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Das Geheimnis der Ginsterschlucht

Ensslins interessante Bibliothek

 

Das Geheimnis der Ginsterschlucht.

 

Von Walther Kabel.

 

 

1. Kapitel.

Man kann nicht gerade behaupten, daß die vor ungefähr zwei Jahren in der Zeit um Mitte Mai erfolgte Aufdeckung des Geheimnisses der Ginsterschlucht zu den Sensationsfällen der Kriminalstatistik gehört. Die Zeitungen erwähnten damals dieses Ereignis nur in einer kurzen Notiz und die große Masse des Publikums hatte ja auch in jenen Tagen weit größeres Interesse für die Vorgänge auf dem politischen Theater. Allerdings wäre wohl auch der aufdringlichste Reporter nicht imstande gewesen, seinem Blatt von den Ereignissen, die den überraschenden Entdeckungen an jenem Maitag vorausgingen, einen auch nur einigermaßen wahrheitsgetreuen Bericht zu liefern. Denn so gern die Behörden seinerzeit erbötig waren, der Presse, selbst wenn sie auch nur dem Sensationsbedürfnis ihrer Leser entgegenkommen wollte, über wichtigere Geschehnisse genauen Aufschluß zu geben, so sehr vermeiden sie es jetzt, wenn man so sagen darf, – in ihre Karten sich sehen zu lassen. Nur zu oft hat gerade die Polizei in den Zeitungen heimliche Gegner gefunden, Gegner, die das Vertrauen der Staatsbürger zu den Maßnahmen ihrer Organe durch eine scharfe und leider nur zu oft ungerechte Kritik erschütterte. So wurden auch in dem Fall des ‚Geheimnisses der Ginsterschlucht’ der durch drei größere Tagesblätter vertretene Presse der Provinzialhauptstadt X. mit wenigen, nur die ins Publikum gedrungenen Tatsachen angehenden Worten, abgespeist, nachdem dieselben Zeitungen beinahe täglich kurz vor dem endlichen Erfolg der Polizei über deren Unfähigkeit mehr oder minder breit sich ausgelassen hatten.

Vielen ist so ein interessanter Beitrag zur Lehre von der Entwicklung des jugendlichen Charakters entgangen. Die Erlebnisse Heinrich Seilers, wie sie nachstehend in Romanform wiedergegeben werden, sind ein sicherer Beweis für die Wandelbarkeit der kindlichen Seele, für den schnellen Umschlag im kindlichen Denken und Handeln unter dem Druck besonderer Ereignisse. –

Die folgende Schilderung schließt sich eng an die eingehenden Berichte des Kriminalbeamten Jakob Fischer und seines Schützlings an. – – –

*

Heinrich Seiler wartete schon gut eine Stunde vor der Tür der Kneipe auf seinen Vater. Hin und wieder hatte er es gewagt, seinen struppigen Kopf, auf dem ein grüner, verschossener Filzhut saß, durch einen Spalt der Tür in den dunsterfüllten Raum hineinzustecken, aus dem lautes Stimmengewirr hervortönte. Dicht gedrängt umstanden die Arbeiter den Schenktisch, vor sich in den dickwandigen Gläsern den entnervenden Schnaps, der sie einmal in jeder Woche, am Tage der Lohnzahlung, ihr stets gleichbleibendes Dasein vergessen machen sollte. –

Heinrich Seiler wußte, daß sein Vater sich in der Kneipe befand. Daher wartete er mit jener gleichgültigen Ruhe, die er allen Vorfällen in seinem freudlosen Dasein entgegenbrachte, weiter an der Straßenecke, ging vor den beiden Schaufenstern des Lokals auf und ab und fror … fror. Der Frühjahrswind fuhr durch die Löcher seiner kurzen Jacke, seiner Hose, seiner Stiefel. Dieser Stiefel, die nie ein Paar gewesen sein konnten. Denn der rechte, ein Schaftstiefel von ziemlicher Größe, entstammte einem Kehrichthaufen, der unlängst nach einem Umzug in dem Hausflur eines der feinen Häuser in der Hauptstraße gelegen hatte. Der linke Stiefel dagegen war das Geschenk von Heinrichs Flurnachbar, dem Flickschuster Albrecht, der diesen etwas stark mitgenommenen Damenzugstiefel unter seinem geringen Ledervorrat auf dem Boden gefunden und zur Ergänzung des derberen rechten Bruders hergegeben hatte.

Bisweilen warf Heinrich im Vorübergehen einen prüfenden Blick in den Schaufensterspiegel und betrachtete sein Äußeres, das keineswegs vertrauenerweckend wirkte. Besonders die funkelnden, gar nicht mehr knabenhaften Augen über der rotgefrorenen Nase erregten immer wieder des Jungen Interesse. Wenn er schließlich das Gefühl der Eitelkeit auch nicht kannte, so sagte er sich doch, daß er zwar nicht wie einer von den Zierbengeln der feinen Leute, aber dafür desto unternehmungslustiger und frecher aussah. Und als Heinrich Seiler jetzt wieder dicht an die Scheibe des Schaufensters gedrückt dastand, da kämmte er sich plötzlich mit seinen Fingern das wirre Haar noch tiefer unter der Hutkrempe in das Gesicht – so, wie er’s bei den oft angestaunten Burschen aus dem Nachbarhaus gesehen hatte, die das reichlich eingefettete Haar in breiter Locke in die Stirn hineingekämmt trugen. –

Während der Junge so angestrengt mit der Vervollkommnung seines äußeren Menschen beschäftigt war, hatte sich ihm leise eine in ein großes Umschlagtuch gehüllte Frau genähert, in deren vergrämten Zügen noch jetzt die feinen Linien einstiger Schönheit erkennbar waren. Die Frau trat hinter Heinrich und schaute eine Weile stumm dem Treiben des Jungen zu. Dann faßte sie ihn unsanft bei der Schulter. Heinrich fuhr herum. Ihm blieb vor Schreck der Mund offen stehen.

„Mutter – du …?“

„Infamer Bengel … hier stehst du und spiegelst dich! Und ich warte auf Vater, und die Pellkartoffeln sind schon ganz kalt geworden!“ –

Ritscht, ratsch, hatte Heinrich ein paar gediegene Maulschellen versetzt bekommen. Aber merkwürdigerweise schien ihn das weiter nicht zu rühren. Vielmehr sagte er ohne die geringste Erregung:

„Mutter, ich kriege Vater da nicht raus.“ Dabei wies er mit seiner krebsroten Hand auf die Tür der Destille.

„Nicht raus … Na warte!“ –

Damit war die Frau auch schon in der Kneipe verschwunden.

Gleichmütig drehte Heinrich sich wieder dem Spiegel zu und setzte sich seinen durch die Ohrfeigen stark beunruhigten Hut wieder gerade. Dann lehnte er sich gegen die Hauswand, schlug ein Bein über das andere und pfiff leise durch die Zähne.

‚Heute gibt’s zu Hause wieder Prügel,’ überlegte er sachkundig. ‚Sicher ist Vater schon sehr betrunken, sonst würde er mehr Skandal machen …’

Da wurde es plötzlich in der Destille lebendig. Man hörte selbst draußen eine keifende Weiberstimme und dazwischen den dröhnenden Baß eines Mannes. Hin und wieder erhob sich tobendes Gelächter.

Heinrich nickte nur verständnisinnig. Er kannte diese Szenen seit Jahren. Sie wiederholten sich jeden Sonnabend, solange er zurückdenken konnte, ebenso wie ihn auch die Mutter jeden Sonnabend vergeblich ausschickte, damit er den Vater heimholen sollte. Zuerst hatte er’s ja versucht. Da war er mutig in die Destille gegangen, obwohl es ihn vor dem Schnapsgeruch darin ekelte, und hatte den Vater am Ärmel gezupft und seinen Auftrag ausgerichtet. Aber … die Prügel, die er dafür an Ort und Stelle gleich bei dem ersten Versuch erhielt, vergaß er nie. Und nun blieb er, durch Schaden klug gemacht, immer hübsch draußen, außer Bereich der väterlichen Hände, stehen.

Heinrich pfiff weiter, den neuesten Gassenhauer; zwar falsch, aber ihn freute es doch. Da flog plötzlich die Tür auf, und heraus torkelte ein riesenlanger Kerl, dem die Frau mit dem Umschlagtuch folgte. –

Heinrich wußte sofort, was er zu tun hatte. Er faßte den Betrunkenen unter dem einen, die Mutter unter dem anderen Arm und dann bog der Zug unter vorsichtigem Lavieren in die enge Seitenstraße ein, die in das Arbeiterviertel der Vorstadt führte. Der Trunkene schimpfte, auch drohte er des öfteren umzusinken. Aber Frau und Kind stützten ihn und so ging’s langsam durch die immer enger und schmutziger werdenden Straßen dem kleinen Häuschen zu, in dem der Werftarbeiter Friedrich Seiler wohnte.

Eine Stunde später war der nächste Akt des Sonnabendprogramms für die unglückliche Familie Seiler auch erledigt. Nachdem der Betrunkene in der einzigen Stube noch furchtbar gelärmt, erst seine Frau und dann den Jungen geschlagen hatte, war er mit Heißhunger über die kalten Kartoffeln und den Hering hergefallen. Als Heinrich dies sah, faltete er die Hände in Dankbarkeit. Er wußte, daß nun bald Ruhe eintreten würde.

So kam’s denn auch. Der Arbeiter legte sich mit Hilfe seiner Frau zum Schlafen nieder und bald zeigten melodische Schnarchtöne an, daß er fest eingeschlafen war. Jetzt erst wagten Mutter und Kind an sich zu denken. Schweigend verzehrten sie den Rest der Kartoffeln und der beiden Heringe und tranken aus der großen Blechkanne einen Schluck Kaffee dazu. Dann machte sich Frau Seiler seufzend an das Aufräumen, trug das wenige Geschirr ab und verschwand dann damit in der engen Küche. Diese Gelegenheit benützte Heinrich. Ein Griff, und er hatte seinen grünen Filzhut in den Händen, ein Satz, und er war zur Tür hinaus. Aufatmend blieb er in dem Flur stehen, holte tief, tief Atem und schlich dann zum Hause hinaus. –

Langsam schlenderte er um das Haus herum und schaute zu dem kleinen Giebelfenster empor. Dort oben hauste der Flickschuster Albrecht, ein Witwer, mit seinen beiden Söhnen Hans und Karl. Heinrich blickte sich erst vorsichtig um; dann steckte er den gekrümmten Zeigefinger in den Mund und stieß einen besonderen Pfiff aus, der langsam zu gellender Höhe anschwoll und in einem kunstgerechten Triller endigte. Schnell wie ein Schatten huschte er hierauf über den Hof und verschwand hinter dem langgestreckten Stallgebäude in der Dunkelheit. –

 

2. Kapitel.

Heinrich wartete auf die beiden Brüder Albrecht, die er durch das vereinbarte Signal von dem endlichen Beginn seiner freien Abend- und Nachtstunden benachrichtigt hatte. Er saß hinter dem Stall auf der hölzernen, halbverfaulten Brunnenröhre, die auch schon so lange dort lag, wie Heinrich sich auf die regelmäßige Betrunkenheit seines Vaters an den Sonnabendabenden besinnen konnte.

Es war eine dunkle Nacht. Der Himmel mit Wolken dicht bedeckt, durch deren Schleier nur bisweilen ein einzelner Stern aufblinkte. Der Frühjahrswind, der über das Feld auf den Stall zu wehte, ließ Heinrich vor Frost zusammenschauern. Aber er hielt aus. Er saß da und überlegte so manches, was ihm in letzter Zeit aufgefallen war. Nicht daß er sich Gedanken über die Verhältnisse in seinem Elternhaus gemacht hätte. Das ließ ihn alles kalt – er war’s nicht anders gewöhnt. Aber anderes veranlaßte ihn zum Grübeln.

Woher hatten die beiden Söhne Albrechts nur immer das viele Geld, warum nahmen sie ihn nun schon seit Wochen nicht mehr mit, wenn sie abends ihre Streifzüge durch die Straßen der Vorstadt und über die nahen Felder machten?!

Heinrich Seiler hatte die beiden oft genug gebeten, ihn in ihre neuesten Geheimnisse einzuweihen. Aber immer drückten sie sich um eine Antwort herum, wichen ihm aus, so daß er oft genug in letzter Zeit versucht hatte, ihnen heimlich nachzuspionieren. Einmal war er hinter ihnen auch hergeschlichen und war ihnen bis in den nahen Stadtwald gefolgt. Aber in der Dunkelheit hatte er sie bald aus den Augen verloren und trotz eifrigsten Spürens nicht herausbekommen, was die beiden Brüder zu so später Stunde auf den menschenleeren, unheimlich dunklen Waldwegen gesucht hatten.

Heute abend wollte er sie nochmals fragen, und, wenn er dann wieder keine ausreichende Antwort erhielt, dann … dann … Da kamen die Erwarteten auch schon wie die Katzen herbeigeschlichen. In ihren erdfarbenen Anzügen in der Dunkelheit kaum sichtbar, hätte ein weniger feines Ohr wie das Heinrich Seilers ihr Kommen kaum bemerken können, besonders da die Jungen keine Lederstiefel, sondern aus grobem Segeltuch genähte, recht ungeschlachte, aber sicher sehr billige und bequeme Schuhe trugen.

Die drei schüttelten sich erst die Hände und tauschten dann leise einige Bemerkungen aus, die sich auf den Grad der Betrunkenheit des alten Seiler und die genossene Abendmahlzeit bezogen.

Heinrich war aufgestanden und suchte nun eine Gelegenheit, wie er am besten die von ihm beabsichtigten Fragen anbringen könnte. Als das Gespräch abzuflauen begann, sah er sehr wohl, wie Hans, der Ältere, verstohlen seinen Bruder in die Rippen stieß.

Aha, argwöhnte er, nun wollen die beiden sich wieder dünne machen. Und da kam es ihm auch zum Bewußtsein, daß er heute von seinen Freunden ebenso wenig eine Antwort zu erwarten hätte, wie an den Tagen vorher. Und sofort schoß es ihm durch den Kopf, daß es wohl das Beste sein würde, ihnen heute, falls sie sich wieder ohne ihn auf und davon machten, nochmals heimlich zu folgen.

Und richtig, da begann auch schon Karl Albrecht, der Jüngere und Schlauere:

„Du, Heinrich, der Vater hat uns gesagt, wir sollen zur Tante nach der Wernerstraße gehen, und für morgen Kartoffeln holen. Wir können dich, Heinrich, aber nicht mitnehmen, da wir mit der Elektrischen fahren, und du doch kein Geld hast …“

Heinrich erwiderte sehr gelassen: „Na, dann geht man, – ich bin auch zu müde …“

Die drei verabredeten noch einen Ausflug für den morgigen Vormittag und trennten sich dann. –

Kaum waren die Brüder Albrecht um die Hausecke verschwunden, als Heinrich sich auch schon seine Schuhe von den Füßen riß und achtlos neben sich hinwarf. Dann huschte er um die Stallecke über den Hof auf die Straße. Kaum dreißig Schritt vor sich sah er die beiden die Straße entlang gehen. Nun begann er die Verfolgung, drückte sich vorsichtig an den Häusern entlang, mied das Laternenlicht, blieb ihnen aber dicht auf den Fersen. Sie gingen wirklich dem vornehmen Viertel der Vorstadt zu; so schien es wenigstens anfangs. Dann blieben sie plötzlich an einer Straßenkreuzung stehen und schauten sich um.

Heinrich Seiler hatte sich sofort in den Schatten eines Gartenzaunes niedergeduckt und beobachtete sie angestrengt. Da verschwanden sie auch schon in einer Nebenstraße. Die Jagd ging weiter; aber jetzt bewegten sich die Brüder auf Umwegen wieder dem ärmeren Viertel zu. Sie gingen eine Straße entlang, die noch mit alten Petroleumlampen erleuchtet wurde, und daher in ziemliches Dunkel gehüllt war und gerade auf den Stadtwald zuführte.

Heinrich folgte ihnen jetzt lautlos in nächster Nähe. Besonders als sie in den Wald kamen, war er bis auf wenige Schritte hinter ihnen. Dann verschwanden sie im Schatten der ersten hohen Buchen, unter denen vollkommenste Finsternis herrschte.

Die Brüder hatten keine Ahnung davon, daß sie so heimlich beobachtet wurden. Mit großer Sicherheit eilten sie auf dem sich als hellere Linie abzeichnenden Waldweg dahin. Sie sprachen kein Wort. Nur das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen und das Knacken eines zertretenden Zweiges ließ sich hören.

Es ging bergan. Heinrich kannte sich, als seine Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnt hatte, ganz gut aus. Aber er mußte vorsichtig sein. Zum Glück machten seine nur mit wollenen Strümpfen bekleideten Füße seine Schritte unhörbar. Immer weiter ging’s, vorbei an dem großen Spielplatz, wieder bergan über die Holzbrücke, die die Schlucht überspannte.

Bisweilen überlief Heinrich eine Gänsehaut, wenn im nahen Gebüsch ein Käuzchen kreischte oder der Wind besonders hohl durch die Fichtenwipfel sauste. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals hinauf. Aber das sich Fürchten hatte er längst verlernt, und seine Energie, die in der harten Lebensschule nur zu früh gestählt worden war, ließ ihn auch die Schrecknisse dieser nächtlichen Wanderung überwinden.

So ging’s gut eine Viertelstunde in ziemlich schnellem Tempo vorwärts. Da bogen die Brüder vor ihm plötzlich rechts ab. Nur undeutlich konnte er ihre dunklen Gestalten sehen, wie sie jetzt auf einem schmalen Pfad, einer hinter dem andern, dahinschritten. Die drei waren nun bis an den westlichen Rand des Waldes gekommen und betraten das offene Feld, über das ein Fußpfad zu der bergigen Ginsterheide führte.

Heinrich kannte diese große, unbedeutende Heide, die eine große Fläche bedeckte, sehr gut von gelegentlichen Spaziergängen her. Es war ein ganz abgelegenes, hügeliges Gelände, ein unfruchtbarer Boden, auf dem nur Schafgarbe und der gelbblühende Ginster üppig wucherten. Nur selten verirrte sich ein Mensch in dieser Einsamkeit.

Jetzt hieß es wieder vorsichtiger sein und die Entfernung zwischen ihm und den Brüdern vergrößern. Doch seine Ortskenntnis kam ihm wohl zustatten. Unaufhaltsam ging’s weiter vorwärts über frischgepflügte Äcker immer näher an die Ginsterberge heran. –

Vergeblich zermarterte sich Heinrich den Kopf, was die beiden vorhaben konnten. Er überlegte dies und das, bis er schließlich die einzige, die ihm möglich erscheinende Antwort fand. Sie stahlen Kartoffeln aus einer Miete! –

Zu Heinrichs Pech begannen sich die Wolken gerade jetzt zu unterteilen und er mußte daher weiter zurückbleiben. Plötzlich machten die Brüder Halt. Augenblicklich lag ihr Verfolger am Boden. Er hörte sie miteinander sprechen – schon glaubte er sich entdeckt. Furchtsam duckte er sich ganz tief auf die Erde. Aber nichts ereignete sich.

Als er wieder aufzublicken wagte, waren die beiden verschwunden. Er richtete sich auf, strengte seine Augen an … Da waren sie wieder, gingen vor ihm weiter …

Der Junge atmete auf. Tief gebückt begann er wieder ihnen nachzuschleichen. Hügelauf, hügelab ging’s jetzt immer tiefer in die Heide hinein. Oft sah er die beiden wie dunkle Flecken schnell über einen Bergrand huschen. Ebenso schnell war er dann oben, lauschte und forschte, bis er sie wieder sah.

Heinrich merkte bald, daß die Brüder augenscheinlich auf die Schlucht zuhielten, die ziemlich in der Mitte der Ginsterberge gelegen und mit einigen verkrüppelten Sträuchern und Wachholderbüschen bestanden war. Jetzt waren sie dicht an der Schlucht … Nun hatte er sie aus den Augen verloren; dann tauchten ihre Gestalten nochmals auf und dann … stand Heinrich am Ostabhang der jäh abfallenden Schlucht, die vielleicht fünfundzwanzig Meter tief war, und suchte vergeblich mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Er forschte und spähte …

Nichts, nichts. Nur der Wind säuselte in den Ginstersträuchern …

 

3. Kapitel.

Der Kriminalkommissar Kern ging erregt in seinem Amtszimmer auf und ab, während der Kriminalbeamte Fischer jetzt schnell den Bericht durchlas, der soeben von dem Berliner Polizeipräsidium eingegangen war. Als Fischer jetzt das mehrere Bogen starken Schreiben mit einem „Danke, Herr Kommissar“ auf den Tisch zurücklegte, meinte Kern in seiner nervösen Art:

„Na, was halten Sie von der Geschichte? – Nette Arbeit für uns … und so hübsch undankbar! Nun sollen wir den Berlinern nach der Personalbeschreibung und der Photographie den ‚Schusterkarl’, alias Paul Nötig, suchen! Suchen, weil alle Spuren darauf hinweisen, daß er nach seiner letzten großen Sache, dem Einbruch in das Heisersche Goldwarengeschäft, hierher gewandt hat.“

„Das hat doch viel Wahrscheinliches, Herr Kommissar,“ sagte Fischer bedächtig. ‚Schusterkarl’ ist doch, wie der Bericht besonders hervorhebt, im vorigen Sommer hier zwei Monate bei dem Flickschuster Albrecht in der Gneisenaustraße in der Vorstadt als Geselle tätig gewesen – natürlich nur, um für einige Zeit gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Und da nehmen die Berliner, besonders wo er erwiesenermaßen ein Billet hierher gelöst hat, an, daß er bei diesem Albrecht, nebenbei auch so ein etwas dunkler Ehrenmann, wieder einen Unterschlupf als ehrsamer Arbeiter suchen wird, um erst Gras über die Heisersche Einbruchssache wachsen zu lassen.“

„Ja, meinen Sie denn wirklich, Fischer, daß der Karl so dumm sein wird! Der weiß doch auch, wie gut wir über sein Vorleben unterrichtet sind und … Na, kurz und gut, ich halte es für überflüssig, überhaupt bei diesem Albrecht einmal nachzuschauen.“

Der Kommissar war an seinen Arbeitstisch getreten und hatte den Bericht zur Hand genommen.

„Damit wir uns aber keine Nachlässigkeit später mal zum Vorwurf machen, so können Sie ja diesen Flickschuster aufs Korn nehmen.“

Der Kriminalbeamte, ein korpulenter, gutmütig blickender Mann, dem die Brille und der dünne blonde Schnurrbart eher das Aussehen eines harmlosen Dorfschulmeisterleins als das eines Angehörigen der Sicherheitsbehörde gaben, fragte nunmehr bescheiden:

„Dann habe ich also vorläufig Urlaub?“

„Vorläufig?! – Aber, Fischer, nun machen Sie schon wieder aus dieser Sache eine Haupt- und Staatsangelegenheit, wollen Tage für Nachforschungen vergeuden, die uns sicher um nichts weiter bringen! – Nein, für den Albrecht da draußen in der Vorstadt genügen sicher einige Stunden. Und dann suchen Sie lieber die Herbergen und die Hotels ab. Möglich ist ja, daß ‚Schusterkarl’ wieder einmal unter der Maske irgend eines Geschäftsreisenden in einem Hotel wohnt – soll ja ein beliebter Trick von ihn sein.“

Fischer nickte nur. „Haben Sie sonst noch Befehle, Herr Kommissar?“

„Nein, – aber morgen möchte ich Ihren Bericht hören.“

Als der Beamte gegangen war, nahm Kern seine Promenade wieder auf. Sein bartloses Gesicht verzog sich öfters zu einer so unzufriedenen Miene, daß man nicht fehl riet, wenn man diesen sich so deutlich zeigenden Ärger nach etwas anderem als nur dem Berliner Bericht und der damit verbundenen Aufgabe zuschrieb. Jetzt murmelte der Kommissar einige Worte zwischen den dünnen Lippen hervor, blieb dann an dem einzigen Fenster stehen und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben. Kern hatte Sorgen, Ärger und außerdem zwackte ihn auch der Ehrgeiz. War doch der Kriminalinspektor Winkler vor kurzer Zeit auf Urlaub gegangen und munkelte man doch, daß dieser Urlaub der baldigen Pensionierung vorausginge. Und da war er ja nun eigentlich daran, Inspektor zu werden … Eigentlich! Aber …? Und dieses ‚Aber’ machte dem Kommissar Sorgen und trieb ihm die Galle ins Blut. Er war nicht beliebt bei den Vorgesetzten, große Erfolge hatte er auch nicht aufzuweisen und dann, dann hatte da neulich der Polizeipräsident so eine Bemerkung hingeworfen … ja, und die ließ so ziemlich klar erkennen, daß man dem Kommissar Kern für den Inspektorposten nicht gerade vorgemerkt hatte.

Solche Gedanken quälten jetzt den ehrgeizigen Mann. Erfolge … lieber Gott, das war ja auch wie überall im Leben das reinste Würfelspiel, darum … Glückssache, weiter nichts …

Aber als Kern hieran dachte, da gab’s ihm doch plötzlich einen Ruck. Jetzt diese Sache mit ‚Schusterkarl’, ob die ihm nicht helfen könnte? … Und nun ärgerte er sich wieder darüber, daß er Fischer so unbestimmte Befehle gegeben hatte. Das ließ sich aber noch gutmachen.

