Giftfeste Lebewesen. Von W. Belka.
Unter Giftfestigkeit versteht man die Erscheinung, daß gewisse Lebewesen die Einverleibung von Gift vertragen. So besitzen diese natürliche Giftfestigkeit, z. B. die Kaninchen gegen Kantharidin, den giftigen Bestandteil der spanischen Fliege, Ichneumon und Igel gegen Schlangengifte. In noch weit höherem Maße giftfest zeigen sich auffallender Weise die wirbellosen Tiere.
Würmer, Schnecken, Tintenfische, Quallen usw. leben in Strychninlösungen von solcher Stärke, daß wenige Kubikzentimeter davon einen Menschen töten würden. Jedoch ist diese Giftfestigkeit bei den meisten Lebewesen nicht ohne Grenze. So kann man z. B. einen Igel sehr wohl durch Kreuzottergift töten. Nur gehört dazu eine derartige Menge Gift, daß das einer Kreuzotter allein nicht hinreicht. Durch Versuche ist festgestellt worden, welche Menge Kreuzottergift nötig ist, um ein Pferd zum Verenden zu bringen. Und dieselbe Dosis nimmt der kleine, stachelige Geselle ohne das geringste Unbehagen in sich auf! Absolute Giftfestigkeit finden wir dagegen bei allen gifterzeugenden Tieren gegen ihr eigenes Gift, z. B. bei Giftspinnen und Giftschlangen gegen ihr Drüsensekret und bei den Aalen gegen ihr Blut, von dem sonst einige Kubikzentimeter einen Hund töten, wenn man es ihm ins eigene Blut einspritzt.
Von größerer praktischer Bedeutung ist die künstlich erzeugte Giftfestigkeit. Es war bereits im Altertum bekannt, daß Gifte, die bei der ersten Einverleibung starke Wirkungen auf das menschliche Wohlbefinden hervorbrachten, bei fortgesetztem Gebrauch allmählich versagen und schließlich überhaupt keinen Einfluß mehr äußern. In derselben Weise lassen sich auch Tiere durch vorsichtig gesteigerte Gaben völlig unempfindlich gegen die betreffende Giftart machen. Professor Behrings geniale Entdeckung, daß das Blut derart vorbereiteter Tiere ein Gegengift – ein Serum – enthält, das, anderen Tieren eingespritzt, diese vor sonst tödlichen Giftgaben schützen kann, hat bekanntlich auch beim Menschen zu der Diphtheriebehandlung geführt und der heimtückischen Kinderkrankheit den größten Teil ihrer Schrecken genommen, ferner zu der Schutzpockenimpfung usw.
Der erste auf ähnliche Art giftfest gewordene Mensch, von dem uns die alten Schriftsteller berichten, war König Mithridates von Pontus (gest. 63 v. Chr.). Dieser lebte nämlich in der beständigen Angst, von seinen Feinden durch Gift beseitigt zu werden. Auf Anraten seines Leibarztes Olenkos fütterte er nun Gänse mit täglich größeren Mengen Gift jeglicher Art und trank dann das Blut dieser Tiere. Auf diese Weise soll er schließlich gegen die damals bekannten Gifte vollkommen unempfindlich geworden sein. Denn als sich später sein Lieblingssohn gegen ihn erhoben hatte und ihn in der Königsburg belagerte, versuchte er vergeblich, sich selbst durch Gift das Leben zu nehmen. Beim Eindringen der Belagerer in seine Gemächer mußte ihn vielmehr auf eigenen Befehl ein Diener mit dem Schwerte niederstoßen.
Dieselbe einfache Methode, die Mithridates anwandte, um giftfest zu werden, wird seit Jahrtausenden in Indien, wenn auch in etwas veränderter Form, von der Sekte der Schlangenbeschwörer für ihre geheimnisvolle Kunst angewandt. Wird in Indien ein Eingeborener von einer giftigen Schlange gebissen, so läßt er sich von einem solchen Schlangenbeschwörer in die künstlich durch einen Messerschnitt erweiterte Bißwunde spucken, und der Biß heilt ohne nachteilige Folgen. Diese Leute, deren Speichel eine solche Heilkraft besitzt, stehen beim Volke in hohem Ansehen und nehmen an den indischen Fürstenhöfen noch heute trotz der europäischen Leibärzte eine bevorzugte Stellung ein.
Das Geheimnis der wunderbaren Heilkraft dieser Schlangenbeschwörer findet folgende sehr natürliche Erklärung: Die Schlangenbeschwörer, die in ihrer Sekte nur Familienmitglieder aufnehmen, lassen ihre Kinder von alten, nur noch schwaches Gift besitzenden Schlangen beißen. Diese Kur bestehen nur solche Kinder, deren Blut besonders widerstandsfähig ist. Wenn sie aber die Kur überleben, besitzen sie nunmehr schon eine solche Giftfestigkeit, daß der Biß einer kräftigen Schlange nur noch leichte Störungen des Befindens bei ihnen hervorruft. Dieses Verfahren wird fortgesetzt, bis schließlich der erwachsene Schlangenbeschwörer in jeder seiner Körperflüssigkeiten ein Gegengift gegen das Gift der Giftschlangen beherbergt und zwar in solcher Menge, daß schon ein Tropfen Speichel genügt, um z. B. den giftigen Biß der gefürchteten Brillenschlange unschädlich zu machen.
Selbstverständlich vermag ein Schlangenbiß dem Schlangenbeschwörer selbst nicht das geringste anzuhaben.
Auf Giftfestigkeit durch Gewöhnung beruht ebenfalls die Arsenikfestigkeit der Arsenikesser. Ebenso kann mancher Dauerraucher, der den Tag über vielleicht seine zwölf schweren Zigarren, ohne ein Unbehagen zu empfinden, verqualmt, mit Recht von sich sagen, daß er giftfest sei, – nämlich giftfest gegen das Nikotin! Und desgleichen sind giftfest die Unglücklichen, die heimlich der verheerenden Leidenschaft des Morphium- oder Opiumgenusses frönen und die Dosen dieser Gifte beständig steigern müssen, um wieder die ersehnte Wirkung zu verspüren.
Und schließlich, – giftfest ist auch der gewohnheitsmäßige Trinker, dessen Körper häufig ganz unglaubliche Mengen Alkohol verträgt.
Diese Giftfestigkeit beweist aber durchaus nichts für die Unschädlichkeit all dieser Gifte. Eine Schädigung und Schwächung der gesunden Kraft haben sie in den meisten Fällen doch herbeigeführt, und die anderen Feinde werden über den „giftfesten“ Organismus um so leichter Herr.