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Die Gäste des Barons

 

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Bibliothek der besten Romane

 

Band 306

 

Die Gäste des Barons.

 

Roman von

W. Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

„Vatting, wie siehst du denn aus?!“ rief Baronesse Adda, als der Schlitten kaum vor der Rampe des Schlosses Rolfersdorf hielt.

Der riesige Körper des Gutsbesitzers schälte sich aus der schweren Pelzdecke heraus, während über das von einem grauen Spitzbart umrahmte Gesicht, auf dem überall die Narben kaum verheilter kleiner Wunden zu sehen waren, ein halb belustigtes, halb ärgerliches Lachen flog.

„Wie ein geschundener Raubritter, nicht wahr?“ knurrte Baron Rolfer aus dem Schlitten heraus, küßte sein Töchterchen zärtlich und stieg Arm in Arm mit ihr die Freitreppe empor.

„Vatting, woher rühren denn all diese Wunden?“ fragte Adda besorgt, da sie jetzt erst sah, daß der Schloßherr doch übler zugerichtet war, als sie auf den ersten Blick gedacht hatte.

„Nachher bei Tisch, Kind. Es ist eine lange Geschichte. Erst muß ich etwas zu Atem kommen,“ meinte der Baron ein wenig verlegen.

„Bist du denn gefallen?“

„Na ja – son bißchen.“

Sie waren in die Vorhalle getreten, wo der alte Diener dem Gutsbesitzer den schweren Fahrpelz abnahm und sich dabei zu bemerken erlaubte:

„Der Herr Baron haben hoffentlich gutes Wetter in Berlin gehabt.“

„Es ging, Franz, es ging! So winterlich wie hier bei uns sieht es in der Reichshauptstadt leider nie aus. Sie haben’s da immer verflucht eilig, den Schnee wieder fortzuräumen – wegen der elektrischen Straßenbahnen. Scheußlich ist’s, wenn der Schnee durch das auf die Schienen gestreute Salz in so ekligen braunroten Schlamm verwandelt wird.“

Baronesse Adda stand dabei und wunderte sich. Ihr Vatting wollte offenbar über dieses erste Wiedersehen durch ein paar nichtssagende Redensarten schnell hinwegkommen. Er schien weitere Fragen nach der Ursache der Gesichtswunden zu scheuen.

Und mit merklicher Hast zog er sich nun auch in seine Zimmer zurück.

Als des Barons wuchtige Schritte verhallt waren, wandte der alte Franz, der Adda schon auf den Knien als winziges Püppchen geschaukelt hatte, mit fragendem Gesichtsausdruck sich ihr zu.

„Der Herr Baron sieht ja aus, als ob ihm irgend etwas recht Unangenehmes passiert sei,“ meinte er vorsichtig. Er hoffte eben, daß Adda bereits erfahren habe, wie der Gutsherr zu diesen Verletzungen gekommen war.

Das junge Mädchen, ein zierliches Geschöpfchen mit liebreizendem, frischem Gesicht, seufzte ziemlich vernehmlich.

„Ich ahne das Richtige, Franz. Daran trägt sicher ein Dauerfrühschoppen in einer Weinstube die Schuld. Papa benutzt diese Geschäftsreisen nach Berlin ja leider nach Mamas Tode häufiger dazu, um sich „mal wieder auszuleben“, wie er es nennt.“

Franz nickte nur. Und dann gingen sie jeder wieder seiner Beschäftigung nach. – –

Der Baron erschien pünktlich im Speisezimmer. Der alte Diener trug die Suppe auf. Er bediente stets bei Tisch, – eine Arbeit, die nicht gerade groß war, da Vater und Tochter nur selten Gäste bei sich sahen. Der Gutsrendant[1] und die beiden Inspektoren wurden nur Sonntags zur Mittagstafel zugezogen. In dieser Beziehung war Baron von, dessen Geschlecht einer altfranzösischen Emigrantenfamilie angehörte, noch völlig der streng aristokratische, pommersche Landedelmann geblieben: ein kleiner König auf seiner Scholle, der seine Angestellten trotz aller Liebenswürdigkeit stets fühlen ließ, daß er der Herr sei.

Beim Braten – es gab einen reichgespickten Hasen, den Adda letztens selbst auf dem Anstand geschossen hatte, lenkte diese dann das Gespräch, das ihr Vater bisher geflissentlich über Wirtschaftsangelegenheiten geführt hatte, ziemlich unvermittelt auf die Berliner Reise über, und der Baron mußte nun wohl oder übel mit seinem Bericht über das Vorgefallene herausrücken.

„Ja, Kleines, die Sache war also folgendermaßen,“ begann Herr von Rolfer etwas unsicher, indem er es vermied, sein einziges Kind dabei anzusehen. „Ich hatte mit Major v. Seebach von den Gardefüsilieren und noch einigen anderen Bekannten in der Traube gesessen. Es wurde etwas spät. Na – spät eigentlich nicht. Wir hatten ja schon um zwölf Uhr mittags mit Burgunder angefangen. Das Deubelszeug ist mir nie bekommen.“

Adda und Franz, der sich leise am Büffet zu schaffen machte, wechselten einen verständnisvollen Blick.

„Also so gegen fünf Uhr trennten wir uns. Ich hatte mich für sechs Uhr mit dem Getreide-Kohn im „Siechen“ verabredet, und wollte vorher noch bei Josty eine Tasse Kaffee trinken. Auf dem Potsdamer Platz war der übliche Betrieb. Ganze Wagenreihen sperrten den Verkehr. Trotzdem riskierte ich den Übergang. Es war sehr glatt auf dem Asphalt, überall Schneewasser, so recht glitschiges Zeug. Plötzlich saß ich in der Klemme. Von zwei Seiten kamen Autos, von rückwärts eine Elektrische … Da verlor ich den Kopf und rannte blindlings in ein drittes Auto hinein, so einen Riesenkasten von Bierwagen von irgend einer Brauerei. Schon hörte ich im Gedanken meine Knochen knacken, als jemand mich zurückriß. Trotzdem streifte die Seite des Lastautos noch mein Gesicht. Na – jedenfalls lagen wir – mein Retter und ich, dann in inniger Umarmung in dem Straßenschmutz.“

Der Baron machte eine kleine Pause und trank einen Schluck Rotwein.

Diese Gelegenheit benutzte Adda, um vorwurfsvoll zu bemerken:

„Wie konntest du nur so unvorsichtig sein, Papa! – Wieviel Burgunder hattet ihr denn getrunken, wenn ich fragen darf?“

„Weiß ich nicht, kleiner Schulmeister,“ brummte der Schloßherr. Und dann fügte er hinzu:

„Hm – die Sache hatte aber noch ein Nachspiel, Kind.“

„So?“ meinte Adda ahnungsvoll. – „Wer weiß, was jetzt noch kommt,“ dachte sie neugierig. Das väterliche Gewissen schien nämlich auch jetzt noch nicht so ganz rein zu sein, da das graubärtige Beichtkind halb verlegen ein Stückchen Brot zerkrümelte.

„Ja – ein Nachspiel,“ fuhr der Baron mit tapferem Anlauf fort. „Ich mußte mich doch bei meinem Retter bedanken und ihn für seine durch das Salzwasser verdorbenen Kleider entschädigen. Natürlich wollte er davon als gebildeter Mensch nichts wissen. Aber schließlich bearbeitete ich ihn doch wenigstens so weit, daß er eine Einladung von mir zum Mittagessen in der Traube für den nächsten Tag annahm.“

„Wieder die Traube!!“ meinte Adda seufzend.

Der Baron merkte jetzt, daß sein Töchterlein die ganze Sache weit weniger streng auffaßte, als er gefürchtet hatte. Und daher begann er das Folgende mehr von der humorvollen Seite zu schildern.

„Schilt mir die Traube nicht!“ sagte er schmunzelnd. „Man kann dort auch ernste Stunden ohne viel Burgunder verleben. Und so ging es mir mit meinem Gast.“

„Da bin ich wirklich gespannt!“

„Laß die spitzen Redewendungen, Kleines! Der Walter Pöling hat mir nämlich seine Lebensgeschichte erzählt, während wir mit Austern anfingen und mit Gefrorenem aufhörten.“

„Walter Pöling? Der Name kommt mir recht bekannt vor. – Halt – nun besinne ich mich: in der Stettiner Zeitung habe ich ein paar Romane von ihm gelesen – falls nämlich dein Retter Schriftsteller ist.“

„Stimmt – ist er! – Na – viel Erbauliches hörte ich nicht. Pöling hat erst Jura studiert; dann starben seine Eltern, und das Geld war nicht vorhanden, um das Studium fortzusetzen. Da versuchte er’s mit der Schriftstellerei. Zwei Jahre lang hauste er in einer Dachkammer, und eine Erbssuppe bei Aschinger bedeutete für ihn schon Schlemmerei. Endlich gab er die Idee, durch fein ausgearbeitete Romannovellen und Gedichte sich einen berühmten Namen zu machen, auf. Er hatte seine eigentliche Befähigung erkannt und schrieb Kriminalromane, die ihm bald soviel einbrachten, daß er sein Leben etwas behaglicher gestalten konnte. Aber glänzend war die Geschichte noch immer nicht. In bitterer Selbstironie nannte er sich wiederholt einen Romanfabrikanten, keinen Schriftsteller! Und fügte hinzu: „Ja, wenn ich nur ein paar Monate arbeiten könnte, ohne ständig von Nahrungssorgen geplagt zu werden! Dann würde ich der Welt schon beweisen, daß ich auch Besseres leisten kann!“ –

Sieh’, Kind, als er dies so – fraglos ohne jede Nebenabsicht! – hinsprach, da ging wieder mal mein gutes Herz mit mir durch, und ich …“

Er zögerte.

„… und du gabst ihn ein paar hundert Mark,“ vollendete Adda gleichgültig. „Wozu zauderst du, das einzugestehen? Ich finde es nur richtig von dir, daß du …“

„Stopp, Kind, stopp! Du bist auf dem Holzwege. Pöling ist kein Mensch, dem man – selbst unter der Maske eines Gönners – Geld anbieten darf. Der hätte mich schön abfallen lassen! Er nahm ja nicht mal einen Ersatz für seine Kleider hin. – Nein, Kleines, ich habe ihm meine Dankbarkeit anders bezeigt: ich habe ihn gebeten, für ein paar Monate auf Schloß Rolfersdorf unser Gast zu sein!“

Nun war es heraus! Und prüfend schaute der Baron jetzt sein Töchterlein daraufhin an, was es zu dieser Überraschung wohl sagen würde.

Adda war tatsächlich von dieser Neuigkeit zunächst recht wenig entzückt. Der Gedanke, hier für längere Zeit einen Wildfremden als Hausgenossen dulden zu müssen, barg soviel kleine Unannehmlichkeiten in sich, daß sie beim besten Willen keine freudige Zustimmung zu heucheln vermochte. Anderseits siegte aber ihr mitfühlendes Herz und sie sagte sich, daß sie die geringen Unzuträglichkeiten, die dieser Besuch vielleicht im Gefolge haben würde, schon deshalb auf sich nehmen müsse, da es galt, einem nach Erfolg ringenden Schriftsteller weiterzuhelfen.

Und daher meinte sie nun auch, dem Vater herzlich zunickend:

„Das war eine glückliche Idee von dir, Vatting. – Hat Pöling die Einladung denn angenommen?“

„Nach langem Kampf erst. Er ist ein sehr zurückhaltender Mensch, der niemandem zur Last fallen will. Schließlich erklärte ich ihm ich würde es ihm geradezu übelnehmen, wenn er sich weiter noch weigere. – Na – und nun können wir ihn in den nächsten Tag erwarten.“

In Addas neunzehnjährigem Herzen regte sich, da die Sache nun einmal entschieden war, sofort das Weib. Sie wollte wissen, wie Pöling aussehe, wie alt er sei und anderes mehr.

Der Baron schmunzelte vergnügt. Ein Segen, daß er seine Neuigkeit losgeworden war und daß sein Kleines nun bereits Interesse an dem zukünftigen Hausgenossen zu verraten begann.

So erzählte er ihr denn bereitwilligst alles, was sie wissen wollte. – Dann trat bei Adda die Hausfrau zutage.

„Am besten ist’s, wir bringen ihn in den beiden Turmzimmern unter. Das ist so recht ein Poetenheim,“ meinte sie. „Auch die Aussicht durch die Schlucht nach der fernen See hin dürfte ihm gefallen. Freilich müssen wir dann noch einige Möbelstücke hinaufschaffen lassen.“

„Kein übler Gedanke,“ stimmte der Baron zögernd zu.

Nur Franz erlaubte sich im Hintergrunde merklich zu räuspern. Und dann trat er vor und sagte leise:

„Herr Baron verzeihen … Aber gerade der Turm?!“

Rolfer drehte sich halb auf seinem Stuhl um und meinte halb ärgerlich, halb ironisch:

„Natürlich – du alter Hasenfuß würdest dort nicht hausen wollen! Daß euch alten Leuten doch der Aberglaube nicht auszutreiben ist!“

Franz nahm den Vorwurf ruhig hin.

„Herr Baron – und der Techniker, der damals in dem Turme wohnte, als wir die Brennerei bauen ließen, und der dann …“

„Laß den Blödsinn!“ unterbrach Rolfer ihn schroff. „Räume die Teller weg, und trage Butter und Käse auf.“

Adda hatte erstaunt hingehorcht.

„Techniker? – Was gab’s denn mit dem Manne?“ fragte sie eifrig. „Hier scheint ja irgend ein Geheimnis vorzuliegen. Daß es in dem alten Schwedenturme spuken soll, ist natürlich barer Unsinn. Aber der Techniker – in welchem Zusammenhang …“

„Da haben wir’s!“ polterte der Schloßherr sichtlich erregt. „Daran bist du allein schuld, Franz! Bisher habe ich dem Mädel diese Geschichte glücklich verschwiegen, und nun mußt du alter Tapergreis mit deiner albernen Gespensterfurcht dazwischen platzen! – Jedenfalls verbiete ich dir, daß du meine Tochter mit diesem Blech behelligst, und wer sich von den anderen Gutsangestellten etwas herauslocken läßt, fliegt sofort – sofort! Sage das allen nur!“

Adda war sprachlos. Seit langem hatte sie ihren Vater nicht so zornig gesehen.

Der warf jetzt die Serviette auf den Tisch und fuhr weicheren Tones fort:

„Mahlzeit, Kind. Mir ist der Appetit vergangenen. Zehn Jahre lang habe ich diese Geschichte vor dir geheimgehalten, um deine Jugendjahre nicht durch traurige Eindrücke zu belasten. Und – ich bitte dich darum! – frage und forsche nicht nach dieser Begebenheit. Jede Erinnerung daran bringt mir unfrohe Stunden.“

Dann küßte er sie auf die Stirn, ließ sich die Mütze durch Franz bringen und ging in die Ställe, um dort nach dem Rechten zu sehen.

Adda hatte diesen Zwischenfall auch bald vergessen. Anderes beschäftigte sie jetzt weit lebhafter. Für ihre neunzehn Jahre hatte der Gedanke, daß ein junger Schriftsteller in kurzem ihre Einsamkeit auf Rolfersdorf teilen würde, immerhin etwas Aufregendes. Bisher waren ihr ja nur Herren begegnet, die der Aristokratie angehörten, zumeist Offiziere, die sie auf größeren Festlichkeiten in Berlin kennen gelernt hatte. Wie es in bürgerlichen, besonders aber in Künstlerkreisen herging, davon hatte sie nur eine recht undeutliche Vorstellung, herrührend von der Lektüre einiger Romane und von Äußerungen adliger Altersgenossinnen, die sich wegwerfende Urteile anmaßten, ohne selbst genügend über diese Verhältnisse unterrichtet zu sein. –

Gewiß, ihr lieber Vatting hatte ihr ja Walter Pöling als einen Kavalier geschildert, mit dem man sich überall sehen lassen könnte. Aber diesem Urteil traute sie nicht ganz. Der Papa hätte sich gehütet, den Schriftsteller anders hinzustellen. Sie hatte ihm ja die leise Angst deutlich angemerkt, wie sie die Nachricht von diesem Besuch hinnehmen würde. Und da wollte er ihr natürlich die vielleicht bittere Pille nach Möglichkeit versüßen. Schriftsteller konnte sie sich nun einmal nicht anders vorstellen die mit schmutzigem Kragen, wehender Krawatte, schlechtsitzendem Anzug, Künstlermähne und mangelhaften Manieren … – –

Genau eine Woche später kam dann ein Brief von Pöling an, in dem dieser dem Baron seine Ankunft für den nächsten Mittag ankündigte. Und ein Schlitten, den der Schloßherr selbst lenkte, holte den Gast in zuvorkommendster Weise von der nächsten Bahnstation ab.

Als das Schellengeläut zwei Stunden später die Rückkehr des Schlittens schon von weitem verriet, trat Adda neugierig hinter die Gardinen des Speisezimmers, von wo aus sie die Freitreppe des Schlosses bequem überblicken konnte. Aber zu ihrer Enttäuschung ließ der Baron direkt vor dem Turmeingang vorfahren. Und daher bekam sie Walter Pöling erst zu Gesicht, als der Vater ihr den Gast kurz vor Tisch im kleinen Salon vorstellte.

Bei seinem Anblick konnte sie ihre Überraschung nur schlecht verbergen. Im Geiste hatte sie sich ihn so ganz anders vorgestellt.

Aber diese Überraschung war eine durchaus angenehme.

Pöltings schlanke, fast jünglingshafte, hochaufgeschossene Figur bekleidete ein tadellos sitzender Smokinganzug, dessen scharf gebügelte Beinkleider auf ein Paar glänzende Knopflackstiefel herabfielen. Blendend weiße Wäsche, dazu eine zwanglos gebundene schwarzseidene Schleife vervollständigten den Eindruck eines Mannes, der viel auf sein Äußeres hielt.

Und dann das Gesicht …!

Er war keineswegs ein schöner Mann. Dazu war die Nase zu groß und die Kinn- und Stirnpartie zu eckig gemeißelt. Dunkle, etwas melancholische Augen und ein selten gutgeformter Mund jedoch wirkten geradezu anziehend, und die Gesamtwirkung dieses frischen Knabengesichtes, in dem zwei Durchziehernarben den früheren Studenten verrieten, war entschieden eigenartig charakteristisch. Jung, sehr jung sah Walter Pöling aus, und doch lag in diesem ernsten Antlitz ein Zug, der den gereiften Mann verriet.

Gewandt und sicher richtete der Schriftsteller an Adda, die ihm zur Begrüßung die Hand gereicht hatte, einige Worte des Dankes für die Instandsetzung der behaglichen Turmzimmer. Seine Art, wie er sprach, hatte etwas Bestimmtes, beinahe Selbstbewußtes an sich. Sein Organ war jedoch außerordentlich biegsam, konnte weich und einschmeichelnd, aber auch scharf und energisch klingen. –

Man setzte sich zu Tisch. Bald beherrschte der Schriftsteller, ohne sich vorzudrängen, die Unterhaltung vollkommen. Man sprach über das moderne Berlin. Wie Pöling es mit treffenden Bemerkungen zeichnete, entstand vor Adda ein ganz neues Bild dieser Millionenstadt mit ihrem regen, nie rastenden Geschäftsleben.

Nach der Mahlzeit blieb man bei einer Tasse Kaffee noch im kleinen Salon zusammen. Und hier war es, wo der Baron, der offenbar schon in Berlin großes Gefallen an dem jungen Schriftsteller gefunden hatte, diesen bat, fortan keine „große Toilette“ für die gemeinsamen Mahlzeiten zu machen.

„Mein lieber Herr Pöling, wir wollen ihr ganz zwanglos miteinander verkehren,“ meinte er. „Sonst geht die Gemütlichkeit zum Deubel.“ –

Bald darauf verabschiedete der Gast sich.

Als er gegangen war, drehte der Schloßherr sich seinem Töchterchen zu und sagte nur fragend:

„Na?!“

Adda nickte ihm lächelnd zu.

„Mit dem wird’s zum Aushalten sein,“ meinte sie scherzend.

* * *

Pöling, der die Begleitung des Barons mit dem Bemerken dankend abgelehnt hatte, daß er sich schon zurechtfinden werde, war inzwischen durch die Vorhalle und über die von dort in die oberen Stockwerke führende breite Treppe in den langen Flur gelangt, den er bis ganz Ende verfolgen mußte, wo dann eine altertümliche, schwere Eichentür in den viereckigen Turm mündete, der noch ein Überbleibsel aus der Schwedenzeit war.

 

2. Kapitel.

Walter Pöling zog die schwere Tür, die vom Flur des ersten Stockes in den Schwedenturm führte, hinter sich ins Schloß und stieg die feste, eichene Treppe zu seinen beiden Zimmern empor. Diese lagen in der Höhe des Schloßdaches. Ihr Licht empfingen sie durch lange, schmale Fenster, die nachträglich in die meterdicke Mauer eingebrochen waren. Die beiden Räume waren gleich groß, und jeder nahm ungefähr die halbe Fläche des Turmes ein. Aus dem Schlafgemach führte eine Wendeltreppe in den obersten Turmraum, von da wieder eine Leiter auf das Dach. Falltüren aus tief nachgedunkeltem Holz verschlossen die Öffnungen in den Decken.

Die beiden Gemächer, die man dem jungen Schriftsteller angewiesen hatte, waren außerordentlich behaglich eingerichtet. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, Bilder, Geweihe und alte Waffen schmückten die Wände, und in den weit vorspringenden, gemauerten Kaminen knisterten und krachten gemütlich die Buchenscheite. Mächtige Efeustauden umwucherten den ganzen Turm und umgaben auch die Fensteröffnungen mit einem Gerank grüner Zweige.

