat, als überrasche ihn der feierliche Aufzug seines obersten Würdenträgers.

„Ew. Durchlaucht,“ stotterte Bompard mühsam, „ich komme heute in einer mir ebenso peinlichen wie ernsten Angelegenheit. Das Hausgesetz und die Verfassung Haldenburgs geben dem Familienrat des fürstlichen Hauses das Recht, in gewissen Fällen den Zusammentritt des Staatsrates herbeizuführen. Von diesem Recht hat Ihre Durchlaucht, die Frau Fürstin namens des Familienrates heute Gebrauch gemacht.“

„So – das ist ja außerordentlich interessant.“

Die Stimme Borwins klang völlig gleichgültig und ruhig. „Ich bin genügend mit allem vertraut, um zu wissen, daß diese „gewissen Fälle“ dann stets die Person des Landesherrn selbst etwas angehen. Nun – Sie werden mir dann ja wohl vor dem Staatsrat verfassungsgemäß mitteilen, Exzellenz, um was es sich handelt. – Ist dieser bereits versammelt?“

„Jawohl, Ew. Durchlaucht, – im blauen Saal.“

„Gut, gehen wir …!“ –

Der blaue Saal war schon früher stets zu Beratungen des Gesamtministeriums benutzt worden. Seinen Namen hatte er von der lichtblauen, goldgemusterten Tapete erhalten, mit der die Wände bekleidet waren, und von den Seidenbezügen der Polstermöbel, die genau dieselbe zarte Farbe aufwiesen.

In der Mitte stand ein langer, mit grünem Tuch bespannter Eichentisch. Um diesen herum saßen die acht Herren, die zum Staatsrat gehörten. Nur zwei Plätze waren noch frei, der des Fürsten an der einen Schmalseite des Tisches und neben ihm der des Staatsministers.

Als Borwin eintrat, erhoben sich die Anwesenden. Er begrüßte sie lediglich durch ein leichtes Neigen des Kopfes, nahm dann in dem hochlehnigen Ledersessel Platz und wandte sich sofort an den Staatsminister, dem jetzt vor Aufregung feine Schweißperlen auf der Stirn standen.

„Bitte – beginnen Sie, Exzellenz.“

Herrn von Bompard zitterten die Knie derart, daß er sich mit beiden Händen auf die Tischkante stützen mußte.

„Ew. Durchlaucht gestatten wohl, daß die Frau Fürstin dem Staatsrat beiwohnt,“ fing er mit merklich unsicherer Stimme an. „Dadurch würde sich die Erörterung der … der Angelegenheit wesentlich vereinfachen.“

„Bittet – ich habe nichts dagegen.“ –

Die Fürstin setzte sich dann an die andere Schmalseite des Tisches ihrem Neffen gegenüber, mit dem sie nur einen sehr förmlichen Gruß ausgetauscht hatte.

Eine atembeklemmende Stille lagerte einen Augenblick über der kleinen Versammlung, bis der Minister sich abermals erhob.

„Ich habe die Pflicht, Ew. Durchlaucht folgendes mitzuteilen. In der Residenz sind seit einiger Zeit Gerüchte aufgetaucht, daß Ew. Durchlaucht, verführt durch den Inder Bilawora, sich von der Religion …“

Weiter kam Herr von Bompard nicht. Fürst Borwin hatte ihm mit einer gebieterischen Handbewegung das Wort abgeschnitten.