Der Kommissar drückte auf den Knopf der elektrischen Leitung, ein, zwei, drei Mal – das bekannte Zeichen, daß seine ‚rechte Hand’, wie man in dem Bureaus sagte, eben den behäbigen Kriminalbeamten Fischer herbeirief. Schneller als Kern erwartet hatte, klopfte es an der Tür. Aber der, der jetzt eintrat, war nicht der Gerufene, sondern der Vorstand der Kriminalabteilung, der Rat Scheller. Dieser begann sofort, nachdem er kaum die Tür hinter sich geschlossen hatte:

„Hören Sie mal, Kern, für Sie gibt’s Arbeit. Soeben erhielt ich die telephonische Meldung, daß heute nacht bei dem Uhrmacher Müller in der Herderstraßen draußen in der Vorstadt eingebrochen worden ist, und daß gegen hundert wertvolle Uhren sowie andere Goldsachen von den Dieben geraubt worden sind. Sie müssen sich sofort aufmachen und an Ort und Stelle mit der Untersuchung beginnen.“

Als Kern die Worte ‚Vorstadt’ und ‚Uhrmacher’ hörte, gab es ihm wieder einen Ruck durch den Körper. Sofort dachte er an ‚Schusterkarl’, an den Einbruch in Berlin, an den Bericht …

Schon öffnete er den Mund, um dem Vorgesetzten seine Mutmaßungen mitzuteilen; aber blitzschnell überlegte er sich’s anders. Mit einem einfachen: „Jawohl, Herr Rat!“ antwortete er so. Doch in seinem Innern wogte ein Sturm von Hoffnungen. Wie, wenn er das Glück hatte, diesen schweren Jungen zu fangen! Und wenn sich’s dann herausstellte, daß der gewandte Einbrecher auch diese Sache ausgeführt hatte …?! Dann winkte ihm die ersehnte Beförderung, dann … Aber Kern zwang sich jetzt zur Ruhe. Er besprach noch kurz mit Rat Scheller das Nötige und ging dann in die Bureaus hinab, um den Kriminalbeamten Fischer, der immer noch nicht erschienen war, mitzunehmen. –

In der Nachbarschaft hatte sich das Gerücht von dem Einbruch in das Müllersche Uhrengeschäft schnell verbreitet. Als die beiden Kriminalbeamten in der Nähe des Tatorts die elektrische Bahn verließen, sahen sie schon von weitem eine dichtgedrängte Menschenmenge vor dem Laden auf dem Trottoir stehen. Nachdem Kern sich dem Inhaber des Geschäftes gegenüber legitimiert hatte, begab er sich mit Fischer in den Verkaufsraum.

Der Uhrmacher Müller, ein älterer Junggeselle, erzählte dem Kommissar nun schnell das Nötigste. Er sei am vorigen Abend nach acht Uhr abends in die Stadt gefahren, um sich an dem jeden Dienstag stattfindenden Kegeln in dem ‚Eulerschen Restaurant’ zu beteiligen. Gegen halb drei Uhr nachts oder morgens habe er dann mit der letzten Elektrischen den Heimweg angetreten, und sei sofort zu Bett gegangen, ohne daß er etwas Verdächtiges bemerkt habe. Erst am Morgen, als er die Rolljalousien hochzog, sah er, daß in den Auslagekästen gerade die wertvollsten Stücke fehlten und fand dann auch in der vom Verkaufsraum in den allgemeinen Hausflur führenden Tür ein anscheinend mit einer feinen Säge ausgeschnittenes Loch, groß genug, um einen schlanken Körper durchzulassen. Da habe er dann sofort jemand nach der Polizeiwache geschickt und Meldung von dem Vorfall erstatten lassen.

Der so sehr geschädigte Uhrmacher brachte das nur mit Mühe heraus. Der Schreck steckte ihm noch in allen Gliedern. Und den nervösen Kommissar machte er jetzt mit seinem Jammern und Stöhnen über den Verlust auch nicht ruhiger. Der einzige, der sich der Situation gewachsen zeigte, war der dicke Fischer. Seelenruhig schaute er sich in dem Laden um, besichtigte die Tür, in die die Diebe das ausgeschnittene Stück wieder kunstgerecht und unauffällig eingefügt hatten und überließ es dem Kommissar, den Geschäftsinhaber nach Einzelheiten auszufragen. Endlich ließ Kern von jenem ab und wandte sich an seinen Untergebenen.

„Nun, Fischer, was meinen Sie dazu?“ fragte er, mit den zusammengekniffenen Augen blinzelnd.

„Saubere Arbeit, Herr Kommissar, sehr saubere Arbeit,“ meinte dieser anerkennend. „Das sind zweifellos alte Praktiker gewesen. Und diese eisenbeschlagene Tür,“ – dabei wies Fischer auf das ausgeschnittenes Stück, – „hat eine feine Stahlsäge kennen gelernt … Ja, gute Arbeit … hm, hm …“

Nun begannen die beiden Beamten ihre Meinung über den Fall auszutauschen. Und, was nicht häufig passierte, sie waren sich bis ins kleinste darüber einig, wie dieser Einbruch verübt worden war. Allerdings ließ die Örtlichkeit kaum eine andere Art und Weise zu. –

Der Dieb hatte zunächst mit einem Nachschlüssel die Haustür geöffnet, war dann mit einem feinen Bohrer der vom Flur in den Laden führenden Tür zu Leibe gegangen, hatte dann eine dünne Säge angewandt, damit das Loch ausgeschnitten und war so in das Innere gelangt, hatte hier die wertvollen Stücke sicher in aller Ruhe zusammengepackt und dann auf demselben Weg das Geschäft verlassen, nachdem er noch das ausgeschnittene Stück wieder fein säuberlich in das Loch eingefügt hatte.

„Eine kindisch einfache Geschichte,“ meinte Fischer kopfschüttelnd. „Und doch,“ fügte er nachdenklich hinzu, „so Verschiedenes fällt dabei doch auf, Herr Kommissar, nicht wahr?“

Kern hatte soeben mit Interesse nochmals den Rand der herausgeschnittenen Türfüllung betrachtet.

„Feines Speiseöl haben die Kerls gebraucht, um das Arbeiten der Säge geräuschlos zu machen,“ sagte er, indem er die runde Holzscheibe an die Nase führte. „Man muß nachforschen, ob neuerdings irgendwo größere Mengen davon verkauft worden sind.“ Auf Fischers Worte schien der Kommissar gar nicht geachtet zu haben.

Der Kriminalbeamte sagte zwar nichts, dachte sich aber seinen Teil. Sein Vorgesetzter schien sich auch bei dieser Untersuchung wieder ängstlich an sein System halten zu wollen. Und dieses System bestand darin, daß jener nur die Spuren verfolgte, die sich ihm augenfällig darboten. Auf Kombinationen ließ er sich grundsätzlich nicht ein.

Kern starrte noch immer gedankenvoll die kreisrunde Holzscheibe an, die er zwischen seinen Fingern hin und her drehte.

„Sagen Sie, Herr Müller,“ begann er dann plötzlich, „ als Sie heute nacht nach Hause kamen, durch welche Tür haben Sie da den Laden betreten?“

„Ich gehe stets durch den Laden in mein dahinter gelegenes Wohn- und Schlafzimmer und benutze stets die Ladentür von der Straße aus.“

„So … Und als Sie heimkamen, da ist Ihnen nichts, gar nichts aufgefallen?“

„Nein; ich zündete mir sogar hier im Geschäftsraum einen Fünfminutenbrenner an, und ging dann in das Hinterzimmer. Na – und sicherlich wurde ja der Einbruch doch verübt, bevor ich heimkehrte, und … was sollte ich hier sehen? Die Lumpen haben ja kaum Spuren hinterlassen. Alles liegt hier in bester Ordnung, nur – es fehlt das Beste.“

In dem gutmütigen Fischer stieg bei diesen ingrimmig hervorgestoßenen Worten etwas wie Mitleid auf. Und diesem Gefühlen nachgebend, meinte er tröstend: „Noch ist nicht aller Tage Abend – vielleicht haben wir die … Lumpen bald.“

„Ja … vielleicht!“ brummte Kern vor sich hin und dachte dabei an den Inspektorposten. Der dicke Fischer war bescheidener. Er sah sich schon im Besitz einer goldenen Uhr, die Müller aus Dankbarkeit ihm schenken würde, wenn … wenn … Aber das hatte noch gute Wege …

 

4. Kapitel.

Heinrich Seiler hatte schlechte Tage. Der letzte Sonnabendrausch war seinem Vater nicht gut bekommen, denn der durch Alkohol verwüstete Körper ertrug die Folgen dieser sogenannten Festtage nicht mehr. Ein schweres Magenleiden war plötzlich zum Ausbruch gekommen und der hinzugerufene Krankenkassenarzt hatte nach kurzer Untersuchung bedenklich den Kopf geschüttelt.

Nun hieß es, da ein Teil des Verdienstes des Vaters fortfiel, sich durchschlagen … und wie durchschlagen. Zwar hatte Frau Seiler schon immer für den Vormittag eine Aufwartestelle, aber die kärgliche Bezahlung dafür half auch nicht viel. So wollte sie es denn jetzt mit Wäschewaschengehen versuchen, während Heinrich, den sie fürs erste glücklich vom Schulbesuch frei bekommen hatte, für den Kranken sorgen sollte.

So mußte Heinrich Seiler denn fast den ganzen Tag in der engen Stube sitzen und dem Vater, der ein sehr ungeduldiger Patient war, mit Handreichungen zur Seite stehen. Und draußen schien die Sonne so verlockend und auf den nahen Feldern jubilierten die Lerchen. Oft sah er auch die beiden Albrechts an dem Fenster vorbeihuschen. Aber gesprochen hatte er sie seit jener Sonnabendnacht nicht mehr. Wenn er abends, nachdem die Mutter heimgekehrt war, sich noch auf den Straßen umhertrieb oder auf dem Hof Holz zerkleinerte, bekam er seine Freunde nie zu Gesicht.

Wieder war es Sonnabend geworden. Heinrich Seiler saß am Fenster und las eine Zeitung, in der die Mutter ihr Frühstücksbrot, das sie täglich als Aufwartefrau bekam, mit nach Hause gebracht hatte. Vor acht Tagen war’s gewesen, da wollte er den Albrechts hinter ihre Schliche kommen, hatte eine Nacht geopfert und draußen in den Ginsterbergen nach ihnen gesucht, – vergeblich gesucht, denn sie waren damals wie in den Erdboden versunken, nicht mehr aufzufinden gewesen. Damals hatte er noch stundenlang die Heide kreuz und quer durchschlichen. Doch wohin die beiden Brüder so plötzlich geraten waren, konnte er nicht herausbringen. Noch einmal hatte er dann den Versuch gemacht, draußen in der Heide irgendwelche Spuren zu finden, irgend einen geheimen Pfad, der vom Rande der Schlucht in die Tiefe führte. Das war gleich am folgenden Sonntagnachmittag gewesen, als seine Mutter gerade den Arzt erwartete. Wieder hatte Heinrich Seiler dann mit bewundernswerter Geduld das Gelände durchstöbert. Er sagte sich mit Recht, daß die beiden Albrechts irgend einen Weg kennen mußten, um den steil abfallenden Hang hinunterzukommen. Denn unmittelbar vor der Schlucht waren sie ihm in jener Sonnabendnacht so plötzlich aus den Augen gekommen und an ein Hinunterrutschen war nicht zu denken. Dazu war die Schlucht zu steil. –

Heinrich überflog die Spalten der Zeitung, bis sein Auge plötzlich auf einer Stelle wie gebannt haften blieb. Da war der Einbruchsdiebstahl bei dem Uhrmacher Müller mit allen Einzelheiten geschildert, da stand, daß für gut zweitausend Mark Goldsachen entwendet worden waren, und daß leider bisher von den Tätern jede Spur fehle. So etwas las er nun wie jeder dreizehnjährige Junge nur zu gern. Müller – ja, das Geschäft kannte er ganz genau. Da war auch einmal der ältere Albrecht als Lehrling tätig gewesen – nicht lange, da ihm das Stillsitzen nicht behagte. –

Und dann wanderten die Gedanken des Jungen weiter … zweitausend Mark … So viel, ach, so viel Geld! Heinrich Seiler hielt das für eine Riesensumme. Und das hatten die Diebe nun so in einer Nacht … verdient … in einer Nacht! Etwas wie Hochachtung für die Täter überkam ihn. Das waren doch noch Kerls, mußten die Mut haben, ja … Mut! Denn daß so ein Einbrecher, falls er gefaßt wurde, auf lange Jahre ins Gefängnis wanderte, wußte er auch ganz genau. –

Heinrich Seilers Kinderphantasie spann jetzt Pläne. Das Gefühl für Recht oder Unrecht hatte er längst verloren. Er, der nichts als Not und Jammer, schlechtes Essen, Schläge und die Verworfenheit seines Vaters kannte, er dachte seit langem nur an das Eine: Sich Geld verschaffen, irgendwie – einmal ein paar Mark für sich allein haben und … ja, und dann der Mutter etwas abgeben, damit sie nicht so Tag und Nacht zu arbeiten brauchte, einmal ihr eine Freude machen … irgendwie, irgendwie …

Denn mochten in der Brust Heinrichs auch alle wärmeren Empfindungen für den Vater erstickt sein, seine Mutter liebte er auf seine Weise, obwohl auch sie ihn oft mit groben Scheltworten zurechtwies und ihn noch öfters prügelte. Aber in seinem Kinderherzen lebte eine Art Hochachtung für diese Frau, die so geduldig die Last ihres Ehelebens dahinschleppte, sich die Finger blutig wusch, damit nur die Ihren satt wurden …

Dann las er nochmals jenen Artikel in der Zeitung durch, der von dem Einbruch handelte. – Wie leicht doch das eigentlich war, so zweitausend Mark zu erbeuten … Nachschlüssel, ein in die Tür gesägtes Loch … Dann hatte man das Gold … Seine Phantasie erhitzte sich immer mehr in dem Gedanken an ähnliche Taten. Er überlegte und grübelte, spann Pläne und verwarf sie wieder … So wurde es Abend … Der Vater, der bisher geschlafen hatte, stöhnte plötzlich laut auf. Da erinnerte sich Heinrich daran, daß es Zeit war, dem Kranken die Arznei zu reichen. –

Noch eine Stunde verging. Dann kam die Mutter, zündete die Lampe an und verschwand sofort in der Küche, um dem Mann eine leichte Suppe zu kochen. Heinrich erhielt ein paar Schnitten Brot und ein Ende Wurst dazu. Als Frau Seiler die kleine Wirtschaft in Ordnung gebracht hatte, setzte sie sich in die Stube an den weißgescheuerten Tisch und begann Strümpfe zu stopfen.

„Mutter,“ sagte da Heinrich bescheiden, „kann ich noch hinaus, ich habe den ganzen Tag in der Stube gesessen …“

Die verhärmte Frau nickte nur. Und leise schlich sich der Junge davon. Als er vor die Tür trat, holte er erst einmal tief, tief Atem. Sein Kopf war ihm ordentlich benommen von der Stubenluft. Dann ging er um das Häuschen herum und schaute zu dem Fenster des Flickschusters Albrecht empor. Dort brannte Licht. Aber obwohl er mehrere Male gellend pfiff, seine Freunde blieben auch heute unsichtbar. Da ging er langsam über den Hof an dem Stall vorbei und setzte sich auf sein Lieblingsplätzchen, das alte Brunnenrohr.

Hier saß er dann und schaute über die Felder hinweg in die Abendröte, die mit rosigem Schein den Horizont vor ihm umspielte. –

Das Stubenhocken diese eine Woche lang hatte Heinrich Seiler seltsam verändert. Er, der das Gefühl der Vereinsamung nie gekannt hatte, er war heute weich gestimmt, beinahe traurig. Und da er es selbst merkte, grübelte er plötzlich über die Ursache dieses Mißbehagens nach. –

Er hatte sich ein Stückchen Holz aufgehoben und schnitzelte nun mit seinem Taschenmesser daran. So verging die Zeit. Er saß jetzt fast bewegungslos da und fühlte, daß er müde wurde. Die Hände ruhten auf seinen Knien, er war zusammengesunken und hob sich in seinem braunen Kittel von der Umgegend fast gar nicht ab.

Die Uhr der Vorstadtkirche schlug die neunte Stunde. Heinrich Seiler wollte gerade herzhaft gähnen, als er plötzlich vor sich ein leises Geräusch hörte. Als er, aus seinem Halbschlaf aufschreckend, genauer hinsah, bemerkte er eine Gestalt, die vorsichtig auf ihn zuschlich. Sie kam näher und näher … Er saß da wie gebannt, nicht aus Furcht, sondern mehr aus Neugier. Wer konnte es sein, der jetzt hier sein Wesen trieb, so geheimnisvoll, fast lautlos sich nahte? Erst hatte Heinrich blitzschnell an einen der Söhne Albrechts gedacht. Aber warum sollten die hier herumkriechen?! Nein – aber – ein Dieb?! Das schoß ihm durch den Kopf!

Er wartete ab. Jetzt konnte er die Gestalt schon deutlicher sehen; es war ein Mann, nicht allzugroß, der sich jetzt dicht an Heinrich vorbei auf den Hof schleichen wollte. Und da … da … ja, sah er den recht … da hinter dieser ersten erblickte er jetzt in verschwommenen Umrissen eine zweite Figur, in der Dunkelheit nur als schwarzer, vorwärtsstrebender Fleck bemerkbar, eine Figur, die ebenso lautlos näherkam. Und nun … nun hörte er ein lautes „Halt!“. Der Platz vor ihm belebte sich, er sprang auf, wurde aber sofort von hinten gepackt und niedergerissen … Verzweifelt schrie er um Hilfe, schlug um sich …

Eine harte, behandschuhte Hand preßte sich mit festem Druck auf seinen Mund. Noch ein paar gurgelnde Laute, dann lag er still, ergab sich in sein Schicksal. Bebend vor Angst hatte er die Augen geschlossen; jetzt fühlte er etwas Kaltes sich um seine Handgelenke winden, wurde hochgehoben und vorwärtsgestoßen. Er hörte flüsternde Stimmen um sich …

Langsam erst kehrte ihm die Überlegung zurück. Er wagte jetzt auch die Augen zu öffnen …

Neben ihm ging ein Mann, der das Ende einer Kette in einer Hand hielt; die Kette selbst aber war um Heinrich Seilers Handgelenke geschlungen. Der Mann und er gingen über die Felder, schnellen Schrittes, jetzt bogen sie zwischen zwei vorgeschobenen Gehöften in eine Straße ein.

Immer klarer wurden die Gedanken des Jungen. Wie ein Traum erschienen ihm diese letzten Minuten … Und nun, nun stieg etwas wie eine trotzige Wut in ihm auf. Die Angst war vorüber, sie gingen jetzt durch belebtere Straßen, sie beide dicht aneinander. Und da wagte er zum ersten Mal aufzusehen und seinem Führer ins Gesicht zu schauen. Sie schritten gerade an einer Gaslaterne vorüber …

Der Mann, der Heinrich Seiler an der Kette zur Polizeiwache der Vorstadt führte, war klein und dick, trug eine Brille und hatte einen dünnen, blonden Schnurrbart. Er sah aus wie ein Schulmeisterlein vom Lande.

Dann passierten sie einen Torweg, stiegen ein paar Stufen empor, eine Tür öffnete sich … Sie waren in der Wachtstube angelangt. –

Jakob Fischer, der Kriminalbeamte, ließ hier seinen Gefangenen los. Schutzleute in grauen Jacken, einige in halboffenen Waffenröcken drängten sich um Heinrich Seiler. Und dann lachte einer von diesen laut auf und rief mit tiefer Baßstimme:

„Nanu, Fischer, was hast du denn da aufgeangelt? Soll das der berühmte ‚Schusterkarl’ sein?“

Doch Fischer schien zum Reden nicht aufgelegt. Er deutete den anderen mit einer Handbewegung, zu schweigen und führte seinen Gefangenen schnell in das anstoßende Zimmer. Die Tür fiel ins Schloß und sie waren allein.

„So, nun komm doch einmal ans Licht,“ meinte Fischer gemütlich und beschaute sich das Bürschchen genauer. Dann begann er ihn auszufragen. Aber schon nach wenigen Minuten hatte er sich überzeugt, daß … ja, daß sie den Unrechten ergriffen hatten.

„Hm, du hast also da hinter dem Stall auf der Brunnenröhre gesessen und …“ – Nochmals fragte der Beamte Heinrich Seiler nach allen Einzelheiten. Aber der Junge verwickelte sich weder in Widersprüche, noch war er besonders ängstlich. Und die Geschichte von dem kranken Vater – nein, die konnte der Bengel nicht so glatt erfunden haben. Also … und über dieses ‚also’ krauste Jakob Fischer die Stirn …

Die Tür öffnete sich und herein trat hastig und ungeduldig der Kriminalkommissar Kern. Der Beamte nahm ihn sofort beiseite und teilte ihm mit, was er aus Heinrich Seiler herausbekommen hatte. Dann begann Kern selbst den Jungen auszufragen. Aber bald fing er an in dem nicht allzugroßen Zimmer auf und ab zu laufen, anscheinend unzufrieden mit sich und der ganzen Welt.

„Dachte ich’s mir doch,“ brummte er vor sich hin, „der Kerl ist uns entschlüpft, – alles verloren – weiß jetzt, daß wir hinter ihm her sind …“

Das Abenteuer endigte für Heinrich damit, daß der eine von den beiden Herren, die ihn so genau ausgefragt hatten, ihm eine Mark gab und ihn nach Hause schickte. Nur das eine mußte er noch versprechen, nichts zu erzählen – nichts – niemand!

Aber Frau Seiler erfuhr die Geschichte noch an demselben Abend. Atemlos berichtete der Junge von der Kette, der kalten Kette, von dem Herrn mit der Brille und dann … dann gab er freudestrahlend die Mark heraus, reichte sie der Mutter hin und sagte: „Dafür können sie mich jeden Abend einsperren …“ Und die Mutter schüttelte nur den Kopf. Aber froh war sie doch. Eine Mark … ein gutes Mittagessen …! Nur daran dachte sie; und Heinrich ebenso …

 

5. Kapitel.

Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, das durch die so sonderbar verdiente Mark zu einem wirklichen Sonntagsessen ausgestaltet war, machte sich Heinrich mit Erlaubnis seiner Mutter zu einem längeren Spaziergang auf. So erzählte er wenigstens daheim; in Wirklichkeit hatte er aber andere Absichten. Da es auch dem Kranken besser ging, war Frau Seiler sehr zur Milde gestimmt und gab dem Jungen einige dick mit Schmalz bestrichene Stullen mit. Auch wollte sie ihm gestatten, den besseren Anzug anzuziehen. Doch zu ihrem Erstaunen lehnte Heinrich es ab.

So trollte er denn gegen zwei Uhr nachmittags von dannen. Fröhlich pfeifend schritt er die Straße entlang; anscheinend wollte er also einen kleinen Bummel nach der Stadt machen. Aber auch das schien nur so. Vorsichtig gelangte er auf Umwegen bald in den Stadtwald. Hier schien er alle Lustigkeit abgestreift zu haben. Möglichst lautlos durcheilte er die Wege, bog dann schließlich sogar mitten in eine Tannenschonung ein und verschwand bald hinter den schlanken Stämmen.

Heinrich Seiler wollte heute zum dritten Mal versuchen, den Gebrüdern Albrecht hinter ihre Schliche zu kommen. Als er heute vormittag den älteren der Brüder zufällig auf dem gemeinsamen Hof getroffen hatte, da war plötzlich zwischen ihnen wieder der alte freundschaftliche Ton aufgekommen. Hans Albrecht erzählte ihm alle möglichen Geschichten, schenkte ihm auch einige Zigaretten, mit einem Wort, er war freundlich wie selten. Erst schien Heinrich Seiler die plötzliche Umwandlung ganz natürlich. Er, der Vereinsamte, freute sich, daß er wieder jemand zum Plaudern hatte.

Aber bald, – sie saßen gerade auf der alten Brunnenröhre und rauchten – schien es Heinrich doch, als ob Hans Albrecht irgendeinen Zweck mit seiner Freundlichkeit verbände. Jener fing ziemlich plump an, den Freund über die Ereignisse des vorigen Abends auszufragen. Zunächst fiel Heinrich das nicht auf. Als jedoch der andere mit Beharrlichkeit von ihm Einzelheiten verlangte, so besonders von der Polizeiwache, als er dann sogar fünf Groschen aus der Hosentasche zog und diese großmütig spenden wollte, wenn er Näheres, womöglich das erfahren könnte, was die beiden Herren in dem kleinen Zimmer gesprochen hatten, da begann es Heinrich langsam zu dämmern.

Doch er ließ sich nichts merken, er erzählte, was er wußte, und nahm nachher auch ruhig die fünf Groschen an. Dann plauderten sie noch über den Einbruchsdiebstahl bei Müller. Hans Albrecht zuckte nur die Achseln, als Heinrich ihm eingestand, daß er den oder die Diebe eigentlich bewundere. Ja, er zuckte die Achseln und lächelte dabei so spitzbübisch, so, als ob er damit ausdrücken wollte: ‚Wenn ich reden würde …!’

Nach einer Weile meinte er dann wegwerfend: „Das ist nichts Besonderes! Hier in diesem Nest einzubrechen, ist doch ein Kinderspiel … Aber in Berlin, da, wo Alarmklingeln und dicke Panzerwände sind … Ja, da …“

Wie Sehnsucht klang’s durch die letzten Worte.

Heinrich Seiler hörte andächtig zu. Das imponierte ihm! Was doch der Hans nicht alles wußte! … Alarmklingeln, Panzerwände … Ja, der war ja auch schon sechzehn Jahre alt und nun schon lange bei einem Mechaniker in der Lehre. Ja, dieser Hans Albrecht …!

„Hm,“ meinte dann wieder Heinrich nach einer Weile, „aber wenn sie die kriegen, die da bei Müllers gestohlen haben …?!“

„Kriegen?!“ Hans Albrecht lachte laut auf. „Du, die Spitzbuben sind schlauer, als du denkst … Manchmal greift die Polizei auch den Falschen!“ Und da lachte er wieder und schlug Heinrich vor Lustigkeit mit der Hand auf den Rücken.

„Ja, den Falschen …“ wiederholte er nochmals.

Da war’s Heinrich Seiler plötzlich, als ob ihm ein Licht über die Vorfälle des gestrigen Abends aufginge. – Er wurde schweigsam immer weiter aber redete der andere. Jetzt verhöhnte er die Polizei, und dann – dann lachte er wieder und flüsterte seinem Nachbar zu: „Der Müller kann auf seine Uhren pfeifen, – die bekommt er sicher nie wieder …“ Etwas wie triumphierende Freude klang aus diesen Worten heraus.

