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Eine Kanonenkugel als Lebensretterin

 

Eine Kanonenkugel als Lebensretterin. Von W. Kabel.

 

Beim Rückzug aus Rußland im Jahre 1812 gelang es Teilen des 10. französischen Armeekorps unter General Rapp, sich in die seit 1807 zum Freistaat erklärte Stadt Danzig zu werfen. Dieselbe wurde dann 1813 durch russische und preußische Truppen unter Herzog Alexander von Württemberg und General Graf Dohna eingeschlossen. Während dieser Belagerung wurde nun eines Tages von preußischen Landwehrleuten ein polnischer Händler überrascht, der gerade von der Spitze einer hohen, einsam stehenden Pappel aus die von den Belagerern aufgeworfenen Batterien in eine Karte einzeichnete. Der Mann ward vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode durch den Strang verurteilt. Nach dem Spruche des Kriegsgerichts sollte die Strafe unter derselben Pappel vollzogen werden, die der Pole als Aussichtsturm benutzt hatte.

Am 2. Mai 1813 versammelten sich die Soldaten, die das Urteil vollstrecken sollten, unter jenem Baume. Mittags punkt 12 Uhr legte man dem an allen Gliedern zitternden Polen, dem man auf seine Bitten hin die Augen nicht verbunden hatte, die Schlinge um den Hals, deren anderes Ende um einen Ast der Pappel geworfen war und von mehreren Soldaten gehalten wurde. Schon wollte der Führer das Zeichen zum Anziehen des Strickes geben, als der Händler plötzlich rief: „Eine Bombe, eine Bombe!“ Alles schaute sich um. Und wirklich sah man am Himmel einen dunklen, von einer feinen Rauchsäule gefolgten Punkt schweben und sich mit unheimlicher Schnelligkeit der um die Pappel herumstehenden Menschengruppe nähern. Es war ein Geschoß, das die Belagerten gegen eine in der Nähe befindliche Batterie abgefeuert hatten und das durch irgend einen Zufall in eine falsche Richtung geraten war. Niemand hatte es bemerkt, da aller Blicke auf den Verurteilten gerichtet waren. Nur der Todeskandidat selbst, der mit dem Gesicht nach den Festungswällen gestanden hatte, sah die gefährliche Bombe und stieß trotz seiner furchtbaren Todesangst den Warnungsruf aus, auf den hin Profoß, Soldaten und Offiziere schleunigst auseinanderstoben und in einem nahen Graben Deckung suchten. Und keine Sekunde zu früh hatten sie die gefährdete Stelle verlassen. Denn gleich darauf traf die Kanonenkugel den Stamm der Pappel und brachte den mächtigen Baum mit Krachen und Splittern zu Fall.

Der Gerichtete, der sich lang zu Boden geworfen hatte, wurde nur durch ein paar herumfliegende Holzstücke unbedeutend verletzt, und die auf diese Weise unterbrochene Hinrichtung mußte vorläufig verschoben werden.

Inzwischen wurde dem Herzog Alexander von Württemberg der merkwürdige Zwischenfall gemeldet, und er als Oberkommandierender der Belagerungstruppen rief ein neues Kriegsgericht zusammen, indem er gleichzeitig den Richtern nahelegte, den Spion, da dieser durch seine Warnung viele Menschenleben gerettet hätte, freizusprechen, was dann auch noch an demselben Tage geschah.