Ein inniges Dankgefühl zog durch des Schriftstellers Herz, als er jetzt an das Nordfenster seines Wohnzimmers trat und den Blick über die winterliche Landschaft schweifen ließ. Dort, hinter dem Parke zog sich eine mit Tannen bewachsene tiefe Schlucht in gerader Linie bis zur Ostsee herab, deren Rauschen man an stürmischen Tagen hier sicher hören mußte. In dieser Umgebung, die die Poesie längst vergangener Zeiten mit der friedlichen Stille ländlicher Einsamkeit verband, mußte sein Werk gelingen. Die Idee dazu schwebte ihm seit Jahren vor. Aber zur Ausarbeitung hatte er nie die Zeit gefunden. Dazu gehörte höchste Sammlung – und Sorgenfreiheit. Beides war ihm nun gewährt durch die Güte des Barons.

Pöling begann seine Koffer auszupacken. In einer halben Stunde war er völlig eingerichtet. Bis sieben Uhr beschäftigte er sich mit dem Entwurf zum ersten Kapitel des neuen Romanes. Dann – inzwischen hatte er einen dunkelblauen Jackenanzug angelegt – begab der sich in den kleinen Salon, wozu er die bereitstehende Laterne in Brand setzte, da der Flur des alten Schloßflügels nicht beleuchtet wurde, worauf der Baron ihn besonders hingewiesen hatte.

Nach dem Abendessen blieben die drei jetzigen Bewohner des Schlosses Rolfersdorf noch bis gegen zehn Uhr in gemütlichem Geplauder beisammen. Und diese erste Nacht schlief Walter Pöling dann fest und traumlos in seinem breiten, altertümlichen Bett.

* * *

Für den nächsten Vormittag hatte der Baron mit seinem Gast einen Spaziergang nach dem Seestrande hin verabredet.

Auch heute herrschte klares Wetter bei etwa ein Grad Kälte. Das Gehen war unter diesen Umständen eine Lust, und die beiden Herren schritten denn auch wacker aus.

In lebhaftem Geplauder gelangten sie bald auf eine Anhöhe, wo der Baron plötzlich stehen blieb und mit der Hand nach einer entfernten, ziemlich tief liegenden Stelle des weißen Schneefeldes deutete. Dort bemerkte jetzt auch der Schriftsteller einen Schwarm Krähen, die über einen bestimmten Punkte in der Luft kreisten, sich zuweilen niederließen und dann wieder aufstiegen, ohne jedoch den Platz zu verlassen.

„Das Viehzeug muß da irgendein Aas haben, an dem es seine Mahlzeit hält,“ meinte der Baron. „Vielleicht ist’s ein Stück Rehwild, das dort verendet ist. Für Ihre Patentstiefelchen ist der Weg querfeldein durch den mehr als fußhohen Schnee allerdings nichts, bester Pöling. Bleiben Sie also hier und warten Sie auf mich.“

Aber der Schriftsteller wollte davon nichts wissen.

„Mehr als nasse Füße kann ich mir nicht holen,“ erklärte er und stapfte hinter dem Schloßherrn drein, der mit seinen hohen Schaftstiefeln freilich weit besser daran war, als sein Gast.

Die scheuen Krähen bemerkten die beiden Männer schon von weitem und strichen mit schwerfälligen Flügelschlägen davon.

Dann prallte der Baron mit einem Male förmlich zurück, so daß Pöling mit ihm hart zusammenstieß.

„Donner und Doria!“ rief der Gutsbesitzer entsetzt. „Was ist denn das? – Da – sehen Sie, ein Mensch liegt dort im Schnee – wahrhaftig ein Mensch!“

Sie befanden sich jetzt noch etwa dreißig Schritt von der Stelle entfernt. Der Schriftsteller sah auf den ersten Blick, daß Rolfer sich nicht geirrt hatte.

„Vorwärts – gehen wir näher heran, Herr Baron,“ meinte er eifrig. „Es kann sich doch nur um eine Leiche handeln,“ fügte er hinzu, „sonst hätten sich die Krähen nicht so dicht herangewagt.“

Aber der Schloßherr stand wie angewurzelt. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt, und sein Gesicht drückte deutlich eine gewisse Ängstlichkeit aus.

„Lachen Sie mich nicht aus, Herr Pöling, – aber ich habe nun mal eine unüberwindliche Scheu vor Leichen,“ sagte er dumpf.

Dann gab er sich einen energischen Ruck.

„Nein – ich muß mich bezwingen …! So ein Hüne wie ich und derartige Anwandlungen!! Los denn …!“

Und tapfer schritt er wieder voran.

Nun standen sie dicht vor dem auf dem Boden tief in den Schnee eingebettet liegenden Manne. Und gleichzeitig stießen sie einen leisen Schrei des Entsetzens aus. Die Krähen waren hier an der Arbeit gewesen und hatten, da sie der Kleidung wegen nicht an den übrigen Körper herankonnten, die ungeschützten Teile, – Kopf und Hände, mit ihren gierigen Schnäbeln zerfetzt und so eine ekle Mahlzeit gehalten.

Der Baron, der sonst sicher das bloße Wort „Nerven“ verachtete, schüttelte sich vor Grauen. Den Schriftsteller dagegen, der in seiner Studienzeit sich viel mit gerichtlicher Chemie beschäftigt und häufig auch Sektionen beigewohnt hatte, ließ der entstellte Leichnam ziemlich kalt, nachdem er sich einmal an das furchtbare Aussehen des Toten gewöhnt hatte. Und bald regte sich auch in ihm der Kriminaltheoretiker. Oft genug hatte er ja in seinen Romanen aus freier Phantasie Szenen geschaffen, die dieser hier an Schauerlichkeit nicht viel nachgaben. Nun stand er zum erstenmal in seinem Leben vor einer Aufgabe, bei der er beweisen konnte, daß er auch in der Praxis denselben Scharfsinn besaß, den er seinen Helden andichtete. Ein Blick in die Runde hatte ihm nämlich gezeigt, daß es sich hier wahrscheinlich um mehr handelte als nur einen harmlosen Leichenfund, ganz abgesehen davon, daß auch der Tote selbst Merkmale aufwies, die ihm sofort auffällig erschienen.

Jetzt hatte sich der Baron etwas von seinem Entsetzen erholt.

„Furchtbar!“ meinte er. „Den Anblick vergesse ich so bald nicht.“ Und dann fügte er hinzu: „Der Kleidung nach ist’s ein Angehöriger der besseren Stände. Wer mag es nur sein?!“

„Ich könnte ja seine Taschen einmal untersuchen, aber ich darf es nicht,“ erwiderte Pöling nachdenklich. „Wir werden die Polizei benachrichtigen müssen, sonst ziehen wir uns vielleicht Unannehmlichkeiten zu.“

„Wenn das Ihre einzigen Bedenken sind, – die kann ich schnell zerstreuen,“ sagte der Baron. „Ich bin hier Amtsvorsteher und daher mit gewissen polizeilichen Befugnissen ausgestattet. Trotzdem – mir könnte einer weiß Gott was versprechen, und ich rührte doch den Toten nicht an.“

Dabei schaute er seinen Gast mit einem Blick an, der alle seine Zweifel an dessen größer Selbstüberwindung ausdrückte.

Pöling merkte das und meinte daher gelassen:

„Die Naturen sind verschieden. – Ich werde den Toten untersuchen.“

Er zog seine Handschuhe aus und kniete neben der Leiche nieder.

„Die Taschen sind sämtlich leer – auch nicht die geringste Kleinigkeit ist darinnen,“ erklärte er dann lebhaft. „Das gibt zu denken – sogar sehr!“

Er richtete sich wieder auf und ließ abermals seinen Blick in die Runde schweiften.

„Merkwürdig!“ murmelte er dann. „Sehr verdächtig ohne Frage! Die Geschichte wird immer rätselhafter.“

„Was heißt das?!“ forschte der Baron gespannt. „Wittern Sie hier tatsächlich etwas Besonderes?“

„Vielleicht,“ erwiderte Pöling zerstreut. Und dann fragte er hastig, als sei ihm eben ein neuer Gedanke gekommen:

„Wann hat es hier zum letzten Male geschneit, Herr Baron?“

Der Gutsbesitzer dachte nach.

„Vor einer Woche hatten wir Tauwetter. Da ging aller Schnee dahin, der bis jetzt gefallen war. Dann setzte wieder leichter Frost ein mit starkem Schneefall. Das war vor drei Tagen. Es schneite fast die ganze Nacht hindurch. Seitdem ist neuer Schnee nicht mehr heruntergekommen, das weiß ich bestimmt. – Aber – weshalb interessiert Sie das, bester Pöling? Hängt das hier mit dem Toten zusammen?“

„Allerdings. – Ich will jedoch mit einer Gegenfrage antworten. Dann kommen Sie schneller dahinter, worauf ich hinaus will. – Wann ist Ihrer Ansicht nach der Tote an diese Stelle gelangt, Herr Baron?“

Rolfer zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung? Woher soll ich das wissen!“

„Ungefähr müssen Sie wir das aber doch angeben können. Es gibt da ein ganz bestimmtes Merkmal,“ erwiderte Pöling hartnäckig.

„So?!“ – Man sah es dem Baron an, daß er sich jetzt ernsthaft den Kopf zerbrach.

„Die Geschichte ist mir zu hoch!“ meinte er endlich ungeduldig. „Reden Sie, Verehrtester! Mit solchen Sachen müssen Sie ja auch als Schriftsteller, der Kriminalsachen schreibt, Bescheid wissen.“

Pöling wehrte mit der Hand ab.

„Sie übersehen, daß zwischen Theorie und Praxis ein gewaltiger Unterschied ist. Theoretisch beherrsche ich die Kriminalwissenschaften so ziemlich, weil sie zu meinem Rüstzeug sozusagen gehören. Aber praktisch …?! – Das bleibt abzuwarten! Trotzdem gebe ich zu, daß mein immerhin etwas geschärfter Blick hier manches vermißt, was dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nach hier sein müßte.“

„Bester – nun reden Sie endlich mal vernünftig,“ polterte der Baron halb scherzend. „Kein Wort begreife ich von Ihren Andeutungen – kein Wort!“

„Das wird bald anders werden. – Gestatten Sie eine zweite Frage. – Auf welche Weise ist der Tote hier an diese Stelle gelangt, Herr Baron?“

„Na – wahrscheinlich genau so wie wir: auf seinen zwei Beinen, – falls er nicht gerade geritten ist.“

„Oder von dritten Personen hierher getragen wurde – denn an die Möglichkeit muß man doch auch denken,“ ergänzte der Schriftsteller.

„Sehr gut. Das habe ich vergessen,“ stimmte Rolfer zu.

„So. Und nun bitte schauen Sie sich einmal hier ringsum den Schnee an, Herr Baron. – Sehen Sie außer den Spuren der Krähen und außer unserer Doppelfährte noch andere Abdrücke menschlicher Füße oder die Stapfen eines Tieres – etwa eines Pferdes?“

„Nichts – nichts sehe ich. – Aber …“

„Kein „Aber“! Die Erkenntnis wird Ihnen sofort aufleuchten,“ meinte Pöling, der mit aller Hingabe bei diesem Frage- und Antwortspiel war. „Vor drei Tagen hat es zum letztenmal geschneit, – so sagten Sie doch, Herr Baron! Da der Tote hier nun ziemlich tief in den Schnee eingedrückt daliegt, ohne daß seine Kleider mit Schnee beweht sind – bitte schauen Sie genau hin! – So muß der Tote erst nach dem letzten Schneefall an diese Stelle gelangt sein. – Leuchtet Ihnen das ein?“

„Vollkommen!! – Hm – daß ich nicht selbst auf diesen Gedanken kam! – Ich wußte ja – bei diesen Spitzfindigkeiten sind Sie mir über.“

„Keine Spitzfindigkeiten, sondern einfache logische Schlüsse sind’s! – Doch weiter! – Wenn nun der Tote erst nach dem letzten Schneefall hier sein Ende fand, dann müßten wir, da es, um dies nochmals hervorzuheben, ja inzwischen nicht mehr geschneit hat, doch notwendig seine Spuren sehen, nicht wahr?!“

„Großartig, bester Pöling, großartig! Ja – Spuren müßten da sein – unbedingt!“ Der Baron nickte verständnisvoll. Dann nahm sein Gesicht einem anderen, recht nachdenklichen Ausdruck an.

„Vor Ihnen muß man sich ja geradezu in acht nehmen,“ fügte er hinzu.

Das sollte scherzend klingen; doch der Unterton war ein anderer, hörte sich ein wie plötzlich erwachte Besorgnis.

Pöling entging diese merkwürdige Klangfärbung nicht. Aber er war zu stark mit anderen Gedanken beschäftigt, um hierüber weiter nachzugrübeln.

„Die Frage, wie der Tote an diese Stelle gelangt ist, können wir mithin nicht beantworten,“ sagte er jetzt. „Erörtern wir nun, daß uns sonst noch an dieser Leiche auffallen muß. – Bitte, Herr Baron, vielleicht sind Sie jetzt glücklicher.“

„Freilich – freilich; der Mann hat keine Kopfbedeckung, keine Handschuhe und keinen Mantel.“

„Sehr gut. Aber die ersteren beiden können unter der Leiche liegen. Überzeugen wir uns!“

Jetzt überwand Rolfer sich doch schon so weit, daß er dem Schriftsteller half, den Toten hochzuheben.

Aber die gesuchten Sachen fanden sich nicht, und vorsichtig ließen die Männer den starren Leichnam wieder in sein weißes Bett zurücksinken.

„Kopfbedeckung und Handschuhe, ebenso ein Mantel oder dergleichen, der doch bei einem Manne mit so tadellos gutem blauen Jackenanzug zu dieser Jahreszeit vorhanden sein müßte, fehlen also,“ meinte Pöling wieder. „Es fehlt aber auch jeglicher Tascheninhalt. Und dieser Umstand stimmt mich so bedenklich, daß ich jetzt nachsehen werde, ob ich bei oberflächlicher Untersuchung des Toten Anzeichen dafür finde, ob dieser jetzt völlig unkenntliche Mann vielleicht eines gewaltsamen Todes gestorben ist.“

Abermals kniete der Schriftsteller neben dem Toten nieder und begann ihm die Weste aufzuknöpfen.

Wenige Minuten später richtete er sich hastig wieder auf. In seinen Augen flimmerte es vor Erregung, als er nun leise sagte:

„Herr Baron – der Mann ist ermordet worden. Er hat in der Brust drei Stiche, und die Unterwäsche ist völlig mit Blut durchtränkt. Daß dieses nicht auch die blaue Weste durchnäßt hat, liegt daran, weil der Tote unter der blauen noch eine Pelzweste trägt, und zwar eine von bester Qualität.“

Der Schloßherr war bleich geworden vor Schreck.

„Eine schöne Geschichte!“ meinte er hilflos. „Und auf meinem Grund und Boden! – Was tun wir da?“

„Wir telegraphieren an das nächste zuständige Gericht,“ erklärte Pöling.

„Also nach Kolberg an die Staatsanwaltschaft,“ ergänzte Rolfer. –

Nach kurzem Meinungsaustausch machte sich dann der Baron auf den Rückweg nach dem Schloß, während der Schriftsteller an Ort und Stelle so lange Wache halten sollte, bis Rolfer einen Gendarm herbeordert hatte.

Eilig stapfte der Gutsbesitzer davon.

Und Walter Pöling war mit dem Ermordeten allein.

 

3. Kapitel.

Eine halbe Stunde war verstrichen. Der Schriftsteller ging jetzt im Eiltempo auf und ab. Seine Schuhe und Strümpfe waren bereits völlig durchnäßt, und die Kälte, die von den Füßen sich auf den übrigen Körper verteilte, wurde immer unangenehmer.

Endlich tauchte auf dem Wege ein Mann in Uniform auf. Es war der Gendarm, den Rolfer herbeordert hatte.

Der Beamte meldete sich bei Pöling stramm dienstlich zur Stelle. Wenige Worte wechselten sie dann nur, worauf der Schriftsteller sich nach dem Schlosse begab.

Der Baron kam ihm schon durch den Park entgegen.

„Ich habe nicht telegraphiert, sondern mit dem Staatsanwalt in Kolberg mich telephonisch verbinden lassen,“ erklärte er. „Die Gerichtskommission dürfte im Auto schon unterwegs sein. In spätestens einer Stunde ist sie hier. Adda hält ein Mittagessen für die Herren bereit. – Hm – übrigens, was Adda anbetrifft – da möchte ich Sie bitten, mit ihr möglichst wenig über unseren schauerlichen Fund zu sprechen.“

Pöling versprach bereitwilligst, dem Wunsch seines Gastgebers nachzukommen. Dann begann Rolfer wieder von dem Morde zu sprechen. Aus seinen Äußerungen ging hervor, wie unangenehm er davon berührt war, daß das Verbrechen gerade auf seinem Besitz entdeckt sei.

„Diese Scherereien mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft sind mir recht verhaßt,“ meinte er. „Ich lasse mir nicht gern den Frieden und die Ruhe unserer ländlichen Einsamkeit stören. Passen Sie mal auf, wie jetzt die Kriminalpolizei hier herumschnüffeln wird.“

In dem Ton seiner Stimme lag weniger Ärger, als vielmehr ein gewisses ängstliches Unbehagen. Und als des Schriftstellers feines Gehör dies feststellte, da trat vor dessen Geist plötzlich eine andere Szene des heutigen Vormittags: als sie an der Leiche des Ermordeten gestanden hatten und der Baron äußerte, daß man sich vor Pöling geradezu in acht nehmen müsse …

Unwillkürlich grübelte der Schriftsteller nun darüber nach, welchen Grund wohl diese offenbare Scheu des Barons vor Menschen haben könne, von denen er annahm, daß sie zur Untersuchung von Kriminalfällen mehr oder weniger geeignet seien. Aber eine einleuchtende Erklärung fand er nicht. Und schließlich mußte er alles weitere Nachdenken über diesen Punkt aufgeben, da sie mittlerweile vor dem zweiten Eingang zum Schwedenturm angelangt waren, der vom Parke aus in Pölings Zimmer führte.

Hier verabschiedete dieser sich, indem er angab, er wolle noch bis zum Mittagessen arbeiten. – –

Nachher bei Tisch erschien Adda nicht. Fraglos hatte der Baron ihr dies nahegelegt, da er wußte, daß an der Tafel doch nur von dem Morde gesprochen werden würde, was infolge der Anwesenheit der Gerichtskommission nur zu natürlich war.

Diese bestand aus dem Staatsanwalt Fehlhauser, dem Untersuchungsrichter Karling, dem Kriminalkommissar Wenger, dem Gerichtsarzt und einem Protokollführer. Bereits bei der Suppe, die wie das ganze Mahl sehr eilig eingenommen wurde, erzählte der Baron, welche treffenden Kombinationen sein Gast am Fundort der Leiche entwickelt habe.

Der Staatsanwalt, ein kleiner, korpulenter Herr, lächelte dazu etwas überlegen.

„Sie sind Schriftsteller, Herr …“

„… Pöling,“ ergänzte dieser.

„… Herr Pöling, wenn ich vorhin bei der Vorstellung richtig gehört habe. Da bringt es Ihr Beruf mit sich, daß Sie eine etwas lebhafte Phantasie besitzen. Wenn ich erst an Ort und Stelle bin, werden wir schon herausbringen, wie der Tote dorthin gelangt ist.“

Der Schriftsteller erwiderte nichts, sondern nahm das unterbrochene Gespräch mit dem Protokollführer, einem jungen Referendar, wieder auf. Wenn er sich auch nicht über diese Bemerkung des Staatsanwaltes ärgerte, so nahm er sich doch vor, nunmehr nichts mehr von dem zu erwähnen, was er noch an auffälligen Spuren am Tatort entdeckt hatte, ebenso wie er beschloß, sich von der ganzen Angelegenheit möglichst fernzuhalten.

Gleich nach Tisch fuhren die Herren in ihrem Auto nach der Stelle, wo der von dem Gendarm bewachte Leichnam lag. Der Baron begleitete die Kommission, während Pöling zurückblieb und sich den Kaffee in den kleinen Salon bringen ließ.

Hier gesellte sich bald die Baronesse zu ihm, die ohne weitere Zwischenbemerkung gleich auf den grausigen Fund zu sprechen kam und von dem Schriftsteller nähere Einzelheiten hierüber erbat, da, wie sie etwas ärgerlich erklärte, ihr Vater auch aus dieser Sache ein großes Geheimnis zu machen suche.

„Ich bin doch kein Kind mehr!“ fügte sie hinzu. „Papa ist mir in dieser Beziehung geradezu. Wir jungen Damen vom Lande verfügen doch Gott sei Dank über ziemlich robuste Nerven.“

Pöling haschte jetzt nach einem kleinen Wörtchen aus Addas letzten Sätzen.

„Verzeihung, gnädigste Baronesse, – Sie sagten da eben „auch aus dieser Sache ein großes Geheimnis zu machen“,“ meinte er. „Dieses „auch“ deutet wohl darauf hin, daß Ihr Herr Vater Sie noch über eine zweite ähnliche Begebenheit in Unkenntnis erhalten möchte.“

Adda zauderte zunächst etwas mit der Antwort. Dann aber erwiderte sie entschlossen:

„Wozu soll ich nicht die Wahrheit sagen?! – Ja, Herr Pöling, ich spielte mit diesem „auch“ auf einen ähnlichen Fall an. Mit Ihnen kann ich mich über diese Sache ja aussprechen. Allen seinen Angestellten hat Vater nämlich aufs strengste verbotenen, mit mir darüber zu reden. Als gehorsame Tochter will ich deshalb die Dienerschaft oder sonst jemanden auch nicht aushorchen. Immerhin bringe ich dieser Angelegenheit aber doch aus dem Grunde ein reges Interesse entgegen, weil ich den Eindruck gewonnen habe, daß es sich dabei um Dinge handelt, die an meinem Vater nicht ganz spurlos vorübergegangen sind. Sie würden mich daher zu großem Dank verpflichten, wenn Sie einmal bei dem alten Franz so etwas auf den Busch klopfen wollten.“

Des Schriftstellers junges und so ernstes Gesicht verzog sich zu einem kleinen Lächeln.

„Gnädigste Baronesse – wäre das nicht so eine kleine Umgehung der väterlichen, sicher gut gemeinten Absichten?“ fragte er.

Adda errötete leicht.