Heinrich Seilers Jugendverstand begriff das alles noch nicht. Wenn er auch über sein Alter hinaus geistig vorgeschritten war, so fehlte ihm doch noch die Fähigkeit, schnell das Richtige aus diesem Gebaren des anderen herauszufühlen. Er ahnte nur, daß hier etwas nicht in Ordnung war, daß Hans Albrecht in irgend einer Beziehung zu der Geschichte des gestrigen Abends stehe …

Als sie auseinander gingen, versprach der Hans ihm noch, daß er ihn nächstens mit ins Theater nehmen wolle, in das Varieteetheater, zu dem er von einem Freund jetzt immer Billetts geschenkt bekäme. Dann saß Heinrich wieder in der engen Stube, und paßte auf den Kranken auf, während die Mutter in der Küche das Mittagessen bereitete. Und da lichtete sich langsam das Dunkel in seinem Gehirn. Mit einem Male sah er klar … Die Freundlichkeit des älteren Albrecht war Absicht gewesen; er hatte ihn aushorchen wollen. Und weiter überlegte er sich jeder einzelne Wendung ihres Gespräches. Mit einem eigenartigen Instinkt fand er das Richtige, fand die Erklärung für manche Äußerung des sogenannten Freundes, fand auch den Übergang des Gesprächs zu dem Einbruch in dem Müllerschen Laden auffallend. –

Lange saß er still auf seinem Stuhl, er hatte die Hände auf die Tischplatte gelegt und den Kopf darein gestützt. So grübelte er, baute Pläne. Ein seltener Tatendrang war über ihn gekommen; der Übereifer des Straßenjungen war in Bahnen gelenkt, in denen die natürliche Verstandesschärfe allein wirken sollte. Und der Erfolg von Heinrich Seilers langem Nachdenken war der Ausflug nach der Ginsterheide. –

Es mochte gegen vier Uhr nachmittags sein. Über einem dichten Brombeergesträuch, das am Rande der Ginsterschlucht wucherte, spielten zwei Zitronenfalter, die der warme Frühlingssonnenschein ans Tageslicht gelockt hatte. Sie schwebten tändelnd auf die sprossenden Blätterknospen des Strauches nieder, um sich dann wieder graziös zu erheben …

Heinrich Seiler, der im Schutz des dichten Rankengewirrs lag, hatte den Schmetterlingen nun schon eine ganze Weile zugeschaut. Dann aber dachte er wieder an sein Vorhaben. Und beinahe erschreckt über sein Versäumnis schaute er jetzt desto angestrengter im Kreisel her, indem er sich leicht auf den Händen aufrichtete. Wie lange er diesen Beobachtungsposten schon innehatte, wußte er nicht. Die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen. Es gab da so allerlei zu sehen, was dem Jungen neu erschien, obwohl er Wald und Feld als großen Spielplatz sehr gut kannte. Ein paar Feldmäuse huschten ungestört durch die Gräser vor ihm, bald wieder verfolgte er einen Maulwurf mit den Blicken, der eine Röhre dicht unter der Erdoberfläche aushob, so daß der Boden sich unter seinem vorwärtswühlenden Körper wölbte. Die Stullen, die ihm die Mutter mitgegeben, waren längst verzehrt. Und die Sonne rückte höher und höher, aber der Erfolg dieses Tages schien auszubleiben. Kein menschliches Wesen war zu sehen; nichts störte die Ruhe in der Natur.

Heinrich Seiler hatte sich seinen Platz der Stelle gegenüber ausgesucht, wo damals in jener Sonnabendnacht die Gestalten der Brüder Albrecht ihm so plötzlich entschwunden waren. Er lag genau gegenüber dem anderen Rand der Ginsterschlucht, sogar ganz genau gegenüber. Denn er entsann sich sehr wohl, daß die Brüder Albrecht damals gerade auf die dicke verkrüppelte Kiefer zugegangen waren, die als einziger größerer Baum halb über dem Abhang hing. Unter der Kiefer wucherten die Brombeer- und Ginstersträucher ganz besonders dicht. Aber zu den Früchten dieser Brombeerstauden war nicht zu gelangen. Dazu fiel die Schlucht zu steil ab. Und Heinrich wunderte sich, wie die Sträucher in dem lehmartigen Erdreich überhaupt hatten Wurzel fassen können.

Wieder verging eine geraume Zeit. Hier in der Ginsterheide herrschte eine tiefe Ruhe. Nur die Mäuse raschelten durch die Gräser und jetzt … jetzt tönte von Ferne Glockengeläute herüber. Heinrich Seiler wurde ganz feierlich zumute. Seine Gedanken irrten plötzlich zu dem gestrigen Abend, da ihn jetzt wieder dieses unbehagliche, unzufriedene Gefühl überkam. Er dachte an mancherlei; daß er keinen Freund hatte, daß er hier …

Da schnellte er empor. Er hörte einen eigentümlichen Pfiff, ähnlich dem, wie er zwischen ihm und den Brüdern Albrecht als Signal verabredet war. Der Pfiff ertönte gerade in seinem Rücken und jetzt vernahm er auch seitwärts leise Schritte. Vorsichtig bog er den Kopf dorthin. Zuerst war sein Spähen vergeblich. Aber dann schob sich ein geschmeidiger Körper vielleicht fünf Schritt von ihm dem Rande der Schlucht zu; jetzt konnte er die ganze Gestalt sehen, das Gesicht erkennen …

Fast stockte ihm der Atem. Denn neben ihm lag der jüngere Albrecht – er beobachtete ihn genau – und schaute angestrengt in das grüne Wirrsal von Sträuchern hinüber, die unter der verkrüppelten Kiefer wucherten. Und dann … dann sah Heinrich Seiler, wie drüben plötzlich geschickt wie eine Katze ein Mensch den Abhang emporkletterte, den Stamm der Kiefer umfaßte, sich auf den Rand der Schlucht schwang, und sofort einige Meter weiter rollte, wo er, verborgen hinter einigen Ginsterstauden, ruhig liegen blieb. Das alles hatte sich so blitz-schnell abgespielt, die Bewegungen des Mannes da drüben waren so gewandt, so hastig gewesen, daß Heinrich ihn nicht erkennen konnte. Aber doch – ihm war’s, als hätte er den älteren Albrecht erkannt.

Eine Weile blieb es ruhig. Nichts regte sich; die drei am Rande der Schlucht verteilten Gestalten schienen mit dem Erdboden eins zu sein. Aber Heinrich Seilers Augen wanderten abwechselnd von dem einen zum andern, irrten auch über das Gestrüpp unter der Kiefer hin. Doch es schien, als ob die beiden Albrecht, falls es wirklich Hans gewesen war, vorläufig ihre Stellung nicht verlassen wollten. Dann kam wieder der Pfiff, nur leiser, dann ein Rascheln neben Heinrich Seiler, das sich bald in der Ferne verlor. Und als der Lauscher nun die zweite Gestalt dort drüben suchte, war auch sie verschwunden.

Die Dämmerung sank herab und es wurde empfindlich kühl. Trotzdem hielt Heinrich auf seinem Platz noch aus. Allerdings – zu sehen gab es nichts mehr. Aber er wußte ja auch genug. Wie schlau die beiden, die er eben beobachtet hatte, sich durch die Pfiffe verständigten, wie vorsichtig sie waren …! Jetzt war ja auch das geheimnisvolle Verschwinden aufgeklärt …! Der Junge triumphierte. So war seine Geduld doch belohnt worden … Endlich!

Erst als die Dunkelheit die Ginsterschlucht und ihre Umgebung dicht einhüllte, verließ Heinrich Seiler seinen Posten. Die Glieder waren ihm steif geworden. Die Zähne schlugen ihm vor Kälte zusammen. Aber trotzdem glitt er leise und geschmeidig, tief gebückt dahin, blieb öfters stehen und lauschte … Er wußte sehr wohl, was ihm bevorstand, wenn ihn vielleicht die Brüder Albrecht hier erwischten. Eine Tracht Prügel war das mindeste. Und davon hatte Heinrich gerade genug schon zu Hause kennen gelernt. Doch unangefochten langte er daheim an. Und als er, sein kärgliches Abendrot verzehrend, am Tisch saß, überlegte er die Erlebnisse des heutigen Tages. Immer klarer wurde es ihm, daß seine Freunde auf verbotenen Wegen wandelten, und ebenso fest nahm er sich vor, die erste Gelegenheit zu benutzen, um hinter das Geheimnis der Ginsterschlucht zu kommen.

 

6. Kapitel.

Der Kriminalkommissar Kern mußte von Tag zu Tag mehr einsehen, daß ‚Schusterkarl’ und der Müllersche Einbruch ihm kaum zu dem Inspektorposten verhelfen würden. Die Untersuchung beider Sachen war gänzlich ins Stocken geraten. Man kam über den toten Punkt nicht hinweg, der mit der vergeblichen Jagd auf den Berliner Einbrecher erreicht war.

Kern saß in seinem Amtszimmer am Schreibtisch und rauchte mißmutig seine Zigarre. Draußen plätscherte eine wahre Sintflut von Regen gegen das Fenster. In dem Zimmer war’s trotz der Vormittagsstunde halbdunkel. Es herrschte so ein unbehagliches Dämmerlicht, das auf die Stimmung des Kommissars noch mehr drückte.

Kern sann hin und her, suchte einen Punkt, an dem er die Untersuchung von neuem energisch angreifen konnte. Auch sein getreuer Helfer, Jakob Fischer, hatte diesmal versagt. Und wie lächelten die Kollegen so ironisch, als sie die Geschichte von dem festgenommenen Jungen erfuhren. Er hatte dieses … niederträchtige Lächeln überall gesehen, und es trieb ihm die Galle ins Blut …

Der Kommissar ballte ingrimmig die Fäuste. Und er grübelte und grübelte. Und draußen schlug der Regen an die Fenster. Die Tropfen klatschten gegen die Scheiben, daß es nur so knatterte. Der arme Kern wurde immer nervöser. Die Zigarre war längst ausgegangen. Sie schmeckte ihm auch nicht … Seufzend griff er endlich, des vergeblichen Nachsinnens müde, nach einem Aktenstück und begann darin zu blättern. Doch so leicht ließen sich die Gedanken nicht ablenken … Der Inspektorposten … ‚Schusterkarl’, – der Einbruch; um die drei Dinge tanzten seine Gedanken wie um drei Altäre. Und an jedem der Altäre erflehten sie etwas anderes … vergeblich … vergeblich …

Was hatte es nun genützt, daß Fischer in allen möglichen Verkleidungen das Haus, in dem der Flickschuster Albrecht wohnte, Tag und Nacht bewachte. Wozu hatte er mit noch zwei Beamten an drei Abenden hinter dem Stallgebäude dort draußen in der Vorstadt auf der Lauer gelegen … wozu? – Und wer war’s eigentlich gewesen, der ihnen damals so geschickt entschlüpfte, als sie nachher nur einen … dreizehnjährigen Jungen ergriffen … ergriffen statt dessen, der so heimlich sich an die Gebäude herangeschlichen hatte.

War’s wirklich ‚Schusterkarl’ gewesen, der ihnen damals entkam? – Er wollte es nicht glauben, obwohl Jakob Fischer seinen Kopf dafür verwetten wollte. Und wenn’s wirklich der Berliner Einbrecher gewesen, ja, dann … dann ade, du Hoffnung! Dann war er gewarnt und längst über alle Berge. –

Mechanisch schlug Kern wieder eine Seite um. Aber er las nicht; er grübelte weiter. Und langsam änderte sich seine Stimmung. Hatte er noch eben mit stiller Wut an seine Mißerfolge gedacht, jetzt war’s schon wie stilles Verzichten in ihm. Er gab das Rennen auf …

So traf ihn Jakob Fischer, der zum üblichen Bericht sich bei ihm meldete.

„Etwas Neues?“ fragte Kern gedrückt.

„Nein, Herr Kommissar, nichts!“ –

Fischer betrachtete beinahe mitleidig seinen Vorgesetzten, der ihm heute so verändert vorkam. Wie zusammengesunken er dasaß, und wie verzagt er aussah …

„Herr Kommissar,“ begann der Beamte da zögernd, „ich habe mir da so etwas überlegt …“

Aber Kern schien teilnahmslos. Er schaute nicht einmal auf, fragte nicht.

„Ja, ich will mich doch mal an den Jungen anpirschen, den wir damals leider …“

„Leider! Sie haben recht, Fischer, leider …! Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen – alte Geschichte!“

Jakob Fischer nickte nur. Dann fuhr er fort: „Ich verspreche mir doch so einiges von dem Jungen. Er wohnt ja in demselben Haus mit dem Albrecht und hat vielleicht manches gesehen, was mir entgangen ist …“

Kern machte eine ungeduldige Handbewegung.

„Meinetwegen, Fischer, – ich habe nichts dagegen, wenn ich auch wenig, oder besser gesagt, gar keine Hoffnung mehr habe …“

„Wer kann wissen?!“ meinte Fischer und zog die Schultern hoch. „Manchmal erlebt man so Überraschungen …“

„Oh ja,“ sagte der Kommissar bitter, „leider keine angenehmen!“

Aber der Kriminalbeamte wollte dieses Letzte doch noch versuchen. –

An demselben Vormittag gegen zwölf Uhr klopfte es recht bescheiden an die Tür der Seilerschen Wohnung. Heinrich, der gerade dem Vater aus einem alten Buch, das eine Schilderung der Befreiungskriege enthielt, vorlas, rief ohne Bedenken „Herein!“. Sie bekamen ja so selten Besuch; meist kamen nur die Nachbarn und jetzt, seitdem der Vater krank war, der Arzt.

Aber heute war’s ein Postbote mit grauem Vollbart, der die Schwelle überschritt und dann hinter sich die Tür zudrückte.

„Guten Morgen, Herr Seiler,“ sagte er gemütlich und ging ohne weiteres auf das Bett zu. „Ich habe hier einen Brief an Sie … so … bitte schön.“

Der Kranke drehte das Schreiben verwundert zwischen den Fingern. Es passierte nicht oft, daß er Briefe erhielt, und die brachten dann gewöhnlich noch Unangenehmes.

Der Postbote, der an den Kragen seiner Uniform die schmale goldene Tresse der altgedienten Briefträger trug, schien ähnliche Befürchtungen aus der Miene des Empfängers herauszulesen.

„Es ist ja nur eine Offerte von einer Werkzeugfabrik,“ meinte er beruhigend. Und dann setzte er teilnahmsvoll hinzu: „Sind Sie schon lange krank, Herr Seiler? Sehen Sie, ich bin hier neu im Bezirk, erst vor wenigen Tagen herversetzt … Ja, – na und da freundet man sich doch gerne bald an …“ Das klang wieder so gutmütig und ehrlich, daß der Kranke, dessen Laune zumeist nicht die beste war, freundlich erwiderte:

„Es geht ja jetzt besser – ja, ja! Der verd… Schnaps!“ Und dann kam eine lange Rede, wie man sie von Seiler sicher nicht oft zu hören bekam. Er schimpfte auf die, die den armen Leuten das Geld aus der Tasche zögen und sie krank mit ihrem verf… Fusel machten,“ redete und redete …

Der Briefträger, der von dem Regen ordentlich durchnäßt war, hatte sich zu ihm auf einen Stuhl gesetzt und wollte das Ende des Regens abwarten. Schließlich kamen sie auch auf andere Dinge zu sprechen. Der in den Verhältnissen in der Vorstadt anscheinend ganz fremde Postbeamte fragte nach diesem und jenem, schien sich auch für den Einbruch bei dem Uhrmacher Müller zu interessieren und ebenso für die Hausbewohner.

„Man muß doch die Leute kennen lernen, mit denen man zu tun hat,“ meinte er in seiner biederen Art. Auch Heinrich, der bisher schweigend am Fenster gesessen hatte, zog er ins Gespräch. Da den Kranken die Unterhaltung doch anstrengte, so hörte er jetzt ganz gern zu, wie sein Junge sich mit dem Briefträger unterhielt … über die Schule, die Freunde.

Und Heinrich Seiler, der bald zutraulich geworden war, kramte nun seine kleinen und großen Sorgen aus, erzählte auch von dem Abenteuer, wobei er die eine Mark verdient hatte, … aber was ihn hauptsächlich bewegte, das verschwieg er beharrlich, obwohl ihm das Geheimnis der Ginsterschlucht und all das andere, was er sich so zurechtgelegt hatte, auf den Lippen brannte.

„So, so – also noch zwei Jungen gibt’s hier im Haus,“ fing der Briefträger wieder an. „Na, da treibt ihr euch wohl ordentlich zusammen rum, – was?“

Heinrich schüttelte den Kopf. „Na – mit denen geh ich nicht mehr,“ sagte er unvorsichtig.

„Da habt ihr euch wohl gestritten! Na, wird nicht so schlimm sein …“

Heinrich Seilers Gesicht zeigte jetzt einen eigenartig pfiffigen Ausdruck. Er verzog den Mund zu einer Grimasse und … schwieg. Denn plötzlich war ihm die Erinnerung an den letzten Sonnabendabend gekommen. Da hatte der Albrecht ja auch so freundlich getan und … na, kurz und gut, dieser gutmütig scheinende Postbeamte kam dem Jungen plötzlich verdächtig vor. Er beantwortete die folgenden Fragen so kurz und ablehnend, daß dieser neugierige Besucher endlich aufbrach.

„Na, Herr Seiler, vielleicht sehe ich noch einmal nach Ihnen,“ meinte er beim Fortgehen. Und Seiler konnte der Wahrheit gemäß nur sagen, daß ihm sein Besuch sehr angenehm sein würde.

Es goß noch immer draußen. Der Briefträger ging aber trotzdem langsamen Schrittes die Straße entlang und bog dann in die Herderstraße ein. Hier wartete er auf eine Elektrische, stieg ein und fuhr zur Stadt. Er hatte sich in den Wagen gesetzt und starrte gedankenverloren vor sich hin.

Also auch dieser Besuch war so gut wie erfolglos geblieben; das mußte sich Jakob Fischer, denn er und kein anderer war der gemütliche Postbote, selbst sagen. Erfolglos? Hm! So ganz harmlos war ihm dieser Junge mit dem schlauen Fuchsgesicht doch nicht vorgekommen. Er sann und sann. Ja, dieses plötzliche, unfreundliche Wesen des Bengels hatte irgend etwas zu bedeuten! Sollte …? Ja, da hatte er die Erklärung! Der Junge war schlauer, als Jakob Fischer angenommen hatte! Der Bengel hatte gemerkt, daß er ausgehorcht werden sollte, und da – na, da war’s eben mit seiner Redseligkeit vorbei!

Die Elektrische eilte weiter. Der Kondukteur kam und teilte die Billette aus. Auch auf dem Vorderperron standen Leute. Denen reichte er sie durch das Schiebefenster. Zufällig schaute Jakob Fischer auf, zufällig sah er gerade hin, als der Kondukteur einem halbwüchsigen Burschen, der einen kleinen, grünen Filzhut aufhatte, den roten Zettel gab. Da ging’s wie ein Ruck durch den Körper des Kriminalbeamten. Aber er vermied es, nochmals hinzusehen.

Wär’s möglich? War das der Heinrich Seiler, mit dem er noch soeben in der engen dumpfen Stube in der Gneisenaustraße gesprochen hatte? Die Gedanken arbeiteten blitzschnell, sie klärten sich. Also so stand’s mit dem Burschen! Dieser Bengel spionierte ihm nach, dieser grüne Junge wollte ihn, ihn überlisten …

Nun wagte er einen Blick nach dem Vorderperron hin, er schien sich umzusehen, weiter nichts. Ohne Interesse glitt des Beamten Auge über die Mitfahrenden. Aber er hatte genug gesehen. Da vorne auf dem Perron, da stand Heinrich Seiler – kein Zweifel – Er war es! –

Und nachher hatte Jakob Fischer nochmals Gelegenheit, sich von der Wahrheit seiner Annahme zu überzeugen. Der Junge war ihm durch die Straßen gefolgt, als er nach seiner Wohnung gehen und die Verkleidung ablegen wollte, und es hatte den Kriminalbeamten beinahe Mühe gekostet, den Verfolger von seiner Spur abzubringen. –

Während dann Heinrich, unzufrieden darüber, daß er den Briefträger trotz größter Aufmerksamkeit doch aus den Augen verloren hatte, mit der elektrischen Bahn heimkehrte, fand in dem Zimmer des Kriminalkommissars zwischen Kern und Fischer eine lange Unterredung statt.

Nachdem Fischer über seine Beobachtungen berichtet hatte, berieten sie über die weiteren Schritte. Kern hätte laut aufjubeln mögen. Da war ja der neue Angriffspunkt gefunden! Nun konnte er wieder hoffen! – Denn daß dieses Bürschlein mehr wußte, als es schien, das war für Kern unzweifelhaft. Wozu wäre er sonst dem harmlosen Briefträger gefolgt, wenn er nicht irgendeine Gefahr witterte? Fischer hatte recht. Der Bengel hatte schon damals am Abend als Wache auf der Brunnenröhre gesessen und sie alle genasführt. Und jetzt witterte er in dem Postbeamten den Feind, der hinter seine Geheimnisse kommen, ihn aushorchen wollte. Und dieser Heinrich Seiler, die beiden Söhne des Albrecht und der ‚Schusterkarl’, – sie alle steckten unter einer Decke …

Der Kommissar rieb sich vergnügt die Hände.

„Fischer, wenn uns der Fischzug gelingt,“ meinte er witzelnd, „dann sorge ich für Sie, dann verlangen Sie von mir, was Sie wollen! – Aber jetzt nicht nachlassen – die Augen aufsperren! Wir haben es mit schlauen Gegnern zu tun!“

 

7. Kapitel.

Als der Polizeirat Scheller sich kaum auf seinen altgewohnten Platz am Stammtisch bei Kirsan niedergelassen und der altgediente Kellner, den die Tischrunde nie mit ‚Kellner’, sondern stets mit ‚Herr Scheffler’ benannte, ihm den Halbliterkrug offen hingestellt hatte, fing auch schon der Braumeister Görtz, Schellers bester Freund, mit leisem Vorwurf in der Stimme an:

„Heute so spät, Franz!“ Und dann zog er die Uhr und wies mit dem Finger auf die Zeigerstellung.

„Ja, ja, – ich weiß, – halb vier Uhr! Aber …“ Das Weitere verschwand in undeutlichem Gemurmel.

„Oho,“ lachte Görtz, „Alterchen, du bist heute schlechter Laune!“ Und die fünf anderen Herren des Stammtisches nickten nur. Zweifellos – Scheller hatte Ärger gehabt. Denn für gewöhnlich ließ er die köstliche Spatenblume nicht so lange abstehen.

Der Polizeirat schaute beinahe tiefsinnig auf den bräunlichen Schaum am Rande des Glases, der jetzt langsam in sich zusammensank. Dann fuhr er mit der Hand durch den wohlgepflegten Vollbart und … endlich griff er nach dem Halbliterkrug! Wie ein Seufzer der Erleichterung ging es durch die Tischrunde. Mit sichtlichem Behagen tat Scheller einen tiefen Zug; die Wolken auf seiner Stirn lichteten sich, die Lebensfreude brach mit frohem Leuchten wie heiteres Sonnenlicht hervor.

„Ja, meine Herren, man hat wirklich so seinen Ärger,“ meinte er dann ernst. „Mein Amt ist eines von denen, die einen nie so recht seines Herzens froh werden lassen. Und das wird immer so bleiben, solange noch eine Verbrecherzunft hier im gesegneten Deutschland existiert, – also voraussichtlich immer!“

Einige der Herren erlaubten sich zu diesem Stoßseufzer ein etwas ironisches, ungläubiges Lächeln aufzustecken. Besonders der Sanitätsrat Freimut, dessen Genießergesicht meist ein behaglicher Zug von Leichtsinn verschönte, mußte jetzt noch auf seine Art über Schellers Amtssorgen quittieren. Er hob sein Glas und sagte zu dem Braumeister Görtz:

„Prosit, Görtz, – und laß dich von Schellers periodenweise sich einstellender Amtsmüdigkeit nicht weiter beunruhigen. Den langen Vers von der Schwere der Polizeiratstätigkeit hören wir ja pünktlich alle vier Wochen!“ –

Dann trank er dem Braumeister zu, und blinzelte dabei dessen Freund von der Seite an. –

Die Herren lachten. Man kannte diese Szenen am Stammtisch so gut, kannte die Eigenheiten des einzelnen und daher auch Schellers leichte Reizbarkeit und Görtz’ schnelle Angst um die Seelenruhe des alten Freundes. Nachdem ‚Herr Scheffler’ die Gläser aufs neue gefüllt hatte und die Blume abgetrunken war, meinte der Sanitätsrat mit dem heitersten Gesicht von der Welt:

„Nun schießen Sie los, Scheller – was hat’s denn heute wieder Neues in Ihrer Polizeiburg gegeben? – Neues, das heißt Arbeit für Sie, daher der Ärger, die Amtsmüdigkeit; also liegt hier Ursache und Wirkung.“ – Er schmunzelte dazu so sarkastisch, daß Scheller nur die Achseln zucken konnte; gegen den alten Spötter war ja doch kein Kraut gewachsen. – Aber als nun auch von anderer Seite in ihn gedrungen wurde, da bequemte er sich endlich doch zum Reden.

„Heute nacht ist in der Destillation zum ‚Bunten Bock’ eingebrochen worden. Die Diebe haben aus dem Geldschrank an fünfzehnhundert Mark bares Geld erbeutet!“

Nun hatte auch der Polizeirat seinen Triumph. Vorhin waren alle über ihn hergefallen, hatten ihren sogenannten Frühschoppenwitz an ihm ausgelassen! Und jetzt, jetzt würden sie ihn wieder mit Bitten bestürmen, daß er ihnen Genaueres erzähle. Sie waren ja alle gleich, die Menschen, ob jung, ob alt! Wenn sich’s um die dunklen Seiten der menschlichen Natur, um Verbrecher und Verbrechen handelte, dann spitzten sie die Ohren und horchten mit angenehmem Gruseln hin, wie anderen so blanke fünfzehnhundert Mark verloren gingen durch einen genialen Gaunerstreich!

Scheller kannte seine Stammtischfreunde nur zu gut. Jetzt ging das Gefrage los. Neckerei, Spottsucht – alles war in den Hintergrund getreten. Der Polizeirat gab willig Antwort, soweit er es eben für vereinbar mit den Interessen der Untersuchung hielt.

Sanitätsrat Freimut war jetzt einer der lautesten.