Zurückgelehnt in seinen Sessel sagte er dann mit harter, drohender Stimme: „Sparen Sie sich alles weitere, Exzellenz! Ich kenne diese Gerüchte bis ins einzelne, auch die Quelle, aus der sie stammen. Es gibt auch aufrichtige Leute unter meinen Landeskindern, die nicht ruhig wie meine Herren Räte mit ansehen, wie die Verleumdung gegen mich weiter und weiter um sich greift, die mir geholfen haben, das dunkle Treiben des Dieners meiner Frau Tante aufzudecken. Mein alter Hegemeister Marschner gehört mit zu diesen treuen Seelen. – Ich weiß, worauf all diese Machenschaften abzielen. In den Kneipen der Stadt bespricht man schon den berühmten §9 des Haldenburgschen Hausgesetzes und wartet gespannt darauf, wann ich, der regierende Fürst, zur Abdankung gezwungen werde. Fürwahr – seit Tagen komme ich mir vor wie ein Wild, das man in ränkevoll gespannten Netzen zu fangen sucht! Und alles das haben Sie, meine Herren, mir verschwiegen! Keiner von Ihnen ist für mich eingetreten, keiner! Sie alle haben die Dinge ihren Gang gehen lassen, Sie alle haben mitgeholfen, daß ich im unklaren darüber blieb, wie ernst die allgemeine Stimmung in der Stadt gegen mich war und noch ist. Was Ihre Pflicht gewesen wäre, das brauche ich Ihnen wohl nicht vorzuhalten.“

Mit eisiger Ruhe brachte Fürst Borwin diese Sätze über die Lippen. Die Gesichter seiner Räte waren bleich geworden. Nur die Fürstin Ortringen saß aufrecht und siegesgewiß da. –

Dann sprach er weiter.

„Nun zur Sache selbst. Ich gebe zu, daß ich Monate hindurch in allerlei Zweifeln befangen war, daß ich nach der richtigen Erkenntnis gesucht habe. Solche Zeiten, wo der reife Mensch sich in seinem Innern über die höchsten Lebensfragen klar zu werden sucht, macht wohl ein jeder durch. Der Brahmanismus hat nun für einen phantasiebegabten Geist viel Verführerisches an sich. Ich habe lange und sorgfältig geprüft, ohne daß mein Freund Bilawora mich je zu beeinflussen gesucht hätte. Allein durch mich selbst habe ich herausgefunden, welche Religion allein unseren Herzen den Frieden und die Zuversicht auf eine gerechte Allmacht gibt. Es ist unser christliches Bekenntnis! – Und hier an dieser Stelle erkläre ich heute auf mein Fürstenwort, daß ich mich auch nicht einen Augenblick von dem Glauben meiner Vorfahren abgewandt habe, daß ich aus Überzeugung Christ bin und bleiben werde!“

Unwillkürlich hatte Borwin zu der Fürstin Helene hinübergeschaut. Auf deren Gesicht lag ein deutliches Lächeln des Zweifels.

Mit einem jähen Ruck schob der junge Fürst den Sessel zurück und erhob sich. Heiße Röte brannte auf seinen Wangen, und seine Stimme war heiser vor tiefer Empörung.

„Durchlaucht, Ihr Lächeln sagt mir, daß Sie …“

Ein lautes Klopfen an die Tür ließ ihn den Satz nicht beenden.

Ein Diener trat ein. –

„Ihre Hoheiten, Prinz und Prinzessin Ortringen,“ meldete er.

Arnulf und Maria traten ein. –

Auch Fürstin Helene stand jetzt auf.

„Nunmehr ist auch der im §9 vorgesehene Familienrat versammelt,“ sagte sie laut und triumphierend. „Und dieser Familienrat fordert die Vernehmung meines Kammerdieners Francois als Zeugen dafür, daß …“

Prinz Arnulf war es, der ihr ins Wort fiel.

„Verzeih’, daß ich dich unterbreche, liebe Mama,“ erklärte er mit Festigkeit. „Du bist in einem schweren Irrtum befangen. Wir, Maria und ich, sind in dieser Sache die einzigen klassischen Zeugen.“

Mit wenigen Worten schilderte er dann, wie er und seine Schwester hauptsächlich auf Betreiben der letzteren dazu gekommen wären, im Interesse des Fürsten sich selbst zu überzeugen, was an den gegen ihren Vetter erhobenen Vorwürfen Wahres daran sei.