„Das mag sein,“ meinte sie. „Aber ich liebe es nicht, mich als Kind behandeln zu lassen. Aus einem Wortwechsel zwischen Papa und Franz entnahm ich, daß in denselben Räumen, die Sie jetzt bewohnen, mit einem Techniker irgend etwas passiert sein muß und zwar vor zehn Jahren. Ich war damals schon in Eberswalde im adligen Fräuleinstift, wo ich meine Erziehung erhielt. Bis vor kurzem ahnte ich nicht, daß hier sich je ein Ereignis abgespielt habe, dessen Folgen sich noch heute darin äußern, daß unsere Leute heimlich sich zuflüstern, es spuke im Schwedenturm. Meine Phantasie malt mir jetzt nach diesen Andeutungen dieses Vorkommnis sicherlich zu schlimm aus. Und meine Gedanken werden nicht eher Ruhe finden, bis ich die Wahrheit weiß.“

Pöling nickte.

„Ich kann das verstehen, gnädigste Baronesse. – Gut denn – ich will versuchen, Franz bei Gelegenheit so ein wenig auszuforschen.“

Adda dankte ihm herzlich und fügte dann hinzu:

„Bitte – schenken Sie sich das „gnädigste“, Herr Pöling. Wir werden doch längere Zeit Hausgenossen sein, und da erschweren derartige Förmlichkeiten nur den zwanglosen Verkehr.“

Der Schriftsteller verbeugte sich erfreut.

„Wie Sie wünschen, Baronesse. – Nun aber zu dem heutigen Ereignis. Was dies anbetrifft, so habe ich Ihrem Herrn Vater das Versprechen gegeben, Ihnen Einzelheiten nicht zu erzählen. Sie werden begreifen, daß ich mithin, so leid es mir tut, Ihrer Bitte nicht entsprechen kann, die Sie zu Anfang unseres Gespräches äußerten.“

„Also wieder diese Geheimniskrämerei!“ meinte sie nun wirklich erzürnt. „Ich begreife Papa nicht! Freilich hätte ich mir denken können, daß er Ihnen auf diese Weise den Mund verschließen würde. Meinen Fragen wich er ja auch schon in so auffälliger Weise aus.“

Da jetzt das Wirtschaftsfräulein erschien, um mit Adda einiges durchzusprechen, verabschiedete Pöling sich und begab sich über den Flur des alten Schloßflügels in den Turm.

In seine Arbeitszimmer setzte er sich dann in den Schreibtischsessel, zündete sich eine Zigarette an und überlegte das eben Gehörte.

Also spuken sollte es hier?! – Pöling schaute sich in den traulichen Gemach, in dem die Buchenscheite so poetisch knisterten und knallten, behaglich lächelnd um. Wie abergläubisch doch diese Leute vom Lande waren! In unserer heutigen, modernen Zeit ein solche Dinge zu glauben! – Nun – er würde ja hören, was der alte Diener über die Gespenster des Turmes angeben könne.

Dann ging er an die Arbeit. So flog ihm die Zeit schnell dahin. Es wurde dunkler und dunkler. Nun hörte er auch die Gerichtskommission im Auto zurückkommen, und bald darauf erschien der Baron bei ihm, um ihn auf Geheiß des Staatsanwalts in den kleinen Salon zu bitten.

Als Rolfer mit seinem Gast den geschmackvoll eingerichteten Raum betrat, saß die Gerichtskommission um den Mitteltisch herum, über dem die elektrische Krone brannte, wie denn auch der ganze neue Flügel des Schlosses mit dieser Art von Beleuchtung ausgestattet war.

Nachdem die beiden Zeugen gleichfalls Platz genommen hatten, räusperte der Staatsanwalt sich und begann dann mit seiner etwas harten Stimme:

„Herr Referendar, lesen Sie zunächst das Protokoll vor, das wir an Ort und Stelle aufgenommen und hier soeben genauer ergänzt haben.“

Und der Protokollführer las:

„Die oben näher bezeichnete Gerichtskommission begab sich heute auf telephonische Benachrichtigung hin nach dem Gute Rolfersdorf hinaus, wo dessen Besitzer, Baron von Rolfer, und der zur Zeit im Schlosse als Gast anwesende Schriftsteller Walter Pöling gegen halb zwölf Uhr vormittags auf dem Felde nördlich des Schlosses eine männliche Leiche gefunden hatten. An Ort und Stelle wurde dann, nachdem der Tote von verschiedenen Seiten photographiert worden war, rings um den vorher genau untersuchen Leichnam mit einer Harke der Boden …“

„Nicht „Boden“, – der „Schnee“,“ verbesserte der Staatsanwalt.

„… der Schnee durchsucht in der Absicht, etwaige unter der Schneedecke liegende Gegenstände ans Tageslicht zu fördern. Es wurde jedoch nur in einer Entfernung von etwa zwei Meter ein längliches, verrostetes Eisenstück auf diese Weise hervorgeharkt, an das ein Tau angebunden war. Nach dem übereinstimmenden Urteil der Kommission hat dieses Eisenstück mit dem Toten selbst nichts zu tun. Es dürfte vielmehr zu irgend einem landwirtschaftlichen Gerät gehören und schon seit längerer Zeit dort gelegen haben.“

Die weiteren Ausführungen, die das Aussehen der Leiche, die Stichverletzungen und die Umgebung des Fundortes betrafen, brachten nichts Neues.

Dann hieß es in dem Protokoll weiter:

„Die Ansicht der Kommission geht dahin, daß der unbekannte und unkenntliche Tote, aus dessen Kleidern offenbar absichtlich alles entfernt ist, was zu einer späteren Identifizierung hätte dienen können, wahrscheinlich dort, wo er gefunden wurde, von einem dritten ermordet und beraubt worden ist. Der Zeitpunkt, an dem der Mord verübt wurde, läßt sich nur vermuten. Es dürfte die Nacht in Frage kommen, in der es hier zum letzten Male geschneit hat, und zwar die Stunde vor Tagesanbruch, da der Schneefall um diese Zeit aufhörte und deshalb die Leiche zwar ziemlich tief im Schnee eingebettet lag, ohne jedoch selbst von diesem bedeckt zu sein. Daß in der Nähe keine Fußspuren mehr zu entdecken sind, ist nur so zu erklären, daß der Täter die Eindrücke in dem Schnee sehr sorgfältig verwischt hat. Hierfür fanden sich zwar keine Anzeichen, aber dieses bleibt die einleuchtendste Erklärung, zumal lockerer Schnee ein Material darstellt, daß sich hierzu recht gut eignet. – – Vorläufiges Urteil des Gerichtsarztes: Der Tod ist ohne Zweifel durch die drei Stiche verursacht worden, die sich in der Brust des Toten vorfinden. Als Waffe, – die bisher nicht gefunden wurde, kommt nur ein dolchähnliches Instrument in Frage. Die Stöße müssen mit sehr großer Kraft von einem starken Manne ausgeführt worden sein, da sie durch sämtliche Oberkleider und auch durch die Pelzweste gegangen sind.“ –

Der Protokollführer legte den Bogen beiseite.

„So, das wäre vorläufig alles,“ meinte der Staatsanwalt. „Und nun zu den Herren Zeugen. Ihre Vernehmung ist ja nur eine Formsache, aber gemacht muß es werden. – Herr Baron, erzählen Sie also nochmals kurz, wie Sie den Toten auffanden, was Sie an der Leiche besonderes bemerkten und fernerhin, wann hier der letzte Schneefall stattfand.“

Diese Angaben waren bald schriftlich niedergelegt, worauf der Gutsbesitzer sie unterzeichnete.

Nun wandte der Staatsanwalt sich dem jungen Schriftsteller zu.

„Bei Ihnen, Herr Pöling, wird es genügen, wenn Sie die Aussage des ersten Zeugen zugleich als die Ihrige mit anerkennen. Bitte unterschreiben Sie also das Protokoll in seinen letzten Teile.“

Während Pöling seinen Namenszug neben den des Barons setzte, fügte der Staatsanwalt hinzu:

„Sie sehen, Herr Pöling, daß wir Fachleute doch zu einem wesentlich anderen Resultat bei der Untersuchung dieses Falles gekommen sind wie Sie. Sie erhalten hier gleich einen vortrefflichen Beweis dafür, wie weit Theorie und Praxis auseinander gehen.“

Ganz feiner Spott klang durch die Worte Fehlhausers hindurch.

Pöling legte die Feder hin und schaute den Staatsanwalt mit fragendem Blick an.

„Zu einem wesentlich anderen Resultat?!“ meinte er kühl. „Inwiefern?! – Hinsichtlich des Zeitpunktes, an dem der Tote an jene Stelle gelangte, – ich sage absichtlich nicht „dort ermordet wurde“ –? Sind Sie doch mit mir einer Ansicht. Der einzige Unterschied besteht zwischen uns, abgesehen davon, daß es mir sehr fraglich erscheint, ob der Unbekannte an dem Fundorte auch die tödlichen Stiche empfing, in der Beurteilung des Fehlens jeglicher Fußspuren bei der Leiche und in der weiteren Umgebung.“

Der Staatsanwalt verzog sein von der Luft stark gerötetes Gesicht zu einem überlegenen Lächeln.

„Und wie beurteilen Sie denn dieses Fehlen?“ fragte er ein wenig herablassend. „Sie haben doch dem Herren Baron gegenüber geäußert, daß Ihnen gerade dieser Umstand sehr verdächtig vorkomme. Vielleicht sprechen Sie sich hierüber einmal aus.“

Pöling zuckte die Achseln.

„Was hätte das für einen Zweck, Herr Staatsanwalt?! Wenn eine Anzahl von Praktikern zu der Ansicht gelangt ist, daß der Täter die Spuren mit Schnee wieder fein säuberlich verwischt oder besser überstreut hat, so habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Allerdings bleibt es wohl etwas merkwürdig, wie der Mörder dies bei Dunkelheit hat tun können und zwar in so verkommener Weise, daß meine Augen von irgend welchen Veränderungen der Schneeoberfläche auch nicht das Geringste an irgend einer Stelle bemerken konnten.“

Der Schriftsteller hatte mit gelassener Ruhe gesprochen, und doch hatte jeder der Anwesenden das Gefühl, daß er sich über den Staatsanwalt so ein ganz klein wenig lustig machte.

Fehlhauser mußte dies auch gemerkt haben, denn er erwiderte ziemlich scharf:

„Bei Dunkelheit! – Wenn auch der Mord noch vor Tagesanbruch verübt ist – der Schneefall soll gegen sechs Uhr morgens aufgehört haben –, so kann der Täter sehr gut am nächsten Vormittag zurückgekehrt sein, um die Spuren zu verwischen.“

„… und um sich dann vielleicht sehen zu lassen, damit ja sofort der Verdacht auf ihn fällt, wenn ihn eben jemand in der Nähe des Fundortes zufällig beobachtet,“ ergänzte Pöling ruhig. „Dieses Zurückkehren an den Tatort, besser an die Fundstelle, wäre doch ein übergroßer Leichtsinn gewesen. Ja, wenn der Mörder dann wenigstens noch so schlau gewesen wäre und hätte die Leiche ebenfalls mit Schnee zugedeckt! Aber das tat er nicht, weil …“

„… weil er eben darauf hoffte, daß an der abgelegenen Stelle der Tote nicht so leicht entdeckt werden würde,“ unterbrach Fehlhauser ihn.

Aber Pöling ließ jetzt selbst der unliebenswürdige Ton des Staatsanwalts nicht auf seine Angriffe gegen dessen Theorien verzichten.

„Dieser Mörder muß ein sehr beschränkter Mensch gewesen sein,“ erklärte er kopfschüttelnd. „Was war für ihn wohl gefährlicher – die Auffindung von Fußspuren oder die der Leiche?! Doch wohl das Letztere. Menschliche Fährten im Schnee, in so tiefem Schnee, lassen keinerlei Mutmaßungen auf Art, Größe und Besonderheiten des Schuhwerks zu. Er brauchte also Spuren nicht so sehr zu fürchten, während es doch für ihn weit ratsamer und auch schneller zu erledigen gewesen wäre, wenn er die Leiche säuberlich verscharrt und dadurch die Entdeckung des Verbrechens vielleicht auf recht lange Zeit verhindert hätte.“

Diese so treffenden Bemerkungen machten offenbar auf die übrigen Herren einen gewissen Eindruck. Nur der Staatsanwalt schien nichts davon zu halten und erklärte recht ablehnend:

„Lassen wir diese theoretischen Erörterungen, die zu nichts führen können. Die Hauptsache bleibt, daß der Tote das Opfer eines Verbrechens geworden und daß der Mord jedenfalls hier in nächster Nähe verübt ist.“ –

Dann wandte er sich an den Baron: „Wie ich schon vorhin Ihnen mitteilte, wird morgen die gerichtliche Leichenöffnung stattfinden und zwar in dem Spritzenhause, das Sie uns liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt haben. – Wir können aufbrechen, meine Herren. Für Ihre Gastfreiheit unseren herzlichsten Dank, Herr Baron.“

Während die Mitglieder der Gerichtskommission sich zur Abfahrt rüsteten, trat der junge Protokollführer an Pöling heran und sagte leise und etwas zaghaft:

„Hm – um ganz ehrlich zu sein, Herr Pöling, Ihre Ausführungen, die Sie über die Begleitumstände dieses Mordes machten, haben mir sehr gefallen. Ich fürchte, daß der Herr Staatsanwalt sich die Sache doch zu einfach vorstellt.“

Der Schriftsteller zuckte die Achseln.

„Mich geht die Geschichte ja weiter nichts an. Aber – würden Sie mir vielleicht sagen, wo jenes Eisenstück geblieben ist, das im Protokoll erwähnt wurde?“

Der Referendar schaute Pöling forschend an. Dann erwiderte er bereitwilligst:

„Soweit ich mich erinnere, wurde es achtlos beiseite geworfen. Es muß irgendwo in der Nähe des Leichenfundortes liegen.“

„Danke sehr. – Wird denn der Staatsanwalt nicht irgend einen Kriminalbeamten herschicken, der die Ermittlungen hier aufnimmt?“

„Natürlich. Ein Kollege des Kommissars Wenger dürfte noch heute im Schlosse eintreffen. Mit dem Baron ist schon alles verabredet. Der Beamte wird sich als Vertreter einer Firma ausgeben, die die Einrichtung eines elektrischen Antriebes für die Brennerei und die Molkerei übernehmen will. Der Baron war nicht sehr entzückt davon, daß sich diese Maßnahme als durchaus nötig erwies, wie der Staatsanwalt betonte. Schließlich willigte er denn doch ein, den Kriminalkommissar Hersel für einige Zeit im Inspektorhause unterzubringen. – Bitte erwähnen Sie aber nicht, daß Sie dies alles von mir erfahren haben. – Leben Sie wohl, Herr Pöling. Ich habe mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“

 

4. Kapitel.

Der Baron vermied nachher beim Abendessen nach Möglichkeit jeden Hinweis auf die Ereignisse des heutigen Tages. Er schien verdrossen und nachdenklich, starrte oft wie geistesabwesend vor sich hin und gab bisweilen ganz verkehrte Antworten.

Pöling, der hierfür keine rechte Erklärung fand, wollte nicht lästig fallen und begab sich daher gleich nach Tisch in seine Turmwohnung hinauf, obwohl er den bittenden Blick der Baronesse, der ihn zum Bleiben aufforderte, sehr wohl bemerkt hatte.

Er zündete die Spirituslampe an, warf noch ein paar Scheite in den Kamin und setzte sich an den Schreibtisch. Aber sehr bald merkte er, daß es ihm heute an der nötigen Sammlung fehlte. Seine Gedanken eilten unwillkürlich immer wieder zu dem armen Toten zurück, der jetzt in dem Spritzenhause einsam und verlassen dalag und um den vielleicht liebe Angehörige irgendwo sich sorgten. –

Wer war dieser Mann? Woher stammte er? –

Sicher ein Angehöriger der gebildeten Stände. Das bewies die ganze Kleidung und die feine Unterwäsche. Hier in der näheren Umgegend war er nicht zu Hause. Sonst würden wohl der Baron oder der Gendarm ihn trotz des unkenntlichen Gesichtes an der Figur, dem Anzuge oder der Haarfarbe wiedererkannt oder doch wenigstens eine Vermutung ausgesprochen haben.

So grübelte Pöling unaufhörlich über allerlei Einzelheiten nach. Er hatte den Schreibtischplatz verlassen, sich den altertümlichen, hohen Armsessel an den Kamin gerückt und hing nun bei einer Zigarette seinen Gedanken nach, die er mit scharfem Verstande zu allerlei neuen Schlüssen und Gesichtspunkten über den Mord aufbaute.

Dann klopfte es. Es war der alte Diener, der mit seinem glattrasierten, faltigen Gesicht wie ein Schauspieler aussah.

„Unsere Baronesse schickt mich, Herr Pöling.“

Dabei stellte er das Tablett, auf dem eine Schale mit Obst sowie ein Tellerchen mit Keks neben einer Flasche Rotwein standen, auf den Mitteltisch.

„Sehr liebenswürdig. Richten Sie der Baronesse meinen besten Dank aus,“ sagte der Schriftsteller, dem Alten freundlich zunickend. Innerlich mußte er lächeln, da er ahnte, daß Addas Absicht eine doppelte gewesen sei; ihm zugleich mit den Erfrischungen die Gelegenheit zu geben, Franz so ein wenig auszuhorchen.

Nun – er wollte ihr denn auch gefällig sein, wie er’s versprochen hatte, und begann deshalb mit dem langjährigen Diener des Hauses Rolfer ein Gespräch, auf das der Alte, redselig wie alle älteren Leute, bereitwillig einging.

„Sagen Sie mal, Franz, gibt es denn hier im Schlosse auch so etwas wie ein Hausgespenst? Jedes anständige, alte Gemäuer muß doch einen Spuk aufzuweisen haben, sonst ist es nicht vollwertig.“

So leitete er die Unterhaltung ein, indem er direkt auf sein Ziel losging.

Der Alte stellte die mitgebrachten Erfrischungen von dem Servierbrett auf den Tisch. Dann erwiderte er bedächtig:

„Ich merke, Herr Pöling, daß Sie an solche Dinge nicht glauben. Hätten Sie jedoch so wie ich Ihr Leben hier in Rolfersdorf zugebracht, so würden Sie wohl zu einer anderen Überzeugung gelangt sein. Ich will über diese Sachen nicht sprechen. Der Herr Baron hat es uns streng verboten. In diesem Punkte versteht er keinen Spaß.“

„So – das tut mir recht leid. Gerade als Schriftsteller habe ich für alles, was den Anschein des Übernatürlichen besitzt, ein reges Interesse. Wir brauchen Anregung, um in unseren Romanen stets neues und abwechslungsreiches schildern zu können. – Hm – hat der Baron Ihnen denn auch untersagt mit mir dieses Thema zu behandeln, Franz? Das kann ich kaum glauben.“

Der Alte schaute den Gast seines Herrn nachdenklich an.

„Eigentlich haben Sie Recht, Herr Pöling. Auf Ihre Person bezog sich das Verbot kaum. Ja – wenn der Herr Baron nichts erfahren würde von dem, was wir jetzt hier sprechen, so – so möchte ich gerade mit Ihnen recht gern über diese Dinge reden, gerade mit Ihnen. Der Gendarm Mühlmann hat nämlich vorhin im Inspektorhause erzählt, was die Herren von der Kommission aus Kolberg am Fundorte der Leiche über Sie gesprochen haben. Mühlmann meint, Ihre Ansichten über diesen seltsamen Mord seien gar nicht so von der Hand zu weisen, trotzdem der Herr Staatsanwalt darüber nur gelächelt habe, und Sie müßten sicher ein sehr heller Kopf sein, – so behauptete der Gendarm. Sehen Sie, Herr Pöling, – deshalb möchte ich mal Ihre Meinung über die Sache hören, die ich nun schon zehn Jahre lang in meiner Brust mit mir herumtrage und die mein Gewissen insofern etwas belastet, als ich seiner Zeit darüber vor Gericht etwas verschwiegen habe.“

Der Schriftsteller blickte überrascht auf. Ging doch aus der letzten Bemerkung des Dieners hervor, daß in Rolfersdorf auch schon vor einem Dezennium ein Ereignis sich abgespielt haben müsse, das eine gerichtliche Untersuchung zur Folge hatte. Nun war er wirklich begierig zu hören, was hier eigentlich vorgefallen war.

Auf seine dringende Aufforderung hin mußte der alte Mann sich nun auch einen Stuhl an den Kamin bringen und sich setzen. Außerdem bot Pöling ihm auch eine Zigarre an und reichte ihm eigenhändig Feuer. Der Alte hatte seine anfängliche Befangenheit bereits abgeschüttelt.

„So hat meine Menschenkenntnis mich also nicht getäuscht,“ sagte er dankbar und aufrichtig. „Gleich, als ich Sie sah, Herr Pöling, sprach eine innere Stimme zu mir: das muß ein guter Herr sein, einer, der auch für unsereinen was übrig hat! – Und dasselbe erklärte ich dann heute unserer Baronesse, die mir eifrig Recht tat.“

Pöling lächelte und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Keine Schmeicheleien, Alterchen! – Und nun heraus mit den Neuigkeiten. Ich bin sehr gespannt darauf. Vielleicht finde ich tatsächlich für manches eine Erklärung, das bisher wie ein Rätsel erschien.“

Der Diener nickte gedankenvoll mit dem weißen Schauspielerkopf.