„Meine Herren, ist das nicht unerhört! Der Einbruch bei dem Uhrmacher Müller in der Herderstraße liegt kaum vierzehn Tage zurück und jetzt … jetzt sind wir hier schon so weit, daß die Einbrecher in aller Gemütsruhe Geldschränke ‚knacken’, – so soll ja wohl der Kunstausdruck lauten! – Schellerchen, Schellerchen, ich fürchte jetzt auch, daß Ihr die nächste Zeit nicht auf Rosen tanzen werdet. Noch steht der Erfolg in der Müllerschen Sache aus und schon gibt’s neue Arbeit! Ja, jetzt begreife ich auch Ihre Mißstimmung! Na, nichts für ungut, ich war vorhin wieder etwas stark ironisch … Nicht krumm nehmen, Schellerchen … Prosit!“

Der Polizeirat lächelte vor sich hin. „Mein Beruf, meine Herren,“ sagte er dann ohne Selbstgefälligkeit, „ist in der Tat überaus schwer. Sehen Sie, wenn einer von Ihnen mit seiner Tagesarbeit fertig ist, dann wird er eben für die freie Zeit wieder ganz Privatmann. Bei mir hört die Arbeit nie auf. Wenn ich im Theater sitze, wie zum Beispiel gestern abend, und mich wirklich während des Spiels an den schönen goetheschen Worten erbaue, dann kommt nachher die Pause und zugleich auch einer meiner Beamten, natürlich in Zivil, und bringt mir einen Zettel von einem der Kommissare, der um Verhaltungsmaßregeln bittet. Dann stecke ich wieder mitten im Geschäft. Und geh ich abends zu Bett und kann nicht gleich einschlafen, – wohin irren die Gedanken? – Regelmäßig dahin, wo meine Schmerzenskinder, die Herren Einbrecher, jüngst wieder eine Dummheit, wollte sagen, einen Einbruch, verübt haben oder sonst wohin. Jedenfalls spazieren sie nie auf den geordneten Pfaden des ehrsamen Bürgers, sondern auf den krummen Wegen, die das Verbrechen geht …“

Braumeister Görtz wurde unruhig. „Kinder, ist das nun eine Art,“ polterte er los, „unseren Freund hier so in Rage zu bringen, daß er lange Reden über die Unzuträglichkeiten seines Berufes hält! Wir kommen doch hier zusammen, um in Ruhe unseren Schoppen zu trinken und den neusten Kalauer zu hören! Aber nicht, um des Tages Müh und Last nochmals durchzukosten. Die Geschichte des Einbruchs im ‚Bunten Bock’ lesen wir abends sowieso in der Zeitung. Und Scheller erzählt uns ja doch nichts, was nicht eben jeder wissen dürfte! Also – Schluß damit, meine Herren!“

„Bravo, Braumeister!“ klang’s in der Runde. Und Freimut, der sofort wieder die neue Situation beherrschte, fragte mit einem ironischen Lächeln:

„Wer kennt den Unterschied zwischen …“

Die Pointe wurde weidlich belacht. –

Damit war die Stammtischunterhaltung wieder in ruhige Bahnen gelenkt. –

*

An demselben Tag saßen abends gegen zehn Uhr die beiden Brüder Albrecht einträchtig neben Heinrich Seiler auf der Brunnenröhre. Heinrich weinte leise vor sich hin. Was half es ihm, daß die beiden ihn trösteten und ihm in ihrer Art gut zugeredeten. Das machte seinen Vater nicht wieder lebendig.

Heute war Seiler begraben worden. Die Besserung, die sich in seinem Befinden an jenem Tag gezeigt hatte, als der freundliche Briefträger so lange bei ihm war, blieb nicht von Bestand. Schon am nächsten Morgen, am Mittwoch, stellte sich heftiges Magenbluten ein, daß der schnell herbeigerufene Arzt kaum zu stillen vermochte. Als der Doktor dann wieder ging, sagte er zu Frau Seiler draußen im Flur:

„Liebe Frau, ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen. Ihr Mann leidet an Magengeschwüren und anscheinend hat ein Durchbruch der Magenwand stattgefunden. Machen Sie sich auf alles gefaßt.“

Der Arzt hatte den Zustand des Kranken nur zu richtig beurteilt. Seiler starb noch in derselben Nacht. Und heute, am Sonnabend, hatte man ihn begraben.

Die Brüder Albrecht, auch der Flickschuster, hatten sich da von einer Seite gezeigt, wie man sie selten bei einfachen Leuten findet. Da bei Seilers natürlich von irgendwelchen Ersparnissen keine Rede sein konnte, so war der Flickschuster großherzig mit seinen wenigen Spargroschen der armen Frau zu Hilfe gekommen, hatte auch einen billigen Sarg besorgt und sogar zwei große Kränze zum Begräbnis gespendet.

Heinrich Seiler ging in diesen Tagen wie ein Träumender umher. Die Allmacht des Todes war ihm neu. Daß ein Leben so plötzlich auslöschte wie ein Licht, das man in den Zugwind stellte und daß dann nie wieder von selbst seinen flackernden Schein aufleuchten lassen konnte, war ihm so unbegreiflich, so unfaßbar. Nie mehr würde er nun vor der Kneipe dort an der Ecke auf den Vater warten, nie mehr … Der, der da so bleich in den weißen Leinenkissen ruhte, konnte ihm nie wieder von der Arbeitsstelle Metallabfälle, Stücke von Röhren und Sprungfedern mitbringen, aus denen er sich dann allerhand Spielzeug gefertigt hatte.

Der in der letzten Zeit so sehr zum Grübeln aufgelegte Junge wurde jetzt noch nachdenklicher und ernster. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten aus dem Kind einen frühreifen Menschen gemacht, der des Lebens wechselndes Auf und Ab mit wissenden Augen zu betrachten begann. Die Mutter hatte es ihm gesagt, – jetzt hieß es auch für ihn: Arbeiten – verdienen!

Unklare Pläne wogten durch sein Hirn. Aber die Aufregungen, die der Tod des Vaters mit sich brachte, ließen ihn zu keinem klaren Gedanken kommen.

Jetzt, da er dem Verstorbenen, den er eigentlich nie geliebt hatte, aus einem Gefühl der unsicheren Verlassenheit heraus Tränen nachweinte, jetzt, da die Erde den einfachen Sarg deckte, begannen sich seine Absichten langsam zu entwirren. Während er auf der Brunnenröhre neben den Brüdern Albrecht hockte und auf die kindlichen Trostworte kaum hinhörte, tauchte wie aus einem Wolkenschleier alles das wieder auf, was er erlebt, gehört und gesehen hatte, fiel ihm wieder ein, daß diese beiden Jungen da neben ihm eigentlich seine Feinde waren …

Heinrich Seilers Tränen versiegten. Eine plötzliche Energie war ihm angeflogen und brachte sein Denken wieder in Unordnung. Nichts mehr von dem träumerischen Schweifenlassen der Gedanken, keine Betrachtungen weiter über das Rätsel des Todes. Vor seinem geistigen Auge stieg ein Bild auf, das er am letzten Sonntag geschaut hatte. Ein geschmeidiger Körper kletterte den Abhang der Ginsterschlucht empor, umfaßte die verkrüppelte Kiefer und schwang sich empor …

Da stand er auf und sagte den Brüdern Albrecht gute Nacht. „Ich muß zu Mutter gehen, die ist so allein,“ meinte er erklärend.

„Aber euer neuer Schlafbursche ist ja zu Hause. Vorhin, als ich durch das Fenster sah, saß er am Tisch und schien sich mit deiner Mutter zu unterhalten,“ sagte Karl Albrecht schnell. Er schien Heinrich noch etwas fragen zu wollen und suchte ihn zurückzuhalten.

„Ja, der ist ein netter Kerl, und Mutter freut sich, daß er bei uns wohnt. Er bezahlt gut.“ – Man merkte dem Jungen die Freude über diese unerwartete Einnahmequelle an.

„So … hm.“ Der ältere Albrecht schien nachzusinnen.

„Na, gute Nacht,“ sagte Heinrich und reichte dem Jüngeren nochmals die Hand. Dann gingen sie auseinander.

Die beiden Brüder aber setzten sich wieder auf die Brunnenröhre und begannen leise zu flüster. Sie hatten sich jeder eine Zigarette angesteckt und qualmten eifrig, während ihre Köpfe dicht zusammen steckten, so daß einer dem andern die Worte fast ins Ohr sagte.

„Diese Geschichte mit dem Schlafburschen … die kommt mir nicht so ganz richtig vor,“ meinte jetzt nach einer Weile der Ältere. Der Bruder sann einen Augenblick nach.

„Wer weiß, was er dazu sagen wird?“ Auf das ‚er’ lege Karl Albrecht einen besonderen Nachdruck.

Da begannen von der Kirche her die Schläge der Uhr die nächtliche Stille zu durchzittern. Wie in Wellenbewegungen landete der Schall bei der feuchten Frühlingsluft an den Ohren der beiden Jungen, langsam, nachklingend.

Der Jüngeren schauerte zusammen. „Komm – es wird Zeit,“ flüsterte er seltsam gedrückt.

„Was hast du … Hast du etwa mit einem Mal Angst?“ Hans Albrecht lachte kurz auf. „Memme!“ meinte er verächtlich. „Seit du den toten Seiler gesehen, bist du ein rechter Waschlappen geworden!“

Dann huschten sie wie zwei Schatten in die Dunkelheit hinein, die dicht wie eine schwarze Wand über den frühjahrsduftenden Feldern lagerte.

 

8. Kapitel.

Der Besitzer der Destillation zum ‚Bunten Bock’ saß in seinem Kontor auf dem hohen Schemel und schaute mit Augen, die das … Wunder noch immer nicht begreifen konnten, auf den Geldschrank, der halb aus der Ecke herausgerückt und dessen Seitenwand vollständig zerrissen und verbogen war. Wie es möglich war, diese eisernen Platten loszubrechen und derart zu knicken, wie man eine derartige Arbeit so geräuschlos ausführen konnte, daß davon in der eine Treppe höher gelegenen Privatwohnung nichts gehört wurde, das schien ihm unfaßlich. Der alte Kassierer, der seinem Herrn gegenüber an demselben Doppelpult arbeitete, war dessen Blicken gefolgt.

„Ja … ein Kunststück ist’s – wirklich! Wer hätte das denken können!“ sagte er jetzt kopfschüttelnd.

Herr Robert Krüger nickte seinem langjährigen Mitarbeiter freundlich zu.

„Sie haben das Richtige getroffen, Herr Meisel,“ meinte er dann sinnend, „ein Kunststück, ja, das ist’s. Beinahe könnte man so etwas wie Hochachtung vor diesen Einbrechern empfinden! Nur schade, daß dieses Gefühl an die zweitausend Mark kostet.“

„Vielleicht bekommen wir sie wieder,“ wollte Meisel schüchtern trösten.

„Ich glaube nicht daran, wenn auch der Kommissar so hoffnungsfreudig tat! Die Kerle haben ja keine, aber auch nicht die geringsten Spuren hinterlassen. Und überhaupt … Unsere Kriminalpolizei!“ Krüger ließ seine wohlgepflegte Hand schwer auf die Platte des Pultes fallen. „Nein, aber was wir beizeiten hätten tun sollen, – einen neuen Geldschrank anschaffen! Dies unmoderne Ding da ist doch den heutigen Werkzeugen der Einbrecherzunft nicht mehr gewachsen! Das sagt ja Kern auch!“

Der alte Kassierer schüttelte langsam den weißen Kopf. „Wer denkt aber gleich an so etwas,“ meinte er bedächtig. „Ich bin nun doch schon sechsundzwanzig Jahre hier, und …“

Da öffnete sich die niedrige Tür und einer der Angestellten fragte, ob der Kriminalkommissar Herrn Krüger auf kurze Zeit sprechen könne.

„Ich lasse bitten …“

Die Unterredung zwischen den drei Herren hatte nun schon eine ganze Weile gedauert. Aber Kern vermochte trotz aller möglichen Fragen auch nicht den geringsten Anhaltspunkt für den oder die Täter zu finden. Denn wie ihm Herr Krüger mitgeteilt hatte, war das Geschäftspersonal seit Jahren bis auf die Kutscher herab dasselbe geblieben. Und doch sagte sich der Kommissar nicht zu Unrecht, daß die Einbrecher mit der Örtlichkeit recht vertraut sein mußten, um dieses Stücklein überhaupt zu wagen. Die Ausführung zeigte in den feinsten Einzelheiten eine solche Vertrautheit mit den Räumlichkeiten und sonstigen Verhältnissen im ‚Bunten Bock’, daß die Täter vorher sich orientiert haben mußten. Aber auf welche Weise? – Und dahinter konnte Kern nicht kommen.

Herr Krüger hatte dem Kommissar eine Zigarre angeboten, die dieser als passionierte Raucher sofort anzündete. Nachdenklich nahm er jetzt einen langen Zug und blies dann den Rauch langsam von sich.

„Hm … Sagen Sie, Herr Krüger, haben Sie vielleicht in letzter Zeit Handwerker im Hause gehabt?“ begann Kern aufs neue.

„Ja – das wohl. Aber nur wenige Tage. Ich habe die elektrische Klingelleitung verlegen lassen.“

„Wer hat die Arbeiten ausgeführt?“ fragte der Kommissar lebhaft.

„Der Elektromechaniker Hamann.“

„So – der aus der Hundegasse?“ –

Der Kaufmann nickte bejahend.

„Und wie viele Leute sind beschäftigt gewesen?“

„Ein älterer Geselle und ein Lehrling.“

„Haben die beiden Leute auch hier im Privatkontor gearbeitet?“

„Gewiß. Auch dieses Haustelephon haben sie anders angeschlossen.“

„So – so. Na, das wäre wenigstens etwas,“ meinte Kern in seiner zerstreuten Art, indem seine Augen unruhig durch das Zimmer irrten. Sein trostloses Gesicht mit der ungesunden Gesichtsfarbe war in der letzten Zeit noch schmaler geworden. In demselben Maße hatte sich seine Nervosität gesteigert. Denn die Hoffnungen, die er auf Jakob Fischers Spürtalent in der Müllerschen Sache gehabt, wollten sich durchaus nicht verwirklichen. Und jetzt war zu allem Unglück noch diese neue Geschichte ihm aufgehalst worden! Der Inspektorposten war wieder in der nebelgrauen Ferne verschwunden.

Der Kommissar seufzte tief auf. Dann erhob er sich und reichte Herrn Krüger die Hand. „Vielleicht spreche ich morgen nochmals vor,“ sagte er im Hinausgehen. „Jedenfalls will ich alles versuchen, trotzdem …“ Und dann zog er die Schultern hoch, als ob er sagen wollte: ‚Viel Hoffnung habe ich ja nicht.’

Kern begab sich aus dem ‚Bunten Bock’ geraden Wegs zu dem Mechaniker Hamann. Mit diesem hatte er es leicht; denn das, was er wissen wollte, erfuhr er schon in wenigen Minuten. Beinahe hätte er sich verraten, als Hamann ihm den Namen des Lehrlings nannte, der vor rund vier Wochen im ‚Bunten Bock’ mit tätig gewesen war. Aber es gelang ihm schnell, die innere Freude zu verbergen. Und als er dann den höflichen und vor der Kriminalpolizei mehr wie respektvollen Geschäftsinhaber verließ, schärfte er ihm strengstes Stillschweigen ein.

„Wenn auch gegen Ihre Angestellten keinerlei Verdachtsmomente vorliegen, ich Ihnen im Gegenteil schon heute sagen kann, daß dieselben für unsere Untersuchung gar nicht in Betracht kommen, so ist es doch besser, die Leute erfahren nicht, wer sich hier nach ihnen erkundigt hat. Derartiges dringt leicht ins Publikum und erschwert uns nur unsere Arbeit.“

Und Herr Hamann versicherte eifrigst, daß über seine Lippen auch kein Sterbenswörtchen kommen würde.

Kern atmete tief auf, als er auf die Straße hinaustrat. Nun galt es nur, Fischer schnell von dieser neuen Entdeckung Nachricht zu geben. Möglich, daß er ihn im Präsidium antrat, obwohl der Beamte sich dort jetzt sehr wenig sehen ließ. Der Kommissar fragte, als er an der Wachtstube im Portal des Polizeipräsidiums vorüberging, den am Schiebefenster sitzenden Schutzmann, ob Fischer anwesend sei.

„Jawohl – er ist bei Herrn Rat Scheller oben,“ wurde ihm zur Antwort. Befriedigt stieg Kern die Treppe zu seinem Arbeitszimmer empor, nachdem er noch befohlen hatte, Fischer sofort nach beendigtem Vortrag bei dem Polizeirat ihm zu schicken. Es dauerte auch nicht lange, da klopfte es an die Tür, und der Beamte meldete sich.

„Herr Kommissar wollten mich sprechen?“ sagte er, die Hacken leicht zusammennehmend.

„Gut, daß Sie da sind! Hören Sie mal, Fischer, das Netz um diese Flickschusterfamilie zieht sich immer mehr zusammen.“

„So?!“ meinte Fischer nur gedehnt.

„Ja. Ich habe heute erfahren, daß der ältere Albrecht als Lehrling des Mechanikers Hamann ungefähr vor vier Wochen im ‚Bunten Bock’ mehrere Tage beschäftigt gewesen ist. Na, was sagen Sie dazu – da stoßen wir schon wieder auf diesen halbwüchsigen Bengel!“

„Das habe ich schon gewußt,“ meinte Jakob Fischer darauf in aller Ruhe.

„Wie … gewußt?! Und mir sagen Sie kein Wort davon?!“ Kern war gereizt aufgesprungen.

„Ich habe es ja auch erst gestern erfahren, gestern abend,“ beeilte der Beamte sich zu erklären.

„Na … und knüpfen Sie sogar keine Hoffnungen an diese Kenntnis? Zweifellos ist sie für uns doch sehr wertvoll!“

Fischer lächelte trübe. „Wertvoll?! Das scheint so … Aber …“

„Nun, aber?“

„Ja, Herr Kommissar, was helfen uns alle Anstrengungen! Gewiß, wir haben sehr schwerwiegende Verdachtsmomente gegen den älteren Albrecht gesammelt – seine Teilnahme an den beiden Einbruchdiebstählen steht sogar für mich unumstößlich fest, aber … beweisen … beweisen! Was hilft es uns, wenn wir den Bengel verhaften?! – Nichts! – Im Gegenteil, wir warnen dadurch nur seine Genossen – also würde ich von diesem Schritt entschieden abraten.“ – Jakob Fischer machte dabei einen ganz klägliches Gesicht. Die Mißerfolge gingen ihm wirklich sehr nahe.

„Und haben Sie denn jetzt in den zwei Tagen als Schlafbursche bei diesen Seilers nichts erfahren können? Soll denn auch dieser Versuch uns wieder fehlschlagen?!“ Kern lief rief erregt im Zimmer auf und ab.

„Nichts Bestimmtes, Herr Kommissar, jedenfalls keine unzweifelhaften Beweise für die Schuld des Hans Albrecht. Denn der andere Junge, der Heinrich Seiler, der hat mit den Sachen nichts zu tun. Das ist ein mißtrauischer, wortkarger und verträumter Bengel, der mich kaum beachtet. Die Mutter ist ja zutraulicher, aber … so eine gute, anständige Frau! Die weiß von nichts, ahnt nicht einmal, daß es in ihrem Haus so schlechte Menschen geben könnte! Im Gegenteil – sie singt der Familie Albrecht ein reines Loblied, weil sie sich jetzt bei dem Tode des Mannes ihrer so angenommen haben.“

„Das scheinen Sie sich ja schon recht weit in das Vertrauen dieser Frau eingeschlichen zu haben,“ meinte Kern mit unangenehmem Lächeln.

„Die ist eigentlich glücklich zu preisen, daß der … der Kerl gestorben ist. Sie muß schreckliche Tage mit dem dem Trunke völlig ergebenen Mann verlebt haben. Jetzt merkt man’s ihr recht an, wie sie langsam aufatmet.“

„So … so! Was Sie so alles herauskriegen, Fischer, wirklich bewundernswert. Und dabei sind Sie doch erst zwei Tage dort. Schade, daß uns Ihre Seelenstudien nicht weiter helfen!“ Der Kommissar begann spöttisch zu lachen, – etwas, das den Beamten schon lange geärgert hatte. Alles ertrug er, nur nicht diese … niederträchtige höhnische Art des Vorgesetzten. Trotzdem sagte er in seinem gewöhnlichen Ton:

„Wenn der Herr Kommissar sich von einem weiteren Aufenthalt bei Seilers nichts versprechen, kann ich ja auch wieder fortziehen. Ich habe der Frau zwar schon das Geld für den ganzen Monat vorausbezahlt, aber …“

„Nein – bleiben Sie! Ich habe jetzt die feste Überzeugung, daß die Lösung dieser rätselhaften Einbrüche nur dort draußen in der Gneisenaustraße zu finden ist. Lassen Sie nichts, nichts unversucht, Fischer! Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen auch noch einen der jüngeren Beamten zur Verfügung.“ –

Aus Kern sprach jetzt deutlich die Furcht, daß der Kriminalbeamte, da er seine Aufgabe für aussichtslos hielt, in seinem Eifer nachlassen könnte.

„Nein, ich danke schön, Herr Kommissar! Ich arbeite gern allein,“ antwortete Fischer schnell. „Ich wüßte auch nicht, was ein Kollege da helfen sollte,“ fügte er erklärend hinzu.

„Gut, – gut, ganz wie Sie wollen. Weiter habe ich dann nicht für Sie! In der Krügerschen Sache ist Wendland tätig.“ –

Jakob Fischer stieg sehr langsam die Treppe hinab und ging dann an der Wachtstube vorbei durch das Portal, blieb vor dem Eingang stehen und zündete sich eine Zigarette an. Der warme Sonnenschein tat ihm wohl, und mit den Augen des Naturfreundes betrachtete er jetzt den frisch sprossenden Rasen in den Anlagen vor dem Polizeipräsidium, sah die Sperlinge auf der Straße ab und zu fliegen und – suchte schleunigst das unangenehme Empfinden hier in der frischen Luft abzuschütteln, das ihn jedesmal bei einer Unterredung mit dem Kommissar überkam.

Trotzdem Fischer nun schon jahrelang unter Kern gearbeitet hatte, und dieser ihm auch auf seine Art zweifellos wohlwollte, – niemals hatte er für den Vorgesetzten auch nur die geringste Sympathie empfunden. Dazu waren schon beider Charaktere viel zu verschieden. Der nervöse Kommissar, ehrgeizig und nach oben daher kriecherisch, und der ruhige, beinahe zu ruhige Fischer waren Gegensätze, bei denen auch nicht einmal ein Ausgleich möglich war. Daß sie lange im Guten miteinander ausgekommen waren, wunderte den Beamten selbst. Jedenfalls trug nicht Kern die Schuld daran. Denn seine spöttische Art und Weise hatte schon manchen anderen verletzt.

Jakob Fischer lächelte jetzt vor sich hin. Er wußte ganz genau, warum der Kommissar die Untersuchung mit solcher Hast führte, warum die Mißerfolge ihn ganz krank machten. Der Inspektorposten … das lockte … Ja; und er sollte ihm die Lorbeeren verdienen helfen, und nachher! Kern hatte ein sehr schlechtes Gedächtnis für den Wert seiner Untergebenen.

‚Abwarten,’ dachte der Kriminalbeamte, warf das Mundstück der Zigarette auf das Pflaster und ging davon.

 

9. Kapitel.

„Guten Abend,“ sagte Fritz Werner freundlich, als er die Stube betrat. Frau Seiler, die an dem Tisch am Fenster saß und einige Löcher in ihres Sohnes Alltagsjacke ausbesserte, nickte ihm zu.

„Schon zu Hause?“ meinte sie erstaunt. „Es ist ja kaum sechs Uhr.“

„Wir haben heute früher aufgehört, es ist ja Montag!“ lachte der Arbeiter harmlos vergnügt, hing seine Mütze an den Nagel und stellte seine Blechflasche, in der er sich kalten Kaffee mit zur Arbeitsstelle nahm, auf das Fensterbrett.

„Ach so!“ Über Frau Seilers blasses Gesicht huschte eine dunkle Wolke in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann, der meist am Montag überhaupt nicht zur Arbeit gegangen war. –

Fritz Werner zog sich einen Stuhl an den Tisch heran und ließ sich schwer darauf fallen, stüzte dann beide Arme auf die Tischplatte und gähnte herzhaft.

„Ich bin müde heute, sehr müde, – hu – ja!“ Er lehnte sich zurück und betrachtete die eifrig nähende Frau.

„Na, und Sie, Frau Seiler, was haben Sie so den Tag gemacht?“ fragte er, um eine Unterhaltung anzufangen.

„Wie immer, Herr Werner, wie immer,“ meinte sie aufseufzend.

Beide schwiegen dann. Fritz Werner schaute zum Fenster auf die Straße hinaus und schien an irgend einen fernen Gegenstand zu denken. Seine nicht gerade saubere Hand fuhr gedankenlos über den dünnen, dunklen Schnurrbart hin. Dann blinzelte er mit den Augen, wie es die Kurzsichtigen zu tun pflegen. Schließlich gähnte er wieder.

Es war nichts dagegen zu sagen. Jakob Fischer spielte seine Rolle als Arbeiter ebenso gut, wie es ihm auch gelungen war, sein Äußeres zu verändern.

Jetzt erhob er sich mit einem Mal, lehnte sich mit einer Hand schwer auf den Tisch und zog den rechten Stiefel aus. Als er ihn sich dann genauer, besonders die Sohle, beschaute, sagte er ärgerlich: „Wieder kaputt, kost’ wieder Geld. Ob man zu dem Schuster da oben geht?“ Dabei wies er mit dem Daumen in die Höhe.

„Ja, gewiß, Herr Werner, ich kann’s nur empfehlen. Der Albrecht ist billig und …“

„Na, gut, dann will ich … Hm, haben Sie nicht ein paar Pantoffeln für mich, Frau Seiler? Ich kann doch nicht den Abend mit einem Stiefel herumlaufen!“ – Dazu lachte er wieder so behaglich. Die Frau hatte schnell das Gewünschte herbeigebracht.

„Die sind noch von ihm,“ meinte sie erklärend. Fritz Werner kehrte sich nicht darum, daß es Sachen eines eben Verstorbenen waren. Dann stieg er langsam die knarrende, ausgetretene Treppe empor. Aber je höher er kam, desto vorsichtiger wurde er. Schließlich stand er vor der Tür zu der Albrechtschen Wohnung. Gehört hatte ihn sicher niemand, denn auf den Pantoffeln war er die letzten Schritte wie ein Raubtier so leise geschlichen.

