Verteidigungsmittel, die die Not erfand. Von W. Kabel.
In dem erbitterten Kriege, den Spanien Ende des 16. Jahrhunderts gegen England auszufechten hatte, war die spanische Seemacht nach dem Untergange der berühmten Armada (im Jahre 1588) auf eine geringe Anzahl von Kriegsschiffen zusammengeschmolzen, die kaum genügte, die wichtigsten Heimathäfen gegen die Angriffe der englischen Flotte zu verteidigen. Am 5. August 1592 griffen zwei englische Schiffe den spanischen Dreidecker „Santa Maria“ in der Nähe des Kap Vilano an und zwangen ihn nach hartem Geschützkampfe zur Flucht. Der Kapitän der „Santa Maria“ hatte das Gefecht allerdings nur deswegen abbrechen müssen, weil ihm die Kugeln für seine Schiffskanonen ausgegangen waren. Eifrig verfolgt von den Engländern, flüchtete der Spanier die Küste entlang, um in dem nahen Hafen von Muros Schutz zu suchen. Doch mit der arg zerschossenen Takelage kam die „Santa Maria“ nur langsam vorwärts. Schon wollte der Kapitän des Spaniers sein Schiff anzünden und mit Hilfe der Boote an Land flüchten, da die englischen Segler immer näher rückten, als der Schiffsoffizier Salvazio ihm den Vorschlag machte, aus den eisernen Ankerketten und geschmolzenem Blei neue Kanonenkugeln zu gießen. Inzwischen war der Wind völlig eingeschlafen und die Dämmerung herbeigekommen, so daß die Spanier hoffen konnten, die ganze Nacht für die Herstellung dieser Notgeschosse verwenden zu können. Blei war an Bord der „Santa Maria“ reichlich vorhanden, da man kurz vorher ein mit diesem Metall beladenes englisches Handelsschiff weggenommen hatte. Die Ankerketten wurden also in gleichmäßig lange Stücke zerschlagen und in einer schnell hergestellten Form mit geschmolzenem Blei umgossen. Wenn diese Geschosse auch nicht gerade sehr gleichmäßig gerieten, so war doch Hoffnung vorhanden, daß sie ihren Zweck einigermaßen erfüllen würden. Als der Morgen kam, lag wirklich eine große Anzahl dieser Kugeln bereit, und die Engländer, die mit der Morgenbrise der „Santa Maria“ näher auf den Leib rückten, waren nicht wenig erstaunt, als sie mit einer vollen Breitseite empfangen wurden. Denn es war ihnen am Tage vorher nicht entgangen, daß der Spanier aus Munitionsmangel sein Feuer hatte einstellen müssen. Überraschenderweise war die Wirkung der merkwürdigen Kanonenkugeln eine recht empfindliche, da das die Eisenketten zusammenhaltende Blei infolge des Stoßes der Pulvergase beim Abfeuern an einigen Stellen brach, die Ketten mit den anhaftenden Bleistücken sich langreckten und so, besonders in der Takelage der feindlichen Schiffe, große Verwüstungen anrichteten. Als der Kapitän der „Santa Maria“ dies erst merkte, ließ er seine Kanonen nur noch auf die Takelage der Engländer feuern, deren Segel und Tauwerk denn auch sehr bald völlig zerfetzt waren. Auf diese Weise manövrierunfähig geworden, mußten die englischen Schiffe nach kaum zweistündigem Geschützkampf die Flagge streichen. So wurde der spanische Schiffsoffiziere Salvazio der Erfinder der später besonders im Seekriege vielfach verwendeten Kettenkugeln.
Ein diesem ähnliches Vorkommnis ereignete sich 1798 in dem spanisch-französischen Kriege, den Karl IV. von Spanien gegen die neu erklärte Republik Frankreich vom Zaune brach. Eine französische Fregatte, die bei Santander einen spanischen, mit den verschiedensten Handelsartikeln beladenen Kauffahrer als Prise mit Beschlag belegt hatte und ihn in den nächsten französischen Hafen schleppen wollte, wurde von einem an Geschützausrüstung weit überlegenen spanischen Schiffe überraschend angegriffen und hätte sich ebenfalls infolge Mangels an Kanonenkugeln ergeben müssen, wenn man nicht noch rechtzeitig auf dem gekaperten spanischen Handelsschiffe mehrere Kisten entdeckt hätte, die gläserne Kugeln in allen Größen enthielten, sogenannte Schusterkugeln, die von einer belgischen Glashütte nach Barcelona abgesandt worden waren. Diese gläsernen Vollkugeln waren von außerordentlicher Härte, und kurz entschlossen machte der französische Kapitän den Versuch, sie als Geschosse zu verwenden. Es ist geschichtlich beglaubigt, daß die Besatzung des spanischen Kriegsschiffes durch die umherfliegenden Splitter der beim Aufschlagen zerspringenden Glaskugeln schwere Verluste erlitt und in der Annahme, daß es sich um ganz neuartige, besonders mörderische Geschosse handle, derart in Verwirrung geriet, daß die französische Fregatte es sehr bald wagte, den Spanier zu entern und das feindliche Fahrzeug auch glücklich nahm.