„Ja – dunkle, sehr dunkle Rätsel sind’s sogar, Herr Pöling. Hören Sie also. – Der Herr Baron heiratete erst mit dreiunddreißig Jahren, nachdem er – mit Respekt zu sagen! – sich gründlich die Hörner abgelaufen hatte. Unserer Baronesse Mutter war eine geborene Agathe von Treibettin aus Mecklenburg, – alter, aber armer Adel. Nun – das Fräulein von Treibettin mit ihren kaum zwanzig Lenzen hat den reichen Baron von Rolfer wohl damals nur halb freiwillig genommen. Sie soll eine Jugendliebe gehabt haben und von den Eltern beinahe zu dieser Ehe gezwungen worden sein. Anders stand es mit unserem Baron. Der war in seine Braut und seine spätere Gattin bis über beide Ohren verliebt. Das genügte aber nicht, um ein festes Glück zu begründen. Unsere neue Herrin wanderte hier stets umher wie geistesabwesend. Selten hat man sie lächeln gesehen, sehr selten. Trotzdem war sie von Herzen gütig und liebevoll zu jedermann. Auch als unsere Baronesse geboren wurde, änderte sich ihr stilles, gedrücktes Wesen nicht. Der Baron hat alles versucht, um sie aufzuheitern, hat mit ihr weite Reisen gemacht, ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen: ihre Liebe konnte er sich nicht erringen. Schließlich gab der das vergebliche Werben auf, war mehr in Berlin wie im Schlosse und vernachlässigte Frau und Kind vollständig. Es ist traurig, daß ich das sagen muß, – aber es ist nun einmal die Wahrheit.“

Der Alte machte eine kleine Pause und zündete seine ausgegangene Zigarre wieder an. Dann fuhr er fort:

„Ich würde Ihnen diese Einzelheiten aus der Familiengeschichte nicht erzählen, Herr Pöling, wenn es nicht nötig wäre. Aber Sie sollen doch ein klares Bild über diese Dinge erhalten. – So, und nun muß ich auf den „Techniker“ zu sprechen kommen, wie der Herr Baron den Herrn Müller immer etwas geringschätzig nannte. In Wirklichkeit war dieser nämlich Ingenieur und ein richtiger studierter Mann, dazu eine stattliche Erscheinung mit gewinnenden Manieren und sicher auch von vorzüglichem Charakter. Er baute damals hier die Maschinen in die Brennerei ein und wohnte während der Zeit in diesen Zimmern. Mit meinem Herrn stand er nicht sonderlich gut. Vielleicht hatte der Herr Baron es ihm verargt, daß er es dankend ablehnte, die Mahlzeiten mit den Herrschaften zusammen einzunehmen.“

Der Alte hüstelte. Offenbar war ihm die Kehle von dem vielen ungewohnten Sprechen trocken geworden.

Pöling bewies auch jetzt sein gutes Herz, indem er aufstand, eigenhändig die Flasche Rotwein entkorkte und in Ermangelung eines zweiten Weinglases ein Wasserglas vollschenkte, das er dann dem greisen Diener hinreichte.

„Da – trinken Sie, Franz. Und weil man keinen guten Schluck zu sich nehmen soll, ohne eine Gesundheit auszubringen: es lebe die gütige Spenderin, Baronesse Adda! Prosit!“

Der Alte stand auf, lächelte glücklich und trank. –

Nach dieser Stärkung begann er wieder: „Ich komme nun zu jenem Abend, der mir, so lange ich lebe, in Erinnerung bleiben wird. Damals waren außer mir alle Dienstboten nach dem nächsten Dorf beurlaubt worden, wo eines der Stubenmädchen mit einem Besitzer Hochzeit hatte. Im Schlosse anwesend waren noch der Baron, die gnädige Frau und der Ingenieur. Unsere Baronesse befand sich schon seit einem Jahre in Eberswalde in dem Stift. Bemerken möchte ich noch, daß das Ehepaar seit Jahren getrennte Gemächer bewohnte. Der Herr Baron war ja stets nur wenige Tage hier. Damals aber interessierte ihn die Brennerei sehr lebhaft, und er weilte deshalb ausnahmsweise längere Zeit im Schlosse, ohne jedoch mit seiner Gattin viel zusammen zu sein.

Es war so gegen zehn Uhr abends, als ich meine in der Nähe der Küche liegende kleine Stube verließ und wie immer meinen Herrn fragen wollte, ob er noch Befehle für mich habe. Als ich die Vorhalle passierte, drang plötzlich ein dumpfer Knall an mein Ohr. Gleich darauf vernahm ich einen gellenden Schrei, der so furchtbar klang, daß mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Wir schlotterten auch die Knie derart, daß ich minutenlang keinen Schritt tun konnte und wie gelähmt auf demselben Fleck stehen blieb. Dann hörte ich jemand hastig den oberen Flur entlang kommen. Es war der Herr Baron. Als er mich schon von der Treppe aus erblickte, stutzte er erst, eilte aber sofort weiter und rief mir zu: „Ich habe soeben oben auf einen Einbrecher geschossen, Franz. Lauf’ geschwind in das Inspektorhaus und hole alles, was von Wirtschaftsbeamten zugegen ist.“ In der Vorhalle war’s hell genug, um zu erkennen, daß mein Herr, der sonst stets so frisch aussieht, bleich wie der Tod war. Ich sagte aber nichts, sondern jagte in die Nacht hinaus. Fünf Minuten später war ich mit dem zweiten Inspektor und dem Wirtschaftseleven[2] wieder zur Stelle. Der Baron erwartete uns in der Vorhalle und erzählte uns nun hastig, daß er gerade in dem kleinen Damenzimmer seiner Gattin im Gespräch mit dieser geweilt habe, als über ihnen im ersten Stock eine Tür ins Schloß gefallen sei. Da dort niemand etwas zu suchen hätte, sei sofort in ihm der Argwohn aufgestiegen, daß vielleicht Einbrecher dem Schlosse einen Besuch abgestattet haben könnten. Er habe sich daher aus seinen Zimmer einen Revolver geholt und sei in Begleitung seiner Frau nach oben gegangen, die eine Lampe in der Hand trug. Im Flur des alten Flügels habe er dann die Gestalt eines Mannes bemerkt, halt gerufen und in der Aufregung nach dem Flüchtenden einen Schuß abgefeuert. Durch diesen sei jedoch seine Gattin so erschreckt worden, daß sie einen lauten Schrei des Entsetzens ausgestoßen habe und in Ohnmacht gefallen sei. Nur im letzten Augenblick habe er noch sie und die Lampe auffangen können. Nachdem er dann die Lampe auf den Boden gestellt und die Ohnmächtige sanft auf den Flurläufer hätte gleiten lassen, wäre er fortgeeilt, um mich herbeizurufen. Während ich dann in das Inspektorhaus lief, hatte er seine Gattin in ihr Schlafzimmer getragen und nachher in der Vorhalle Wache gehalten, damit niemand diesen Ausgang benutzen könne. – Hierauf machten wir vier uns auf die Suche nach dem Einbrecher, fanden jedoch nichts. Nur die Kugelspur entdeckten wir. Das Revolvergeschoß steckte in einem Schrank, der noch heute oben im Flur in der Nähe der Turmtür steht. Schließlich meinte der Wirtschaftseleven, man müsse doch auch mal den Turm durchsuchen. Er hatte nämlich auf den Drücker der Turmtür gefaßt und festgestellt, daß diese nicht verschlossen war und der kunstvolle Schlüssel von innen steckte. So durchstöberten wir denn zunächst die unteren Räume des alten Gemäuers und klopften dann auch hier oben an, um den Ingenieur zu fragen, ob er etwas gehört oder gesehen habe. Wir klopften und klopften, trommelten schließlich sogar mit Fäusten gegen das dunkle Holz. Aber Herr Müller meldete sich nicht. Da probierte der Eleve, einer Eingebung folgend, ob vielleicht auch diese Tür unverschlossen sei. Sie war es, und wir traten ein. Dort, Herr Pöling, wo jetzt die Schale mit dem Obst steht, brannte damals eine Petroleumlampe. Wir schauten uns um. Das Zimmer war leer. Die Tür nach dem Nebenraum, wo auch Müller schlief wie jetzt Sie, stand halb offen. Auch dieses Gemach war leer. Zur Sicherheit kletterten der Inspektor und der Eleve sogar noch bis auf die Plattform des Turmes. Aber sie fanden weder den Einbrecher noch den Ingenieur. Nochmals mußten wir auf Befehl des Barons das ganze Schloß durchsuchen. Alles vergeblich. Nun erst worden die beiden Wirtschaftsbeamten entlassen, und auch ich durfte in meine Stube gehen. Mittlerweile war es zwölf Uhr geworden. Ich war müde, las aber doch noch wie immer mein Bibelkapitel durch. Da erschien der Baron bei mir, sehr eilig, sehr aufgeregt. Er klopfte nicht einmal an, sondern versuchte die Tür gleich zu öffnen. Ich hatte jedoch von innen zugeriegelt. „Franz, meine Frau ist vor Schreck krank geworden,“ sagte er, sich mühsam zu langsamem Sprechen zwingend. „Es muß jemand sofort nach Kolberg fahren und den Geheimrat holen.“ Dann stürmte er wieder davon. Jetzt merkte ich erst, wie sehr er seine Frau noch immer liebte. Die wildeste Angst hatte ihm aus den Augen geleuchtet, und er sah ganz aschfahl aus. – Der Geheimrat Doktor Böllinghaus traf morgens gegen fünf Uhr auf dem Schlosse ein. Da hatte die arme Baronin aber bereits über vierzig Grad Fieber und phantasierte und schrie, daß einem das Herz stehen blieb, wenn man’s hörte. Zwei Tage später war sie tot. Schweres Nervenfieber war die Ursache ihres schnellen Hinscheidens gewesen. Der Baron hatte während dieser Zeit das Krankenzimmer kaum verlassen. Er pflegte seine Frau selbst bis zu ihrem letzten Atemzuge. – Aber ich muß nun nochmals einen Tag zurückgreifen. Als die Baronin am nächsten Abend, also dem, der auf die vergebliche Diebesjagd folgte, bereits so schwer krank war, daß alles nur auf Fußspitzen im Schlosse umhergehen durfte, kam der Gärtner so gegen elf Uhr in meine Stube gestürzt und erzählte mir, er habe soeben im Turm ganz seltsame Laute vernommen. Ich solle mit ihm gehen und mir die Sache mit anhören.

Ergänzend muß ich hier noch hinzufügen, daß der Ingenieur seit dem verflossenen Abend nicht wieder aufgetaucht war und der Baron den Turm daher hatte abschließen lassen und die Schlüssel selbst in Verwahrung nahm. Als wir – der Gärtner und ich – im dunklen Park standen und vor uns der Schwedenturm sich scharf gegen den ausgestirnten Himmel abhob, war uns beiden nicht ganz behaglich zumute. Und dann vernahm auch ich die merkwürdigen Töne, die bald wie ein Stöhnen, bald wie dumpfe Rufe klangen. – Plötzlich war alles wieder still. Da schlichen wir uns davon und sagten niemandem etwas von dem grausigen Spuk. Der nächste Tag schlich dahin. Wir wußten alle, daß unsere Herrin bereits mit dem Tode rang. Gegen zehn Uhr abends starb sie. Und zu derselben Zeit, Herr Pöling, standen wir diesmal zu dreien im Park und lauschten den Tönen, die aus dem dunklen Turme hervorschallten. Der Gärtner hatte nämlich doch dem Wirtschaftseleven etwas erzählt, und dieser machte nun den dritten Hörer bei dem Spukkonzert. – Um es gleich zu erwähnen – auch noch in der folgenden Nacht gingen wir in den Park und vernahmen abermals die furchtbaren Laute. Dann aber wurden wir durch die Vorbereitungen zu der Beerdigung so in Anspruch genommen, daß wir Gespenster Gespenster sein ließen. Außerdem kam ja nun doch die Polizei ins Haus, die nach dem Ingenieur suchte, dessen Verschwinden der Baron gemeldet hatte. Herr Müller ist nie gefunden worden. Kein Mensch weiß, wo er geblieben ist. Die Kolberger Kriminalbeamten, die damals hier wie die Bienen umherschwärmten, haben behauptet, daß jener Mann, auf den der Baron den Revolverschuß abgab, der Ingenieur gewesen sein müsse, welche sicherlich in schlimmer Absicht im alten Flügel in jener Nacht herumgeschlichen und dann aus Scham oder aus Angst vor einer Untersuchung der Angelegenheit heimlich ins Ausland geflüchtet sei, nachdem er durch den Parkeingang den Turm verlassen habe. Aufgeklärt ist die Geschichte jedenfalls nie so recht. Vielleicht hätte die Behörde auch noch länger nachgeforscht, wenn ich – leider, leider! – mich nicht bei meiner Vernehmung einer kleinen Unwahrheit schuldig gemacht haben würde. Diese Lüge ist es, Herr Pöling, die mein Gewissen belastet. Wäre ich damals aufrichtig, ehrlich gewesen, so hätte die Polizei fraglos nicht geruht, bis die Wahrheit an den Tag kam. Mithin war ich es, der eigentlich die Behörden auf eine falsche Fährte gelockt und sie zu der vorhin erwähnten Annahme gebracht hat. Ich will Ihnen das näher erklären. – Als wir das untere Turmgemach nach dem Diebe absuchten, ging ich als erster an die Tür, die nach dem Parke führte, und wollte zusehen, ob sie verschlossen sei. Der Schlüssel steckte von innen. Ich drehte ihn gedankenlos und völlig verwirrt von den Schrecken dieser Nacht um und griff dann erst nach dem Drücker. In demselben Augenblick fragte der Baron, ob die Tür offen sei. Ich antwortete ohne weiter zu überlegen mit Ja, da sie jetzt tatsächlich unverschlossen war und ich sie ein Stück aufgeschoben hatte. Erst hinterher fiel mir ein, daß ich ja die Unwahrheit gesagt habe, da ich es ja selbst gewesen war, der den Schlüssel nach rechts herumgedreht hatte. In der Annahme, daß es auf diese Kleinigkeit nicht ankäme, sagte ich dann auch bei der polizeilichen Vernehmung dasselbe aus. Und so gelangte die Behörde zu der Überzeugung, daß der Ingenieur das Schloß damals fluchtartig durch den Parkeingang des Turmes verlassen habe.“

Der alte Mann seufzte tief auf.

 

5. Kapitel.

Pöling hatte fast regungslos, tief zurückgelehnt in seinen Sessel, dieser Schilderung gelauscht, die ja beinahe den Stoff für einen ganzen Kriminalroman enthielt.

Jetzt richtete er sich auf, beugte sich etwas vor und sagte freundlich:

„Ich möchte jetzt noch an Sie einige Fragen richten, die mir die Sache noch klarer machen werden. Oder sind Sie bereits zu abgespannt, um den Gegenstand noch weiter behandeln zu können? Schenken Sie sich doch noch ein Glas Rotwein ein. – Bitte – keine Widerrede! Das wird Sie erfrischen.“

Der alte Mann hatte sich nur aus Bescheidenheit geweigert. Der Rotwein war gut, und er stürzte ihn in langen Zügen hinunter. –

Dann fragte der Schriftsteller mit grüblerischem Gesichtsausdruck:

„Wie benahm sich der Baron nach dem Tode seiner Gattin?“ fragte er dann.

„Er war völlig niedergebrochen. Sein Schicksal erregte die allgemeine Teilnahme. Um nicht allein zu sein, ließ er die Baronesse auf ein halbes Jahr nach Hause kommen. Zwischen Vater und Tochter hat seitdem das innigste Verhältnis bestanden.“

„Sind diese Zimmer hier inzwischen wieder mal bewohnt gewesen?“

„Nein. Zehn Jahre haben sie leergestanden. Der Baron mied sie. Nur einmal hat er auf dringendes Bitten unserer Baronesse mit dieser zusammen die Räume hier besucht. Das mag zwei Jahre her sein. Unser gnädiges Fräulein wollte sich den Rundblick von der Plattform des Turmes ansehen.“

Wieder herrschte eine Weile Schweigen in dem behaglichen Raume. Dann sagte Pöling unvermittelt:

„In alten Schlössern gibt es fast überall geheime Gänge und versteckte Türen zu diesen. Wissen Sie, ob solche hier im alten Schloßflügel auch vorhanden sind?“

Der Alte wurde jetzt wieder lebhafter.

„Es soll derartiges im Schlosse geben, tatsächlich! Aber diese Geheimgänge sind für die Familie Rolfer insofern verlorengegangen, als der Großvater des Herrn Barons ganz plötzlich starb, – in den Befreiungskriegen in einer Schlacht. So fand er nicht mehr Gelegenheit, dieses Geheimnis seinem damals noch nicht erwachsenen Erben anzuvertrauen. Ich kenne diese Einzelheiten daher, weil ich seiner Zeit dabei war, als Baron Erwin, der Vater meines jetzigen Herren, den Baumeister, der den neuen Flügel errichtete, dringend bat, doch nach diesen versteckten Türen suchen zu lassen, was auch geschehen ist. Freilich ohne Erfolg. Baron Erwin sprach damals auch von einer alten Familienchronik, in der diese Türen oder dergleichen ohne nähere Ortsangabe erwähnt seien.“

„Die Chronik existiert wohl noch?“ fragte Pöling lebhaft.

„Ja. Sie befindet sich in dem Zimmer des alten Flügels, das damals die Gemahlin des Barons Erwin hauptsächlich bewohnte. Diese hatte großes Interesse für alte Urkunden und sammelte alles, was sie in Truhen und Kisten aufstöbern konnte.“

Pöling beugte sich wieder weit vor und bat mit merklich erregter Stimme:

„Ob ich mal in diese alten Familiendokumente Einsicht nehmen könnte? – Was meinen Sie – soll ich den Baron um die Erlaubnis dazu bitten?“

Der Diener wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Ich würde abraten. Mein Herr ist in dieser Beziehung etwas sonderbar. Er mag durch nichts an die Vergangenheit erinnert sein. Sprechen Sie diese Bitte aus, so wird das die alte Wunde in seinem Herzen wieder aufreißen.“

„Hm – da haben Sie nicht ganz Unrecht,“ meinte Pöling etwas enttäuscht. „Die Rücksicht auf den Baron muß ich wohl nehmen, damit nicht trübe Bilder wieder in seinem Geiste aufleben.“

Der Alte wußte jedoch einen Ausweg.

„Ich könnte Ihnen ja so nach und nach den Inhalt des Schrankes herschmuggeln,“ sagte er eifrig. „Die Schlüssel zum Zimmer und zu dem Schrank sind mir leicht zugänglich.“

Aber Pöling lehnte entschieden ab.

„Nein! Darauf lasse ich mich nicht ein. Derartige Heimlichkeiten sind nicht nach meinem Geschmack. Ich werde jedoch mit Baronesse Adda sprechen. Wenn die es mir gestattet, wäre mein Gewissen beruhigt.“

„Ja, das wird das Beste sein,“ stimmte Franz zu. Und nach kurzer Pause fuhr er fort:

„Wie ist es denn nun, Herr Pöling? Wie denken Sie über die Vorfälle jener Nacht, in der der Ingenieur für immer verschwand?“

Der Schriftsteller lächelte ein wenig. „Erst muß ich mir die Sache in Ruhe überlegen, lieber Franz. Ich fürchte überhaupt, daß Sie mir zuviel zutrauen. Es ist doch sehr fraglich, ob ich eine Lösung finde, die allen Nebenumständen gerecht wird.“

Der Alte hatte Pöling, während dieser sprach, mit ganz eigenen Augen angeschaut, – fast ängstlich forschend, als ob er die Antwort geradezu fürchtete. Und dem Schriftsteller war dies nicht entgangen. Er machte sich darüber seine besonderen Gedanken, die er nun sofort vorsichtig in Worte kleidete.

„Sagen Sie mal, Franz, ist Ihnen denn nie so der Gedanke gekommen, daß die Ereignisse jener Nacht sich vielleicht doch etwas anders abgespielt haben könnten, als – als es scheint.“

Eigentlich wollte er sagen: „… als der Baron sie dargestellt hat.“ Aber dann formte er den Satz absichtlich anders.

Der Alte fuhr sich verlegen mit der Hand über das glattrasierte Kinn und schaute zu Boden. Erst nach einer Weile erwiderte er dann:

„Ersparen Sie mir bitte eine Antwort, Herr Pöling. Ich habe in diesem Hause nur Gutes erfahren, nur Gutes. Da wäre es sehr undankbar von mir, wenn ich etwas hinreden wollte, das mein beschränkter Verstand sich ausgetüftelt hat und das doch nur Unsinn sein kann.“

Pöling wußte Bescheid. Diese Entgegnung sagte ihm genug.

„Ich ehre Ihr Anhänglichkeitsgefühl und will daher nicht weiter in Sie dringen,“ meinte er und erhob sich.

Franz verstand den Wink, nahm das Servierbrett und verabschiedete sich, indem er für die gütige Bewirtung wortreich dankte.

Pöling war allein. Er setzte sich wieder in den Lehnstuhl, streckte die Füße gegen das Kaminfeuer aus und grübelte weiter. Bilder auf Bil–der tauchten vor seinem geistigen Auge auf, – Szenen, die seine Phantasie schuf. So durchlebte er die Ereignisse jener Nacht gleichsam nochmals in eigener Person, wobei er sich in die Rolle des Barons hineindachte.

Aber wie verschieden waren diese Szenen von denen, die man sich nach der Schilderung des Dieners ausmalen mußte, wie verschieden gerade die Vorgänge, die sich zugetragen hatten, bevor der Baron in der Vorhalle auf den alten Franz stieß …

* * *

Die nächsten Tage vergingen ohne besondere Ereignisse. Kriminalkommissar Hersel war wirklich noch an demselben Abend in Rolfersdorf eingetroffen. Er entpuppte sich bald als ein recht gemütlicher Herr, den Mann bei seinem stattlichen Leibesumfang und der sanft geröteten Nase den Vertreter einer Firma für elektrische Überlandzentralen schon glaubte, als er hier unter dem Namen Schulze auftrat. Er verstand es denn auch sehr geschickt, seine Doppelrolle zu spielen. Wer er in Wirklichkeit war, wußten nur der Baron, Adda und Pöling, den ersterer ins Vertrauen gezogen hatte.

 

6. Kapitel.

Es war am Morgen des elften Tages nach Pölings Ankunft auf Schloß Rolfersdorf.

Man saß im Speisezimmer am Frühstückstisch. Auch die Baronesse war heute wieder erschienen.