Er lauschte angestrengt. In der Stube wurde gesprochen. Leider konnte der Lauscher kein Wort verstehen. Nun schaute er sich um. Die Familie Albrecht bewohnte eine sogenannte Giebelstube. Fritz Werner oder besser Jakob Fischer sah auch, daß rechts und links von der Stubentür noch zwei Türen in die daneben liegenden Bodenkammer führten. Und da lehnte auch eine Leiter, mit der man in den Bodenraum gelangen konnte, der über der Stube lag.

Diese Leiter besah sich Fritz Werner ganz genau. Da hörte er unten im Hause Schritte. Schnell trat er zurück, und nachdem er einige Male fest aufgestampft hatte, als ob er gestolpert sei, klopfte er an. Die Tür wurde von innen geöffnet und in dem Rahmen erschien ein kleines buckliges Männchen, das den Besuch mißtrauisch musterte.

„Sie wünschen?“ fragte er dann, ließ aber die Tür nicht los, als ob er sie dem Fremden im nächsten Augenblick wieder vor der Nase zuschlagen wollte.

Da hob Werner seinen Stiefel empor. „Hier, – da sitzt der Schaden,“ sagte er lachend, „und den sollen Sie reparieren.“ Das Männchen betrachtete noch immer mit seltener Neugierde den vor ihm Stehenden.

„Sie sind wohl der Schlafbursche von Seilers?“ fragte er dann mit einer Stimme, die liebenswürdig klingen sollte.

„Der bin ich – und heiße Werner – und morgen hole ich den Stiefel wieder ab – nein,“ verbesserte er sich schnell, „ich muß ihn noch heute haben, wenn’s auch noch so spät ist. Denn ich gehe morgen schon um fünf Uhr zur Arbeit, da schlafen Sie noch. Also, Sie machen’s mir, nicht wahr?“

Der bucklige Flickschuster war ganz erstaunt über diese kurzangebundene Art.

„Ja, ja, ich mach’s schon!“ Dann nahm er Werner den Stiefel ab. „Der Karl bringt ihn, wenn heute nicht, da doch bestimmt morgen früh. Die Jungens sind ja doch augenblicklich außer Arbeit, können ja dann wieder weiterschlafen, – adjes!“ Die Tür wurde zugemacht, und Fritz Werner stieg geräuschvoll die Treppe hinab.

Als er wieder am Tisch Frau Seiler gegenübersaß und in dem Buch blätterte, aus dem Heinrich seinem Vater früher immer vorgelesen hatte, kam dieser aus der Stadt zurück. Mürrisch sagte er guten Abend, und auch die Fragen seiner Mutter beantwortete er nur widerwillig. Er setzte sich auf die Ofenbank und starrte vor sich hin.

„Bist du bei dem Doktor gewesen?“ fragte nach einer Weile Frau Seiler wider.

„Ja.“ –

Fritz Werner legte das Buch beiseite und zog umständlich seine große Nickeluhr hervor. Wieder gähnte er. Dann schaute er zu der arbeitenden Frau hinüber.

„Sie könnten mir etwas zu essen besorgen,“ sagte er bescheiden. „Vielleicht holst du mir etwas,“ wandte er sich dann plötzlich an Heinrich.

„Ja – ja, – ich habe auch nichts zu Hause als Brot,“ warf Frau Seiler ein. So wurde denn Heinrich nach etwas billiger Wurst und einer Flasche Bier zum nächsten Kaufmann geschickt. Als er gegangen, fragte der Arbeiter schnell: „Ist Heinrich immer so – so mürrisch?“

„Ach nein. Ich weiß auch nicht, was ihm fehlt. Ob ihn ‚seine’ Krankheit so – verändert hat?“ Mit ‚seine’ meine Frau Seiler die ihres Mannes. „Früher war er ganz anders, immer lustig – hat viel dumme Streiche gemacht, ja, aber …“ Dann setzte sie ruhig einen neuen Flicken auf den linken Ärmel von Heinrichs Jacke.

Fritz Werner sprach weiter über den Jungen, fragte, was er werden solle, ob er gut lerne. Und die Frau, die seit Jahren niemand gehabt hatte, der mit ihr ein vernünftiges Wort wechselte, ging dankbar auf dieses Gespräch ein. Dann aßen sie zu Abend, saßen alle drei um den Tisch und ließen es sich gut schmecken. Fritz Werner erzählte von seiner Soldatenzeit, erzählte so lustige Schwänke von dem Hauptmann, der nur immer schimpfte und schrie und doch nie Major wurde, daß auch der Junge lachen mußte. An diesem Abend freundeten sich die beiden etwas an. Und Frau Seiler freute sich darüber. Denn sie mochte den vergnügten und doch so bescheidenen Menschen ganz gut leiden …

Gegen zehn Uhr gingen sie zu Bett. Heinrich und seine Mutter schliefen in der Küche. Fritz Werner in der Stube. Bald hörte der Junge durch die Tür die Schnarchtöne, die bald anschwollen, bald verstummten. Und Heinrich Seiler dachte sich: ‚Der schnarcht noch lauter als der Vater.’ Er selbst konnte nicht einschlafen. Er grübelte und grübelte, wie er’s fertig bringen könnte, die Küche zu verlassen, ohne daß die Mutter es hörte. Er hatte ja das niedrige Fenster schon ein klein wenig offen gelassen, um schneller hinausschlüpfen zu können. Aber bis er sich die Kleider, die Schuhe angezogen, da war die Mutter längst wachgeworden. Eine ganze Weile lag er nun still und lauschte auf ihre regelmäßigen Atemzüge.

Es mußte gewagt werden – mußte! Die Ginsterschlucht lockte ihn, es zog ihn hin, als ob er dort etwas Besonderes finden, entdecken würde. Nicht als ob’s die Abenteuerlust allein gewesen wäre! Nein, sein Denken war in letzter Zeit seltsam reif geworden. Und heute hatte er’s ja in großen Buchstaben an der Litfaßsäule gelesen: Dreihundert Mark Belohnung – dreihundert Mark! Das reizte, das spornte ihn an, alles zu wagen.

Leise erhob er sich. Jetzt knarrte die Diele. Sein Herz begann ihm bis in den Hals hinauf zu klopfen. Aber die Mutter atmete ruhig weiter.

Draußen schien der Mond hell. Und so konnte Heinrich in der Stube wenigstens etwas sehen. Warum Werner da drüben auch gerade jetzt mit dem Schnarchen aufhören mußte; das hatte so schön alles übertönt.

Einer seiner Stiefel glitt ihm aus den Händen und fiel polternd auf die Diele. Heinrich warf sich schnell nieder. Aber nichts regte sich. Er wurde nun dreister; und endlich, endlich – ein Schwung, er war auf dem Fensterbrett, ein Satz, er stand auf der Erde … War frei! Blitzschnell glitt er in den dunklen Schatten, den das Stallgebäude warf. Hier wartete er, horchte und spähte umher.

In der Ferne schlug eine Uhr. Er zählte die Schläge. Zwölf – ihn überlief es kalt. Und dann schaute er in den hellen Mondschein, der alle Gegenstände so klar hervortreten ließ; die Regung von Furcht verschwand wieder. Bald huschte eine schattenhafte Gestalt um die Stallecke und verlor sich in den Feldern.

Fritz Werner hatte auch in dieser Nacht seine Rolle vorzüglich gespielt. Er war gar nicht schlafen gegangen, sondern legte sich nur in Kleidern aufs Bett. Und dann begann die Komödie mit dem Schnarchkonzert. Er wollte den mißtrauischen Jungen und seine Mutter glauben machen, daß er fest schlafe. Sein Plan war, noch in dieser Nacht sich oben auf dem Boden über der Stube des Flickschusters Albrecht auf die Lauer zu legen. Vielleicht konnte er auf diese Weise etwas herausbringen. Und wenn er’s so Nacht für Nacht treiben sollte!! Jakob Fischer war zäh! Und den versäumten Schlaf konnte er dann ja am Tage in seiner Wohnung in der Stadt nachholen. Denn Arbeiter in der Klischeschen Sägemühle war er ja nur für die Seilers und die Nachbarn! –

In den Pausen, die er bisweilen in seinem Schnarchkonzert eintreten ließ, lauschte er angestrengt. Da war’s ihm, als ob er nebenan in der Küche Geräusche hörte.

Blitzschnell, aber völlig geräuschlos, erhob er sich und schlich an die Küchentür. Er schaute durch das Schlüsselloch und konnte so gerade das niedrige Fenster, das der Mond hell beschien, übersehen.

Jetzt – ein dumpfer Fall da drinnen, dann ein Schatten, der sich in seiner Sehlinie bewegte. Wieder vergingen Minuten; Jakob Fischer rührte sich nicht.

Und dann – dann sah er Heinrich Seiler sich zum Fenster hinausschwingen. Blitzschnell eilten seine Gedanken, er überlegte, was zu tun war.

Der Mond schien durch den offenen Fensterflügel in die Küche und zeichnete auf den blank gescheuerten, mit weißem Sand bestreuten Dielen ein helles Viereck. Von der Kirche der Vorstadt tönten die Schläge der Uhr hallend durch die Frühjahrsnacht.

 

10. Kapitel.

Lautlos schwebte um die wunderbar gekrümmten Äste der Kiefer am Rande der Ginsterschlucht eine Eule. Bald strich sie höher, bald niedriger dahin – immer lautlos, gespensterhaft. Jetzt hatte sie sich in den obersten Zweigen niedergelassen. Nun war es still, so wunderbar einsam in der Ginsterheide. Kein Laut durchdrang das Schweigen der Nacht, keine Bewegung in den Sträuchern, in den gelblichen, langen Gräsern. Wie Frühjahrsdunst lagerte es über der Erde. Der scharfe Geruch der verwitterten Blumenpracht des entschwundenen Sommers wurde gemildert durch die Ausstrahlungen des neuen, überall keimende Lebens. So war’s denn seltsam feierlich in dieser Einsamkeit, die der Mond in ein helles Silberlicht tauchte, ein Licht, das so dunkle Schatten zeichnete, so eigenartige Gebilde aus den Sträuchergruppen und Ginsterbüschen schuf.

Da kam’s über die hellbeschienene Erde dahergeschlichen, geräuschlos, behutsam. Ein Körper glitt über den Boden, indem er jede Deckung, jeden Schatten ängstlich ausnutzte. Bisweilen machte er Halt. Dann schien’s, als lausche der Betreffende in die Nacht hinein. Aber nichts regte sich. Weiter schob sich der Körper vorwärts, der Schlucht und der Kiefer entgegen.

Mißtrauisch hatten die an diese eigene Beleuchtung gewöhnten Augen der Eule das Nahen des Eindringlings verfolgt. Jetzt schien’s dem Tier auf seinem Sitz nicht mehr geheuer. Es schwang sich in die Luft und begann weite Kreise über der Schlucht zu ziehen. Indessen war der bebende Körper näher gekommen. Er lag wie ein dunkler Fleck auf der hellbeschienenen Erde, ganz dicht am Rande des Abhangs, vielleicht zwei Meter seitwärts von dem verkrüppelten Baum. Mehrere Minuten lang blieb er so liegen. Und über ihm schwebte der Nachtvogel dahin, mißtrauisch, neugierig. Aus der Ferne hallte der klagende Ruf eines Käuzchens herüber, schwoll an, verhallte in einem schrillen Ton.

Heinrich Seiler wollte in dieser Nacht das Geheimnis der Ginsterschlucht auf jeden Fall aufdecken. Ebenso wie die Erlebnisse der letzten Zeit seinem Denken eine andere Richtung gegeben hatten, so war auch mit der erwachten Energie ein seltener Mut über ihn gekommen. Wenn er bei seinen früheren Ausflügen in die Ginsterheide sich vor den Schrecken der Nacht, vor jedem wispernden Blatt gefürchtet hatte, so ließ er jetzt sein Handeln durch diese Regungen nicht mehr beeinflussen, ging vielmehr an seinem Vorhaben mit einer Überlegung und einer Vorsicht heran, die man bei seinesgleichen wohl kaum so leicht finden dürfte.

Als er noch auf seinem Lager in der Küche gesessen und den Atemzügen der Mutter gelauscht hatte, als er nur darauf wartete, daß ihr tiefer Schlaf ihm ein heimliches Verlassen des Hauses ermöglichte, da waren schon von ihm alle Für und Wider seines Planes reiflich erwogen worden. Er glaubte die Brüder Albrecht heute bestimmen daheim. Wenigstens waren sie, soweit er gehört hatte, abends nicht mehr fortgegangen. Und er wußte ja auch, daß sie ihre Besuche in der Ginsterschlucht stets auf eine frühere Stunde verlegten. Zwölf Uhr hatte es geschlagen, als er in dem Schatten des Stalles ängstlich lauschend stand. Da konnte er sich schon sicher fühlen. Die Brüder lagen dort oben in der Giebelstube in ihren Betten und schliefen. Heute würden sie ihn nicht stören, heute würde er gefahrlos hinter das Geheimnis der Ginsterschlucht kommen.

So war Heinrich Seiler dann durch die Straßen gehuscht, durch den schweigenden Wald geeilt und lag jetzt am Rande des Abhangs, keine fünf Meter von der Stelle entfernt, wo damals Hans Albrechts Körper so plötzlich aus dem Gestrüpp aufgetaucht war und sich dann so gewandt emporgeschwungen hatte. Heinrich Seiler lauschte angestrengt. Nochmals vergewißerte er sich, daß er allein in der Heide war. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte umher – hinunter in die Tiefe der Schlucht, deren östlicher Abgang in schwarze Finsternis gehüllt war, hinüber zu der ein-samen Kiefer, die ihm mit der Lösung des Rätsels engen zusammenzuhängen schien. Da hörte er den unheimlich klagenden Schrei des Käuzchens, sah auch die Eule um den verkrüppelten Baum schweben. Aber ihm focht das nicht an. Jetzt lächelte er in dem Gedanken, daß er noch vor roter Zeit sicherlich vor diesen Tönen, vor diesem lautlos durch die Luft streichenden Vogel zusammengeschauert wäre. Wie töricht war er doch gewesen – und wie glich er jetzt den Brüdern Albrecht, die sich vor nichts fürchteten, und ihren Mut sogar bei Unternehmungen erprobten, die sie ins Zuchthaus – für Heinrich Seilers Phantasie eine zweite Hölle – bringen konnten.

Über der Ginsterheide und ihren Geheimnissen lagerte die Einsamkeit mit ebenso mächtigem Schweigen wie vorher. Selbst das leise Säuseln und Schwirren des durch die Büsche und Gräser ziehenden Lufthauchs fehlte in dieser windstillen Nacht. Da erhob sich Heinrich langsam und schlich vorwärts im Schatten einiger Ginsterstauden auf die Kiefer zu. Jetzt hatte er sie gerade vor sich; er kroch lautlos, wie eine Schlange, noch näher heran. Mit den Händen tastete er den Boden vor sich ab, legte Zweige und Steine beiseite, damit kein Brechen, kein Knacken oder Anstoßen Geräusch machte. Nur zentimeterweise schob er sich vor, alle Sinne waren gespannt. Seine Augen wanderten unablässig im Kreise umher, seine Ohren lauschten angestrengt. Und jetzt – jetzt konnte er den Arm ausstrecken, berührte schon die rissige Rinde der Kiefer. Da duckte er sich wieder tief auf die Erde und lag längere Zeit still, um für den gefährlichsten Teil seines Vorhabens neue Kräfte zu sammeln.

Er fühlte mit der Hand nach dem Kolben der Pistole, die er sorgfältig auf der Brust verwahrt hatte. Es war das eine jener billigen Feuerwaffen, wie man sie in jedem Eisengeschäft kaufen kann – großkalibrig, Vorderladereinrichtung mit Zündhütchen. Die Pistole hatte Heinrichs Vater gehört. Jetzt hatte er sie heimlich an sich genommen und zusammen mit den Päckchen Pulver und den wenigen großen, runden Kugeln im Stall versteckt gehabt. Er wußte, wie alle Jungen von der Straße, mit Schußwaffen umzugehen, und hatte sie heute scharf geladen mitgenommen. –

Jetzt, als er den hölzernen Kolben und die kalten Eisenteilen mit seinen Fingern berührte, überkam ihn doch plötzlich ein Gefühl der Unruhe. Furcht war es nicht. Aber blitzschnell überlegte er, ob er es denn wirklich wagen dürfe, von der Waffe im Notfall Gebrauch zu machen. Er zögerte. Sollte er sie nicht lieber hier ins Gras legen – war’s nicht vielleicht doch besser?

Aber – ja, wenn er nun auf die Brüder Albrecht stieß, sie ihn hier überraschten, hier oder dort hinter jenem Gestrüpp, das sich so dicht vielleicht zwei Meter unter dem Fuß der Kiefer ausbreitete, hinter jenem großen Gebüsch dort, das sicherlich den Eingang zu einem Schlupfwinkel verbarg? Heinrich Seiler behielt die Waffe bei sich. Und nun richtete er sich wieder auf und schob sich noch weiter vorwärts, so daß sein Körper halb über dem Rand der Schlucht hing. Seine rechte Hand schob die Gräser beiseite, die den Fuß des Baumes dicht umstanden. Er brauchte nicht lange zu suchen. Was er vermutet hatte, fand er bestätigt. Um die Kiefer war, verborgen unter dem üppig wuchernden Gras, ein dicker Strick geschlungen.

Jetzt begann Heinrichs Herz doch plötzlich schneller zu schlagen. Er stand vor der Entscheidung. Er brauchte sich nur an dem Strick hinabgleiten zu lassen, dort unten in das Gestrüpp einzudringen – dann mußte der Eingang zu der Höhle vor ihm liegen, er konnte hinein, würde endlich sehen, was die beiden Albrechts oft hierher gelockt hatte. Und weiter – wenn er dann da unten Beweise fand, daß die Brüder jenen Diebstahl bei dem Uhrmacher Müller ausgeführt hatten, so konnte er zur Polizei gehen und sagen: ‚Das und das weiß ich.’ Und dann würden sie ihm Geld schenken, weil er dem Uhrmacher wieder zu seinem Eigentum verholfen und die Täter überführt hatte. Das Geld sollte dann die Mutter bekommen und … Heinrich Seiler lenkte gewaltsam seine Gedanken von diesen Zukunftsträumen ab. Nochmals ein vorsichtiger Blick in die Runde – dann ergriff er das Tau, ließ sich langsam hinabgleiten und hing jetzt in der freien Luft. –

So vorsichtig er auch gewesen, er hatte es doch nicht hindern können, daß ein wenig Erde raschelnd herabgerieselt war. Lauschend hielt er den Atem an und suchte vorsichtig das Ende des Taues zwischen die Füße zu bekommen. Auch das gelang. Langsam rutscht er, als alles ruhig blieb, tiefer, bis er auf einem Vorsprung Halt fand. Behutsam setzte er die Beine auf den Boden. Vor sich hatte er jetzt jenes dichte Gestrüpp von Brombeerbüschen und Ginsterstauden, aus dem Hans Albrecht damals so plötzlich hervorgeschnellt war. Aber vergebens suchte er dieses Gewirr mit den Blicken zu durchdringen. Gerade diese Seite der Schlucht lag im Schatten.

Wieder begann sich Heinrich Seilers Herzschlag zu beschleunigen. Er hörte in dieser beängstigenden Stille die pochenden Töne. Als er emporschaute zu der verkrüppelten Kiefer, die über ihm ihre wenigen Äste gegen den hellen Himmel ausstreckte, sah er die große Eule um den Baum schweben, geisterhaft geräuschlos. Und jetzt schrie ganz in der Nähe das Käuzchen, klagend – hui i hui i.

In dem Augenblick hätte Heinrich Seiler etwas darum gegeben, wenn er weit – Meilen weit fort gewesen wäre. Eine wahnwitzige Angst überkam ihn plötzlich, er zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Schon streckte er seine Arme aus und faßte das Tau wieder fest, um sich emporzuziehen. Aber seine bebenden Finger versagten. Die Furcht hatte seine Muskeln wie im Starrkrampf gelähmt. – –

Jakob Fischer war, nachdem Heinrich Seiler sich kaum aus dem Fenster geschwungen hatte, durch die Stubentür auf den Hausflur hinausgetreten und öffnete vorsichtig die von innen verschlossene Haustür, in deren Schloß der Schlüssel glücklicherweise steckte. Dann schlich er vorsichtig an die Hausecke, und konnte von hier gerade noch zur rechten Zeit den über den Hof kommenden Jungen bemerken, um sich schleunigst wieder in den Hausflur zurückzuziehen. Er wartete nun, bis Heinrich ein gutes Stück voraus war und folgte ihm dann unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. So lange es nur durch die Straßen ging, bot dem Kriminalbeamten diese Jagd keine Schwierigkeiten. Als dann aber der Schatten des Waldes beide aufnahm, da mußte Fischer seine ganze Umsicht gebrauchen, um die Spur nicht zu verlieren. So kamen sie denn schließlich in die Heide – ein Gebiet, das dem Beamten ganz unbekannt war. Hier, wo das Mondlicht die Gegend beinahe in Tageshelle tauchte, verlor Fischer den Jungen, der auf Händen und Füßen vorwärtskroch, zwischen den Sträuchern bald aus den Augen. Trotzdem gab er die Sache nicht auf. Er hatte sich doch die Richtung gemerkt, in den Heinrich sich bewegte, und verfolgte diese nun, indem er ebenfalls auf allen Vieren über den Boden glitt.

Fischer, der durch seinen Beruf an Anstrengungen aller Art gewöhnt war, merkte doch bald, wie sehr dieser Art der Fortbewegung ihn ermüdete. Öfters machte er Halt, um sich zu verschnaufen. Jetzt hörte er links von sich ein Käuzchen schreien. Argwöhnisch richtete er sich auf, weil er an irgendein Signal dachte, und schaute um sich. Aber nichts regte sich. Die Heide schien verlassen. Und von Heinrich Seiler konnte er trotz eifrigsten Spähens auch jetzt nichts erblicken.

Ziemlich mißgestimmt setzte der Beamte seinen anstrengenden Marsch wieder fort. Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als er abermals, jetzt aber bedeutend näher, den Ruf des Käuzchens vernahm. Fischer lauschte. Nichts – nichts. Gerade wollte er sich aufrichten, um besser Umschau zu halten, da – schlug ein dumpfer Knall an sein Ohr, ein Knall, den er sich nicht recht erklären konnte.

Ein Schuß? –

Dafür war die Detonation zu dumpf gewesen. – Aber was konnte es sonst gewesen sein? –

Vergeblich grübelte er darüber nach. Nicht lange, denn der Knall war von vorn gekommen – also vorwärts! Alle Müdigkeit war vergessen; die Erwartung spornte ihn an, daß er noch in dieser Nacht den Erfolg seiner wochenlangen Bemühungen vor sich sehen würde. Wie dieser Erfolg sein, worin er bestehen würde, darüber dachte Jakob Fischer nicht lange nach. Schon stürmte er, jetzt aufgerichtet und daher deutlich sichtbar, mit weiten Sätzen dahin, übersprang niedriges Gestrüpp, umging größere Gesträuchgruppen und machte nicht eher Halt, als bis er keuchend am Rande einer tiefen Schlucht stand. Nur mit Mühe hatte er so plötzlich seinem Dahinstürmen Einhalt tun können, und Minuten vergingen beinahe, bevor seine jagenden Pulse sich soweit beruhigt hatten, daß er Umschau halten konnte.

Vor ihm fiel steil wie eine Wand die eine Seite der Schlucht ab, tief im Schatten liegend, während die andere von dem Mondlicht klar übergossen wurde. Fischers scharfe Augen glitten prüfend über die nächste Umgebung hin, blieben dann auf der nahen, einsamen Kiefer haften, die kaum zwei Meter rechts von ihm halb über der Schlucht hing und deren wunderliche Astformen er jetzt erstaunt musterte.

Plötzlich schien’s, als ob Fischer wie eine leblose Masse zusammenbrach. Er lag jetzt lang ausgestreckt und bewegungslos da, nur sein Kopf ragte aus den Gräsern hervor und drehte sich langsam hin und her.

So verstrich eine lange Zeit. Den Kriminalbeamten fröstelte. Der scharfe Lauf vorhin hatte ihn warm gemacht und der Erdboden strömte in dieser Frühjahrszeit noch eine ziemliche Kälte aus. Dabei nahm seine schlechte Stimmung wieder zu. Denn allem Anschein nach war auch diese nächtliche Jagd wieder vergeblich gewesen. Wo war der Junge hingekommen, wer hatte den Schuß – wenn’s überhaupt einer gewesen, abgefeuert? Zwei Fragen, auf die Fischer nichts zu antworten wußte, nichts! – Zwar hatte es ihm, als er sich so plötzlich zu Boden warf, geschienen, als ob sich da unten in der Schlucht etwas bewege, als ob Zweige rauschten und brachen. Aber er mußte sich doch wohl getäuscht haben. Denn jetzt rührte und regte sich nichts mehr; nirgends etwas Auffälliges. Das Einzige, – da um die Aste der einsamen Kiefer schwebte lautlos eine Eule, strich höher und niedriger. Jetzt war auch sie verschwunden.

Jakob Fischer machte sich endlich auf den Rückweg. Und während er durch den schweigenden Wald dahinschritt, überlegte er nochmals in aller Ruhe die Ereignisse dieser Nacht. Da kam er zu dem betrübenden Resultat, daß er – sich hatte nasführen lassen. Man hatte ihn nur von Hause weglocken wollen, um dann ungestört neue Unternehmungen vorbereiten zu können. Wer wußte, ob es sich nicht morgen herausstellte, daß irgendwo ein neuer Einbruch verübt worden war – verübt in dieser Nacht, in der Jakob Fischer sich nur einen tüchtigen Schnupfen geholt hatte. Als er jetzt mehrere Male heftig niesen mußte, brummte er vor sich hin: „Geschieht mir ganz recht, mir Anfänger!“

Dabei hatte der Beamte nie so falsch kombiniert, wie gerade heute.