„Wir sind jederzeit im Stande eidlich zu erklären,“ schloß er seine Ausführungen, „daß Seine Durchlaucht Fürst Borwin in der verflossenen Nacht dem Inder Bilawora des längeren auseinandergesetzt hat, weshalb er nie ein Abtrünniger werden würde. Wir wissen auch, aus welchem Grund der Inder, der hier von allen vollständig verkannt worden ist, Europa wieder verlassen will.“

Der Fürstin Helene verzerrtes Gesicht war vor ohnmächtiger Wut und Enttäuschung trotz der feinen Schminkeschicht fast grüngelb geworden. Sie sah, daß das Spiel endgültig verloren war. Deshalb versuchte sie es jetzt auch mit einem halb gütigen, halb befreiten Lächeln, das ihre Worte glaubhafter erscheinen lassen sollte:

„Ew. Durchlaucht können überzeugt sein,“ sagte sie schnell, „daß niemand diese Wendung freudiger begrüßt als ich. Wenn mich ein vielleicht zu lebhaftes Interesse für das Wohl unseres Staates dazu veranlaßt hat, nicht überhaupt mit diesen Dingen zu beschäftigen, so bin ich wohl meiner guten Absichten wegen ein wenig zu entschuldigen.“

Borwin stand noch immer aufgerichtet vor seinem Sessel.

„Auf die Beweggründe dieses gegen mich unternommenen Intrigantenspieles – denn anders vermag ich die Sache nicht zu bezeichnen – will ich nicht näher eingehen,“ sagte er kalt und förmlich. „Immerhin erscheint es mir wünschenswert, daß Sie, Durchlaucht, Ihren Wohnsitz in Zukunft außerhalb des Landes nehmen. Das wünsche ich als regierender Fürst und als Oberhaupt unserer Familie. – Euch …“ – Damit wandte er sich an die Geschwister – „danke ich für euer selbstloses Eintreten für meine Person. Ich werde hoffentlich noch einmal Gelegenheit finden, euch meine Dankbarkeit auch durch die Tat beweisen zu können.“

Eine kleine Pause.

„Was aber Sie, meine Herren, anbetrifft, die Sie als meine Ratgeber Ihre Pflichten vollständig verkannt haben, so enthebe ich Sie hiermit sämtlich Ihrer verantwortungsvollen Stellungen, denen Sie sich nicht in der Weise gewachsen gezeigt haben, wie das Wohl meines Landes dies erheischt.“

Fürst Borwins Stimme wurde immer schärfer und durchdringender.

„Ich war Ihnen jeder Zeit ein wohlwollender Herr. Aber ich war nebenbei zu sehr Mensch und zu wenig gekröntes Staatsoberhaupt. Zustände sind hier eingerissen, die ich jetzt erst in ihrer gefährlichen Tragweite richtig erkannt habe. Das soll anders werden! Fürst will ich sein, aber ein moderner Fürst, der nicht an dem Althergebrachten aus Pietät festhält, sondern den Anforderungen der heutigen Zeit Rechnung trägt. Mit eisernem Besen will ich alles fortfegen, was morsch und faul ist! Meine neuen Ratgeber sollen Männer sein, die mitten im Leben stehen, die ein offenes Auge für die Forderungen unserer Zeit haben. Gestern habe ich mit dem geheimen Kommerzienrat von Sinßberg, einem Mann, den ich hoch verehre, eingehend Rücksprache genommen, nachdem ich von meinem treuen Marschner darauf vorbereitet worden war, daß meine Räte mich vollständig im Stich lassen würden. Ich ernenne hiermit zu Ihrem Nachfolger, Exzellenz von Bompard, den Rechtsanwalt Willner, den Sie, meine Herren, wohl alle aus dem Landtag als den Führer der liberalen Opposition kennen dürften. Auch die übrigen Stellen sind bereits wieder besetzt. Morgen treten Ihre Nachfolger die Ämter an. Gleichzeitig wird im Haldenburger Anzeiger, dem Regierungsorgan, eine eingehende Klarstellung der widerwärtigen Gerüchte erfolgen. Ich flüchte mich in die Öffentlichkeit, weil ich eben zu der Mehrzahl meiner Untertanen das Vertrauen habe, daß sie mir dann volle Gerechtigkeit widerfahren lassen werden. – So – damit wäre dieser Staatsrat als beendet anzusehen. Die üblichen Vorträge der Abteilungschefs fallen heute aus.“

Noch eine knappe Verbeugung nach seinen Räten hin, von denen keiner aufzusehen wagte, und eine zweite, liebenswürdigere für Arnulf und Maria, – dann verließ der junge Fürst den blauen Saal.

