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Millionen, die auf der Straße liegen blieben

 

Millionen, die auf der Straße liegen blieben. Von W. Kabel.

 

Napoleon hatte 1812 einen recht erheblichen Kriegsschatz zur Soldzahlung an die Truppen mit nach Rußland genommen. Über das Schicksal dieses Kriegsschatzes geben nachgelassene Aufzeichnungen des sächsischen Rittmeisters von Scheffel, der dem Kürassier-Regiment von Zastrow angehörte, genauen Aufschluß. Scheffel wurde am 18. Oktober, nachdem die Feuersbrunst neun Zehntel aller Gebäude der alten Zarenstadt Moskau vernichtet hatte, zu Napoleon gerufen, der wieder im Kreml Wohnung genommen hatte. Dort erhielt der Rittmeister, den der Korse seines besonderen Vertrauens würdigte, den geheimen Auftrag, am nächsten Tage mit 80 Kürassieren und einem Bataillon der Garde als Bedeckung den kaiserlichen Schatz nach Smolensk zu bringen. Dieser Kriegsschatz bestand aus 32 mit Gold, zumeist Napoleondor und russischen Münzen, beladenen vierrädrigen Wagen und hatte einen Wert von nahezu neun Millionen Mark.

Dem Befehl gemäß verließ der Zug am frühen Morgen möglichst unauffällig das französische Lager und schlug den Weg nach Smolensk ein. Scheffel hatte sich für die Bespannung der schweren Wagen die besten der vorhandenen Pferde ausgesucht und auch seine Kürassiere gut beritten gemacht. Vor jedes Gefährt waren acht Pferde gespannt. Trotzdem ging der Marsch nur sehr langsam vorwärts. Die Straßen waren grundlos, und die Räder aus den mit zähem Schlamm gefüllten Löchern wieder herauszuziehen, kostete oft stundenlange Arbeit. Und während dessen hatte man noch die Angriffe der den Transport bald in dichten Scharen umschwärmenden Kosaken abzuwehren. Nach wenigen Tagen schon trat Frostwetter ein. Die Wege wurden dadurch zwar fester, aber die Kälte verzehrte die Kräfte von Mensch und Tier. Der mitgenommene Proviant war in kurzer Zeit verbraucht, und nun begannen erst die eigentlichen Leiden dieser Kolonne, die, sich selbst überlassen, durch die endlosen russischen Steppen dahinschlich. Die Dörfer, die man traf, zum größten Teil niedergebrannt, waren bis auf den letzten Strohhalm von der großen Armee schon auf dem Hinmarsch ausgeplündert worden. Nirgends bekamen die Soldaten einen Menschen zu Gesicht. Die Einwohner waren ins Innere geflüchtet. Nur Kosaken, Rudel von Wölfen und dichte Krähenschwärme belebten das eintönige Landschaftsbild. Da für die Pferde kein Futter beschafft werden konnte, fielen bereits in der ersten Woche soviele Tiere dem Hunger zum Opfer, daß mehrere Wagen stehen bleiben mußten. Die auf ihnen befindlichen Münzen wurden an die Bedeckungsmannschaften verteilt. Jeder Reiter erhielt 50 und der Infanterist 20 Goldmünzen. Der Rest wurde auf die übrigen Wagen verteilt, die jetzt nur noch schwerer fortzubringen waren. Der Marsch wurde von Tag zu Tag schneckenähnlicher. Die Angriffe der Kosaken, die sich zumeist die Nacht für ihre Überfälle aussuchten, ließen den Mannschaften niemals auch nur eine Stunde Zeit zum Ausruhen. Die Stimmung der Leute wurde daher zusehends schlechter. Mitte der zweiten Woche sah sich Rittmeister von Scheffel, da inzwischen noch mehr Pferde zusammengebrochen waren, schon gezwungen, jeden Reiter mit 1000 und jeden Fußsoldaten mit 500 Goldstücken zu beladen. Ende der zweiten Woche trugen dann die ersten bereits 2000, die letzteren 1000 Napoleondor.

