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Der König als Diebeshelfer

 

Der König als Diebeshelfer. Von W. Kabel.

 

Ein Pariser Dieb hatte sich in das Schloß Ludwigs XIV. eingeschlichen und war gerade dabei, aus einem der Gemächer eine mit wertvollen Steinen besetzte Uhr von der Wand zu nehmen, als der König auf dem Wege nach seinem Arbeitszimmer dieses Gemach betrat. Der Dieb jedoch, der oben auf einer Leiter stand, verlor auch nicht einen Augenblick seine Kaltblütigkeit. In höflichem Tone sagte er: „Sire, ich fürchte, daß die Leiter gleiten wird.“

Der König, überzeugt, daß der Mann ein Hoflakai oder der Angestellte eines Uhrmachers sei, hielt die Leiter so lange fest, bis der andere die kostbare Uhr herabgeholt hatte.

Einige Stunden später wurde Ludwig XIV. dann gemeldet, daß gerade diejenige der kostbaren Uhren, die er vor kurzer Zeit von dem russischen Kaiser als Geschenk erhalten hatte, auf unerklärliche Weise verschwunden sei. Sofort fiel dem Könige der Mann auf der Leiter ein, und lächelnd meinte er: „Schweigen wir über die Sache! Ich bin ein Mitschuldiger des Diebes, denn ich habe die Leiter gehalten, während die Uhr von der Wand genommen wurde.“

 

 

Anmerkung:

  1. Dieser Artikel erschien fast wortgetreu auch unter dem Titel Geistesgegenwart in: Neues Deutsches Familienblatt, Jahrgang 1912, Heft 28, Seite 222.