Das Strafgericht war vorüber … – –

Eine Stunde später ließen die Geschwister Ortringen sich bei Borwin melden.

Maria wollte sich verabschieden, da sie ihre Mutter begleiten sollte, die schon mit dem Nachmittagszug abzureisen sich entschlossen hatte. Arnulf wieder bat, noch einige Tage die Gastfreundschaft seines Vetters in Anspruch nehmen zu dürfen und fügte dann etwas zögernd hinzu, daß er hiermit für die Genehmigung Borwins als des Familienoberhauptes zu einer Heirat mit Ena von Sinßberg nachzusuchen sich erlaube.

Der junge Fürst war beiden gegenüber von herzlichster Liebenswürdigkeit und beglückwünschte Arnulf aufs wärmste zu der getroffenen Wahl. –

„Hoffentlich holst du dir keinen Korb,“ meinte er scherzend. Worauf der Prinz ehrlich erklärte: „Meine Werbung wird Ena sicher ganz überraschend kommen. Und, wie sie sich dazu stellt, kann ich wirklich noch nicht sagen.“

Der Abschied fiel Maria offensichtlich sehr schwer. Aber sie wußte sich außerordentlich gut zu beherrschen. Nur als sie dann das Zimmer wieder verlassen hatte und an ihres Bruders Seite den Flur entlangschritt, rang sich ein wehes Schluchzen aus ihrer Kehle los, und zwei verstohlenen Tränen glänzten in ihren traurigen Augen.

Eine Lebenshoffnung hatte sie jetzt für immer begraben.

 

10. Kapitel.

Der Artikel im Haldenburger Anzeiger, der aus der gewandten Feder des neuen Staatsministers Dr. Willner stammte und in äußerst zweckentsprechender Weise auch die von Borwin beabsichtigten wirtschaftlichen Neuerungen in das rechte Licht rückte, wirkte umso mehr, als das Blatt gleichzeitig die Personalveränderungen in den höchsten Beamtenstellen veröffentlichte, und die Bürgerschaft daraus ersah, daß ihr junger Landesherrn nunmehr ausschließlich Männer zu seinen Ratgebern berufen hatte, die mitten im praktischen Leben standen und bei deren Auswahl offenbar lediglich das Interesse des Staates mitgesprochen hatte.

Wie schnell die Volksstimmung bisweilen umschlägt, dafür erhielt man jetzt den besten Beweis. Am Morgen war der vielbesprochene Artikel erschienen, und bereits am Nachmittag fanden vertrauliche Besprechungen der Vorstände verschiedener Vereine statt, die zu dem Erfolg führten, daß für den Abend ein gemeinsamer Fackelzug als Huldigung für den Fürsten beschlossen wurde.

Die Beteiligung war bedeutend größer, als die Veranstalter vermutet hatten. Gegen halb zehn Uhr abends setzte sich eine Riesenkolonne unter Vorantritt einer Musikkapelle in Bewegung. Fürst Borwin war durch Dr. Willner, mit dem er den ganzen Tag über gearbeitet hatte, erst in letzter Minute von der geplanten Ovation verständigt worden, da der neue Minister selbst sehr spät davon etwas erfahren hatte.