Hören wir, was der sächsische Offizier dann weiter über diesen Goldtransport zu berichten weiß. „Um diese Summen, die schon ein recht ansehnliches Gewicht darstellten, fortzuschleppen, mußten Reiter und Fußsoldaten alle nur irgend entbehrlichen Sachen wegwerfen. Als die Mannschaften nicht mehr Gold an sich zu nehmen vermochten, und täglich, ja stündlich die Pferde fort und fort eingingen, mußte ein großer Teil der Kürassiere absitzen und die kräftigsten ihrer Pferde vor die Wagen spannen. Die Reiter zogen daher bald in immer größeren Trupps zu Fuß einher, die Schabracken als Schutzhüllen gegen die Kälte benutzend.“

„Aber auch der Bestand der Mannschaften wurde von Tag zu Tag geringer. Der größte Teil, durch Hunger und Kälte ermattet, warf das belästigende Geld weg, um sich nur selbst noch weiter mitschleppen zu können. Wer sich von der Bedeckung, einzeln oder in geringer Zahl, von der Heerstraße entfernte, um Lebensmittel zu suchen, fiel in die Hände der wütenden Bauern, die seitwärts in den Waldungen lauerten, und endete sein Leben unter grausamen Qualen und Mißhandlungen. Das Fleisch gestürzter Pferde bildete für Offiziere und Gemeine die einzige warme Speise, – wenn es gelang, aus den Balken abgerissener Häuser und Scheuern ein Feuer anzumachen. Und glücklich derjenige, der sein Nachtlager hinter einem Steinhaufen oder den Trümmern einer Mauer, als einen kleinen Schutz gegen den schneidenden Nordwind, herzurichten vermochte und nicht, wie die Mehrzahl, sein Haupt ohne eine Handvoll Stroh auf Schnee und Eis betten mußte. Viele erfroren auf diese Weise des Nachts, andere sanken tagsüber vor Erschöpfung nieder und fanden ihr Ende neben den haufenweise fallenden Pferden.“

 

Millionen, die auf der Straße liegen blieben.

Illustration von Ernst Zimmer (* 1864 in Lorenzberg, Kreis Strehlen/Schlesien; † 1924 in Bamberg).

 

„Am 6. November setzte ein starker Schneefall ein, der ein Fortkommen kaum noch möglich machte, und einige Tage darauf kam ein derartiger Frost, daß das Elend fürchterlich gesteigert wurde. Auf das mangelhafteste gekleidet, meist ohne Stiefel und Schuhe, aller Nahrung, außer dem Pferdefleisch, entbehrend, zog die Kolonne Schritt für Schritt über unabsehbare Schneewüsten hin, deren einzige Unterbrechung frisch überschneite Menschen- und Pferdeleichen bildeten. So bot die Straße und das von ihr durchzogene Land den Anblick eines unbegrenzten Kirchhofs dar.“

Als der Transport nach weiteren zwei Wochen endlich an seinem Bestimmungsort, in Smolensk, anlangte, zählte er nur noch acht Wagen. Die Bedeckungsmannschaft war auf ein Viertel ihres ursprünglichen Bestandes zusammengeschmolzen. Reiter gab es außer den Offizieren überhaupt nicht mehr. Vierundzwanzig Wagen hatte man auf der Straße stehen lassen müssen, zum Teil noch voll beladen.

Von den neun Millionen brachte man nur etwa drei und eine halbe nach Smolensk.

Niemals ist je nach dem Verbleib der anderen 5½ Millionen, die so tatsächlich auf der Straße liegen blieben, geforscht worden. Sicherlich sind sie den umwohnenden Bauern in die Hände gefallen, – eine Entschädigung, die den ihrer gesamten Habe beraubten Leuten wohl zu gönnen war.

Dem Rittmeister von Scheffel waren beide Füße erfroren. Sämtliche Zehen waren ihm abgefault. Doch glückte es ihm, zu Pferde über eine der beiden Beresina-Brücken zu kommen. Dann wurde er jedoch von Kosaken aufgegriffen und nach Riga gebracht. Hier saß er beinahe ein ganzes Jahr gefangen. Er mußte sich einen Fuß abnehmen lassen, um sein Leben zu erhalten. Erst nach der Schlacht bei Leipzig wurde auch er in die Heimat entlassen.