Im Tiroler Aufstand 1809, der die Namen eines Andreas Hofer und Speckbacher für alle Zeit berühmt gemacht, hat der Erfindungsgeist des einfachen Bergvolkes besonders zahlreiche, höchst eigenartige Waffen ersonnen. Allgemein bekannt ist es, daß die Tiroler, die nur über wenig Geschützmaterial verfügten, Kanonen aus Eichenholz herstellten, die sie mit schmiedeeisernen Bändern umgaben. Eine andere Art und Weise, diesen hölzernen Geschützen die nötige Festigkeit gegen den Druck der Pulvergase zu geben, bestand darin, daß man die Holzrohre erst mit Eisenbändern dicht umwickelte und dann diese noch mit einer Lage von Blei, das in geschmolzenem Zustande darüber gegossen wurde, überzog. Tatsächlich haben sich denn auch besonders die letzteren Kanonen recht gut bewährt und bis zu dreißig Schuß ausgehalten. Dann war allerdings die Seele des Rohres derart ausgebrannt, daß das Holzgeschütz nicht mehr benutzt werden konnte.
Auch die Tiroler Knaben wußten sich aus eisernen, an einem Ende durch Zusammenschweißen geschlossenen Röhren einfache Luntenflinten herzustellen, aus denen sie gehacktes Blei verfeuerten. Einige dieser seltsamen Schußwaffen befinden sich noch heute im Museum in Innsbruck. Welch eigenartige Geschosse die Tiroler, denen bald die Munition knapp wurde, benützten, läßt sich im einzelnen hier nicht aufzählen. Man kann nur sagen, daß sie eigentlich alles, was nur irgendwie geeignet war, Verwundungen herbeizuführen, in ihre Gewehre und Kanonen luden. Sehr interessant ist in dieser Beziehung ein älteres Werk des österreichischen Majors Lenninger, welches gerade die Bewaffnung der Tiroler während ihres Freiheitskrieges eingehend behandelt. So sollen 1809 auch Brandpfeile, an die man Raketen zur Erzielung einer größeren Schußweite befestigt hatte, aus den römischen Katapulten nachgebildeten Pfeilgeschützen geschleudert worden sein. Daß starke Tannenbäume, die man vier bis fünf Meter über dem Erdboden abschnitt und an dem Schnittende mit einer Vorrichtung zur Aufnahme von Steinen versah, als natürliche, überall schnell herzustellende Schleudern Verwendung fanden und dem Feinde starke Verluste zufügten, erwähnt Lenninger gleichfalls. Ebenso zählt er mit genauer Beschreibung der einzelnen die aus Haus- und Ackergeräten in der Eile zurechtgeschmiedeten Hieb- und Stichwaffen auf, die noch heute, als teuere Reliquien verehrt, in vielen Tiroler Bauernhäusern zu finden sind und von Liebhabern hoch bezahlt werden.
Am 12. März 1884 wurde der von der englischen Regierung mit der Niederwerfung des Mahdistenaufstandes im Sudan betraute Gordon-Pascha in Chartum, dem Mittelpunkte des gesamten Handels von Nordafrika, von dem Heer des Mahdi eingeschlossen. Gordon-Pascha verfügte über allzu geringe Truppenmassen und allzu spärliches Geschützmaterial, um einen so wenig befestigten Platz wie Chartum mit Aussicht auf Erfolg verteidigen zu können. Trotzdem hielt er die Stadt fast ein ganzes Jahr gegen die ungeheuren Mahdistenscharen, die mit Todesverachtung Tag für Tag, Nacht für Nacht ihre Angriffe wiederholten. Schließlich begann den Eingeschlossenen die Munition auszugehen. Bei einem Besuch der Munitionsräume fand der englische Genieoffizier Housterley eines Tages einen großen, bisher nicht beachteten Vorrat von Patronen, deren Kaliber jedoch nur zu wenigen der vorhandenen Gewehre paßte. Um diese Patronen nun benützen zu können, ließ Housterley in starke Holzbohlen Löcher bohren, in die die Patronen genau hineinpaßten. Festgehalten wurden sie an der Rückseite durch gelochte Eisenplatten, deren einzelne kleine Löcher genau über den Zündhütchen der Patronen lagen. Diese Mitrailleusen – die Bretter enthielten oft bis zu 30 Patronen, wurden von zwei Leuten bedient, die mit Hilfe eines Hammers und eines eisernen Nagels die Zündhütchen anschlugen und die Patronen so zur Entzündung brachten. Daß diese seltsamen Schußvorrichtungen nur auf ganz kurze Entfernungen wirken konnten, ist erklärlich. Trotzdem sollen die Angreifer, wahrscheinlich gerade abgeschreckt durch die ihnen bisher völlig unbekannte Waffenart, die Housterleyschen Mitrailleusen möglichst gemieden haben.
Zum Schluß noch etwas „Allerneuestes“: Eine Reihe interessanter artilleristischer Versuche sind im Fort Albert auf der Insel Wight soeben vorgenommen worden; ihr Zweck war die Prüfung einer neuen Erfindung, die es ermöglicht, auch im Dunkel der Nacht den Flug von Geschossen zu verfolgen. Die Neuerung besteht in einem Metallzylinder, der an das Geschoß angeschraubt wird. In dem Zylinder befindet sich eine Masse, die in dem Augenblick, in dem das Geschoß den Lauf des Geschützes verläßt, aufleuchtet und ein sehr helles, klar sichtbares Licht gibt. Damit wird es dem Kanonier möglich, zu beobachten, ob die Granate ihr Ziel erreicht, oder ob das Geschütz zu verstellen ist.