Borwin benutzte die Gelegenheit, um von der Freitreppe aus an die tausendköpfige, von dem Glanz unzähliger Fackeln überstrahlte Menge, die den Platz vor der Schloßauffahrt völlig ausfüllte, eine kurze Ansprache zu halten, die gerade durch ihre Schlichtheit und Wärme sofort den Weg zu den Herzen des Volkes fand. Stürmische, nicht enden wollende Hochrufe dankten dem jungen Landesherrn, der heute zum erstenmal fühlte, daß der Herrscherberuf auch für einen allen Äußerlichkeiten abgeneigten und rein menschlich empfindenden Fürsten seine erhebenden Momente hatte. – –

Die nächsten Tage vergingen für Borwin wie im Fluge. Eine Fülle von Arbeit wartete seiner. Über alles ließ er sich unterrichten, in alles wollte er eingeweiht sein. Am Vormittag wurde das Audienzzimmer nicht leer. Auch Herr von Pölitz, der persönlicher Adjutant des Fürsten, war abgelöst worden. An seine Stelle war ein simpler Hauptmann Müller getreten, ein Mann von umfassender Bildung, vielseitigen Interessen und einem warmen Herzen gerade für die armen und ärmsten des Volkes. Niemand, der dem Landesherrn persönlich eine Bitte vorzutragen hatte, wurde abgewiesen. Das sprach sich sehr bald herum. Und als Borwin dann eine Woche nach dem „großen Reinmachen“ an einem Sonntagvormittag mit großem Gefolge den Dom besuchte, da wurden ihm auf der Straße so begeisterte Huldigungen dargebracht, wie er sie während seiner Regierungszeit noch nie erlebt hatte.

Trotz alledem empfand der junge Fürst keine rechte Befriedigung und Freude über die Wendung zum Besseren, die sich nicht nur in den Beziehungen zu seinen Untertanen, sondern auch im Wirtschaftsleben des kleinen Staates bald allerorts bemerkbar machte.

Wenn er am Fenster seines Arbeitszimmers stand und durch das Grün der Eichen und Buchen des Vorplatzes hinaus in die Ferne schaute, – dorthin, wo die weite Heide sich fast bis zu dem Trinkbad Hellgenheim hinerstreckte, wenn er bei klarem Wetter eben noch die Spitze des hölzernen Aussichtsturmes erblicken konnte, auf dessen Plattform er die inhaltreichsten Stunden seines Lebens genossen hatte, dann kam stets eine müde Traurigkeit über ihn, eine so tiefe, stille Sehnsucht nach jenem jungen Weib, daß sein ganzes Dasein ihm zwecklos und leer erschien.

Exzellenz Willner, der selbst sehr glücklich verheiratet und Vater dreier hoffnungsvoller Sprößlinge war, hatte inniges Mitleid mit seinem Herrn, dessen seltenen Charakter er von Tag zu Tag mehr schätzen lernte. Trotzdem gebot es ihm seine Stellung, immer wieder auf die Notwendigkeit einer Eheschließung hinzuweisen, bis Borwin ihm dann einmal mit einem müden Lächeln erklärte:

„Lieber Willner, Sie geben sich umsonst so große Mühe, mich gefügig zu machen. Ich bleibe Junggeselle. Zu einer Verstandesheirat bin ich nicht geschaffen.“

Der Minister sah, daß es dem Fürsten völlig Ernst mit dieser Bemerkung war.

„Ew. Durchlaucht gestatten mir vielleicht ein offenes Wort,“ sagte er. „Haben Ew. Durchlaucht auch daran gedacht, wie sich in diesem Falle die Thronfolge regeln würde?“

Borwin nickte.