Franz brachte die Postsachen herein, die der Briefträger abgegeben hatte. Und gleich darauf war jeder der drei am Frühstückstisch mit der Lektüre irgend eines für ihn bestimmten Schreibens beschäftigt. In dem kleinen Kreise herrschte eben bereits jene Zwanglosigkeit, die das häufige Beisammensein nicht lästig werden läßt.

Plötzlich warf der Baron den Brief, den er in der Hand hielt, mit heftigerer Gebärde vor sich auf den Tisch.

„Eine nette Überraschung, Adda!“ knurrte er dann halblaut. „Mein lieber Neffe meldet sich zum Besuch an. Natürlich fragt er gar nicht, ob er uns angenehm ist – bewahre! Er schreibt mit seiner bekannten edlen Dreistigkeit hier kurz folgendes:

„Hamburg, den …

Lieber Onkel!

Du wirst sicher aus den Zeitungsberichten über mein gefährliches Abenteuer ersehen haben, daß ich nach all den Strapazen dringend einer längeren Erholung bedarf. Da wir uns nun seit einem Jahre nicht begegnet sind, gedenke ich etwa auf einen Monat zu Euch zu kommen, um Euch Eure einsamen Wintertage etwas verkürzen zu helfen. Ich werde am Sonnabend bei Euch sein. Schickt doch zum Abendzuge einen Wagen oder Schlitten an die Station. –

Auf frohes Wiedersehen
herzlichst

Euer Max von Parla

Meiner angebeteten Kusine lege ich mich noch besonders zu Füßen!“

Unwillkürlich hatte auch Pöling aufgeschaut, da der Baron seine Stimme keineswegs so dämpfte, als ob dem Schriftsteller der Inhalt des Briefes vorenthalten werden sollte.

So bemerkte er denn, daß auch Adda ein keineswegs entzücktes Gesicht machte. Und ihrer Meinung über diesen Vetter gab sie auch ohne Scheu mit den Worten Ausdruck:

„Wirklich eine Zudringlichkeit, die unglaublich ist! Er sollte doch eigentlich wissen, wie wir über ihn denken.“

Der Baron wandte sich jetzt an Pöling.

„Dieser Max von Parla ist nämlich der Sohn einer Schwester meiner verstorbenen Frau. Er hat es in Leben zu nichts Rechtem gebracht, trotzdem hat er eine richtige Katzennatur, – er fällt stets auf die Füße. Zuletzt studierte er an der technischen Hochschule in Charlottenburg Maschinenbaufach, machte aber kein Examen, trieb sich dann lange Jahre in Südamerika umher, wo er als Ingenieur viel Geld verdiente – angeblich! Vor eineinhalb Jahren tauchte er wieder in Deutschland auf, zusammen mit einem millionenschweren Deutschamerikaner, den er seinen besten Freund nannte. Na, diesem Master Schaubert wird diese Freundschaft wohl eine gehörige Stange Goldes kosten. Die beiden gründeten dann in Johannistal bei Berlin eine Flugzeugfabrik, die aber kaum etwas eindringen dürfte. Nebenbei betätigten sie sich aufs eifrigste als Sportfreunde bei Automobilrennen, Rundflügen, Ballonfahrten und so weiter. Ich habe meinen Neffen im vorigen Jahre nur einige Male in Berlin gesehen, als ich dort mit Adda für drei Wochen wohnte, um mit ihr an den großen Bällen teilnehmen zu können. Wir lieben Parla nicht übermäßig. Er ist ein ziemlich aufgeblasener Schwätzer und hat so etwas vom internationalen Abenteurer an sich. – Das Urteil mag sehr hart klingen. Aber ohne Frage ist es zutreffend. Daß wir unter diesen Umständen diesem Besuch nicht gerade freudig entgegensehen, werden Sie begreifen, lieber Pöling. Ich mußte Ihnen dies alles sagen, damit Sie sich nicht wundern, wenn ich meinen teuren Neffen etwas kühl empfange.“

Dann nahm der Baron den Brief nochmals zur Hand.

„Was er nur mit diesem gefährlichen Abenteuer meinen mag, von dem auch die Zeitungen berichtet haben sollen?!“ sagte er dann achselzuckend. „Sicher wieder irgend eine verrückte Sportsache. Darin ist er ja groß.“

Pöling hatte mit gespanntem Interesse zugehört. Der Name „von Parla“ war ihm nicht fremd. In Berliner Sportkreisen wurde er sogar häufig genannt. Und gestern hatte doch tatsächlich in dem Berliner Anzeiger irgend eine Notiz gestanden, in der Parla erwähnt war, – um was es sich jedoch handelte, darauf besann der Schriftsteller sich im Augenblick nicht. Nun – das Blatt mußte ja noch zu finden sein.

Dies erklärte er auch dem Baron, und Adda suchte nun eilfertig die Zeitungen durch, wobei Pöling ihr half.

Dann war die Notiz entdeckt.

„Vorlesen!“ meinte Rolfer kurz, aber ohne großes Interesse. Und die Baronesse las:

„Ein Todesopfer beim Stockholmer Winter-Ballonwettflug.“

„Dacht ich’s doch!“ brummte der Schloßherr dazwischen. „Natürlich ein Wettflug!! Ohne Max von Parla kann so was ja gar nicht stattfinden!“

„Du weißt ja noch gar nicht, Papa, ob Max dann teilgenommen hat. Die Überschrift besagt das doch keineswegs.“

Die Baronesse fuhr nach dieser Unterbrechung fort:

„Unsere Leser werden sich besinnen, daß von Stockholmer Verein für Luftschifffahrt ein großes Ballonwettfliegen ausgeschrieben war, das vor zwei Wochen bei günstiger, klarer Witterung und südwestlicher Windrichtung bei einer sehr regen Beteiligung stattfand. Wie wir ausführlich gemeldet hatten, waren sämtliche Ballons bis auf einen teilweise in Dänemark, teilweise auf deutschem Gebet in Mecklenburg und Schleswig-Holstein glücklich gelandet. Nur von dem Ballon „Südamerika“, der mit den bekannten Sportsleuten Schaubert und von Parla bemannt war, traf keinerlei Nachricht ein, so daß man bereits annahm, der Ballon könnte mit seinen beiden Insassen auf der Ostsee verunglückt sein. Daß diese Befürchtung zum Teil zutreffend war, hat sich jetzt erst herausgestellt. Tatsächlich ist Schaubert bei der Fahrt ums Leben gekommen, und der Ballon „Südamerika“ liegt wahrscheinlich irgendwo an der Küste der Insel Alsen auf dem Meeresgrunde. – Wir entnehmen dem „Hamburger Fremdenblatt“ die folgende interessante, wenn auch traurige Schilderung von der Fahrt des verunglückten Ballons, die aus von Parlas eigenem Munde stammt:

„Nach anfänglich glücklichem Fluge gerieten wir in eine Luftströmung, die uns nach Schweden zurückzutreiben drohte. Wir gingen dann tiefer, kamen durch dichte Wolken und dann leider in einen Schneesturm, der die Ballonhülle bald derart mit Schnee bedeckte, daß wir ständig Ballast auswerfen mußten. Plötzlich hörten wir die See unter uns rauschen. Wir warfen nun alles Entbehrliche aus dem Korbe, selbst unsere Instrumente. Schließlich suchten wir auch dem Korb eiligst loszuschneiden, um unser Fahrzeug abermals zu entlasten. Nach langen Anstrengungen gelang es uns, die vereisten Stricke zu durchtrennen. Wir selbst hatten uns in dem Tauwerk festgehalten. Als nun der Korb in die Tiefe sauste, schoß der Ballon etwa zweihundert Meter höher. Der Ruck war so plötzlich, daß meines Freundes erstarrten Hände die Taue nicht mehr festhalten konnten und er mit gellendem Schrei in der Dunkelheit verschwand. Eine halbe Stunde später drohte mir selbst der Tod. Der Ballon strich jetzt ganz dicht über die Meeresoberfläche hin. Zum Glück ließ der Sturm zu derselben Zeit nach, und ich erblickte in der Ferne im Morgengrauen ein paar Lichter und die dunklen Umrisse eines Waldes, auf die der Ballon zutrieb. In der Annahme, daß ich dem Strande bereits ganz nahe sei, zog ich die Reißleine, das Gas strömte aus – aber zu schnell. Ich fiel mit dem Ballon in die See. Meine einzige Aussicht auf Rettung blieb das Schwimmen. So warf ich denn meine Jacke ab, streifte den einen der im Netzwerk hängenden Rettungsringe über und suchte den Strand zu erreichen. Nach endlosem Kampf mit den eiskalten Wellen gelangte ich an die Küste und lief nun, um mich warm zu machen, auf die Lichter zu. Diese brannten in einigen Fischerhütten des kleinen Dorfes Schellhus, das auf der Insel Alsen[3] an der Ostküste Holsteins liegt. Dort wurde ich sehr gastfrei aufgenommen, mußte aber tagelang das Bett hüten, da ich völlig entkräftet war. Nachdem ich mich genügend erholt hatte, gelangte ich auf dem wöchentlich dreimal zwischen Alsen und dem Festland verkehrenden Postdampfer nach Flensburg und von dort nach Hamburg.““

Die Baronesse legte die Zeitung beiseite.

„Schau, schau!“ meinte der Baron. „Da hat mein Herr Neffe also wirklich nicht zuviel gesagt. Das war tatsächlich ein gefährliches Abenteuer! Na – unter diesen Umständen wird auch der Empfang ein paar Grade wärmer ausfallen. – Also morgen kommt er. Dann lasse nur rechtzeitig das große Fremdenzimmer heizen, Kind.“

Gleich darauf begab der Gutsherrn sich auf den Wirtschaftshof, um dort nach dem Rechten zu sehen. Kaum hatte er das Speisezimmer verlassen, als Adda sofort das Wort an Pöling richtete.

„Haben Sie ein wenig Zeit für mich?“ fragte sie. „Ich möchte gern mit Ihnen etwas besprechen.“

Der Schriftsteller ahnte, um was es sich handelte. Eigentlich fürchtete er diese Unterredung ein wenig, denn – was sollte er der Baronesse über den „Techniker“ sagen?! Die Wahrheit?! Dann war er auch gezwungen, die anderen Begleitumstände jener Vorfälle zu erwähnen und über Addas Mutter zu reden.

Trotzdem erwiderte er bereitwillig: „Verfügen Sie ganz über mich, Baronesse.“ –

Dann saßen sie im kleinen Salon; Adda auf dem Klubsessel neben dem Rauchtischchen, Pöling ihr gegenüber auf einem niedrigen Hocker.

„Haben Sie bereits mit Franz gesprochen?“ begann die Baronesse gespannt.

„Allerdings,“ meinte der Schriftsteller zurückhaltend.

Adda schaute ihn forschend an.

„Und das Resultat? Hat er Ihnen etwas erzählt?“ fragte sie etwas unsicher, da sie sehr wohl merkte, daß er offenbar nicht gern über die Sache sprach.

„Ja, Baronesse, Franz teilte mir alles mit, was ich wissen wollte und zwar an jenem Abend, als Sie so liebenswürdig waren, mir die Erfrischungen zuzuschicken, wofür ich mich jetzt noch nachträglich bedanke. – Leider aber liegen die Dinge so, daß ich nicht recht weiß, ob ich das Recht habe Ihnen Aufschluß über Vorfälle zu geben, die Ihr Herr Vater fraglos aus sehr zwingenden Gründen vor Ihnen geheimhalten will. Meine Lage ist keine angenehme. Ich bin Ihnen ein Fremder, wenn ich auch jetzt hier Gastfreundschaft genieße. Und daher ist es mir peinlich, Familienverhältnisse zu erörtern, die mich eigentlich nichts angehen.“

Addas Gesicht drückte starke Enttäuschung, aber auch wieder das regste Interesse aus, das ja notwendig durch Pölings Andeutungen bei ihr geweckt werden mußte.

„Und wenn ich Sie nun sehr bitte, mir gegenüber ganz offen zu sein?“ sagte sie leise und weich. „Bedenken Sie doch, wie traurig es für mich als erwachsenen Menschen ist in der Überzeugung weiterleben zu sollen, daß sich hier Ereignisse abgespielt haben, die auch unsere Familiengeschichte berühren und die mir wie einem unmündigem Kinde vorenthalten werden.“

Pöling schaute nachdenklich vor sich hin. Ihm widerstrebte es, der Baronesse alles das mitzuteilen, was er über die Vorgänge jener Nacht wußte. Ihn kam es wie ein Unrecht dem Baron gegenüber vor, diese Dinge mit dessen Tochter zu erörtern. Anderseits wollte er aber auch Adda nicht länger in einer sicher sehr peinigenden Ungewißheit lassen. Und so begann er ihr denn jetzt nur das Allernotwendigste zu erzählen: von dem Einbrecher, dem Schuß auf denselben, der Ohnmacht der Baronin und dem Verschwinden des Technikers, das die Polizei nachher als Beweis für dessen schlechtes Gewissen gedeutet hatte.

Adda schüttelte unzufrieden den Kopf, als er mit diesem knappen Bericht fertig war.

„Da hatte Papa doch gar keinen Grund, diese Sache vor mir geheim zu halten! Ich begreife ihn jetzt noch weniger wie früher. Wissen Sie einen Grund für diese seine seltsame Laune?“

„Laune, Baronesse?! Bedenken Sie bitte, wie traurig diese Erinnerungen für Ihren Herrn Vater sein müssen. Er hat diese Geschehnisse eben für immer in seiner Seele begraben wollen.“

„So wird es wohl sein,“ nickte sie ernst. Und fügte hinzu: „Nun will ich Sie aber nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten, Herr Pöling. Herzlichen Dank für diese Mitteilungen. Und auf Wiedersehen bei Tisch!“ –

Der Schriftsteller stieg langsam die Treppe in den ersten Stock empor. In dem langen, geraden Flur des alten Flügels, der gut eine Länge von fünfunddreißig Meter hatte, blieb er vor dem alten Schranke stehen, in dessen Seitenwand noch deutlich das Loch zu sehen war, welches die Revolverkugel verursacht hatte.

Einer Eingebung folgend, nahm Pöling sein Taschenmesser heraus, öffnete den Korkenzieher und führte ihn in das kreisrunde Kugelloch ein. Nach einigen Versuchen griff dessen Spitze in einen harten Gegenstand ein, und, da die Oberschicht des Holzes gerade hier von Wurmlöchern förmlich durchsiebt war, gelang es dem Schriftsteller auch ein an der Spitze abgeplattetes Bleigeschoß herauszuholen.

Dann begab er sich in sein Arbeitszimmer und trat ans Fenster, um die Kugel genauer zu betrachten.

Viel war daran nicht zu sehen. Es war eine gewöhnliche Revolverkugel. Nur am Ende zeigte sie eine tiefe kegelförmige Höhlung, die offenbar den Zweck hatte, das Geschoß durch die Pulvergase unten etwas ausdehnen zu lassen, damit es sich fester in die Züge des Laufes einpresse.

Dann schloß er das Bleistück in eine Schublade seines Schreibtisches ein und versuchte zu arbeiten. Aber auch heute fehlte es ihm an der nötigen Stimmung. Die Revolverkugel hatte seine Gedanken wieder vollständig abgelenkt, und wieder wie schon so oft, suchte er nach einer Lösung der Rätsel jener Herbstnacht vor zehn Jahren.

Die brennende Zigarette im Munde, begann er in dem Gemach auf und ab zu gehen, immer von Tür zu Tür. Der Ausgang nach der Flurtreppe und die Tür zum Schlafzimmer lagen sich genau gegenüber. Neben dieser hing an der Wand ein altes Ölgemälde, eine Hirschhetze darstellend. Ein Kunstwerk war es gerade nicht, trotzdem es in einem breiten, jetzt allerdings vielfach beschädigten Rahmen mit Rankenschnitzerei steckte.

Das Bild hing etwas schief, wie der Schriftsteller heute erst bemerkte. Als er es jetzt an der einen Seite höher rückte, sah er, daß der Nagel lose war. So nahm er es denn herunter, legte es auf den Mitteltisch auf die dort ausgebreiteten Zeitungen und wollte den Nagel erst einmal ordentlich wieder in die Wand hineintreiben. Als Hammer benutzte er den Schnürhaken des Kamins.

Wie er das Gemälde dann vom Tische aufheben wollte, brach eine Zacke der Rahmens ab, die er gerade mit der Rechten gefaßt hatte, und das Bild schlug ziemlich hart auf die Tischplatte mit der Schmalseite auf, erlitt dadurch aber weiter keinen Schaden. Nun ergriff er es vorsichtiger, trug es zur Wand hin und streifte die eiserne Öse über den Nagel.

Darauf begann er abermals seine Promenade durch das Zimmer, mußte sie jedoch bald wieder einstellen, da der alte Diener erschien und mit listigem Augenblinzeln ihm ein dickes, in Schweinsleder gebundenes Buch überreichte.

„Die Familienchronik ist’s, Herr Pöling,“ meinte Franz ganz stolz.

Der Schriftsteller griff hastig danach.

„Richtig – darüber wollte ich ja eigentlich auch mit der Baronesse sprechen, hab’s aber vorhin vergessen,“ sagte er etwas erstaunt. „Haben Sie das Buch ohne Erlaubnis aus dem Urkundenschrank herausgenommen, Franz?“ fügte er hinzu.

„Bewahre! Unsere Baronesse hat mir soeben, als ich den Frühstückstisch abräumte, erklärt, daß ich ja recht gut für Sie sorgen soll, Herr Pöling. Na – und da hielt ich es für richtig, mit dem Anliegen herauszurücken und sagte, welch‘ großes Interesse Sie für alte Urkunden hätten. Ein Wort gab das andere, und nun habe ich die Erlaubnis, Ihnen alles vorzulegen, was Sie von dem Inhalt des Urkundenschrankes zu sehen wünschen.“

„Besten Dank, Franz! Das war sehr gewandt von Ihnen, diese Gelegenheit derart beim Schopfe zu fassen.“

Hierauf verabschiedete sich der Diener wieder, da er es eilig hatte. –

Der Schriftsteller wollte gerade den dicken Schweinslederband, der auf dem Vorderdeckel in verblaßter Farbe das Wappen der Familie von Rolfer zeigte, auf den Schreibtisch legen, als sein Blick zufällig die Platte des Mitteltisches streifte. Er stutzte, schaute nochmals hin. Das konnte ja nur ein der Revolverkugel ähnlicher kleiner Gegenstand sein, der da zwischen den Zeitungen lag. –

Ein Schritt, und er beugte sich vor … Wahrhaftig, das war ja fast genau dieselbe Kugel, wie er sie soeben in seinen Schreibtisch eingeschlossen hatte. Er hielt sie jetzt zwischen den Fingern und drehte sie hin und her. Die Spitze war anders abgeplattet, in übrigen Seite das Geschoß aber genau dieselbe Form wie das erste und besaß auch unten dieselbe kegelförmige Ausbuchtung.

Die Familienchronik war vergessen. Jetzt hatte Pöling nur noch für dieses zweite Geschoß Gedanken. – Wie kam es hier auf den Tisch …? Lange hatte es da sicher noch nicht gelegen, sonst wäre es ihm unbedingt aufgefallen.

Da dachte er an das Gemälde, das ihm infolge des Abbrechens der einen Rahmenranke halb aus den Händen geglitten war. Hatte die Kugel irgendwo in der Schnitzerei gesteckt, so konnte sie sehr leicht durch das Aufschlagen des Bildes auf den Tisch gelockert und herausgefallen sein.

Wenige Minuten später hatte er sich überzeugt, daß diese seine Vermutung wirklich zutraf. Er fand auch die Stelle, wo die Kugel sich festgeklemmt hatte. Sie lag etwa in der Mitte des linken Seitenteiles des Rahmens zwischen zwei dicken, sich kreuzenden Ranken. Jedenfalls mußte das Geschoß, als es sich in dieser Öffnung einklemmte, nur noch sehr wenig Kraft gehabt haben, da das Holz kaum merklich beschädigt und das Blei an der Spitze nur etwas abgeplattet war.

Dann nahm Pöling auch die erste Kugel wieder zur Hand und verglich die beiden Geschosse mit einander. Ohne Zweifel stammten sie aus ein und derselben Schußwaffe her, und zwar aus dem Revolver des Barons.

Weiter und weiter eilten des Schriftstellers Gedanken, prüften und kombinierten, verwarfen eine Annahme und bauten dafür eine andere auf. Aber je länger er grübelte, desto ernster wurde sein Gesicht. Es gab ja nur eine Erklärung dafür, wie diese matte Kugel, die vorher schon einen anderen Gegenstand durchbohrt haben mußte, in den Bilderrahmen in diesem Zimmer gelangt sein konnte, das doch so selten und seit zehn Jahren überhaupt nicht mehr bewohnt gewesen war. Allerdings – das Gemälde konnte auch erst kürzlich, als diese Räume für ihn hergerichtet wurden, dort aufgehängt worden sein. Diese Frage mußte noch geprüft werden.

Die Holztäfelung der Wände war etwa eineinhalb Meter hoch. Daran schloß sich eine altertümliche, ebenfalls braune Stofftapete bis zur Decke hin an. Auf dieser Tapete zeichneten sich nun die Stellen, wo Bilder schon Jahrzehnte gehangen hatten, ganz deutlich als dunklere Flecken ab. Und so vermochte Pöling unschwer festzustellen, daß das Gemälde neben der Schlafzimmertür bereits zu den ältesten Einrichtungsstücken dieser Räume gehörte, da der viereckige, dunklere Fleck unter dem Jagdbilde genau dessen Größe entsprach.

 

7. Kapitel.

Der neuere Gast war soeben auf Schloß Rolfersdorf eingetroffen. Beim Abendessen lernte Pöling ihn dann kennen. Vom ersten Augenblick an war ihm jedoch dieser äußerlich sehr stattliche, sogar ganz interessant aussehende Herr mit seiner übergroßen Liebenswürdigkeit recht unsympathisch.