 

11. Kapitel.

Es war am Morgen nach dem nächtlichen Streifzug Fischers in die Ginsterheide. Die Uhr der nahen Franziskanerkirche hatte gerade zehn geschlagen, als vor dem Portal des Polizeipräsidiums ein Taxameter hielt, dem sehr eilig zwei Herren entstiegen. Es waren dies der Kriminalkommissar Kern und ‚seine rechte Hand’, Jakob Fischer. Beide verschwanden in dem Gebäude und stiegen eilig die Treppe zum ersten Stockwerk empor. Hier klopfte Kern an die Tür, an der ein großes Schild mit der Aufschrift ‚Polizeirat Scheller’ hing. Die Beamten traten ein, und während der Kommissar auf den am Fenster an seinem Schreibtisch Sitzenden zuging, blieb Fischer bescheiden an der Tür stehen.

Scheller hatte sich halb umgedreht und musterte den ebenso atemlosen wie aufgeregt Herren mit einem nicht gerade sehr wohlwollenden Blick. Der Kommissar, den Hut in der Hand hin und her schwenkend, stotterte hastig hervor: „Verzeihen Sie mein ungestümes Eindringen, Herr Rat, aber – wir sind in der Untersuchung der letzten Einbrüche einen bedeutenden Schritt vorwärts gekommen.“ –

Diese Worte haspelte er in seiner nervösen Art ab, ohne Betonung, während in seinem gelblichen Gesicht die Augen in geradezu fiebrigem Glanz funkelten.

Scheller zog unwillkürlich interessiert die Augenbrauen hoch. „Was gibt’s denn, Kern? – Nun man los!“ – Da erst sah er den noch an der Tür stehenden Beamten. Er nickte ihm wohlwollend zu und meinte dann scherzend: „Da ist wohl Fischer wieder der Macher, wie?“

„Jawohl, Herr Rat,“ beeilte sich Kern zu erklären, „Fischer hat in dieser Nacht so wichtige Entdeckungen gemacht, daß ich vorschlagen möchte –“

„Halt, halt,“ wehrte Scheller ab. „Nur nicht zu hastig. Zunächst möchte auch ich einmal wissen, was denn eigentlich passiert ist. Daher – kommen Sie näher, Fischer, und erzählen Sie, – aber, bitte, hübsch lang-sam und eins nach dem andern. – Wollen Sie Platz nehmen, Kern, – so, bitte!“ Er zog für den Kommissar einen Stuhl herbei und langte dann nach seiner Zigarrentasche, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. – Scheller war in gewissen Momenten ein sehr gemütlicher Vorgesetzter, wenn auch zugegeben werden muß, daß diese Gemütlichkeit oft nichts als feine Diplomatie war. Er liebte es, tüchtige Beamte weniger durch die Aussicht auf äußere Erfolge, als vielmehr durch die Erwartung eines liebenswürdigen, anerkennenden Wortes von seiner Seite anzuspornen. So bot er auch jetzt dem Kriminalbeamten mit ebenso verbindlichem „bitte, lieber Fischer“ eine Zigarre an, wie er dies beim Kommissar tat. Fischer kannte seinen Vorgesetzten und zögerte daher nicht, sich die Zigarre auch sofort in Brand zu setzen.

„So,“ meinte der Rat dann mit beinahe behaglichem Schmunzeln, und drehte seinen Schreibsessel herum, „nun also ans Geschäft, meine Herren!“

Fischer begann ohne langer Ausschweifungen die Ereignisse der letzten Nacht zu erzählen, wie er den Jungen durch das Fenster steigen sah, bis zu dem Augenblick, als er entmutigt heimkehrte und sich müde und unlustig in seinen Kleidern auf das Bett warf, um sich nochmals – zum wievielten Male wohl? – die Vorgänge ins Gedächtnis zurückzurufen, nachzusinnen, ob er denn wirklich nur genasführt worden war, ob er nicht doch aus dieser seltsamen Verfolgungsjagd irgendwie einen Vorteil ziehen könnte.

„Und wie ich mir das alles so überlegte,“ fuhr er fort, „da kam mir plötzlich die Idee, ob es nicht ganz gut wäre, dem Jungen einfach vor dem Fenster der Küche aufzulauern, ihn am Kragen zu nehmen und dann ihm zu sagen: ‚Das und das habe ich gesehen – nun beichte, wo du gewesen bist!’ –

Als Fischer soweit gekommen war, ließ Scheller eine mißbilligendes „Hm, hm“ hören.

„Ein schlechter Plan, Fischer, sehr schlecht,“ sagte der Rat dann ehrlich. Aber der Beamte erlaubte sich wunderbarerweise jetzt diskret zu lächeln.

„Das sah ich ja auch gerade in dem Augenblick ein, Herr Rat,“ entgegnete der schnell, „als ich in dem Hausflur stand und gerade wieder Tür nach der Straße öffnen wollte. Da sagte ich mir – die guten Gedanken kommen manchmal gerade noch zur rechten Zeit, Heinrich Seiler muß ja noch vor dem Morgengrauen nach Hause kommen, also abfassen tust du ihn sicher, aber ob so ein gewitzter Bengel in der Überraschung ein Geständnis ablegen wird, das ist mehr wie fraglich. Und wie ich da noch so in dem dunklen Hausflur stand, da kam mir mit einemmal die Erinnerung an den Bodenraum über der Stube des Flickschusters Albrecht, an die Leiter; das war die richtige Idee, Herr Rat, wie sich bald herausstellte.“

Fischer tat einige lange Züge, da seine Zigarre auszugehen drohte. Scheller war sichtlich aufmerksam geworden, beinahe ungeduldig.

„Ich schlich also leise die schmale Treppe empor,“ fuhr der Beamte nach der kurzen Unterbrechung fort, „und es glückte mir dank der Übung und dem feinen Tastsinn, ganz ohne Lärm bis oben auf den Bodenraum zu kommen. Ich war klug genug, mich nicht etwa dadurch zu verraten, daß ich die Leiter umstellte. Ich mußte zwar mit aller Gewandtheit mich auf die Balkenlage schwingen, aber jedenfalls gelang es. So lag ich denn da oben, den Kopf dicht an der Öffnung und wartete. Bald darauf hörte ich die Uhr der Vorstadtkirche drei Uhr schlagen. Erst gegen vier hörte ich unten die Haustür gehen und dann leise Tritte, die die Treppe heraufkamen.“

„Einen Augenblick, Fischer! Bisher habe ich Ihren Ausführungen sehr gut folgen können. Ich begreife – Sie vermuteten eben, daß auch die Brüder Albrecht da draußen auf dem abgelegenen Feld irgend etwas vorhatten.“

„Nein, Herr Rat; diese Möglichkeit nahm ich zwar an, rechnete aber auch mit der zweiten, daß nämlich der Junge mich hatte wirklich nur nasführen wollen.“

„So – na, letzteres halte ich für ausgeschlossen. Ich glaube kaum, daß die Burschen Sie in Ihrer Eigenschaft als Beamten erkannt haben. Ist ja auch vorläufig einerlei! Nur das eine noch. Sie sagten, daß Sie die Haustür öffnen hörten. Ja, aber vorhin erzählten Sie doch, daß diese Tür von innen verschlossen war und Sie sie erst aufschlossen, bevor die Hetze auf diesen – ja, richtig, Heinrich Seiler, losging. Wie konnten die Brüder Albrecht denn herein, wenn die Tür nun nicht von ihnen offen gelassen worden wäre? – Da ist mir doch manches unklar.“ – Scheller wiegte nachdenklich den grauen Kopf hin und her.

„Ganz recht, Herr Rat, dasselbe habe ich mir auch schon gesagt. Ich erkläre mir die Sache so, daß die Brüder Albrecht auf gut Glück versucht haben, ob die Tür unverschlossen war. Andernfalls hätten sie eben im Holzstall geschlafen, was bei ihnen öfters vorkommen soll, wie mir Frau Seiler erzählte.“

„Gut, gut, lieber Fischer! Nun aber weiter! – So, hier ist ein Streichholz!“

„Die Schritte kamen also sehr leise und behutsam die Treppe herauf. Die Jungen schlichen wirklich wie die Katzen, öffneten ebenso lautlos die Stubentür und drückten sie hinter sich wieder ins Schloß. Nun hatte ich Herrn Rat ja schon vorhin gesagt, daß ich meine Stiefel mir zum frühen Morgen bestellt hatte; jedenfalls sollte der Flickschuster Albrecht sie mir zuschicken, bevor ich zur Arbeit ging. Das schoß mir jetzt durch den Kopf. Auf diese Weise hatte ich ja eine Ausrede, falls man mich auf meinem Lauscherposten überraschen sollte. Denn da oben blieb ich nicht. So vorsichtig wie möglich kletterte ich herunter und drückte mein Ohr gegen die Stubentür. Und ich hatte Glück. Zwar hörte ich nur wenige Worte, aber sie genügten mir, wenn ich das mir da oben auch noch nicht in demselben Sinn sagen konnte, wie jetzt, nachdem noch anderes dazugekommen ist. Wie gesagt, aus den erregt flüsternden Stimmen hörte ich folgendes heraus: ‚Festhalten, sonst … Verrat … der unten … nachsehen … Stiefel bringen’. – Ich habe mir die Worte genau gemerkt. Also die Worte genügten mir … das heißt, ich trat schleunigst meinen Rückzug an und kam auch unbehelligt unten an, warf mich auf das Bett, nachdem ich mir noch das Jackett ausgezogen und – wartete. Nach wenigen Sekunden klopfte es auch stark gegen die Tür. Ich wartete eine Weile und rief dann „Herein!“. Inzwischen war es draußen ziemlich hell geworden, so daß ich den Eintretenden trotz des Zwielichts erkennen konnte. Es war der ältere der Brüder Albrecht. Er sagte mir ganz freundlich guten Morgen, stellte die Stiefel neben die Tür und wollte, anscheinend beruhigt, wieder gehen. Ich stellte mich sehr schlaftrunken, fragte, wieviel die Uhr sei, sagte, daß ich mittags das Geld dem Vater bringen würde. Dann verließ er die Stube. Daß ich mit den Kleidern im Bett lag, konnte er nicht bemerkt haben, da ich mir die Decke übergeworfen hatte.“

„Sehen Sie, Fischer,“ warf da Scheller triumphierend ein, „da habe ich doch recht gehabt. Die Gesellschaft traut Ihnen nicht!“

„Ja, ja, Herr Rat, sie trauten mir nicht, weil sie dachten, daß ich mit Heinrich Seiler gemeinsame Sache gemacht habe. Aber das muß ich weiter im einzelnen erzählen, sonst wird der Bericht unübersichtlich. Doch ich will mich jetzt kürzer fassen, denn …“ – Fischer sah nach der Uhr, – „wir haben heute Vormittag noch viel zu tun. Frau Seiler bemerkte natürlich sofort das Fehlen ihres Sohnes, machte sich aber keine Sorgen, da sie eben annahm, daß er nicht die ganze Nacht fortgewesen, sondern sich erst gegen Morgen aus dem Staub gemacht hatte. Sie kochte mir Kaffee, fragte mich, ob ich denn heute nicht zur Arbeit ginge, und war ganz besorgt, als ich ihr sagte, daß ich mich krank fühle und zu Hause bleiben wolle. Da sie mich nur als soliden, arbeitsamen Menschen kennt, glaubte sie mir auch wirklich. Ich machte mich in der Wirtschaft nützlich, zerkleinerte auf dem Hof Holz, nagelte einen wackeligen Stuhl zurecht und – wartete sehnsüchtig auf den Augenblick, wo Heinrich Seiler sich endlich wieder einfinden würde. Anfangs war ich erstaunt gewesen, daß er noch nicht zurückgekehrt war, besonders, wo doch die Brüder Albrecht längst heimgekommen waren. Aber schließlich mußte ich mir sagen, daß das auch ebensogut ein Zufall sein könne. Meine Bedenken kamen erst später, als ich bei der langweiligen Arbeit des Holzstapelns die Fortschritte meiner Untersuchungen nochmals so im einzelnen durchging. Und da, Herr Rat, – inzwischen war’s sieben Uhr geworden, – da fielen mir auch die Worte oben an der Albrechtschen Stubentür wieder ein. Als ich nun die Kette meiner Überlegungen so prüfte, mußte ich mir doch sagen, daß dieses Ausbleiben des Jungen recht auffallend war. Sollte er doch nicht mit den Brüdern Albrecht da draußen in der Heide zusammengekommen sein, mich auch nicht haben von Hause weglocken wollen, dann blieb nur das eine übrig. Er hatte etwas anderes in der Heide gesucht, andere Pläne gehabt, die er allein ausführen wollte.

Und für diese Annahme spricht verschiedenes. Zunächst der Umstand, daß der Junge mit so großer Vorsicht sich allein in die Heide begab, daß er sich jener Schlucht in einer Weise näherte, als lauere dort irgendeine Gefahr auf ihn. Weiter dann – warum ist er nicht noch in der Nacht zurückgekehrt, er, der seiner Mutter sicherlich gern die Angst erspart haben würde, ja – Herr Rat, würde, wenn – er eben hätte zurückkehren können! Und hier – hier möchte ich nun die mir erst unverständlichen Worte einfügen, die ich erlauscht habe – ‚festhalten, sonst – Verrat –’. So wie ich jetzt über die Sache denke, gehören diese drei Worte zusammen und beziehen sich – auf Heinrich Seiler!“

Scheller schüttelte ungläubig den Kopf. Aber Jakob Fischer ließ sich dadurch nicht stören.

„Meiner Ansicht ist die, Herr Rat, daß in der verflossenen Nacht da in der Nähe der Schlucht, an deren Rand ich fast eine Stunde lang gelegen habe, ein Verbrechen geschehen ist. Bedenken Sie auch die Detonation, die ich hörte, weiter das Rascheln in der Schlucht. Irgendetwas gibt es dort draußen in der Ginsterheide für uns aufzudecken, Herr Rat, – und wenn der arme Junge mittags noch nicht zu Hause ist, dann – ja, dann, ehrlich gestanden, fürchte ich, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilt.“

Jakob Fischer hatte sich in eine seltene Erregung hineingesprochen. Jetzt schaute er seinen Vorgesetzten wieder fragend an. Aber der blickte in Gedanken zum Fenster hinaus und schwieg. Eine Weile war’s sehr still in dem großen Zimmer. Dann wandte sich Scheller wieder dem Beamten zu.

„Sie beziehen also die Worte ‚festhalten, sonst verraten!’ deshalb auf diesen Heinrich Seiler, weil er bisher nicht heimgekehrt ist. Hm – und – ja, wie legen Sie dieselben aus, – ich meine, wie würden Sie den Satz ergänzen?“

„In folgender Weise. Gesprochen wurde er sicher von einem der Brüder, bestimmt waren die für den Alten, der die Vorfälle der Nacht nicht kannte. ‚Wir wollten ihn festhalten, sonst müssten wir Verrat fürchten. Da floh er und wir – oder er? – schoß auf ihm.’ – Der letzte Satz ist allerdings reinste Phantasie von mir. Der einzige Anhaltspunkt dafür ist eben der Schuß, den ich gehört habe. Denn jetzt glaube ich bestimmt, daß es ein Schuß war.“

„Nicht übel, lieber Fischer, – aber, wie Sie selbst sagen, zu viel Kombination dabei, zu wenig Belege! Na, um nun endlich an das letzte zu kommen, – was haben Sie vor, – wie wollen Sie die Sache zu Ende bringen?“

Jetzt griff auch Kern, der bisher nur den aufmerksamen Zuhörer gespielt hatte, in die Unterhaltung ein. Er wollte nicht, daß man ihn als unnötig ganz ausschaltete. Und daher berichtete er nun schnell, wie Fischer heute zu ihm in die Privatwohnung gekommen sei, und wie sie dann bereits auf der Fahrt hierher einen Plan entworfen hätten. Dabei wußte der Kommissar ganz geschickt die Sache so zu drehen, als ob erst auf seine Veranlassung Fischer seine Unternehmungen derart eingerichtet habe. –

Doch Scheller wußte trotzdem, woran er war.

Noch lange saßen die drei Beamten in des Polizeirats Zimmer und sprachen genau alle Einzelheiten der großen Razzia durch, die mit einem starken Polizeiaufgebot noch heute in der Ginsterheide vorgenommen werden sollte, wenn – wenn Heinrich Seiler bis Mittag sich nicht wieder eingefunden hätte.

 

12. Kapitel.

Etwa gegen ein Uhr nachmittags an demselben Tag gingen zwei anscheinend harmlose Spaziergänger in gemächlichem Schritt durch die Ginsterheide auf die Schlucht zu. So wie sie bisweilen stehen blieben und in die Ferne blickten, der eine mit der Hand auf die ferne Kirchturmspitze wies, und beide dann mit frohem Lachen weitergingen, konnte wohl auch der schärfste Beobachter kaum herausmerken, daß die beiden Männer alles weniger als die Liebe zu der im Frühlingskleid prangenden Natur hier herausgeführt hatte.

„Hier, Herr Rat,“ erklärte der jüngere der beiden jetzt, „hörte ich den Schuß fallen. Wir sind keine hundert Meter mehr von der Schlucht entfernt.“ Jakob Fischer war stehen geblieben und schaute plötzlich angestrengt nach links herüber.

„Sehr geschickt, wirklich!“ meinte er wie für sich selbst.

Der Polizeirat Scheller wurde aufmerksam.

„Was haben Sie denn, Fischer?“

„Unsere Truppen sind pünktlich. Da hinten sehe ich jetzt auch zwei Gestalten – und dort, jenseits der Schlucht, kommt auch schon der Herr Kommissar mit dem Kollegen Werner. Wir müssen uns beeilen, sonst –“ Der Beamte stutzte plötzlich, und seine Augen fuhren wie suchend über den Boden hin. Auch des Polizeirats Augen wurden schreckhaft groß, als Fischer mit dem Finger auf eine kleine Blutlache am Boden wies.

„Mein Gott,“ entfuhr es dem alten Herrn, „sollten Sie mit Ihrer Vermutung doch recht haben und hier – –“

Er vollendete den Satz nicht. Der Beamte war niedergekniet und musterte jetzt aufmerksam die Gräser, kroch einige Schritte weiter und wieder zurück. Dann erhob er sich. Auf seinem Gesicht lag ein feines Lächeln.

„Hier ist nur ein Huhn geschlachtet worden, Herr Rat, nichts weiter. Da die kleinen Federn – in dem Blut kleben auch einige. Wir wollen weitergehen.“ Damit schritt er auch schon vorwärts.

Scheller hatte überrascht aufgesehen. Aber als er sich nun neugierig bückte, sah auch er die feinen Federchen. Wieder folgte er dem Beamten langsam. Woher der aber gerade wissen konnte, daß hier ein Huhn, ausgerechnet ein Huhn, sein Ende gefunden hatte, das begrifft er nicht. Und fragen wollte er auch nicht. Ja, so in der Praxis, da war ihnen der Fischer doch allen über.

Nun schritten die beiden wieder Seite an Seite dahin. Immer näher kamen sie der Schlucht. Der Rat konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen.

Schließlich begann er wieder: „Dieser harmlose Blutfleck hat mir die Stimmung verdorben, weiß der Kuckuck! Ich ahne Böses – mir ist so, als ob –“ Das weitere brummte er unverständlich vor sich hin.

Fischer nickte nur dazu.

„Ja, Herr Rat, ehrlich gesagt, ich habe auch nicht mehr viel Hoffnung, daß wir den Jungen noch am Leben finden. Daß er bis jetzt nicht heimgekehrt ist, ist leider so gut wie – na, so gut, als ob wir das Unglück schon vor uns hätten.“

Da waren sie auch schon am Rande der Schlucht und blieben stehen. Gerade vor ihnen erhob sich die einsame Kiefer und streckte ihre krummen Äste gen Himmel. Scheller sah sich um. Drüben kletterten jetzt der Kommissar und sein Begleiter den jenseitigen Abhang herab.

„Sollte man glauben, daß es in der Nähe einer großen Stadt eine solche Wildnis gibt,“ sagte der Rat leise und musterte neugierig die Umgebung, die in ihrer durch keinerlei Kultur beeinträchtigte Unberührtheit und Einsamkeit wirklich ein sonderbares Bild bot. Aber Jakob Fischer hatte für diese Gespräche eine Zeit. Seine Blicke hingen an dem hier auffällig zertretenen Boden, glitten weiter, kamen zurück. Schließlich lag er wieder auf den Knien und begannen eine sehr sorgfältige Suche nach irgendwelchen frischen Spuren. Eine ganze Weile verstrich so. Indessen schien der Kommissar unten in der Schlucht dasselbe zu tun. Scheller stand dabei und schaute zu.

Fischer hatte nun schon mehrmals im Halbkreis die Stelle an der einsamen Kiefer umgangen. Jetzt näherte er sich dem Baum, streckte sich lang aus, so daß sein Kopf über dem Abhang hing und blickte unverwandt in das Gestrüpp, das zwei Meter unter ihm so üppig wucherte. Er drehte den Kopf hin und her, schob seinen Körper noch weiter vor, bis er plötzlich mit der linken Hand vorsichtig in dem Gras am Fuße der Kiefer umherzutasten begann.

Scheller merkte es den ganzen Gebaren des Beamten an, daß dieser etwas Besonderes entdeckt hatte. Da drehte sich auch schon Fischer ihm zu und winkte mehrmals mit dem Kopf. In seinem Gesicht lag ein seltener Ausdruck von Triumph. Als der Rat sich vorbeugte, um besser hören zu können, flüsterte er beinahe heiser:

„Ich hab’s. Hier am Fuß der Kiefer ist ein Strick befestigt – und da – da unten wird der Eingang zu einer selten raffiniert angelegten Diebeshöhle sein.“

Der Polizeirat hatte sich schnell auf die Knie niedergelassen.

„Wirklich, Fischer?! Dann werden wir die Vögel wohl noch im Nest finden? Soll ich Kern herbeirufen?“ –

Scheller war seltsam erregt. In früheren Jahren hatte er sich ja öfter an derartigen Unternehmungen beteiligt, besonders, wenn ihm daran lag, daß seine Anordnungen aufs genaueste befolgt wurden, und es sich um eine Sache handelte, deren Wichtigkeit ein Einsetzen aller Kräfte verlangte. Aber mit der Zeit war der Rat älter und damit bequemer geworden. Außerdem hatte sich auch seit Jahren nichts mehr in X. ereignet, das derart die Gemüter erregte wie gerade jetzt die beiden mit so großer Gewandtheit ausgeführten Einbruchdiebstähle. So war denn Scheller heute Mittag zusammen mit dem Kommissar und den Beamten nach der Vorstadt herausgefahren, wo Fischer sofort berichtete, daß die große Umstellung und Durchsuchung der Ginsterheide vorgenommen werden müsse, da Heinrich Seiler sich bisher nicht eingefunden habe. –

Fischer, der die letzte Frage seines Vorgesetzten überhört zu haben schien, war vorsichtig aufgestanden und winkte Scheller zu, indem er möglichst geräuschlos den Rand der Schlucht verließ. Dann meinte er, nachdem sie einige Meter zurückgetreten waren, nach kurzem Überlegen:

„Herr Polizeirat, ich glaube nun doch, daß ich mit meiner Vermutung, Heinrich Seiler sei hier ermordet worden, unrecht habe. Der um jene Kiefer so sehr zertretene Boden machte mich zuerst stutzig. Ich sah bald, daß die Fußspuren gerade auf den Baum zuführten – das Gras ist ja da beinahe zu einem Pfad zusammengetreten. Daher auch meine Untersuchung des Kiefernstammes. Etwas Ähnliches ahnte ich sofort, – aber daß wir einen Strick zum Hinablassen finden würden, das hat auch mich überrascht. Ja, – und, um’s ehrlich zu sagen, dadurch wird nicht nur unser ganzer Plan umgeändert, sondern – ich fürchte jetzt auch, daß wir – zu spät kommen.“

Fischer hatte wieder flüsternd und mit seltener Hast gesprochen. Dabei ließ er fortwährend seine Augen im Kreis umherwandern, als ob er irgendeine Überraschung fürchtete.

Scheller blickte den vor ihm Stehenden scharf an.

„Zu spät kommen?!“ fragte er hastig. „Sie meinen, die Gesellschaft ist schon über alle Berge?“ – Aus seinen Worten hörte man deutlich die große Unruhe heraus.

Fischer nickte. „Leider – aber ich habe noch eine Hoffnung. Ich denke, wir werden den Jungen noch dort unten finden!“

„Heinrich Seiler –?“

„Ja, Herr Rat! Jetzt wird mir manches klar, was ich mir bisher falsch zusammengereimt habe. Der Junge hat nie, das glaube ich nunmehr bestimmt sagen zu können, mit den Brüdern Albrecht und dem Berliner Einbrecher unter einer Decke gesteckt. Im Gegenteil, wenn ich mir’s überlege, wie vorsichtig er in der Nacht sich hier der Schlucht näherte … Ja, so ist’s, Herr Rat, der Junge hat, so unwahrscheinlich es klingen mag, ebenfalls hier denjenigen nachgespürt, die dort in der Schlucht ihren Schlupfwinkel haben. Wer weiß, wie lange er’s schon so treibt – ob er nicht auch damals schon, als wir ihn in der Nacht an dem Stall festnahmen, herumspionierte. So ganz harmlos kam der Bengel mir nie vor. Und gestern nacht haben ihn die Bewohner jenes Schlupfwinkels eben überrascht und – halten ihn dort unten fest! – Ja, Herr Rat, so ergänze ich jetzt die Worte: Festhalten – nämlich ihn, den Heinrich Seiler, damit den andern die – Flucht möglich ist, sie nicht verraten werden …“

Der Polizeirat schüttelte den Kopf.

„Alles ganz schön, Fischer, – aber wie oft haben Sie nun in dieser Sache Ihre Ansicht geändert! Da können Sie es einem nicht verargen, wenn man – mißtrauisch – ungläubig wird.“ –

In diesem Augenblick erschien Kern und kam langsam auf die beiden zu.

„Wir haben nirgends etwas Auffälliges entdecken können, Herr Rat,“ meldete er sichtlich unzufrieden. „Unsere Leute haben jetzt im engen Kreis die Schlucht umstellt. Es bleibt also nur noch dieser Abschnitt zu durchsuchen.“

Scheller überlegte. Dann wandte er sich an Fischer, der ungeduldig nach der einsamen Kiefer hinüberspähte.