„Gewiß, lieber Willner. Mein Vetter Arnulf kommt hier ebensowenig wie seine etwaige Nachkommenschaft aus der Ehe mit Ena von Sinßberg in Betracht, da er bereits eine Verzichterklärung abgegeben hat, und das Fräulein von Sinßberg nicht ebenbürtig ist. Mithin muß meine Kusine Maria Ortringen sich rechtzeitig opfern, das heißt, einen Prinzen aus einem regierenden Hause heiraten. Unsere Verfassung sieht die weibliche Thronfolge vor, also würden dann einst die Kinder der Prinzessin Maria Ansprüche auf den Thron von Haldenburg haben.“

„Diese staatsrechtlichen Ausführungen sind durchaus zutreffend, Ew. Durchlaucht. Wenn nun aber Ew. Durchlaucht sich schon zu einer Verstandesheirat nicht entschließen könnten, weshalb wollen Ew. Durchlaucht dann überhaupt einsam durchs Leben gehen und nicht an eine Neigungsehe denken?“

Borwin zuckte leicht zusammen und schaute seinen Staatsminister prüfend an. Wußte der vielleicht etwas von Margot Werter …?

„Sie meinen also eine Ehe zur linken Hand,“ sagte er nachdenklich. „Aber – wissen Sie denn, ob … ob …“

Er wurde verlegen und führte den Satz nicht zu Ende.

„Ich sehe, daß Ew. Durchlaucht schwer leiden,“ erklärte der frühere Rechtsanwalt warm. „Man rühmt mir nicht umsonst einen scharfen Blick nach. – Mehr will ich nicht andeuten, nur nochmals auf eine Ehe zur linken Hand als auf eine einfache Lösung schwerwiegender Fragen hinweisen.“

Borwin war an das Fenster getreten. Draußen lag der lachende Sonnenschein über den Fluren. Und dort in der Ferne winkte die Spitze des hohen Aussichtsturmes herüber … –

Nach einer Weile begann der Minister von anderen Dingen zu sprechen. Kaum hatte er sich dann verabschiedet, als der junge Fürst das Auto befahl. Ganz allein, nur mit dem Chauffeur und einem Diener auf den Vordersitzen, ließ er sich, gekleidet in einen schlichten, hellen Sommeranzug, durch die Heide nach dem Aussichtsturm fahren. Langsam erklomm er die Treppen, langsam, pochenden Herzens. Aber die Plattform war leer.

Weiter ging’s dann in der Richtung nach Hellgenheim zu. Die Sehnsucht trieb Borwin vorwärts, diese wilde Sehnsucht, die erst heute durch die Äußerung des Ministers urplötzlich mit lodernden Flammen über ihm zusammengeschlagen war. –

Daß er auch nicht früher an diese Möglichkeit gedacht hatte …! Wozu wollte er auf ein Glück verzichten, wenn es diesen Ausweg gab …?! Wozu einsam und allein durchs Leben gehen, wo selbst ihn als regierenden Fürsten keine unüberwindliche Schranke von Margot Werter trennte …?!

Der Chauffeur ließ jetzt mehrmals hintereinander warnend die Hupe ertönen. Unwillkürlich bog der junge Fürst sich etwas zur Seite, um die Straße besser überschauen zu können …

Da ging’s wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. Eine Radlerin fuhr dort auf der rechten Seite der Chaussee dicht an der Baumreihe entlang. Borwin sah nur ihren Rücken, nur das weiße Kleid und den Strohhut mit dem schwarzen Seidenband. Und doch wußte er sofort … Es konnte nur Margot Werter sein.

Jetzt hatte das Auto sie auch bereits überholt, glitt blitzschnell vorüber. Ganz tief hatte Borwin sich in die Ecke gedrückt, um nicht gesehen, nicht erkannt zu werden. Und erst nach einigen Minuten ließ er halten, stieg aus und befahl dem Chauffeur, ihn in Hellgenheim vor dem Kurhaus zu erwarten.

Der Kraftwagen rollte davon, verschwand schnell hinter einer Biegung.