Parla gehörte offenbar zu jener unangenehmen Sorte von Menschen, die sich selbst sehr gern reden hören und die nicht Taktgefühl genug besitzen, um auch einmal anderen das Wort zu überlassen. Davon, daß er erholungsbedürftig sei, merkte man jedenfalls nicht das Geringste. Im Gegenteil – er sah wie das blühende Leben aus, war von einer fast quecksilbrigen Lebendigkeit und erzählte fortwährend von seinen Abenteuern in Südamerika, nachdem er zunächst eine eingehende Schilderung seiner Ballonfahrt gegeben hatte, wobei er mit Ausdrücken tiefsten Schmerzes seines dahingegangenen besten Freundes gedachte.

Nach Tisch wollte Pöling sich in seine Zimmer zurückziehen, um nicht als Fremder dieses erste Beisammensein der drei Verwandten zu stören. Aber der Baron ließ ihn nicht weg.

Man saß dann im kleinen Salon zusammen und plauderte weiter. Das heißt – eigentlich sprachen nur der Baron und Parla. Die Baronesse war sichtlich verstimmt, da ihr Vetter ihr in geradezu aufdringlicher Weise den Hof machte, und Pöling beteiligte sich nur gelegentlich an der Unterhaltung, weil ihm dieser Schwätzer mit seiner Beweihräucherung der eigenen Person stark auf die Nerven fiel. Gegen neun Uhr zog sich Adda dann zurück, indem sie Kopfschmerzen vorschützte. Gleich darauf ließ sich Herr Hersel-Schulze, der verkappte Kriminalkommissar, anmelden, der dem Baron angeblich nur mitteilen wollte, daß Staatsanwalt Fehlhauser beschlossen habe, einen Aufruf mit einer genauen Beschreibung des Toten und dessen Kleider in verschiedenen Zeitungen des In- und Ausland einzurücken, um vielleicht auf diese Weise festzustellen, wer der Ermordete war. In Wahrheit verspürte der Beamte aber wohl lediglich Durst auf ein gutes Glas Wein, denn von dieser neuen Maßnahme hätte er ebenso gut auch morgen dem Schloßherrn erzählen können. Immerhin erreichte er es, daß der Baron ihn zum Bleiben aufforderte.

Parla, den sein Onkel in das Geheimnis der Persönlichkeit des Herrn Hersel-Schulze sofort bei der Vorstellung eingeweiht hatte, wollte jetzt natürlich Näheres über dieses Verbrechen hören. Und trotz der verdrießlichen Miene des Barons wurde dieses Thema nun ganz eingehend erörtert. Parla hatte von dem Morde keinerlei Kenntnis, wie er betonte, da er ja zu der Zeit, als die Zeitungen wahrscheinlich längere oder kürzere Notizen über den schauerlichen Leichenfund gebracht hatten, noch auf der Insel Alsen gewesen sei. Im Laufe dieses Gespräches erfuhr er auch etwas von den Schlußfolgerungen, die Pöling aus dem Fehlen der Spuren am Fundorte gezogen hatte.

„Oh, das ist mir recht interessant,“ meinte Parla mit einer gewissen Hochachtung. „Dann sind Sie ja so etwas wie ein Liebhaberdetektiv, Herr Pöling. – Sagen Sie, haben Sie denn noch andere Punkte herausgefunden, in denen Sie anderer Meinung sind als die Untersuchungsbehörde? Hier unter uns können Sie sich ja ganz ruhig darüber auslassen. Offen gestanden – ich bewundere Sie nämlich! Mir wäre es ganz unmöglich, derartige Schlüsse aus bloßen Beobachtungen zu ziehen.“

Der Schriftsteller winkte nachlässig mit der Hand ab.

„Ich kann mich nicht weiter um den Mord kümmern. Das würde mich zu sehr von meiner Arbeit ablenken,“ erwiderte er nicht sehr der Wahrheit gemäß.

Jetzt mischte sich der Kommissar wieder ein.

„Ich fürchte, daß auch dieser Zeitungsaufruf nichts helfen wird. Ein Mensch, der vierzehn Tage keinerlei Lebenszeichen von sich gibt, – und so lange liegt ja schon der Tag der Auffindung der Leiche zurück –, muß doch von irgend einem Angehörigen oder Bekannten vermißt werden. Und diese hätten dann doch dafür gesorgt, daß nach dem Verschwundenen Nachforschungen angestellt werden, von denen wir sicher etwas erfahren hätten. Um diese unbekannte Leiche kümmert sich niemand. Und heute ist die ganze Geschichte dunkler denn je.“

Der Baron wurde nun doch ungehalten.

Pöling entschuldigte sich jedoch, erklärte, er müsse unbedingt heute noch sein Romankapitel zu Ende bringen und wurde schließlich auch fortgelassen.

Parla rief ihm noch nach: „Hören Sie – morgen vormittag sehe ich mir Ihr Poetenheim mal an. Ich besinne mich, daß dort Gespenster umgehen sollen. Der Turm war stets verschlossen. Daher habe ich ihn nur von außen gesehen.“

„Bitte – Ihr Besuch wird mir sehr angenehm sein,“ erwiderte der Schriftsteller etwas frostig. –

Und als er die Tür hinter sich zuzog und der Vorhalle zuschritt, überlegte er sich, ob er sich nur getäuscht habe oder ob Parla bei dem Worte „Gespenster“ den Schloßherrn wirklich mit einem halb spöttischen, halb triumphierenden Blick gestreift habe.

Als er die Treppe zum Flur emporstieg, prallte er beinahe erschreckt zurück, da die Baronesse plötzlich vor ihm auftauchte.

„Wie – noch munter?“ fragte er lächelnd.

„Sehr sogar. Ich habe noch einmal nachgesehen, ob die Mädchen das Fremdenzimmer auch ordentlich geheizt haben, da ja Herr „Schulze“ sich noch eingefunden hat.“

„Gerade vor diesem Skat bin ich geflüchtet, Baronesse. Vorher konnte ich nicht gut fort, obwohl das Gespräch sich in der Hauptsache um den unbekannten Toten drehte und ich ja all die Einzelheiten, die Hersel-Schulze Ihrem Vetter erzählen mußte, bereits kannte. Ich blieb nur Ihrem Herrn Vater zuliebe.“

Adda nickte gleichgültig. „Ja, – Parla muß reges Interesse an dem Verbrechen haben.“

Pöling stutzte. „Wie kommen Sie zu dieser Äußerung, Baronesse? Aus welchem Grunde wollen Sie dies behaupten?“ fragte er verwundert.

„Ein reiner Zufall hat mich dahinter gebracht,“ erwiderte sie rasch. „Nein – ein Zufall war’s eigentlich nicht. Wozu soll ich nicht auch mal meine Hausfrauentugenden in das rechte Licht setzen?! – Ich hatte den Mädchen befohlen, die Schubladen im Waschtisch des Fremdenzimmers mit reinem weißen Papier auszulegen. Als ich nun soeben dort nach dem Rechten sah, zog ich auch die Schublade auf. Und da bemerkte ich, daß das Papier in der einen nicht glatt lag. Mein Ordnungssinn veranlaßte mich, mit der Hand darüber zu streichen, um es fester an den Boden anzupressen. Und so fühlte ich, daß unter dem Papier irgend ein Gegenstand lag. Ich hob es auf und erblickte nun ein von einem Gummibande zusammengehaltenes Päckchen Zeitungspapier. In der Annahme, daß ein früherer Gast dieses dort habe liegen lassen und daß die Mädchen es fortzunehmen vergessen hätten, wollte ich es schon in den Papierkorb werfen, als mein Blick auf das oberste Blatt fiel. Dort stand als Überschrift einer Notiz rot unterstrichen: „Das Verbrechen auf Gut Rolfersdorf“. Nun wurde ich neugierig und blätterte weiter. Und was enthielt das Päckchen tatsächlich? Denken Sie – etwa zwanzig Ausschnitte aus verschiedenen Zeitungen, und alle diese Abschnitte waren Berichte über den geheimnisvollen Mord. Manche Stellen darin hatte Max – denn nur ihm können ja diese gedruckten Notizen gehörnten, mit Rotstift unterstrichen. – Ich erkläre mir diesen Fund so, daß mein Vetter, der seinen Koffer noch nicht ausgepackt hat, die Blätter in einer Tasche seines Pelzes stecken gehabt und sie dann vorläufig in der Schublade verborgen hat. Sie müssen also einen gewissen Wert für ihn besitzen. Natürlich habe ich sie schleunigst wieder unter das Papier geschoben, so daß er gar nicht merken wird, daß ich unabsichtlich indiskret gewesen bin.“

Pöling starrte die Baronesse jetzt so seltsam mit ganz abwesendem Blick an, daß sie fast ängstlich fragte:

„Was haben Sie nur? Sie sind ja …“

„Baronesse,“ unterbrach er sie da leise und eindringlich, „sprechen Sie zu niemandem von diesen Zeitungsausschnitten, zu niemandem! Morgen will ich Ihnen näher erklären, weshalb dieses Schweigen unbedingt nötig ist. Für heute nur das eine: Ihr Vetter hat soeben unten im Salon jede Kenntnis des Mordes abgeleugnet, so getan, als wisse er von nichts! – Gute Nacht – auf Wiedersehen morgen.“

Er verbeugte sich nur, aber sie streckte ihm die Rechte hin und sagte dabei kopfschüttelnd: „Schade, daß es die sogenannte gute Sitte verbietet, daß wir hier zu dieser Stunde noch länger plaudern. Aber morgen müssen Sie mir bestimmt jede Auskunft geben, die ich haben will. – Gute Nacht!“

Ein fester, kameradschaftlicher Händedruck, und sie trennten sich. –

Pöling aber setzte sich, nachdem er in seinem Wohnzimmer die Lampe angezündet hatte, in den hohen Sessel vor den Kamin und starrte regungslos in die auf und ab tanzenden Flammenzungen. Jetzt waren wieder die Rätsel jener Herbstnacht völlig durch andere Gedanken in den Hintergrund gedrängt worden. Nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart beschäftigte ihn.

Er ging in sein Schlafzimmer, schloß seinen dort in einer Ecke stehenden Koffer auf, holte einen in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand heraus und trug ihn auf seinen Schreibtisch, an dem er dann sofort einen längeren Brief an seinen Freund, den Gerichtsassessor Gustav Hinz in Berlin, schrieb. –

Am nächsten Tage mußte der Postbote ein auffallend schweres Kistchen mitnehmen, das an denselben Assessor adressiert war. – – –

Max von Parla stattete Pöling den angekündigten Besuch gegen zehn Uhr vormittags ab. Der Schriftsteller hatte heute das Frühstück in seinen Zimmern eingenommen, da er sich bereits zeitig an die Arbeit setzte und diese nicht unterbrechen wollte.

Parla war wieder die Liebenswürdigkeit selbst.

„Denken Sie, bis zwei Uhr haben wir noch geskatet. Onkel liebt dieses Spiel genau so, wie ich zum Beispiel den Automobilsport. Der Kommissar ist ein trinkfester Mann. Der Weinkeller wird seine Anwesenheit noch lange merken. – Was halten Sie eigentlich von Hersels kriminalistischen Fähigkeiten, mein lieber Herr Pöling? Sie müssen das doch beurteilen können. Wer selbst so scharfsinnig ist wie Sie, darf sich schon eine Meinung erlauben.“

Er schwatzte in so harmlosem Plauderton, daß jeder anderen sich hätte täuschen lassen. Aber der Schriftsteller sah diesen Mann mit dem sicheren Auftreten des Mitgliedes der guten Gesellschaft und dem ewigen zuvorkommenden Lächeln um die schmalen Lippen mit besonderen Augen an, denen des starken Mißtrauens, und war daher auf seiner Hut, antwortete ausweichend, blieb dabei jedoch immer freundlich und höflich.

Parla ging dann auf ein neues Thema über.

„Mein Onkel hat Pech,“ meinte er. „Erst damals vor zehn Jahren diese mysteriöse Geschichte mit dem verschwundenen Techniker, auf die gleich darauf der Tod meiner lieben Tante Agathe folgte, und nun wieder dieser Mord! Man merkt es dem Schloßherrn ja auch an, wie ungern er über diese Dinge spricht. – Kennen Sie eigentlich diese Vorfälle, die sich hier vor zehn Jahren in einer Herbstnacht abgespielt haben, Herr Pöling? Das wäre ja so etwas für Sie gewesen – wirklich!“

Der Schriftsteller verneinte.

„So – na dann muß ich Ihnen unbedingt die Sache erzählen. Es wird Sie interessieren, tatsächlich!“

Parla zeigte sich über jene Ereignisse auffallend gut unterrichtet. Er kannte alle Einzelheiten, wußte sogar von den seltsamer Lauten, die um jene Zeit hier im Turm gehört worden waren. –

Als er mit seinem Bericht zu Ende war, bemerkte Pöling gleichgültig:

„Sie waren damals doch im Auslande, Herr von Parla, nicht wahr? Ihre Frau Mutter dürfte Ihnen aber wohl so eingehende Mitteilungen über diese Dinge gemacht haben.“

„Sehr richtig. Natürlich hat Mama mir davon geschrieben. Etwas derartiges muß man als Familienmitglied doch wissen. – Interessiert Sie denn dies gar nicht?! Denken Sie, wie nervenkitzelnd müßte es sein, diesen Geheimnissen nachzuspüren.“

„Ich habe leider keine Zeit dazu,“ meinte der Schriftsteller seufzend, und auch dieser Seufzer war bloße Berechnung bei ihm. „Mein Aufenthalt hier soll der Arbeit dienen. Ich hoffte mir durch den Roman, den ich jetzt schreibe, einen Namen zu machen.“

„Dann will ich auch nicht weiter stören, lieber Herr Pöling. Nur Ihre Wohnung hier darf ich mir wohl ansehen, überhaupt den ganzen Turm.“

Nachdem der Besucher sich verabschiedet hatte, blieb Pöling eine ganze Weile, grübelnd vor sich hinschauend, mitten im Zimmer stehen. –Was sollte dies alles – was bezweckte Parla? Hegte er denn dieselbe Vermutung hinsichtlich der Ereignisse jener Mordnacht wie der Schriftsteller selbst? Und – wollte er etwa, daß die Wahrheit an den Tag käme? Wozu das aber? Lag es nicht weit mehr in seinem Interesse als Verwandter des Schloßherrn, daß diese Geschichte für immer begraben blieb?!

Da kam Pöling plötzlich ein anderer Gedanke. – Ja, hierüber mußte er sich unbedingt sofort Aufschluß verschaffen. Vielleicht war die Baronesse hierzu imstande. Und daher begab er sich wenige Minuten später in den Salon hinab.

 

8. Kapitel.

In der Vorhalle begegnete der Schriftsteller dem Baron und Parla. Die beiden Herren wollten die Brennerei und die Molkerei besichtigen. Rolfer forderte den Schriftsteller zum Mitkommen auf, aber dieser lehnte dankend ab. Er müsse fleißig sein und käme nur um nachzusehen, ob der Postbote etwas für ihn mitgebracht habe. –

Franz, der im Speisezimmer beschäftigt war, mußte dann die Baronesse holen, die auch sofort erschien.

Sie nahmen auf einem Ecksofa Platz.

„Ich habe gestern noch lange über das, was wir abends auf der Treppe sprachen, nachgedacht,“ begann Adda sehr ernst. „Jetzt richte ich nochmals an Sie die ebenso dringende wie herzliche Bitte: Seien Sie aufrichtig mir gegenüber, Herr Pöling! Betrachten Sie mich als Ihre Verbündete! Schweigen Sie nicht etwa, um mich zu schonen. Seit gestern lastet ein furchtbarer Druck auf meiner Seele.“

Zweifelnd blickte Pöling eine Weile zu Boden. Als er den Kopf hob, schien er mit sich ins Klare gekommen zu sein. Lange und eindringlich sprach er zu der Baronesse, deren Gesichtszüge deutlich den Sturm von Gefühlen widerspiegelten, der in ihrer Seele durch die Mitteilungen des Schriftstellers entfacht wurde.

Als er endlich schwieg, sagte sie schweratmend:

„Welchen Einblick in die Verworfenheit eines menschlichen Charakters haben Sie mir eröffnet! Und – wenn nun alles so wäre, wie Sie es annehmen, – welchen Ausgang dieser traurigen Angelegenheit erwarten Sie?“

„Das muß man der Zukunft überlassen. Vorläufig heißt es für uns, vorsichtig zu sein und zu schweigen! Lassen Sie das keinen Augenblick außer acht, Baronesse! Gerechtigkeit muß sein, treffe sie, wen sie wolle! – Nun aber etwas anderes. – Wie stand Parla mit seiner Mutter? Korrespondierten sie, als er sich im Ausland befand?“

„Nein, wenigstens nicht in den ersten Jahren. Später wechselten sie nur einige Karten. Das hat mir Tante selbst erzählt.“

„So halten Sie es für ausgeschlossen, daß Frau von Parla ihrem Sohne in einem längeren Schreiben alle Einzelheiten berichtet hat, die sie über die Vorgänge in jener Nacht, als der Ingenieur verschwand, erfahren hatte?“

„Hat mein Vetter das etwa behauptet? – Dann hat er gelogen. Meine Tante war mit ihrem Sohne ganz auseinander. Selbst die Postkarten beschränkten sich auf kurze Grüße.“

„Danke – das genügt mir.“ –

Dann trennten sie sich. Und beide fühlten, daß diese halbe Stunde sie einander näher gebracht hatte, als dies unter gewöhnlichen Verhältnissen in vielen Wochen geschehen wäre.

* * *

Vier Tage waren vergangenen.

Auf Schloß Rolfersdorf war es mit der Behaglichkeit vorbei, seitdem Max von Parla dort als Gast erschienen war. Mit geradezu aufdringlicher Absichtlichkeit suchte er stets Addas Gesellschaft und umwarb sie in ganz unzweideutiger Weise, obwohl sie ihm mit größter Zurückhaltung begegnete. Auch des Barons Laune wurde von Tag zu Tag schlechter. In seinem Benehmen seinem Neffe gegenüber hatte er sich insofern geändert, als er Parla mit ängstlicher Scheu auswich und in seiner Gegenwart noch bedrückter und auch unsicher und verlegen schien. Daß Parla seiner Tochter Aufmerksamkeiten erwies, die das Maß verwandtschaftlicher Liebenswürdigkeit weit überschritten, schien er nicht zu bemerken.

Jedenfalls hatte Pöling, der den stillen, aber aufmerksamen Beobachter spielte, das deutliche Empfinden, daß Parla eine gewisse Macht über den Baron besaß und diese dazu benutzte, seinen Onkel ganz nach seinen Wünschen zu beeinflussen. Es war eine förmliche Gewitterstimmung, die über dem Schlosse und seinen Bewohnern lagerte.

So kam der Freitag heran. Als Pöling der Baronesse kurz vor dem Mittagessen in der Vorhalle begegnete, hatte sie rotgeweinte Augen und flüchtete eilig vor ihm, als fürchte sie eine teilnehmende Frage.

Bei Tisch war der Schloßherr, dessen Stirn tiefe Furchen zeigte, mehr als einsilbig. Adda sprach überhaupt kaum. Dafür schien Parla desto vergnügter zu sein. Diese ungemütliche Stimmung veranlaßte Pöling, sofort nach dem Essen sein Zimmer aufzusuchen, ohne wie sonst noch den Kaffee mit den anderen zusammen im kleinen Salon einzunehmen.

Wieder wie so oft in den letzten Tagen grübelte er dann, in seinem Arbeitszimmer auf und ab gehend, darüber nach, welcherlei Ereignisse sich jetzt hier abspielen oder vorbereiten könnten, die derartige Wirkungen auf den Baron und dessen Tochter auszuüben vermochten.

Eine Lösung hatte er ja gefunden, besser, war blitzartig in seinem Geiste aufgetaucht, als er heute Addas rotgeweinte Augen gesehen und dann das Benehmen der kleinen Tischgesellschaft beobachtet hatte. Aber er konnte es nicht glauben, daß es die richtige sei, obwohl er sonst keine anderen Deutungen sich herauszuklügeln vermochte.

Dann klopfte es, und der alte Diener überbrachte ihn, sehr geheimnisvoll tuend, einen versiegelten Brief.

„Von der Baronesse,“ meinte er leise. „Und Sie möchten mit niemandem darüber reden, Herr Pöling. Ich weiß, was das Schreiben enthält.“

Hierauf verschwand er.

Der Schriftsteller riß den Umschlag auf. Nur wenige Zeilen enthielt der lila Bogen.

„Ich muß Sie unbedingt allein sprechen. Sie müssen mir helfen. Und nur Sie können das. Ich habe mich niedergelegt und werde heute für die anderen nicht mehr sichtbar werden. Abends kommt der Kommissar zu dem üblichen Skat. Entschuldigen Sie sich und bleiben Sie auf Ihrem Zimmer. Ich werde gegen halb elf Uhr mit Franz zu Ihnen kommen. Dann sind wir sicher, daß uns niemand mehr stört.

A.“

„Das Unwetter kommt näher!“ dachte Pöling und betrachtete nochmals die flüchtigen Zeilen, die die Baronesse offenbar in höchster Aufregung auf das Papier geworfen hatte.

„Und dabei soll man arbeiten!“ lachte er.

Er setzte sich an den Schreibtisch, legte sein Romanmanuskript beiseite und entnahm einem Schubfache die Chronik des Hauses derer von Rolfer.

Oft genug schon hatte er sie durchgesehen, ohne etwas Besonderes in dem alten Buche, das der Urgroßvater des jetzigen Schloßherrn säuberlich mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben hatte, zu finden. Die erste Seite enthielt nichts als einen sauber ausgemalten Titel: „Historie des Geschlechts der Familie von Rolfer, beginnend mit den Hugenottenkämpfen in Frankreich.“ –

Die folgende Seite füllte ein Gedicht, über dem der Wappenspruch der Familie stand:

„Die Hand dem Freunde, die Faust dem Feinde!“

Dieses Gedicht war mit verblaßter, blauer Tinte geschrieben und nichts als eine Mahnung an die Nachkommen, alle die Tugenden stets zu beweisen, die die Barone von Rolfer besessen haben sollten. Nur ein Vers wies merkwürdiger Weise rote Tinte und größere Buchstaben auf. Er lautete:

„Wenn der Feind dann allzusehre dreuht,
Rolfer, achte wohl und sei gescheit:
Im Kamin des Turmes jede Flamme lösche,
vertrau auf Gott und unsere Feueresse,
Rolfer wird nicht untergehen,
sieht er sich am Strande stehn! –“

Bisher hatte Pöling dieser seltsamen Strophe wenig Beachtung geschenkt, obwohl er dahinter einen besonderen Sinn vermutete. Jetzt prüfte er nochmals Wort für Wort.