„Sie haben diesen Plan vorgeschlagen, Fischer! Was soll jetzt geschehen? Ich lasse Ihnen völlig freie Hand.“

„Dann möchte ich den Herrn Kommissar bitten, daß einer der Kollegen schnell nach einer Laterne geschickt und indessen der Kreis der Beamten hier um die Schlucht noch enger zusammengezogen wird.“ –

Dann berichtete Fischer dem Kommissar kurz, was er entdeckt hatte und fügte noch hinzu, daß er nachher sich sofort an dem Strick hinablassen und in die Höhle, deren Vorhandensein er ganz bestimmt annahm, eindringen wolle. –

Es konnte gut eine Stunde vergehen, bevor der nach der Laterne ausgeschickte Beamte zurückkehrte. Während dieser Zeit gingen Scheller und Kern ungeduldig am Rand der Schlucht hin und her und warfen zuweilen einen prüfenden Blick auf das Gestrüpp, hinter dem der Eingang zu dem Schlupfwinkel liegen sollte. –

Jakob Fischer hatte sich dicht bei der Kiefer auf die Erde gesetzt und schien mit großem Interesse einen Schwarm Krähen zu beobachten, die mit lautem Krächzen über einer fernen Stelle in der Heide kreisten.

„Ich lasse Fischer auf keinen Fall da allein hinunter,“ sagte gerade der Kommissar eifrig. „Es ist ebensogut möglich, daß die von uns Gesuchten sich noch in ihrer Höhle befinden und dann dürfte es dem einzelnen kaum gut ergehen.“

„Aber Fischer meint doch, daß die Gesellschaft bereits das Feld geräumt hat,“ warf der Polizeirat ein.

„Annahme, weiter nichts! Ebenso wahrscheinlich ist es, daß sie noch da sind. Allerdings werden sie ja längst gemerkt haben, daß es für sie kein Entrinnen mehr gibt.“

„Na, dann ist doch von ‚Schusterkarl’ als altem, gewitztem Einbrecher, anzunehmen, daß er sich ohne Widerstand ergibt. Nur Neulinge im Handwerk leisten bei ihrer Verhaftung Widerstand.“

„Ganz recht, Herr Rat! Aber das Schuldkonto des Berliners ist so groß, daß ihm sicherlich zehn bis fünfzehn Jahre Zuchthaus bevorstehen. Und ob er da nicht in der Verzweiflung …?“ Kern zog bedenklich die Schultern hoch.

Scheller war stehen geblieben und schaute wieder hinab auf das Gestrüpp, aus dem die einsamen Kiefer herausragte.

„Und wenn nun dort unten sich weder eine Höhle noch in derselben irgend etwas finden läßt, was uns von Wichtigkeit ist, – wenn der brave Fischer sich in seinen Kombinationen getäuscht hat, und weder die Brüder Albrecht noch ‚Schusterkarl’ jemals hier gewesen sind? – Wenn ‚Schusterkarl’ selbst nur von uns hierher verpflanzt worden ist und er sich in Wahrheit ganz wo anders auffällt, – mit einem Wort, wenn unsere bisherigen Untersuchungen, die auf mehr wie schwachen Füßen stehen, heute wie ein Kartenhaus zusammenfallen?! Was dann?“

Kern erlaubte sich, ein feines Lächeln zu zeigen. „Sie sind jetzt zu sehr Schwarzseher, Herr Rat! Daß die Brüder Albrecht und ‚Schusterkarl’ bei den Einbrüchen beteiligt waren, gilt für mich als gewiß. Und der Berliner ist hier. Denn solche Arbeit, wie die in der Destillation zum ‚Bunten Bock’ an dem Geldschrank liefert nur ein ganz Großer in seinem Fach. Außerdem – nur er kann’s gewesen sein, der uns damals an dem Stallgebäude entschlüpfte und –“

„Schon gut. Aber offen gesagt, viel Vertrauen habe ich nicht mehr. Fischer selbst meinte auch, daß die Vögel bereits ausgeflogen wären. Dann geht die Jagd von neuem los.“ –

Der Kommissar erwiderte hierauf nichts. Er zog seine Uhr und schaute nach der Zeit. Es war beinahe eine Stunde vergangen, seitdem der Beamte fortgeschickt worden war. Die Entscheidung nahte, eine Entscheidung, von deren Ausgang für Kern so sehr viel abhing. In dem ehrgeizigen Mann war die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang größer als die Furcht vor einer Enttäuschung. Er kannte Jakob Fischer genau. Wenn der so seelenruhig dasaß und in den blauen Äther ein Loch hineinguckte, dann hatte er für sich schon wieder ein Plänchen bereit, um die Sache auf jeden Fall erfolgreich enden zu lassen. So dachte der Kommissar und – schon war’s ihm, als ob er den Inspektorposten bereits sicher habe.

Jakob Fischer aber überlegte, wohin sich ‚Schusterkarl’ und die Brüder Albrecht gewandt haben könnten. Denn daß er sie da unten nicht mehr antreffen würde, stand für ihn fest.

 

13. Kapitel.

Da bei dem vorliegenden, in Romanform gefaßten Bericht weniger auf eine sensationelle Ausgestaltung der Ereignisse, als vielmehr auf eine möglichst klare Beleuchtung des seelischen Werdeganges Heinrich Seilers, des Dreizehnjährigen, Gewicht gelegt werden sollte, so müssen wir das in der Ginsterheide versammelte Aufgebot der Polizei hier verlassen und in die Vergangenheit zurückgreifen, obwohl sich die endliche Lösung des Geheimnisses der Ginsterschlucht in ein kurzes Kapitel zusammenfassen ließe, in ein Kapitel, das aber noch überreich an Überraschungen wäre. –

Heinrich Seiler stand, vor Grauen bebend, auf dem Vorsprung, der sich ungefähr einen Meter unter dem Rand der Schlucht befand und gerade soviel Platz bot, daß eine einzelne Person dort festen Fuß fassen konnte. Vor dem Jungen erhob sich das wirre Gebüsch, aus einigen besonders starken Ginstersträuchern bestehend, durch die sich die Brombeerranken wie ein Netz verschlungen hatten. Unter ihm gähnte der gut acht Meter tiefe Abhang, so steil abfallend, daß ein Sturz in die Tiefe sicheren Tod brachte.

Heinrich Seiler hielt den Strick noch mit beiden Händen fest. Vergebens hatte er soeben versucht, sich wieder zu dem Rand der Schlucht emporzuarbeiten. Das unheimliche Schreien des Käuzchens lähmte seine Muskeln. Seine Gedanken verwirrten sich, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und das jagende Blut drohte ihm das Herz zu sprengen. Wie es ihm da in der Brust klopfte; so rasend schnell folgten die Schläge. Und wie sein armes Hirn arbeitete. Was dachte er alles, als er so mit zitternden Knien dastand, sich so mühsam nur durch den Halt an dem Tau vor dem Zusammensinken bewahrte.

Sollte er jetzt hier elend umkommen – war’s die Strafe für sein … Da stockten seine Gedanken. Strafe, – Strafe, – wofür?! Was hatte er denn so Schlechtes getan, daß er hier in dieser Einsamkeit zugrunde gehen sollte, vielleicht – um ermordet zu werden von seinen früheren Freunden! –

Ja, was? – War’s denn etwas so Sündhaftes gewesen, den Brüdern Albrecht nachzuschleichen, hatte er dabei nicht die besten Absichten gehabt? Er wollte doch nur … Und wieder machten hier die Gedanken Halt. –

Wozu hatte er sich denn eigentlich diesen Gefahren unterzogen – wozu? Nur aus knabenhafter Lust am Abenteuern? Oder –? –

Da schien plötzlich die Furcht von Heinrich Seiler abzugleiten wie ein matter Pfeil. Wie kam das nur? –

Er dachte nach, sann und sann. Und die wilde Angst war nun ja weg und – die Mutter daheim, – ja, die Mutter daheim, um die mußte er sich aufraffen, ebenso wie er ja nur hier in den Bergen seine Streifzüge unternahm, um – ja, das war’s – um der Mutter zu helfen! Wie ein lockendes, unklares Nebelgebilde hatte allen seinen Plänen die Hoffnung auf eine klingende Belohnung vorgeschwebt, hatte ihn geleitet und – vielleicht verführt zu diesem abenteuerlichen Tun. Aber nichts Schlechtes war dabei – nichts …

Minuten waren vergangen. Bewegungslos hatte der Junge so auf dem schmalen Vorsprung gestanden, bewegungslos den Sturm seiner Gedanken über sich hintoben lassen. Und jetzt, jetzt dachte er so anders, so klar. – Sollte er denn wirklich hier in dem stillen Mondschein sein letztes Stündlein herannahen sehen, sollte sich ihm, gerade ihm das Verhängnis in irgendeiner Gestalt nahen, ihm, der den jungen Albrechts und ihrem lichtscheuen Treiben nur nachspionierte, um ihnen endlich das Handwerk zu legen und der darbenden Mutter daheim zu helfen – irgendwie, – ihr Geld bringen zu können und zu sagen: ‚Da, nimm!’

Nein, er hatte ja immer in der Religionsstunde gelernt, daß der liebe Gott den braven Menschen helfe. Und brav war doch sein Tun – sicher war’s brav. Und daher – daher schaute Heinrich Seiler jetzt mit klaren Augen zum Rand der Schlucht empor, dorthin, wo gerade der Mond wie eine silberne Scheibe über den Büschen emporstieg. Ihm war’s, als ob’s nicht ein ferner Stern sei, der sein weißes Licht über diese Einsamkeit ausgoß, sondern als ob das Auge Gottes schirmend und wachend zu ihm herabblickte, zu ihm, der hier so allein und so schutzlos vor dem Eingang der Höhle, des Schlupfwinkels von Verbrechern, stand.

Jetzt horchte er mit so ganz anderen Empfindungen auf das wieder langsamer werdende Klopfen seines Herzens. Und wie zur Probe versuchte er, ob seine Kräfte ihm den Rückweg möglich machen würden. Er spannte die Muskeln an. Ja, sie gehorchten wieder; er fühlte, daß er nun mit wenigen Griffen oben am Rand, in Sicherheit sein konnte. Und mit dieser Überzeugung kam auch der alte Wagemut zurück.

Wenn er jetzt umkehrte, dann war auch diese Nacht vergebens geopfert, all die überstandene Angst umsonst gewesen! Und sollte er feige vor dem letzten zurückbeben, sollte er sich wieder wie eine Memme benehmen, wenn das Käuzchen vielleicht nochmals schrie?

Langsam ließen Heinrich Seilers Finger das Seil fahren. Es lag jetzt dicht an der Wand des Abhanges wie ein grauer Strich. Er brauchte nur den Arm auszustrecken, dann hatte er’s wieder und mit ihm den Weg nach oben.

Langsam glitten des Jungen forschenden Blicke über die Umgebung hin, über die Ränder der Schlucht, über den jenseitigen Abhang, auch hinunter in die Tiefe. Aber nirgends ein Anzeichen, daß außer ihm noch jemand in der Ginsterschlucht weile. –

Dann kehrten sie zurück und richteten sich geradeaus in das dichte Gestrüpp vor ihm, bohrten darin fest und suchten. Aber nirgends schien eine lichtere Stelle zu sein. Überall rankten sich gleich verschlungen die Brombeerranken um die hohen Ginsterstauden. Wie ein Vorhang lag dieses grüne Gewirr vor der Wand des Abhanges. Leise Zweifel überkamen ihn da. Sollte er sich getäuscht haben? Sollte es dahinter gar kein Versteck gegen?! Aber schnell ließen die Gedanken von dieser Vermutung ab. Wozu sonst auf der Strick, wozu? Nein, das waren unnütze Erwägungen.

Der Vorsprung, auf dem Heinrich Seiler stand, war so schmal, daß er sich jetzt, als er vorsichtig niederkniete, ganz zusammenkrümmen mußte. Seine Hände tasteten nun vorsichtig in das Gebüsch hinein. Unhörbar glitten seine Finger über den Erdboden, die Wurzeln der Sträucher hin. Er mußte sich langsam vorwärts schieben, um seine Untersuchung weiter ausdehnen können. So fand er endlich das Loch in dem Gestrüpp, nachdem er einige Ranken hochgehoben und einen lose in der Erde steckenden Busch beiseite gelegt hatte.

Wie eine Schlange wand er sich in die Öffnung hinein. Es dauerte unendlich lange, bis er sich mit dem Oberkörper in dem Gestrüpp befand. Zwar knisterte es bisweilen leise, die Zweige rauschten auch, aber trotzdem schob er sich weiter und weiter vor. Es war jetzt dunkel um ihn her, so dunkel, daß er sich nur auf seinen Tastsinn verlassen konnte. Immer fuhren seine Finger in das Dunkel vor ihm, schoben Zweige und Ranken beiseite, bis – sie auf etwas stießen, das sich wie ein dickes Tuch anfühlte. Da kniete er nun und ruhte sich erst einmal aus. Dabei lauschte er mit gespannter Aufmerksamkeit. Aber nichts war zu hören, nichts.

Ja, es war ein dicker Stoff, der da vor ihm hing. Immer wieder ließ er seine Finger prüfend darüber hingleiten. Jetzt hatte er auch gemerkt, daß dieses Tuch gerade vor ihm übereinander lag, daß es sich wie ein zweitteiliger Vorhang aufheben ließ. Mit äußerster Behutsamkeit kroch er nun weiter, bis sein Kopf den Stoff berührte. Und langsam, langsam streckte er beide Hände aus und schob die übereinander liegenden Teile der Decke auseinander – soweit, daß er hoffen konnte, auch den dahinter verborgenen Raum zu überblicken. Aber so sehr er auch seine Augen anstrengte, er sah nichts als schwarze, undurchdringliche Finsternis. Als er nun den Kopf vorsichtig zwischen den Händen vorführte, und die beiden Teile des Tuches über seine Schultern hinstreiften, als von außen kein Geräusch mehr an sein Ohr dringen konnte, da war’s, als ob vor ihm, aber in weiter, weiter Ferne gesprochen würde. Einzelne Laute schlugen an sein Ohr; dann wurde es wieder still.

Heinrich Seiler kniete jetzt auf der bloßen Erde, wie ihn seine tastenden Finger bald belehrten. Er hatte sich noch mehr vorwärts gewagt. Das Tuch war über seinen nachgleitenden Fußspitzen wieder zugefallen. Er hob den rechten Arm und beschrieb damit langsam einen Halbkreis durch die Luft, bis er seitwärts auf eine Wand stieß, – rauhe Bretter, die übereinander gelegt waren. Dasselbe tat er nach links hin und fühlte auch hier dieselbe Wand. Also war er in einem gut einen Meter breiten Gang. Wie hoch derselbe war, das konnte er nicht herausbekommen. Denn sich ganz aufzurichten wagte er nicht.

Eine dumpfe Luft, die beinahe den Atem benahm, lagerte in diesem Gang. Selbst Heinrich Seilers durchaus nicht verwöhnte Nase empfand einen leisen Ekel vor diesem Gemisch von Gerüchen. Dann war’s ihm plötzlich, als ob Tabakrauch ihm entgegenwehte. Er sog die Luft prüfend ein – ja, es war Tabakrauch. Und er empfand dies wie eine Wohltat. Jetzt hört er auch wieder die Stimmen. Sogar einzelne Worte glaubte er zu verstehen. Aber die, die da sprachen, mußten sich tief im Innern der Erde befinden.

Da dem Jungen das Knien unbequem wurde, er sich aber auch nicht weiter vorwagte, so setzt er sich vorsichtig hin und überlegte dann. Er war jetzt so ruhig, fühlte sich so sicher, daß er vorläufig an den Rückweg nicht dachte. Eigentlich wußte er jetzt ja genug und hätte umkehren können. Denn daß die, die da vor ihm sprachen und dazu rauchten, die Brüder Albrecht waren, daran zweifelte er nicht im geringsten. Er wußte jetzt ja auch, wie man diesen so schlau angelegten Schlupfwinkel betreten könne, brauchte also nur dorthin zu gehen, wohin man ihn an einem Abend mit gefesselten Händen geschleppt hatte und dort seine Entdeckungen anzugeben. Dann – ja, dann. –

Und etwas wie ein Gefühl von Triumph überkam Heinrich Seiler, er hatte vollständig vergessen, wo er sich befand. Seine Kinderphantasie malte es sich so wunderbar aus, wie er da in der Wachtstube unter den befürchteten Schutzleuten stehen und erzählen würde. Und die würden dann Mund und Ohren aufsperren und dann würde wohl auch einer sagen: ‚Das ist ein Kerl!’ –

So eilten die Gedanken des Jungen in die Zukunft hin und spannen eitle Träume. Und die Folge dieser Betrachtungen war die, daß Heinrich nur einen, nur einen einzigen, vorsichtigen Blick in den eigentlichen Höhlenraum tun wollte. Er wollte diese Höhle zuerst gesehen haben. Als erster von denen, die hier nichts zu suchen hatten.

Ein kindlicher Ehrgeiz trieb ihn weiter vor. So begann denn wieder dieses schrittweise Vordringen, dieses Tasten mit den Händen, diese Art der Vorwärtsbewegung, bei der alle Nerven und Muskeln bis zum äußersten gespannt sind. –

Plötzlich – er mochte vielleicht fünf Schritt vorgedrungen sein, stießen seine Finger an einen feinen Draht, der über den Gang in einer Höhe von einem halben Meter hinlief. Und zugleich war’s ihm auch, als hörte er in der Ferne ein feines Klingeln, wie das Anschlagen eines Glöckchens.

Atemlos machte er Halt, und starrte vor sich hin in die Finsternis. Und dann – dann war’s ihm, als käme etwas auf ihn zugekrochen, er glaubte unterdrückte Atemzüge zu vernehmen, und … wieder überkam ihn da das entsetzliche Angstgefühl. Er merkte, ihm nahte sich das Verhängnis – da vor ihm war’s – und jetzt, jetzt faßte eine Hand nach seinem Kopf, glitt über sein Haar hin. Da riß es ihn empor – war’s das Entsetzen oder ein plötzlicher Mut – er sprang auf, stieß mit dem Kopf hart gegen die Decke des Ganges und taumelte halb ohnmächtig nach vorn. Und wie ein letzter Versuch zur Rettung griff er im Niederstürzen nach der Pistole, streckte sie vor sich in die Dunkelheit, spannte den Hahn mit zitternden Fingern und drückte ab.

Dann ein wildes Ringen, ein Schleifen, Raunen und Flüstern, – ein Stöhnen aus den Tiefen der Erde, – dann wurde es still.

Heinrich Seiler aber lag mit einem Knebel im Munde, gefesselt und mit verbundenen Augen in der Höhle, in die er nur einen einzigen Blick hatte werfen wollen …

 

14. Kapitel.

„Gut, Herr Kommissar, wenn Sie durchaus wollen.“

Jakob Fischer sagte das in keineswegs sehr freundlichem Ton.

„Wollen?!“ entgegnete Kern mit jenem unangenehmen Lächeln, das in seinem nervös zuckenden Gesicht die Züge zur Fratze verzog, „Wollen?! Natürlich will ich, ich muß sogar! Ich werde mich auch als erster an dem Strick hinablassen, – Sie können dann nachkommen.“

Fischer schien noch etwas sagen zu wollen.

„Herr Kommissar,“ meinte er dann, sich aufrichtend, „ich will nur noch bemerken, daß ich die Sache nicht ganz ungefährlich halte. Sind die Kerle noch da unten, dann – dann – –“

Fischer zog bedenklich die Schultern hoch.

„Einerlei,“ erwiderte aber trotzdem Kern in barschem Ton, „ich gehe zuerst!“ – Und damit kniete er auch schon wieder, rutschte bis zum Fuß der Kiefer vor und ergriff den Strick.

Polizeirat Scheller stand neben Fischer dicht am Rande der Schlucht und schaute zu, wie Kern sich langsam hinabgleiten ließ. Unten in der Schlucht hatten sich ebenfalls mehrere Beamte gesammelt und blickten gespannt nach oben.

Der Kommissar hatte jetzt den Vorsprung erreicht und ließ das Tau aus den Händen gleiten, Fischer lag schon am Boden, um seinem Vorgesetzten sofort zu folgen. Da passierte etwas, das sich niemand der Zuschauer erklären konnte. Kern breitete plötzlich die Arme aus, ein gellender Schrei ertönte – dann fiel er hintenüber, rollte, sich überschlagend und öfters hart aufstoßend, den Abhang hinab, blieb beinahe vor den Füßen der unten Stehenden regungslos liegen.

Fischer hatte sich schnell wieder erhoben.

„Meine Befürchtung, meine Befürchtung!“ rief er dem wie versteinert dastehenden Polizeirat zu. Dieser starrte leichenblaß die Schlucht hinab, in der die Beamten sich jetzt um den Abgestürzten bemühten.

„Wer hätte das denken können?“ stotterte Scheller hervor. „Ob er tot ist?“

Fischer formte die Hände zum Trichter und rief hinunter: „Was ist los? Werner, was ist los?“

Die Antwort war wenig tröstlich. Kern war ohne Bewußtsein.

Der Polizeirat hatte sie schnell gefaßt. Wenn ihm auch der erste Schreck in die Glieder gefahren war, jetzt zeigte sich wieder der umsichtige Beamte.

„Ich werde jemand nach einem Arzt schicken,“ sagte er eifrig. „Sie bleiben inzwischen hier, Fischer. Ich muß doch einmal selbst nach Kern sehen.“

Damit wollte er auf einem Umweg nach dem Grund der Schlucht eilen.

„Herr Rat, – Herr Rat,“ rief Fischer ihm noch nach, „lassen Sie, bitte, noch einige Stricke und eine lange Leiter mitbringen.“

„Gut – gut.“

Selten war der Polizeirat wohl in einem solchen Tempo über den unebenen Boden gelaufen wie damals, als ihn die Sorge um den Kommissar nach der Schlucht rieb. –

Jakob Fischer war allein oben bei der einsamen Kiefer geblieben. Er schob den Hut zurück und fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn.

„Eine schöne Geschichte,“ knurrte er „ob sie eigentlich auf den Kommissar geschossen haben? – Das ging alles so schnell. Aber da hätte man doch einen Schuß hören müssen. Oder? – Ja, so wird’s sein – hinabgestoßen haben sie ihn, nur so läßt sich’s erklären. Diese verd… Kerle!“

Dann schaute er hinab, wo jetzt Scheller neben dem regungslosen Körper Kerns kniete.

‚Ich würde jedenfalls nicht dort liegen,’ dachte Fischer sich; ‚ich hätte den Strick so bald nicht aus der Hand gelassen. Unvorsichtig, sehr unvorsichtig!’ –

Zwei von den untenstehenden Beamten liefen jetzt in größter Eile dem Stadtpark zu, dessen Bäume wie eine dunkle Wand am Horizont sichtbar waren. Fischer hatte sich auf den Rand der Schlucht neben die Kiefer gesetzt und schaute zwischen den Knien hindurch in das Gestrüpp, aus dem der verhängnisvolle Stoß gekommen war. Und je länger er so hinabsah, desto mehr vergaß er das soeben Vorgefallene. Seine Gedanken suchten Mittel und Wege, wie man denen da in ihrer Höhle am gefahrlosesten beikommen konnte. Und mit einem Male hielt er wieder die Hände an den Mund und rief mit aller Kraft in das unter ihm wuchernde Gebüsch hinein:

„Schusterkarl, seien Sie nicht so dumm, Menschenskind! Wozu der Widerstand?! Wir kriegen Sie ja doch! Kommen Sie heraus, und ich verspreche Ihnen eine anständige Behandlung!“

Scheller und die anderen hatten erstaunt nach oben geblickt, als sie die Stimme Fischers hörten und auch jedes Wort verstanden. Aber in dem Gestrüpp rührte sich nichts. Es blieb still.

Nochmals versuchte Fischer dem alten gewitzten Berliner Einbrecher mit Vernunftgründen zu kommen. Er hatte sich weit vorgebeugt und wartete den Erfolg seiner Worte ab. Da – plötzlich fiel ein Schuß aus dem Gesträuch, und Fischer rollte einige Schritte vom Rande der Schlucht weg, sprang aber sofort wieder auf und winkte den Untenstehenden beinahe lachend zu. Er war unverletzt geblieben, wenn auch die Kugel deutlich über ihm einen Ast der Kiefer zersplittern hörte.

Nun stand Jakob Fischer kopfschüttelnd da und überlegte. Und als dann der Polizeirat in heller Aufregung mit zwei der Beamten auf ihn zukam und mit seltenem Ingrimm Drohworte auf den ‚Schusterkarl’ ausstieß, das sagte Fischer nur nachdenklich:

„Der ‚Schusterkarl’? – Nein, Herr Rat, ich fürchte, der ist da unten nicht. Das tut ein Berliner Junge nicht – nie! Das sind andere, Neulinge, die aus Furcht den Kopf verloren haben.“

Fischers stets gleichbleibende Ruhe wirkte auch auf die anderen. Man beriet schnell die Maßregeln, die Fischer vorschlug, und sah sich im übrigen zum Warten genötigt. Denn ohne die bestellten Leitern und noch einige Taue war den Belagerten nicht beizukommen – wenigstens nicht auf gefahrlose Weise. Und der Polizeirat hatte durchaus keine Lust, die Gesundheit noch einiger Leute aufs Spiel zu setzen.

Inzwischen hatten sich auch die in noch weiterem Umkreis um die Ginsterschlucht postiert gewesenen Beamten eingefunden, so daß die anwesende Polizeimacht in zwei Trupps der weiteren Entwicklung der Dinge entgegensah. Der eine stand unten bei dem noch immer bewegungslos daliegenden Kommissar, während der andere sich oben am Rand der Schlucht hingesetzt hatte, und hier mit gedämpfter Stimme die Ereignisse durchsprach. Etwas abseits standen Scheller und Jakob Fischer.

Der Polizeirat war durch die letzten Vorfälle, besonders durch den unglücklichen Sturz des Kommissars doch etwas nervös geworden. Alle Augenblicke schaute er nach dem Wald hinüber, wo die ausgeschickten Beamten bald auftauchen mußten. Dann wieder überschüttete er den beinahe teilnahmslos ausschauenden Fischer mit einer Unmenge von Fragen. Er wollte Vermutungen, Hoffnungen hören – irgend etwas, das mit dieser Expedition zusammenhing. Doch Jakob Fischer blieb einsilbig und schien es gar nicht zu merken, daß sein Vorgesetzter die Zeit vertrieben haben wollte.