Die Radlerin kam näher und näher. Borwin war hinter eine alte, breitästige Linde am Wegrand getreten, deren Stamm ihn vollkommen verbarg. Und erst als Margot Werter bis auf wenige Schritte heran war, verließ er sein Versteck, stellte sich mit ausgebreiteten Armen ihr in den Weg und rief mit frohem Lächeln:

„Halt – Weiterfahrt verboten …!“

Aber diese Überraschung wäre beinahe übel ausgelaufen – beinahe …

Margot verlor vor Schreck über diese nie geahnte Begegnung die Gewalt über ihr Rad, und der junge Fürst konnte gerade noch zuspringen und sie in seinen Armen auffangen, um sie vor einem Sturz in den Straßenstaub zu bewahren …

Jetzt hielt er sie in den Armen – hielt sie fest, gab sie nicht wieder frei …

„Margot, wo kommen Sie her?“ fragte er leise und schaute ihr zärtlich in das hold erglühte Gesicht.

„Von … von unserem Turm …“ erwiderte sie ganz ehrlich.

„Von unserem – von unserem Turm,“ wiederholte er innig. „Unser Turm …! So hatten Sie ihn also nicht vergessen, Margot?“

„Nein … Jeden Tag bin ich dort gewesen, jeden Tag…“

Verschämt senkte sie jetzt den Kopf. Zu spät wurde ihr klar, welches Geständnis sie hiermit abgelegt hatte.

Borwin aber drückte ihren jungen Leib noch fester an sich … Alles um ihn her versank. Er dachte nicht mehr daran, daß er hier mitten auf offener Landstraße stand, daß er gesehen, bekrittelt werden könnte …

Wie ein Jubelruf kam’s über seine Lippen:

„Jeden Tag …! Jeden Tag! – Margot, und was trieb dich dorthin, was … was …?!“

„Die Sehnsucht!“ sagte sie kaum vernehmlich mit ihrer alten Aufrichtigkeit.

Da beugte er sich tiefer zu ihr herab. Und willig bot sie ihm ihre frischen Lippen dar … –

Das Rollen eines schweren Wagens und lauter Peitschenknall brachte sie dann in die Wirklichkeit zurück. Borwin gab die Geliebte frei, hob das Rad auf und trat zur Seite.

Es war das mit Bierfässern hochbepackte Gefährt einer Haldenburger Brauerei, das sich dröhnend und polternd näherte. Auf dem Bock saß, fröhlich ein Liedchen pfeifend, ein dicker, gemütlicher Kutscher.

Borwin winkte ihm anzuhalten, da er Margots Rad auf dem Wagen nach Hellgenheim schaffen lassen wollte.

Kaum hielt das Gefährt, als der Kutscher auch schon die Mütze vom Kopf riß.

„Durchlaucht befehlen?“ fragte er mit strahlendem Gesicht, nicht wenig stolz darauf, daß er seinen Landesherrn sofort erkannt hatte.

Dieser nickte ihm freundlich zu, wies auf das Rad hin und bat ihn, es nach Hellgenheim mitzunehmen und bei Margots Eltern im Pensionat Grubner abzuliefern. –

Eilfertig kletterte der Mann vom Bock, um das Fahrrad irgendwo unterzubringen. –

Dann reichte ihm Borwin schmunzelnd ein Zwanzigmarkstück.

„Hier – machen Sie sich einen vergnügten Tag, – aber nicht zu vergnügt! Sie sind der erste, der etwas davon erfährt, daß ich mich heute … verlobt habe!“

Strahlenden Blickes sah Borwin dabei die Geliebte an. Ungläubiges Staunen malte sich in dem lieben Gesicht.

Der Kutscher stammelte einen Glückwunsch, verhaspelte sich dabei, wurde sehr verlegen und grinste dann doch wieder seelenvergnügt, als sein Landesherr ihm gemütlich auf die Schulter klopfte und sagte:

„Gut, gut, mein Lieber! Wir glauben Ihnen schon, daß Sie sich ehrlich mit uns freuen …!“

Gleich darauf rollte der schwere Wagen davon.

Borwin wandte sich Margot wieder zu. Die stand noch immer mit demselben Ausdruck halben Zweifelns auf dem eigenartig reizvollen Antlitz da. Sanft zog er sie an sich …

„Komm’, mein liebes, liebes Mädchen aus der Fremde, nun wollen wir uns sofort die Einwilligung deiner Eltern holen,“ sagte er zärtlich, um Margot die Gewißheit zu geben, daß dieses Glück auch von Bestand sein würde.