„Im Kamin des Turmes jede Flamme löschen!“ – Mit diesem Kamin konnte der Dichter nur den im Wohngemach gemeint haben.

Jetzt legte Walter Pöling die Chronik beiseite. Dem Gedanken, der eben in ihm aufgeblitzt war, wollte er sofort weiter nachgehen.

„Folgen wir dem guten Rat, den der Vers uns gibt,“ dachte er und begann vorsichtig die brennenden Scheite aus dem Kamin im Wohnzimmer in den seines Schlafgemaches hinüberzutragen.

Nun war die Kaminöffnung leer. Pöling mußte jedoch eine geraume Weile warten, ehe sich die Innenteile soweit abgekühlt hatten, daß er es wagen durfte, sie zu berühren. Zentimeter für Zentimeter tastete der Schriftsteller die Außenteile ab. Der Erfolg blieb jedoch ein völlig negativer. Wenn es hier einen geheimen Mechanismus gab, so konnte dieser nur von der Feueröffnung in Tätigkeit gesetzt werden.

Endlich hatten sich die Steine im Innern des Kamins genügend abgekühlt, und Pöling zog nun seinen Rock aus, krempelte die Ärmeln seines Oberhemdes hoch und trat in die Kaminöffnung hinein. Mit dem Schürhaken beklopfte er dann sorgfältig alle Stellen, fand aber auf diese Weise nichts. Nun zündete der seine Spiritusglühlichtlampe an und leuchtete damit den Feuerraum ab. Zunächst ergab auch diese Besichtigung nichts Bedeutungsvolles. Immerhin bemerkte der Schriftsteller, daß eiserne, mit Bolzen befestigte Bänder in Abständen von etwa zwanzig Zentimeter anscheinend zur Verstärkung des Mauerwerkes der Rückwand und der Seitenteile in die Mauersteine eingelassen waren, was infolge des anhaftenden Rußes nur schwer zu erkennen war. Eigentlich nur auf gut Glück begann Pöling jetzt die Eisenteile mit dem Schürhaken zu beklopfen, daran zu rütteln und an besonderen Stellen, besonders auf die Bolzenköpfe, zu drücken. Er hatte mit diesen Versuchen an der rechten Kaminseite begonnen, nahm dann die Rückwand und schließlich die linke Seite vor. Und hier war es, wo plötzlich unter dem starken Druck des Schürhakens das mittelste Eisenband an der der Wand zuliegenden Seite elastisch nachgab. Pöling drückte nochmals, stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Da bemerkte er, daß nicht nur das Eisenband, sondern auch diese ganze Seitenwand des Feuerraumes, soweit sie in die Mauer eingelassen war, nach außen wie eine Tür aufklappte und eine Öffnung freimachte, durch die ein Mensch in gebückter Haltung bequem hindurchschlüpfen konnte.

Kurz entschlossen nahm der Schriftsteller die Lampe in die Linke und zwängte sich durch das länglich viereckige Loch hindurch. Er befand sich jetzt in einem schmalen Raum, der völlig leer war. Nur in der entferntesten Ecke lehnte ein Gegenstand an der Wand, der sich als eine hochgeklappte Falltür bei näherem Zusehen entpuppte. Von hier aus führte eine schmale Steintreppe in die Tiefe hinab. Pöling zauderte auch nicht einen Augenblick, diese Forschungsreise fortzusetzen. Ahnte er doch, daß noch wichtigere Enthüllungen ihm bevorstanden.

Langsam, die Lampe weit vor sich haltend, die jetzt ohne die grüne Glocke ein fast blendendes Licht verbreitete, stieg er Stufe für Stufe hinab.

Plötzlich prallte er zurück. Ein paar Stufen unter ihm lag am Ende der Treppe, die hier in einen ebenso schmalen Raum wie oben mündete, eine menschliche Gestalt.

Es kostete dem Schriftsteller jetzt doch eine gewisse Überwindung noch weiter hinabzusteigen, obwohl er mit ziemlicher Bestimmtheit wußte, daß er nur die Überreste eines vor langen Jahren Verstorbenen vor sich haben konnte.

Und nun stand er vor dem Toten, der halb auf der Seite lag. Die Kleider waren noch gut erhalten, und über dem ebenfalls mit einer leichten Staubschicht bedeckten und daher grau erscheinenden Leinenkragen ragte ein zur Mumie eingetrocknetes, braun verfärbtes Gesicht hervor.

Noch mehr erblickte Pöling. Und er bückte sich, hob einen nicht allzu großen Gegenstand auf und steckte ihn in die Tasche.

 

9. Kapitel.

Die späte Abendstunde war da, zu der Pölings Besucher sich einfinden wollte. Im Kamin brannte wieder ein helles Feuer, und um den behaglichen Lichtschein hatte der Schriftsteller den hohen Lehnsessel, seinen Schreibtischstuhl und eine dritte Sitzgelegenheit gruppiert.

Es klopfte, und die Erwarteten traten ein. Pöling nötigte die Baronesse in den bequemen Lehnstuhl und nahm auch selbst Platz, nachdem der alte Diener den dritten Stuhl bescheiden anzunehmen verweigert und sich mehr im Hintergrunde niedergesetzt hatte.

„Wir können das, was wir zu sprechen haben, ohne Scheu auch in Gegenwart des alten Franz tun,“ begann Adda, nachdem sie eine leichte Verlegenheit über diesen Besuch zu solcher Stunde schnell niedergekämpft hatte. „Franz gehört ja sozusagen schon mit zur Familie. Ich weiß, wie ergeben er mir ist und wie verschwiegen er sein kann.“

Dann fuhr sie nach kurzer Pause fort:

„Es wird Ihnen nicht entgangen sein, Herr Pöling, daß Papas Stimmung in den letzten Tagen eine auffallend schlechte war und daß ich heute verweinte Augen hatte. Mit Parlas Ankunft hier ist ein böser Geist bei uns eingekehrt. Er allein ist schuld daran, daß ich heute rat- und hilfesuchend zu Ihnen geflüchtet bin. – Mein Vetter will, um die Sachlage mit einem Wort zu kennzeichnen, mich dazu zwingen, ihn zu heiraten.“

Sie schaute Pöling jetzt forschend an, als wolle sie sich von der Wirkung dieser Mitteilung überzeugen.

Aber der Schriftsteller nickte nur ernst mit dem Kopf.

„Das habe ich geahnt, Baronesse.“

„Unmöglich!“ entschlüpfte es ihr. Dann fügte sie jedoch schnell hinzu: „Ich vergesse, daß Sie schärfere Augen haben als andere Menschen. Vielleicht kommt Ihnen dann auch das gar nicht so überraschend, was ich Ihnen noch außerdem anvertrauen muß.“

„Überraschend wohl nicht. Nur die Einzelheiten fehlen mir noch,“ meinte Pöling ohne jede Wichtigtuerei. „Doch bleiben wir bei der Sache. – Durch welche Mittel will Parla Sie zu einer Ehe zwingen? Hat er Ihnen mit irgend etwas gedroht?“

„Nein, mir nicht – aber Papa!“

„Also hat Ihr Herr Vater Ihnen nahegelegt, aus Rücksicht auf ihn Parlas Frau zu werden?“

„So ist es. Mein Vetter muß schon in den letzten Tagen Papa gegenüber Andeutungen gemacht haben, daß er ein Geheimnis kennt, durch dessen Veröffentlichung der gute Ruf meines Vaters für immer vernichtet wäre. Daher hat Papa auch stillschweigend geduldet, daß Parla mich in so taktloser Weise umwarb. Heute Vormittag ist Parla dann dem Vater gegenüber ganz deutlich geworden und hat verlangt, daß ich ihn heirate. Völlig verstört kam Papa nach dieser Unterredung zu mir auf mein Zimmer. In einem derartigen Zustande habe ich ihn noch nie gesehen. Denken Sie, Herr Pöling, er weinte vor mir und beschwor mich, zunächst einer öffentlichen Verlobung mit meinem Vetter zuzustimmen. Ich traute meinen Ohren nicht, daß mein Vater, der von Parla selbst nicht viel hält, mir diese Zumutung machen konnte. Als ich ähnliches äußerte, sagte er wörtlich: „Dein Vetter liebt dich, Kind, und es ist auch mein Herzenswunsches, daß du nicht allein bleibst. Ich könnte plötzlich sterben, und …“ Dann erstickten abermals Tränen seine Stimme. Auf meine flehenden Bitten hin erklärte er schließlich, wenn ich den Antrag Parlas ablehne, werde dieser die Ehre des Namens Rolfer für alle Zeit vernichten.“

Auch Adda versagte jetzt die Stimme vor halbunterdrücktem Schluchzen.

Der Schriftsteller begriff nur zu gut, wie peinvoll diese Aussprache für sie sein mußte und sah daher davon ab, weitere Fragen an sie zu richten. Etwas wie eine freudige Genugtuung erfüllte ihn in dem Bewußtsein, nunmehr tatsächlich in der Lage zu sein, ihr helfen zu können. Und mit warmer, teilnehmender Herzlichkeit meinte er:

„Baronesse – regen Sie sich nicht weiter über diese schmachvolle Handlungsweise Ihres Vetters auf. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß er Ihrer Familie nicht schaden kann. Und um die Situation schnellstens zu klären, mache ich Ihnen folgenden Vorschlag. Lassen Sie Ihren Herrn Vater durch Franz benachrichtigen, daß Sie sich sehr schlecht fühlen und er zu Ihnen kommen möchte. Parla und der Kommissar werden hoffentlich Taktgefühl genug besitzen, sich daraufhin sofort zu verabschieden. Und dann kommen Sie beide zu mir, und zwar am besten durch den Parkeingang, damit Ihr Vetter von diesem späten Besuch nichts merkt. Am besten ist, Sie warten einige Zeit, bis anzunehmen ist, daß Parla schlafen gegangen ist.“

Adda hatte so unbegrenztes Vertrauen zu Pöling, daß Sie auch nicht eine Frage an diesen über seine näheren Absichten richtete, sondern nur kurz und sichtlich froh gestimmt dessen Vorschlag annahm. Darauf verließ sie mit Franz wieder den Turm. – –

Pöling hatte die Tour nach dem alten Flügel zu verschlossen und dafür die nach dem Park geöffnet. Eine halbe Stunde verging. Dann hörte er vorsichtige Schritte auf der Treppe, und gleich darauf betraten der Baron und Adda das Wohnzimmer.

Rolfer reichte seinem Gast unsicher und verlegen die Hand.

„Ich begreife nicht recht, was dieser geheimnisvolle Besuch bei Ihnen für einen Zweck haben soll,“ meinte er, sich schwer in den Lehnsessel fallen lassend. „Adda erklärte mir nur, daß Sie mich noch heute unbedingt sprechen müssen. Ich bin so müde und abgespannt …“ Er starrte mit düsterem Blick in die Flammen des Kamins und seufzte schwer.

„Herr Baron,“ begann Pöling mit ruhiger Bestimmtheit, „das, was ich Ihnen zu sagen habe, leidet keinen Aufschub und muß in Gegenwart Ihres Fräulein Tochter geschehen. Schon einmal war es mir vergönnt, Ihnen einen kleinen Dienst zu erweisen – damals auf dem Potsdamer Platz, wo ich Sie vor dem Überfahrenwerden rettete. Heute dürfte mein Eintreten für Sie noch wichtiger sein. Die Baronesse hat sich in ihrer Verzweiflung an mich gewandt und mir erzählt, daß Herr von Parla sie zwingen will, seine Frau zu werden.“

Der Schloßherr fuhr auf. „Adda – wie konntest du!“ rief er unwillig. „Diese Dinge gehen niemanden etwas an!“

„Bitte – lassen Sie mich erst aussprechen, Herr Baron,“ fuhr der Schriftsteller begütigend fort. „Ihr Neffe hat Sie durch die Drohung zu beeinflussen gesucht, daß er die Vorfälle jener Herbstnacht vor zehn Jahren in der Form in die Öffentlichkeit bringen würde, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben, nicht wahr?“

Rolfer krampfte die Hände um die Armlehnen, beugte sich weit aus seinem Sessel und stieß schwer atmend hervor:

„Herr – sind Sie denn allwissend?!“

Erst schien es, als wolle eine zornige Regung sich noch weiter bei ihm Luft machend. Dann aber nahm sein Gesicht einen anderen Ausdruck an. Er lehnte sich zurück, ließ den Kopf tief auf die Brust sinken und sagte dumpf:

„Ja, damit hat mir jener Schuft gedroht. Hat er auch mit Ihnen darüber gesprochen?“

„Nein. Die Sache hängt ganz anders zusammen.“ Und nun berichtete Pöling alles, was er über die Ereignisse jener Nacht von dem alten Diener erfahren hatte. Er schonte dabei den Baron nicht, sprach ganz offen über dessen Ehe, soweit er hiervon durch Franz und die Baronesse unterrichtet war. –

Dann fuhr er fort:

„Aus der Bekundung des Dieners, daß die Tür des Turmes nach dem Park zu in Wirklichkeit verschlossen gewesen ist, und aus den Feststellungen der Polizei, daß der Ingenieur das Schloß durch einen anderen Ausgang nicht verlassen haben konnte, ging klar hervor, daß Müller nicht geflüchtet, sondern im Schlosse geblieben war. Nachdem mir dies erwiesen schien, glaubte ich auch für die sonderbaren Laute im Turm, die damals gehört wurden, eine vielleicht zutreffende Erklärung gefunden zu haben. Ich nahm an, daß der Ingenieur aus Furcht in irgend ein geheimes Gelaß des Turmes geflüchtet war, aus dem er sich dann nicht mehr befreien konnte, und daß er dort umsonst um Hilfe gerufen habe, seine Stimme aber die dicken Mauern nicht zu durchdringen vermochte und er schließlich an Hunger und Entkräftung gestorben sei. Dieses Gelaß aufzufinden, gab ich mir die größte Mühe. Deshalb bat ich auch den alten Franz, mir die Chronik der Familie Rolfer, mit der sich Ihre Gattin, Herr Baron, recht viel beschäftigt haben soll, zu beschaffen. Meine Nachforschungen in dieser Richtung blieben jedoch zunächst ergebnislos. Dann entfernte ich eines Tages die Kugel aus dem Schrank im Flur des alten Flügels und entdecke gleich darauf ein zweites, dieser Kugel genau gleichendes Bleigeschoß in dem Rahmen jenes Bildes dort.“

Pöling warf jetzt einen schnellen Blick nach dem Baron hinüber. Dieser war leichenblaß und wischte sich gerade mit dem Taschentuch die dicken Schweißperlen von der Stirn.

„Die zweite Kugel hatte nur noch geringe Durchschlagskraft, als sie sich in der Schnitzerei des Rahmens festklemmte,“ fuhr er fort. „Ich nahm daher an, daß sie bereits einen Gegenstand durchbohrt hatte, als sie den Rahmen traf, weiter auch, daß sie den ganzen Umständen nach nur an demselben abend aus dem Revolver abgefeuert sein könne, an dem auch das erste Geschoß in die Schrankwand eindrang. Diese Überlegungen brachten mich zu der Überzeugung, daß meine anfängliche Ansicht, der Ingenieur sei in seinem Versteck an Hunger schließlich umgekommen, nicht die richtige sein könne. Ich entwarf mir nun ein völlig neues Bild von den Ereignissen jenes Herbstabends. Beim nochmaligen Nachprüfen der Einzelheiten, die Franz mir erzählt hatte, fiel mir dann ein, daß er geäußert hatte, er habe damals in der Vorhalle einen „dumpfen“ Knall gehört. Ich sagte mir nun, daß ein im Flur des ersten Stockwerks abgefeuerter Schuß für den Diener in der nahen Vorhalle nicht als dumpfe, sondern als recht laute Detonation hätte vernehmbar werden müssen, zumal der, der den Schuß abgab, gar nicht weit von der Treppe entfernt gestanden haben konnte, da ja die Kugel in diejenigen Seitenwand des Schrankes steckte, die nach der Treppe zu zeigte. Diese an sich einfache Kombination weckte die Vermutung in mir, daß der Diener nicht den Schuß gehört habe, der den Schrank beschädigte, sondern den zweiten, der das Bild traf, und daß der Schuß auf den Schrank nur deswegen abgefeuert sei, um den wahren Tatbestand zu verdunkeln. Gelegenheit hierzu war ja während der Zeit gegeben, als der Diener aus dem Inspektorhause Hilfe herbeiholen mußte. Das neu gewonnene Bild jener Ereignisse konnte ich durch diese Kombinationen noch weiter ergänzen. Ich glaubte jetzt folgendes annehmen zu müssen: Sie, Herr Baron, hatten aus einem Grunde, der erst später erörtert werden soll, hier in diesem Zimmer, während die Türen nach dem Flur des älteren Flügels offenstanden, auf den Ingenieur geschossen. Daher vernahm Franz den Knall auch nur als dumpfe Detonation. Dann hat Sie Ihre Frau Gemahlin halb mit Gewalt, nachdem sie vor Entsetzen über das Geschehene einen Schrei ausgestoßen hatte, fortgeführt. Ihre Gattin wurde nun ohnmächtig. Sie wollten sie daher in ihr Zimmer schaffen, vergewisserten sich aber vorher, ob auch Franz, den Sie im Schlosse wußten, Ihnen nicht begegnen werde. So stießen Sie mit ihm in der Vorhalle zusammen und erzählten nun die Geschichte von dem Einbrecher, um Ihre und Ihrer Gattin Anwesenheit oben in Flur begründen zu können. Als der Diener auf Ihren Befehl nach dem Inspektorhause lief, brachten Sie zunächst Ihre Gemahlin in deren Zimmer und feuerten dann den Schuß auf den Schrank ab, damit Ihre Angaben über den Einbrecher glaubhafter erscheinen sollten, wenn man die Kugelspur in dem Schranke entdeckte. Alles andere, was ich mir sonst noch zusammengereimt habe, gehört nicht hierher. Jedenfalls aber hatten Sie, Herr Baron, bisher in der Überzeugung gelebt, und das glaubte auch ich bis heute nachmittag, Sie hätten den Ingenieur damals durch den Schuß schwer verwundet und dieser sei dann, wohl aus Furcht, daß Sie nochmals zurückkehren könnten, in ein auch Ihnen unbekanntes Gelaß geflüchtet und dort verschieden. Diese Gewissenslast kann ich nun von Ihnen nehmen. Die Kugel hat dem Ingenieur nur den Stoff an der linken Schulter seiner Jacke durchbohrt, ohne ihn selbst zu verletzen. Falls Sie ihn haben taumeln oder sogar fallen sehen, so ist dies nur infolge des Schrecks über Ihren Angriff geschehen.“

Pöling berichtete nun ganz eingehend weiter, wie er den geheimen Zugang durch den Kamin heute endlich gefunden hätte und wie er auf die Leiche des Ingenieurs gestoßen wäre. Dann zog er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und hielt es hoch.

„Dieses Büchlein hier, Herr Baron, enthält das Zeugnis eines Toten und hat mir bewiesen, daß ich mich in meinen letzten Schlußfolgerungen in einem Punkte doch geirrt habe. Ich sah es neben der Leiche liegen; zwischen den Seiten steckte ein Bleistift. Der Ingenieur hat mit letzter Kraft wohl in Gewißheit seines baldigen Endes folgendes hier niedergeschrieben:

„Der Baron überraschte uns. Agathe war zu mir gekommen, um mich anzuflehen, ich solle das Schloß in Rücksicht auf ihren Seelenfrieden sofort verlassen. Nie vorher haben wir uns heimlich gesprochen. Der Schein war gegen uns. Der Baron schoß nach mir. Um der Kugel auszuweichen, wollte ich zur Seite springen, strauchelte und fiel zu Boden. Der Schuß durchlöcherte nur die linke Achsel meiner Jacke. Agathe fiel ihrem Manne zu spät in den Arm, schrie entsetzt auf und zerrte ihn dann aus dem Zimmer, indem sie hinter sich die Tür ins Schloß zog. In der Annahme, daß der Baron in seiner Wut nochmals zurückkehren und mich Wehrlosen, ohne sich erst von meiner Schuld zu überzeugen, niederschießen würde, floh ich durch den Kamin, in dem das Feuer bereits am Nachmittag erloschen war, in den geheimen Gang, stolperte aber auf der Treppe im Dunkeln und stürzte, wobei ich mit dem Hinterkopf schwer auf die Steine aufschlug. Lange lag ich bewußtlos. Als ich erwachte und mich aufrichten wollte, merkte ich, daß ich mir das Rückgrat verletzt haben mußte. Ich vermochte nur die Arme zu bewegen. Ich rief dann um Hilfe, fiel abermals in Ohnmacht, kam zu mir, strengte meine Stimme wieder an, bis sie mir versagte. Nun weiß ich, daß ich hier sterben muß. Mein Kopf glüht, Fieber rast in meinen Adern. Beim Scheine meines Benzinfeuerzeugs schreibe ich mühsam diese Zeilen. Der Docht schwelt nur noch … So wahr mir Gott helfe: dies alles ist die reine Wahrheit! –

Herbert Müller.“

Der Baron hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und schluchzte so stark, daß sein ganzer mächtiger Körper sichtbar bebte.