Schließlich fiel dem Polizeirat Fischers Wortkargheit doch auf. „Sagen Sie nur, Menschenskind,“ fragte er in seiner gemütlichen Weise, „worüber sinnen Sie nun eigentlich nach? Ärgert sie diese Verzögerung so?!“

„Mir scheint’s unrichtig zu sein, daß unsere Beamten sich so gar nicht mehr um die Umgebung der Schlucht kümmern. Alles steht oder liegt da im Haufen zusammen, als ob so eine Höhle keinen zweiten Ausgang haben könnte.“

„So – ja. Allerdings, die Schlucht zieht sich gut hundertfünfzig Meter hin – und – –“ Scheller war ein Mann schneller Entschlüsse. Er ließ Fischer einfach stehen und ging auf die in der Nähe sitzenden Beamten zu, denen er leise einige Befehle gab. Daraufhin trennten sich drei Leute von den übrigen und verschwanden bald hinter einer Bodenwelle. So wurde denn auf Fischers Veranlassung ganz unauffällig die Schlucht wieder umstellt.

Während der Polizeirat mit den Beamten sprach, war Fischer langsam am Rand der Schlucht entlang geschlendert und entfernte sich immer weiter von der Kiefer. Der Gedanke, daß dieser Schlupfwinkel da unter der Erde noch einen zweiten Ausgang haben könnte, war ihm auch erst vorhin gekommen. Jetzt trieb ihn eine geheime Unruhe dazu, den Abhang doch einmal daraufhin genauer in Augenschein zu nehmen. Doch je weiter er ging, desto unwahrscheinlicher schien ihm seine Vermutung. Denn die Schlucht erreichte gerade an der einsamen Kiefer ihre tiefste Stelle, während sie nach beiden Seiten hin langsam in das ebene Terrain der Heide verlief. Fischers scharfe Augen entdeckten nirgends eine Stelle, die auch nur einigermaßen geeignet gewesen wäre, einen zweiten Ausgang zu verbergen. Außerdem sah er auch jetzt wieder die aufgestellten Posten und so kehrte er denn beruhigt um.

Er war vielleicht noch dreißig Meter von der Kiefer entfernt, als er an dem Abhang das leise Rieseln von Sand zu vernehmen glaubte. Augenblicklich blieb er stehen und beugte sich weit vor, um die Böschung besser überschauen zu können. Gewiß, auch hier hatten sich einige Ginsterstauden und Brombeersträuchern in den Erdboden eingeklemmt, aber überall war dieses Grüne leicht zu übersehen. Schon wollte er zurücktreten und seinen Rückweg fortsetzen, als er’s wieder hörte, dieses beinahe klingende Geräusch des gleitenden Sandes. Und dann sah er auch, wie sich unter einem dichten Brombeergestrüpp ungefähr in der Mitte des Abhangs plötzlich eine größere Erbmasse loslöste, sah aus der Erde einen Körper hervorschnellen, der gewandt den Abhang hinabrutschte – ein zweiter Körper folgte – und zwei Gestalten stürmten jetzt da unten im Grunde der offenen Heide zu …

Nur einen Augenblick hatte Fischer betroffen dieser plötzlichen Erscheinung zugeschaut. Schon gellte seine Stimme: „Achtung! – Achtung!“ Und dabei winkte er den in der Ferne sichtbaren Beamten zu.

Auch Scheller hatte sofort nach dem ersten Ausruf Fischers die beiden Flüchtlinge erblickt. Jetzt waren die zwei in der Heide auf ebenem Boden, wie Pfeile schossen sie dahin, und wandten sich scharf nach rechts dem Walde zu. – Da mit einem Male wuchsen vor ihnen wie aus der Erde zwei Gestalten heraus, die ihnen den Weg versperrten. Und so gut hatten die Beamten die Richtung berechnet, daß ihnen die Flüchtlinge gerade in die Arme liefen. –

Als die Gefangenen dann nach der Kiefer geführt wurden, und der Polizeirat sah, daß es sich um zwei kaum dem Knabenalter entwachsene Burschen handelte, schaute er Fischer wie mißtrauisch fragend an.

„Es sind die beiden Brüder Albrecht,“ sagte der offenbar übelgelaunt und blickte dann zu Boden. Jakob Fischer hatte in dem Augenblick, als er in den Gefangenen die Söhne des Flickschusters erkannte, alle Hoffnung aufgegeben, den ‚Schusterkarl’ heute noch in seiner Gewalt sehen. So hatte er doch wieder einmal nicht zu unrecht angenommen, daß der Schuß nicht die letzte verzweifelte Gegenwehr eines gewitzten Einbrechers darstellte.

Scheller musterte lange schweigend die beiden jugendlichen Verbrecher, die da mit frechem Gesichtsausdruck vor ihm standen. Besonders der jüngere Albrecht schaute die Beamten und auch den Polizeirat geradezu herausfordernd an. Und vergeblich richtete nun Scheller an die beiden einige Fragen über den Verbleib Heinrich Seilers und des Berliners, vergeblich drohte ihnen der über eine solche Verstocktheit empörte alte Herr mit strengen Strafen. Sie schwiegen, und nur bei der Erwähnung des Namens Seiler spielte um ihre Lippen ein rachsüchtiges, halb höhnisches Lächeln.

Endlich wandte sich der Polizeirat ärgerlich von den beiden Burschen weg und wieder Fischer zu, der jetzt mit einem fast sorgenvollen Gesicht dastand.

„Nun, Fischer, – was jetzt? Ich bin mit meiner Kunst zu Ende!“ meinte er.

„Jetzt, Herr Rat,“ sagte Fischer leise, „jetzt fürchte ich wieder das Schlimmste für Heinrich Seiler! Die Gesichter dieser Bengel lassen nichts Gutes ahnen.“

„Sie glauben, daß –“

Aber Fischer war in diesem Augenblick so respektlos, seinen Vorgesetzten zu unterbrechen.

„Am besten wird sein,“ sagte er eifrig, „ich lasse mich sofort in die Höhle hinab. Die Gefahr ist ja jetzt vorüber und Streichhölzer genügen schon zu einer oberflächlichen Untersuchung. Denn wir müssen uns beeilen, daß wir die Fährte des ‚Schusterkarl’ wiederfinden, sonst –!“ Dabei hatte er seine Brille abgenommen und putzte nun die Gläser mit dem Taschentuch.

Scheller nickte nur. Auch seine Gedanken waren nicht gerade sehr freudiger Natur. Was nützt es, daß man hier die Brüder Albrecht nun aufgegriffen hatte, und man wahrscheinlich da unten einen Teil der Diebesbeute wiederfinden würde?! Letzteres war allerdings noch sehr fraglich, – ebenso fraglich wie der Erfolg der jetzt erneut notwendigen Jagd auf den Berliner!

Der Polizeirat seufzte auf. Das war sein interessantes Amt, wie die Stammtischbrüder immer sagten! Und wie des Polizeirats Gedanken jetzt in der gemütlichen Kneipe einen Augenblick verweilten, da schien’s, als stiege vor seinem geistigen Auge ein wohlgefüllter Halbliterkrug mit köstlicher Blume auf, er glaubte seines Freundes Görtz, des Baumeisters, Stimme zu hören, die so urgemütlich sagte: ‚Prosit, Alterchen!’

Als er aber jetzt aufschaute, blickte er in das schadenfroh grinsende Gesicht des jüngeren Albrecht. –

 

15. Kapitel.

Als Jakob Fischer schon unten auf dem schmalen Vorsprung stand und vorsichtig die Augen über das Gestrüpp hingleiten ließ, da rief ihm Scheller plötzlich zu: „Warten Sie noch, – dahinten kommen unsere Leute. Mit einer Laterne ist die Sache auch sicher gemütlicher als bei dem zweifelhaften Licht von Streichhölzern.“ –

Daher wartete Fischer, bis ihm die brennende Laterne an einem Strick heruntergelassen wurde. Dann aber verschwand er sofort in dem Gebüsch, kroch tief gebückt hindurch – ohne alle Scheu, da er wirklich der Meinung war, daß er in der Höhle kein lebendes Wesen mehr vorfinden würde. Als er in den mit Brettern ausgeschlagenen weit über einen Meter hohen Gang gelangt war und im Lichtschein über diese beinahe sorgfältig verschalten Erdwände sah, konnte er sein Erstaunen kaum unterdrücken. Wer das geahnt hätte, daß man hier in dieser Einsamkeit einen so raffiniert und so sachgemäß angelegten Schlupfwinkel vorfinden würde! Das waren wahrhaftig starke, behauene Stützen und die Bretter sogar oberflächlich behobelt! Sicher irgendwo von einem Holzhof gestohlen, dachte sich Fischer sogleich. Da ein Aufrechtgehen in dem Gang nicht möglich war, so rutschte er auf den Knien weiter. Als er so vielleicht vier Meter vorwärts gekommen war, machte der Gang eine Wendung nach der linken Seite hin. An der Biegung angelangt, ließ Fischer erst vorsichtig das Licht seiner Laterne in die Finsternis vor ihm hineinfallen. Und da – beinahe wäre er entsetzt zurückgeprallt – erblickte er in dem ungewissen Licht in einer Ecke eines größeren Raumes, in dem allerhand Kisten und Gerümpel umherstanden, auf dem Boden eine Gestalt lang ausgestreckt liegen.

In demselben Augenblick klang ein qualvolles Stöhnen durch die Höhle, und – die Gestalt bewegte sich, warf sich auf die Seite.

Jakob Fischer war gewiß nicht leicht zu erschrecken. Aber jetzt merkte er doch, wie ein selten unbehagliches Gefühl ihm nach dem Herzen kroch. Dazu noch die dumpfe, verdorbene Luft, die sogar das Atmen erschwerte! Jedenfalls kostete es dem sonst so mutigen Beamten einige Überwindung, aus dem Gang in den eigentlichen Höhlenraum einzudringen. Aber diese Anwandlung von Schwäche ging bald vorüber. Noch einige Schritte und Fischer konnte sich aufrichten. Denn dieses als Wohn- und Schlafraum notdürftig ausgestattete, unterirdische Gemach war beinahe zwei Meter hoch und vielleicht vier Meter im Quadrat groß.

Der Lichtstrahl der Laterne beleuchtete jetzt aus nächster Nähe die am Boden sich unruhig hin und her werfende menschliche Gestalt, beleuchtete auch das armselige Strohlager und die wenigen Ausstattungsgegenstände, die aus Kistenbrettern roh zusammengeschlagen waren. Fischer trat vor und – wieder ließ der am Boden Liegende ein klagendes Stöhnen vernehmen. Jetzt warf er sich auf den Rücken – und Jakob Fischer schaute in das vom Fieber tief gerötete Gesicht ‚Schusterkarls’, in ein Gesicht, das von Schmerz verzerrt war und in dem die Augen in Fieberglut leuchteten.

Der Beamte war niedergekniet. Jetzt sah er auch um die linke Schulter des anscheinend Schwerkranken einen kunstlosen Verband geschlungen, der von Blut beinahe schwarz war. Und blutig war auch das Stroh, auf dem der Verwundete lag.

Langsam erhob sich Jakob Fischer wieder. Beinahe hätte er leise durch die Zähne gepfiffen. Das Dunkel lichtete sich – der Schuß, den er in der Nacht gehört hatte, war für den Berliner verhängnisvoll geworden, kettete ihn hier fest in dieser Falle. Denn das war ja jetzt der einzige Schlupfwinkel für die Einbrecher geworden.

‚Schusterkarl’ lag in starkem Fieber besinnungslos und war daher unschädlich. So machte sich Fischer denn weiter auf die Suche. Aber soviel er auch die Wände des viereckigen Raumes ableuchtete, er fand den zweiten Ausgang nicht. Aber ein solcher mußte doch vorhanden sein, mußte!

Denn die Brüder Albrecht waren in einer so weiten Entfernung von der Kiefer aus dem Abhang hervorgebrochen, daß noch ein zweiter Gang aus der Höhle in nördliche Richtung führen mußte, nicht nur ein zweiter Ausgang nach der Schlucht hin. Als Fischer jetzt einen an der Wand mit einigen Nägeln befestigten grauen Vorhang beiseite schlug, gähnte ihm denn auch wirklich eine dunkle Öffnung entgegen. Aber er hatte keine große Lust, in dieses enge Loch hineinzukriechen. Es war ja auch zwecklos. Er wußte ja, wo dieser kunstvoll in die Erde gegrabene und nicht einmal abgestützte Gang endete, – eben dort, wo die jungen Albrecht so plötzlich erschienen waren.

Schon wollte er daher den aus einem alten, zerlöcherten Teppich bestehenden Vorhang wieder fallen lassen, als ein seltsamer Ton, der aus der Tiefe zu kommen schien, ihn bewog, Kopf und Oberkörper in die schmale Öffnung hineinzuzwängen.

Er lauschte. Wieder war es ihm, als erklänge da vor ihm ein unterdrücktes Stöhnen – Murmeln. Er konnte selbst nicht sagen, was es eigentlich war. Doch er besann sich nicht lange. Indem er den rechten Arm mit der Laterne vorstreckte und seinen engen Weg beleuchtete, kroch er vorwärts.

Der Gang schien endlos lang. Er beschrieb einen kleinen Bogen und war kaum so geräumig, um die untersetzte Figur des Beamten durchzulassen. Da blinkte vor Fischer ein weißlicher Strahl auf. Er sah das Tageslicht durch einen kleinen Spalt eindringen.

Und dann – dann fiel der Schein der Laterne auf etwas, das den Gang fast gänzlich versperrte. Fischer schaute hin – sah – sah ein paar zusammengekrümmt Beine, – sah eine menschliche Gestalt vor sich liegen, den Kopf nach der anderen Seite, so daß er das Gesicht nicht erkennen konnte.

Als er genauer hinblickte, bemerkte er auch die Stricke, mit denen dem Unbekannten vor ihm die Füße gefesselt waren.

Heinrich Seiler!

Er hatte unwillkürlich laut gesprochen. Da kam in die Gestalt Leben; die Beine strecken sich, der Oberkörper suchte sich aufzurichten. Und wieder erklang das jämmerliche, halbunterdrückte Stöhnen.

Jakob Fischers scharfes Taschenmesser glitt nur einmal über die Stricke hin. Dann fielen die Fesseln zu Boden. Und geschickt schob der Beamte sich dann weiter, so daß er auch die Hände und den Kopf erreichen konnte.

Als er dem jetzt beinahe neben ihm Liegenden den Knebel aus dem Mund zog, da hoffte er auf einige Worte, die ihm seine Vermutung bestätigten. Aber nichts – nichts! Nur der Körper sank kraftlos nieder, die Beine streckten sich aus.

Da beugte sich Fischer, so gut es in dem engen Gang möglich war, über die jetzt wie leblos daliegen Gestalt, drehte den Kopf so, daß das Licht das Gesicht des Unbekannten traf – und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich Fischers Lippen. Es war wirklich Heinrich Seiler.

Eine tiefe Ohnmacht hatte den armen Jungen überkommen, und es blieb Fischer nichts anderes übrig, als den Körper hinter sich her in die Höhle zu ziehen. Ein mühsames Stück Arbeit war’s! Als er in dem großen Raum sich dann aufrichtete, fand er dort schon zwei andere Kriminalbeamte vor, die der Polizeirat, besorgt durch Fischers langes Ausbleiben, ihm nachgeschickt hatte.

Es war nicht leicht, die beiden kraftlosen Körper an das Tageslicht zu befördern. Und Heinrich Seiler kam erst wieder zu sich, nachdem ihm der Arzt eine Ammoniakflasche unter die Nase gehalten hatte. Dagegen nahm das Fieber des Verwundeten in der frische Luft beängstigend zu. Der Arzt mahnte daher zum schleunigen Aufbruch. Und so setzte sich denn ein eigenartiger Zug nach dem Walde hin in Bewegung.

In einem Krankenwagen der Unfallstation lag der noch immer bewußtlose Kern. Mit äußerster Vorsicht schoben die Beamten den zweirädrigen Wagen über die Heide hin. Hinterher folgte auf einer aus Ästen und Stangen provisorisch hergerichteten Bahre Heinrich Seiler, der zum Gehen noch außerstande war. Neben ihm schritten Jakob Fischer und der Polizeirat. Beide tief in Gedanken. Daß diese Razzia in der Ginsterheide so enden würde, hatten beide nicht erwartet. Nun hatte man ja den Berliner glücklich ergriffen, – aber um welchen Preis. Zwei Schwerverwundete und ein halbes Kind, dem sicher ein schweres Nervenfieber bevorstand!

Den Schluß des Zuges machten die Brüder Albrecht, – beide gefesselt, – und der auf einer Leiter in Decken gehüllte ‚Schusterkarl’, der wild mit den Armen um sich schlug und bei jedem Stoß und jeder schnellen Bewegung seines Lagers laut aufschrie. Die Albrechts schritten mit verbissenen Gesichtern einher. Das schadenfrohe Lachen war ihnen vergangen.

Gerade sagte Fischer zu dem Polizeirat:

„Jetzt verstehe ich auch das hämische Grinsen der beiden Bengel! Die haben sicher den Heinrich Seiler nur deswegen in den engen Gang gebracht, damit wir ihn nicht finden sollten! Nette Früchtchen!“

„Sie haben recht, Fischer! Sie glaubten so, ihre Rache an dem Verräter, – denn dafür halten sie den Jungen wahrscheinlich – kühlen zu können! Schrecklich, diese verkommenen Burschen! Daß sie sich am Stehlen beteiligen, – das könnte ja als Leichtsinn noch so hingehen, aber daß sie den Seiler da in dem Gang elend umkommen lassen wollten. Na, dafür wird’s auch nett tagen!“ setzte der alte Herr ingrimmig hinzu. – –

Am nächsten Morgen brachte die gelesenste Tageszeitung der Provinzialhauptstadt X. in ihrer Morgenauflage folgende Notiz:

Gestern Nachmittag ist es unserer Kriminalpolizei endlich geglückt, jene Einbrecherbande dingfest zu machen, auf deren Konto sowohl der Einbruch in das Müllersche Uhrwarengeschäft in der Herderstraße, wie auch der in das Kontor der Firma Krüger, unserer ersten Likörfabrik, zu setzen ist. Die Festnahme erfolgte erst nach längerer Gegenwehr in der hinter dem großen Stadtwald gelegenen Ginsterheide, wohin die Einbrecher geflüchtet waren. Leider ist dieses Recontre mit den Dieben nicht ganz ohne Verwundungen auf Seiten der Polizei abgegangen. So soll der Kriminalkommissar Kern durch einen Revolverschuß schwer verletzt worden sein. Wie uns weiter bekannt ist, sind sowohl sämtliche bei dem Müllerschen Einbruch geraubten Wertsachen als auch das dem Fabrikbesitzer Krüger aus dem erbrochenen Geldschrank gestohlenen Geld in einem Versteck in der Heide aufgefunden worden. Hoffentlich ist die Verwundung des Kommissars nicht zu gefährlich, damit nicht gerade er, der hauptsächlich durch sein geschicktes Vorgehen diesen Erfolg herbeigeführt hat, als einziger so infolge seines Diensteifers zu leiden hat. –

Der Polizeirat Scheller war’s, der Fischer mit humoristischer Betonung am anderen Vormittag diesen Bericht in seinem Arbeitszimmer vorlas.

„Na, was sagen Sie zu diesem Machwerk – pardon Kunstwerk der Zeitungsschreiber?“ meinte er dann, vergnügt schmunzelnd. „Eigentlich ist es anerkennenswert, daß der Verfasser dieser Zeilen aus dem wenigen, was er wußte, noch so viel Richtiges herausgeraten hat, nicht wahr?“

Fischer nickte nur.

„Hat denn keiner dieser Herren Reporter sich an Sie herangemacht?“ fragte der Polizeirat nach einer Weile.

„Gewiß! Aber bei mir ist nichts zu holen!“ entgegnete der wortkarge Fischer.

„So. Da haben Sie noch eine Zigarre, Fischer! Vorläufig herrscht ja jetzt Ruhe! – Und wenn Sie einige Tage Urlaub wollen …“

Jakob Fischer machte eine höfliche Verbeugung.

„Ich danke vielmals, Herr Rat! Ich erhole mich am besten im Dienst, besonders wo ich ja jetzt wieder das schöne Gefühl kennen lernen werde, nachts in einem Bett zu schlafen.“

Dann nahm Jakob Fischer die Hacken zusammen und verließ darauf das Zimmer. Scheller aber schrieb in seinem Bericht an den Präsidenten sehr viel Lobendes über den ebenso bescheidenen wie tüchtigen Beamten, so viel, daß für den Kommissar kaum mehr etwas übrig blieb.

Aber Kern wurde nach vier Wochen doch Kriminalinspektor. Es war ein Pflaster für die bei der Razzia in der Ginsterschlucht geholten Rippenbrüche – keine Anerkennung für besondere Verdienste!

 

16. Kapitel.

Heinrich Seilers Jugendkraft ließ ihn auch die Schrecknisse der letzten Tage ohne Nervenfieber überwinden. Zwar mußte er auf Befehl des Arztes noch tagelang das Bett hüten, aber wirklich krank war er nicht. Im Gegenteil – eine seltene Unrast ließ ihn die Mutter fortwährend bitten, ihm das Aufstehen zu gestatten.

Als dann eines Tages Jakob Fischer in dem Häuschen vorsprach und sich bei Frau Seiler dafür entschuldigte, daß er sich unter der Maske des Arbeiters Werner bei ihr eingeschlichen habe, da hatte auch Heinrich endlich Gelegenheit, sein übervolles Herz auszuschütten.

Er war in den langen Stunden, die er gefesselt und geknebelt in der dumpfen Erdhöhle zugebracht hatte, zu der Überzeugung gekommen, daß eine höhere Macht ihn für seine früheren Verfehlungen habe strafen wollen. Sein bisheriges Leben war an ihm vorübergezogen in wirren Bildern. Aber überall sah er sich nur als unnützen Taugenichts! Überall Unarten und Schlechtigkeiten, die der armen Mutter so viel Herzeleid bereitet hatten! – Die arme Mutter! Wie würde sie sich um ihn gesorgt haben! –

Und dieser Gedanke hatte ihn aus seiner gleichgültigen Müdigkeit immer wieder aufgepeitscht. Wenn er verzweifeln wollte und das Ende herbeiwünschte, wenn die Schmerzen, die ihm die ins Fleisch schneidenden Stricke bereiteten, unerträglich wurden, dann dachte er an sie und er, der Junge von der Straße, der in seinem Elternhaus nie eine weichere Regung empfinden gelernt hatte, er fühlte jetzt für die Mutter eine so warme Zärtlichkeit, eine Dankbarkeit, die ihn auch ihre Strenge vergessen ließ. Und als er dann gerettet war, und daheim von der vom Leben so abgehetzten Frau so fürsorglich gepflegt wurde, als sein Denken sich wieder langsam klärte, da trat etwas anderes in seinen Ideenkreis ein, etwas, das ihm in seinem Bett keine Ruhe ließ.

Und Jakob Fischer saß jetzt neben seinem Lager und hörte erstaunt auf das, was ihm Heinrich Seiler erzählte. Daß er dem ‚Schusterkarl’ mit einem Schuß die Schulter zerschmettert habe, daß die drei ihn zuerst sofort umbringen und dann fliehen wollten, daß dann aber der Verwundete plötzlich von Blutverlust ohnmächtig geworden sei, und die Brüder Albrecht in ihrer Angst ganz den Kopf verloren hatten.

Es schien Heinrich Seiler ein wahres Bedürfnis, sich über die Einzelheiten seiner Erlebnisse zu dem ihm liebgewordenen Beamten aussprechen zu können. Und Fischer hemmte diesen Redefluß nicht. Im Gegenteil, er fragte bisweilen nach diesem und jenem und machte Bemerkungen, die das Benehmen und den Mut des Jungen lobten. –

Und dann stockte Heinrich Seiler plötzlich; erst nach einer Weile meinte er altklug, indem er Fischer fragend ansah: „Also das Geld und die Uhren sind wiedergefunden – so, so! – Ja, sagen Sie mal, Herr Fischer, wenn ich nun nicht den Albrechts so nachspioniert hätte, dann – dann wären Sie doch auch nicht –“

Er schwieg verlegen. –

Fischer verstand ihn sofort. Wie seltsam, daß dieser dreizehnjährige Junge zunächst den Mut gefunden hatte, seine Pläne derart durchzuführen, noch seltsamer, daß derselbe junge jetzt offenbar mit schlauer Berechnung aus dieser Geschichte Kapital schlagen wollte. Eigentlich berührte Fisher das unangenehm. Es erschien ihm als ein ungesunder Übereifer, als eine Gewinnsucht, die ihm das Bild des Knaben etwas entstellte.

„Du meinst,“ sagt er nun langsam, „daß es eigentlich ganz recht wäre, wenn du für deine überstandene Angst so etwas wie eine Belohnung bekämst – nicht wahr?“

Heinrich Seiler nickte eifrig. Dann beugte er sich vor und flüsterte Fischer zu, damit die Mutter es nicht hören sollte: „Ich möchte das Geld nämlich gern der Mutter geben, – sie ist jetzt, seit Vater tot ist, so gut zu mir –“

Da faßte Jakob Fischer des Jungen Hand und drückte sie. „Du wirst Geld bekommen, ganz sicher – und dann machen wir Mutter eine Freude, wir beide.“

Über Heinrich Seilers Gesicht zog ein vergnügtes Lachen. Und Fischer schaute zu der Frau hinüber, die am Fenster saß und eifrig nähte. Ein Sonnenstrahl vergoldete ihr blondes, volles Haar und beleuchtete das verhärmte, aber immer noch anziehende Gesicht.

Und da sagte Jakob Fischer nochmals zu seinem Schützling: „Ja, eine Freude, – wir beide! –“

*

Jakob Fischer ist kurz nach seinem Vorgesetzten Kern ebenfalls befördert worden. Ihm, dem wortkargen, einsamen Menschen hat aber ‚das Geheimnis der Ginsterschlucht’ noch mehr eingebracht. – In der blühenden, nett gekleideten Frau, die jetzt Fischers Gattin ist, würde man kaum die arme Frau Seiler wiedererkennen, die einst verbittert und vergrämt vor der Tür der Kneipe auf ihren ersten Mann gewartet hatte, – an jenem Abend, als Heinrich Seiler zum ersten Mal versuchte, hinter das Geheimnis der Ginsterschlucht zu kommen.