„Aber … du … du bist doch ein regierender Fürst, und ich nur eine Bürgerliche … Wie soll …“

„Wenn du einwilligst, dich mir zur linken Hand antrauen zu lassen, mein Liebling, so steht unserer Vereinigung nichts – nichts im Wege,“ sagte er ernst.

Sie antwortete nicht gleich. Wußte sie doch, welches Opfer es für ihn bedeutete, eine solche Ehe einzugehen, den Verzicht darauf, daß die Thronfolge sich in seiner Linie weitervererbe. –

Und ehrlich machte sie ihn jetzt mit gesenkten Augen und in lieblicher Verlegenheit auf diese Folgen aufmerksam.

Da lachte er fröhlich heraus. „Wenn das deine einzigen Bedenken sind, so gelten sie nichts! Wirst du nicht die meine, so bleibe ich eben unvermählt, – das habe ich schon meinem neuen Staatsminister erklärt …!“

Da erst erkannte sie, wie sehr er sie liebte, wie unendlich die Sehnsucht nach ihr gewesen sein mußte …

Beide Arme legte sie ihm um den Hals und küßte ihn wortlos, während Tränen jubelnder Seligkeiet ihr über die Wangen rannen … – –

Schon am nächsten Tage brachten der Haldenburger Anzeiger die Mitteilung von der Verlobung des Fürsten.

Die Freude über dieses Ereignis war allgemein. Nur in den Kreisen, die den so plötzlich abgesetzten Räten nahestanden, rümpfte man die hoch aristokratischen Nasen. Aber was hatte das der Tatsache gegenüber zu bedeuten, daß Fürst Borwin gerade durch diese Wahl, bei der lediglich sein Herz gesprochen hatte, bei seinem Volke noch beliebter wurde, daß schon an einem der nächsten Abende, als Margot mit ihren Eltern zum Besuch im Residenzschloß weilte, abermals ein Fackelzug, an dem die halbe Stadt sich beteiligte, wie eine feurige Schlange sich nach dem Schloß hin bewegte, und dann von den Vorständen der verschiedenen Vereine Reden gehalten wurden, aus denen selbst der hämischste Neider ersehen mußte, wie populär Fürst Borwin und wie sehr diese Verlobung nach dem Herzen des Volkes war. – –

Bereits im Herbst fand dann auf Schloß Hirschenstein ohne vielen Prunk die Vermählung statt, und dort verlebte das junge Paar auch inmitten der herrlichen, im Herbstschmuck prangenden Wälder seine Flitterwochen.

Margot Werter war, wie dies bei morganatischen Ehen stets zu geschehen pflegt, unter dem Namen einer Gräfin von Hochturm mit dem Prädikat Erlaucht in den Adelsstand erhoben worden. Diesen Namen hatte sie selbst für das neue Grafengeschlecht, dessen Stammmutter sie auf diese Weise wurde, ausgesucht – in dankbarer Erinnerung an das hochragende Bauwerk in der Heide, auf dessen Plattform die Liebe zwischen Borwin und ihr so wunderzart aufgeblüht war. – –

Maria von Ortringen heiratete dann wirklich auf Drängen ihrer Mutter einen ebenbürtigen Prinzen. Aber dem Haldenburger Hofe blieb sie nach Möglichkeit fern. Mit anzusehen, wie Borwin in seiner Ehe ein restloses, durch nichts getrübtes Glück gefunden hatte, wie er seine Gattin fortdauernd mit Aufmerksamkeiten umgab und sie in Wahrheit auf Händen trug, – das ging über ihre Kräfte. Ihr Herz gehörte ja noch immer ihrem Vetter, den sie für sich nicht hatte erringen können …

 

 

Anmerkungen:

  1. Bracke bezeichnet einen bestimmten Typ der Jagdhunde.
  2. Standesungleiche Ehe