Adda aber, die erst durch diese Aufzeichnungen des Toten erfuhr, welche Rolle ihre verstorbene Mutter bei diesem Drama gespielt und wie nur unbegründete Eifersucht ihrem Vater die Waffe in die Hand gedrückt hatte, fühlte inniges Erbarmen mit dem schwergeprüften Manne, der jahrelang unter einer unbestimmten Gewissensangst dahinleben mußte und dessen Ehe vorher eine so unbefriedigende gewesen war. Sie eilte zu ihm hin, setzte sich auf die Armlehne und umschlang ihn liebevoll, indem sie ihm einige Worte des Trostes zuflüsterte. –

Und dann gab der Baron, nachdem er sich etwas beruhigt, selbst eine Schilderung der damaligen Vorgänge, woraus Adda nun auch ersah, welche Beziehungen zwischen ihrer Mutter und dem unglücklichen Ingenieur bestanden hatten, – eine Einzelheit, über die Pöling bisher absichtlich schweigend hinweggegangen war.

„Und nun nach zehn Jahren sind die Geister von früher wieder lebendig geworden. Mein Neffe hauchte ihnen neues Leben ein. Erst begann der mit leisen Andeutungen, daß die Vorfälle jener Herbstnacht doch wohl falsch von der Polizei beurteilt wurden. Gleichzeitig fragte er bei mir an, ob ich geneigt sei, ihm Adda zur Frau zu geben. Meine Antwort war ein kurzes Nein. Nun wurde er schon offener, enthüllte die Mittel so etwas, die ihm zu Gebote standen, um mich zur Befürwortung dieser Ehe zu zwingen. Er sprach davon, daß im Nachlaß meiner Frau ein an seine Mutter, die ja deren ältere Schwester war, gerichtetes Schreiben gefunden sei, das jetzt in seinem Besitz wäre. In diesem Briefe hätte so mancherlei von einem Ingenieur Müller gestanden und auch anderes von einem geheimen Zugang zu unterirdischen Gängen. – Nachdem er mich auf diese Weise tagelang gefoltert hatte, wurde er heute Vormittag ganz deutlich. Er sagte mir rücksichtslos ins Gesicht, daß der Ingenieur Müller der Jugendgeliebte meiner Gattin gewesen sei und daß Eifersucht schon manchen Ehemann zum Morde getrieben habe. Wenn man den Turm genau durchsuchen würde, könnte man vielleicht merkwürdige Dinge finden. – Nun war ich überzeugt, daß er alles wußte, sogar vielleicht noch mehr als ich selbst. Und da habe ich ihm denn in meiner Angst vor diesen Enthüllungen zugesagt, daß Adda die Seine werden solle.“

Der Baron richtete sich auf und schlang den Arm fest um sein einziges Kind, das noch immer neben ihm auf der Armlehne des Sessels saß.

„Ihnen, lieber Herr Pöling, habe ich es zu verdanken, daß ich diese Nacht ruhig schlafen werde. Wie ich Ihnen diese meine Dankbarkeit beweisen soll, weiß ich heute noch nicht.“

Er streckte dem Schriftsteller die Hand hin, und die Finger der beiden Männer legten sich mit kräftigem Druck ineinander.

Pöling wollte es aus echter Bescheidenheit vermeiden, daß der Baron dieses Thema von seines Gastes Verdiensten um das Wohl der Familie Rolfer noch weiter ausspann und sagte daher mit besonderer Betonung:

„Wissen Sie auch, Herr Baron, daß der unterirdische Gang, der hier vom Turme aus nach Norden führt, in der Schlucht dicht an der See mündet? Einen Hinweis hierauf findet man ja allerdings in dem Verse der Familienchronik: „Rolfer wird nicht untergehn, sieht er sich am Strande stehn.“

Aber der Schloßherr schien einem anderen Gedanken nachzugehen. Zu Pölings Bemerkung nickte er nur zerstreut mit dem Kopf und sagte dann zweifelnd:

„Woher nur Müller Kenntnis von dem geheimen Eingang in der Kaminöffnung gehabt haben mag? Und weiter – ob in dem Briefe, den meine Frau ihrer Schwester hinterließ, tatsächlich so eingehende Angaben über den Ingenieur und die Geheimtür gestanden haben mögen, daß Parla daraus solche, zum Teil ja richtige Schlüsse ziehen konnte?“

„Die erste Frage, Herr Baron, läßt sich mit Sicherheit kaum beantworten,“ erwiderte der Schriftsteller. „Man muß jedoch wohl annehmen, daß entweder Ihre Gemahlin, die ebenso wie ich durch die Chronik zu erfolgreichen Nachforschungen veranlaßt worden war, dem Ingenieur gelegentlich von der verschiebbaren Innenwand des Kamins etwas erzählt oder daß Müller selbst die verborgene Tür entdeckt hat. Was Ihren Neffen anbetrifft, so bin ich vollkommen überzeugt davon, daß in dem Briefe, der ja vor jener Herbstnacht geschrieben sein muß, da Ihre Gattin nach ihrer Erkrankung hierzu nicht mehr imstande war, lediglich ziemlich nichtssagende Dinge enthalten waren und daß Parla erst durch eigene Kombinationen, die er hier durch vorsichtige Fragen ergänzte, zu der Überzeugung von einem durch Sie verübten Verbrechen gelangt ist. Alles, was er Ihnen gegenüber an Andeutungen gemacht hat, war ja recht unbestimmt. Erst als er sah, daß Sie schon durch den Hinweis auf diese Vorfälle geängstigt wurden, trat er kühner auf. – Nun – seiner Strafe wird er kaum entgehen!“ fügte Pöling fast drohend hinzu. „Nicht mehr lange kann es dauern, bis ich die Beweise zusammenhabe, daß er nicht nur ein gewissenloser Abenteurer, sondern auch – ein Mörder ist.“

In kurzen, klaren Sätzen entwickelte der Schriftsteller nun dem Baron seine Verdachtsgründe. Dieser saß wie betäubt da. Und als Pöling geendet hatte, murmelte er nur ein ungläubiges: „Unmöglich! – Unmöglich!“ vor sich hin.

Pöling lächelte traurig. „Ich fürchte, ich werde doch Recht behalten. Jedenfalls dürfen wir Parla nicht merken lassen, welch vernichtendes Unwetter sich über seinem Haupte zusammenzieht. Darum wollte ich Sie noch besonders bitten, Herr Baron. Ebenso ist es am besten, auch diese halbe Erpressung, die er an Ihnen begehen wollte, zusammen mit der anderen Sache zu erledigen. Es dürfte eine böse Szene geben, wenn Ihr siegesgewisser Neffe so plötzlich von dem Gipfel seiner Hoffnungen sich in einen Abgrund gestürzt sieht, aus dem es kein Entrinnen gibt.“ – –

Bald darauf verließen der Baron und Adda den Turm nach herzlichster Verabschiedung von ihrem Retter.

 

10. Kapitel.

Am nächsten Tage ereignete sich nichts von Bedeutung. Der Baron und Adda hatten sich sehr gut in der Gewalt und ließen sich Parla gegenüber nicht anmerken, daß sie sich von ihm als Verwandte bereits völlig losgesagt hatten. Die Baronesse erschien freilich nur bei Tisch, und auch der Schloßherr suchte durch Vorschützen von Abrechnungen möglichst ein längeres Zusammensein mit seinem Neffen zu vermeiden.

Am Sonnabendnachmittag traf dann für Pöling eine Depesche ein, die ihn veranlaßte, den Schloßherrn um die Entsendung eines Wagens zum Abendzuge zur Bahnstation zu bitten, was auch sofort angeordnet wurde. Das Telegramm hatte nur die Worte enthalten:

„Voller Erfolg. Bringe den Mann mit. Eintreffen Abendzug. Hinz.“

Der Schriftsteller fuhr dann selbst mit zur Station und brachte seinen Freund, den Gerichtsassessor, und einen einfach angezogenen, offenbar dem Arbeiterstande angehörigen Mann mit nach dem Schlosse zurück, der das Deutsche nur sehr mangelhaft beherrschte.

Inzwischen hatte der Baron, der Verabredung mit Pöling gemäß, Max von Parla nach dem Abendessen gebeten, sich gegen neun Uhr zu einer Skatpartie in seinem Arbeitszimmer einzufinden. –

* * *

Es war kurz vor neun Uhr. In des Schloßherrn Arbeitszimmer brannten sämtliche Birnen des aus Hirschgeweihen gefertigten Kronleuchters. Um den großen Mitteltisch saßen der Baron, Pöling, der Assessor und Kriminalkommissar Hersel. Letzterer machte ein sehr erstauntes Gesicht, da er doch zu einem Spielchen hergebeten war und nun von Karten, Skatblock und vielversprechenden Weinflaschen nichts bemerkte. Auf seine dieserhalb an den Gutsbesitzer gerichteten Frage erhielt er eine Antwort, die die Situation nur noch rätselhafter machte.

„Ein Spiel wird es werden, aber auf Leben und Tod!“ hatte der Baron geantwortet.

Dann erschien Max von Parla, in bester Laune und liebenswürdig lächelnd wie immer. Der Assessor wurde ihm als Freund des Schriftstellers vorgestellt, der mit diesem eine dringende Angelegenheit zu besprechen hätte.

Auch Parla fiel das Fehlen jeglicher Vorbereitungen zu einer Skatpartie auf. Auch er fragte etwas erstaunt, weshalb die Herren denn mit so feierlichen Mienen um den Riesentisch herumsäßen. Der Baron erwiderte, er möge nur erst Platz nehmen, dann würde er schon erfahren, was erledigt werden solle. Dabei wies er auf einen Klubsessel, der an einer Stelle stand, die von der Tür am weitesten ablag. Parla stutzte bei dem ernsten Gesicht und dem nicht minder ernsten Ton seines Onkels, zuckte dann aber unbesorgt die Achseln und setzte sich.

Pöling sollte jetzt allein das Wort führen, und so begann er denn, indem er sich an Max von Parla wandte:

„Ihr Herr Onkel, unser verehrter Herr von Rolfer, hat mich beauftragt, in Gegenwart dieser Herren hier zunächst eine Angelegenheit aufzuklären, die Sie anscheinend nach Schloß Rolfersdorf geführt hat. Ich meine das Verschwinden des Ingenieurs Müller. In der Annahme, daß Ihr Onkel den Ingenieur ermordet und die Leiche in einem geheimen Raum des Schlosses verborgen hat, haben Sie einen Zwang dahin auf ihn auszuüben versucht, daß er Ihnen die Baronesse zur Frau gibt.“

Parlas Gesicht war jetzt förmlich vor Wut verzerrt. Dann aber lächelte er ironisch seinen Onkel an. Sicherlich wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß seiner Meinung nach dieser mit der Preisgabe dieses Geheimnisses eine furchtbare Dummheit gemacht habe.

„Sie sind jedoch bei dieser Nötigung,“ fuhr Pöling fort, „von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Ich möchte Sie daher auffordern hier in Gegenwart des Herrn Kriminalkommissars Hersel Ihre Beweise vorzubringen.“

Parlas Sicherheit, die sich in seiner herausfordernden Miene ausdrückte, schwand plötzlich. Er wurde sichtlich verlegen und erwiderte nur hochmütig:

„Das werde ich nur dem Gericht gegenüber tun!“

„Ganz wie Sie wollen. – Ich möchte Ihnen aber hier gleich mitteilen, was der Baron von diesen Ihren Beweisen hält. Etwas Bestimmtes wissen Sie nicht. Sie haben ja Herrn von Rolfer gegenüber stets nur Andeutungen gemacht, durch die dieser sich anfänglich allerdings einschüchtern ließ.“

Pölings Stimme wurde schneidender. „Alles, was Sie als Schreckmittel benutzt haben, sind lediglich Vermutungen gewesen. Die Wahrheit über jene Vorgänge ist die, daß der Ingenieur allein schuld an seinem beklagenswerten Tode ist. Ich selbst habe seine Leiche in einem geheimen Gelaß des Turmes gefunden, und neben der Leiche lag ein Notizbuch, in dem Müller kurz vor seinem Ende wichtige Aufzeichnungen gemacht hat. – Hier ist es. Lesen Sie diese Zeilen, und Sie werden sehen, daß die Ereignisse sich doch etwas anders abgespielt haben, als Sie zu Ihrem Vorteil hofften.“

Parla nahm das Büchlein mit mühsam unterdrückter Erregung entgegen, überflog die betreffenden Zeilen, warf es dann im Bogen mitten auf den Tisch und erhob sich.

Mit einer höhnischen Verbeugung nach dem Baron hin sagte er fast zischend:

„Unter diesen Umständen habe ich hier ja wohl nichts mehr zu suchen. Ich werde die Gastfreundschaft dieses Hauses, in dem ich mir leider kein Herrenrecht erwerben konnte, auch nicht eine Minute länger in Anspruch nehmen.“

Er wollte der Tür zuschreiten, aber ein gebieterischer Wink des Barons hielt ihm auf seinem Platze fest. Und gleichzeitig sagte Pöling scharf und fast drohend: „Setzen Sie sich wieder! Diese bodenlose Gemeinheit, Ihren Onkel derart behandelt zu haben, ist nicht das einzige, was Ihnen hier vor diesen Zeugen vorgeworfen werden soll.“

Parla schien auf den Schriftsteller eindringen zu wollen; aber plötzlich erbleichte er und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Ohne Frage war der Verdacht in ihm aufgestiegen, daß man ihm noch ein weit schwereres Verbrechen vorhalten wolle, dessen Spuren er bereits für immer getilgt glaubte.

Die Zeugen dieser Szene konnten sich dem Eindruck nicht verschließen, daß Max von Parla schon jetzt wie ein völlig Überführter aussah und daß Pöling aus diesem Kampfe völlig als Sieger hervorgehen werde. Nur der Kommissar schaute mit verwunderten Augen drein. War er doch der Einzige, der nicht wußte, um was es sich hier jetzt noch handelte.

Der Schriftsteller wollte dieser unerquicklichen Szene möglichst schnell ein Ende machen. In kurzen Worten schilderte er, wie es ihm damals nach der Auffindung des unbekannten Toten sofort aufgefallen sei, daß alle Spuren menschlicher Füße in der Nähe des Fundortes fehlten.

„Trotzdem entdecke ich später dort noch etwas wie eine Fährte, nämlich eine breite, tiefe Furche im Schnee, von etwa drei Meter Länge, die fünfzig Schritt nach Norden zu sich befand. Weiter hatte die Mordkommission am Fundorte noch ein Eisenstück mit einem daran gebundenen Tau aus dem Schnee zutage befördert, ohne jedoch diesem Gegenstand Bedeutung zuzumessen. Ich habe das Stück Eisen nachher an mich genommen, da ich die dunkle Vermutung hegte, dieses müsse zu dem Morde irgendwie in Beziehung stehen. Und dann tauchten Sie, Herr von Parla, hier auf.“

Der Schriftsteller streifte den Neffen des Barons mit einem schnellen Blick. Parla saß ganz zusammengesunken da. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, und seine Augen waren halb geschlossen.

„Ihre Behauptung, Sie wüßten noch nichts von diesem Morde, war erlogen,“ fuhr Pöling fort. „Die Baronesse hat am Abend Ihrer Ankunft in der Schublade des Waschtisches die Zeitungsausschnitte über den Mord zufällig entdeckt, die Sie so sorgfältig gesammelt hatten. Von der Baronesse erfuhr ich dies noch an demselben Abend, und diese auffällige Lüge war es dann, die mir die Erleuchtung brachte. – Wer sammelt sich wohl so viele Zeitungsausschnitte über ein Verbrechen, wenn er nicht selbst ein bestimmtes Interesse daran hat?! Und wer horcht andere unter dem Vorgeben, daß ihm der Mord etwas ganz Neues sei, hartnäckig aus, obwohl er alle Einzelheiten kennt?! Doch nur der, der festhalten will, ob sich inzwischen noch Anhaltspunkte gefunden haben, die auf den Täter hinweisen! – Das alles sagte ich mir. Und weiter dachte ich jetzt, nachdem ich schon früher von der unglücklichen Ballonfahrt gehört hatte, bei der Ihr Freund Schubert ums Leben gekommen war, an die merkwürdige Furche im Schnee, die sehr gut, wie ich mir nunmehr überlegte, dadurch entstanden sein konnte, daß ein Ballonkorb den Boden für einen Augenblick gestreift habe. Schließlich fand ich auch eine Erklärung für das Eisenstück, – eine Erklärung, die in meine Theorie tadellos sich einfügte. Daher schickte ich dieses Eisenstück an meinen Freund, den Assessor. Dieser fuhr damit nach Stockholm und hat hier die Leute ausgefragt, die damals bei der Ballonfahrt Helferdienste beim Fertigmachen der Ballons verrichtet haben. Dem Assessor gelang es wirklich, einen schwedischen Arbeiter herauszufinden, der sich besann, daß das Eisenstück im Netzwerk des Ballons „Südamerika“ als Beschwerung für einen der Rettungsringe gehangen habe. Weiter hat mein Freund auch festgestellt, wie Schaubert damals vor Antritt der Wettfahrt gekleidet war: blauer Anzug und Pelzweste! Letzteres ist besonders wichtig. Unten wenn nun die bisher unbekannte Leiche des Ermordeten ausgegraben werden wird, so dürften sich genug Personen in Berlin finden, die den Toten an der Figur und sonstigen kleinen Merkmalen des Körpers und des Anzuges wiedererkennen werden.“

Pöling schwieg einen Moment. Und dann fuhr er mit erhobener Stimme fort:

„Sie sind es, Herr von Parla, der Schaubert in der Gondel des Ballons ermordet hat und zwar während der Fahrt. Die Mordwaffe, die Mütze und den dicken Pelz Ihres Freundes haben Sie dann, sicherlich mit Sandsäcken beschwert, in die See geworfen. Das an den Füßen befestigte Eisenstück sollte nachher verhüten, daß die Leiche, die Sie ebenfalls in das Meer werfen wollten, wieder emporkam. Inzwischen hatte der Schneesturm den Ballon jedoch bereits bis dicht an die pommersche Küste getrieben und die Schneelast ihn tief herabgedrückt. Als Sie nun die Leiche aus der Gondel heraushoben, verbarg das Toben des Unwetters Ihnen, daß Sie schon über dem Lande schwebten. So fiel der Tote wenige hundert Meter von der Küste entfernt in den Schnee, nachdem der Korb die Schneedecke gestreift hatte. Beim Sturz löste sich jedoch der Strick des Eisenstückes von den Füßen des Toten, und dieses vergrub sich dicht bei der Leiche in dem lockeren Schnee. Der erleichterte Ballon schoß dann in die Höhe und geriet in eine andere Luftströmung, die ihn nach Westen zu davontrieb. Hiermit hatten Sie gerechnet. Nach schneller Fahrt kamen Sie beim Morgengrauen in der Nähe der Insel Alsen an, und hier zogen Sie die Reißleine und sprangen dann, sicher ganz dicht am Strande, ins Wasser, während der Sturm die von Gas halbentleerte „Südamerika“ noch ein Stück weiterjagte und schließlich in die See hinabdrückte. Schlauerweise spielten Sie dann bei den Fischern auf Alsen noch einige Tage den Kranken und brachten dann nachher das Märchen von dem Unfall vor, dem Ihr Freund zum Opfer gefallen sei und das Ihr Verbrechen auch wohl für ewige Zeiten in Dunkel gehüllt hätte, wenn nicht die Vorsehung die Baronesse damals in Ihr Zimmer geführt haben würde, damit jene Zeitungsausschnitte gefunden werden sollten, die den ersten Verdacht gegen Sie in mir entstehen ließen. – Wollen Sie nun zugeben, daß alles sich so verhält, wie ich soeben geschildert habe? Wollen Sie nicht durch ein reumütiges Geständnis Ihr Gewissen erleichtern? – Auch jener schwedische Arbeiter, der das Eisenstück wiedererkannt hat, befindet sich hier im Schlosse!“

Aller Augen waren jetzt auf Parla gerichtet. Der fuhr sich wie im Traum mit der Hand über die feuchte Stirn, erhob sich, starrte sekundenlang auf Pöling und … Was weiter geschah, spielte sich so blitzschnell ab, daß niemand es verhindern konnte.

Der Mörder hatte einen Revolver aus der Tasche gezogen, hielt ihn sich an die Stirn … Ein Knall, und er sank hintenüber in den Sessel. Der Kommissar sprang als erster zu. Aber Parla war nicht mehr zu retten. Wenige Minuten später hatte er sein Leben ausgehaucht.

* * *

Eine Woche darauf wurden die sterblichen Überreste des Ingenieurs Müller in Rostock, wo dessen alte Mutter noch lebte, beerdigt. Der Baron hatte auf eigene Kosten die Leiche dorthin schaffen lassen und nahm ebenso wie seine Tochter und Pöling an dem Begräbnis teil. –

Inzwischen hatte die Berliner Kriminalpolizei auch die Gründe ermittelt, die Parla zu dem Morde an seinem Freunde getrieben hatten. In Schauberts Wohnung in Berlin fand man ein Testament, in dem der Millionär ahnungslos seinen späteren Mörder zu seinem Universalerben eingesetzt hatte. Offenbar konnte Parla die Zeit nicht erwarten, bis er in Besitz dieses Riesenvermögens gelangte, vielleicht fürchtete er auch, nie etwas von diesem Gelde zu haben, falls nämlich Schaubert ihn überlebte. So war der Plan in ihm ausgereift, den Freund zu beseitigen. Und nach dieser Tat hatte der geldgierige Verbrecher dann noch versucht, auch das Besitztum seines Onkels an sich reißen, indem er Adda nötigen wollte seine Frau zu werden. –

Baronesse Adda heiratete ja auch wirklich und zwar sehr bald, – aber einen anderen, einen bürgerlichen Schriftsteller, den der Schloßherr von Rolfersdorf als seinen doppelten Retter mit Freuden als Schwiegersohn willkommen hieß.

 

 

Anmerkungen:

  1. Rendant = Rechnungsführer
  2. Eleve = französ. Schüler; auf Gütern zur praktischen Ausbildung in der Land- und Forstwirtschaft
  3. Von 1864 bis 1920 gehörte die Insel zu Preußen und damit seit 1871 auch zum Deutschen Reich. Innerhalb der Provinz Schleswig-Holstein bildete sie gemeinsam mit dem Sundewitt den Landkreis Sonderburg. Nach der Volksabstimmung 1920 in Schleswig gehört die Insel zu Dänemark.