Ein verhängnisvoller Kanonenschuß. Von W. Kabel.
Am Abend des 19. Oktober 1827 spannte sich über dem altberühmten, an der Westküste der griechischen Halbinsel Morea gelegenen Hafen von Navarino ein wolkenloser, sternbesäter Himmel aus. Der Sternhimmel spiegelte sich in der kaum bewegten See mit schimmernden, hin und her schießenden Pünktchen wieder und tauchte die dort ankernde ägyptisch-türkische Flotte in ein ungewisses Dämmerlicht. Nur eine in weitem Bogen aufgestellte stattliche Anzahl von hochbordigen Schiffsrümpfen war zu erkennen, – die Linienschiffe, vor denen in größeren Abständen wieder eine zweite Reihe kleinerer Schoner als Vorposten an ihren Ankerketten träge schaukelte. Die abendliche Stille wurde nur selten durch die taktmäßigen Ruderschläge eines den Verkehr mit dem Lande unterhaltenden Bootes, die leisen Klänge eines Matrosenliedes oder das Knarren der Rahen unterbrochen.
Der warme Küstenwind trug vom Strande die berauschenden Düfte der schon im Altertum bekannten Rosengärten von Pylos bis zur Flotte hinüber, jenes Pylos, das zwar im Mittelalter seit der Ansiedlung der Navarresen den Namen gewechselt, damit aber weder sein wunderbar mildes Klima noch den Reichtum einer üppig wuchernden, halbtropischen Pflanzenwelt verloren hatte. Von dem kleinen Städtchen selbst waren im dem Abenddunkel nur die Umrisse der meist weiß gestrichenen, niedrigen Häuschen und einige größere, dicht am Hafen gelegene Lagerschuppen englischer und Hamburger Handelsfirmen zu sehen.
Dieses Bild heiteren Friedens störte jedoch bald der landeinwärts am nächtlichen Horizont hie und da aufzuckende rötliche Feuerschein, der seiner Helle nach nur von dem Brande ganzer Dörfer und Gehöfte herrühren konnte. Bisweilen durchzitterte die Luft auch der ferne Schall von Kanonenschüssen wie das Grollen eines heraufziehenden Gewitters.
Soeben war vor einem der in der vordersten Linie liegenden türkischen Wachtschiffe von See aus ein Kutter aufgetaucht, worin ein höherer englischer Marineoffizier in großer Uniform saß. Das Boot wurde rechtzeitig angerufen, legte sich für wenige Minuten langseit des Türken und setzte dann seine Fahrt nach dem Linienschiff „Alexandria“ fort, auf dem der Kapudan-Bei, der Oberbefehlshaber der ägyptisch-türkischen Flotte, seine Flagge gehißt hatte.
Bald darauf stand der Engländer in der mit echt orientalischem Prunk ausgestatteten Kapitänskajüte der „Alexandria“ dem Bei gegenüber. Der geschmeidige Türke bot dem Besucher mit etwas übertriebener Höflichkeit einen Sitz auf einem der niedrigen Diwane an, den dieser jedoch mit kühler Verbeugung ausschlug, um sich sofort seines Auftrages zu entledigen.
„Auf Befehl des Admirals Sir Codrington, des Höchstkommandierenden der vereinigten französischen, russischen und englischen Geschwader, habe ich Euer Exzellenz folgendes zu melden: Nachdem die drei verbündeten Regierungen sich in dem Londoner Vertrage dahin geeinigt hatten, daß aus dem seit Jahren um seine Freiheit kämpfenden Griechenland fortan ein Vasallenstaat der Türkei mit autonomer Verwaltung zu bilden sei, ist diese Abmachung der Pforte zur Erklärung unterbreitet worden. Bis zum Eintreffen der Entscheidung Ihrer Regierung auf diese wohlgemeinten Vorschläge sollten, wie zwischen dem Oberbefehlshaber der türkischen Land- und Seestreitkräfte, Ibrahim-Pascha, und Sir Codrington vereinbart wurde, alle Feindseligkeiten eingestellt werden. Dieser Waffenstillstand ist von türkischer Seite nicht beachtet worden. Nach uns zugegangenen sicheren Meldungen hat man vielmehr die Verwüstung des Landes, das Niederbrennen von Ortschaften und Hinschlachten wehrloser Bewohner fortgesetzt.“
Der Kapudan-Bei hatte bisher mit größter Ruhe zugehört. Nur aus seinen kleinen, halbzugekniffenen Augen traf den Engländer zuweilen ein prüfender Blick. Jetzt erhob er aber, als wollte er diese Anschuldigung weit von sich weisen, abwehrend die Hände.
Doch der andere ließ ihn nicht zu Worte kommen. Mit erhobener Stimme sprach er weiter: „Oder wollen Exzellenz etwa behaupten, daß der am nördlichen Horizont deutlich sichtbare Feuerschein und der herüberklingende Geschützdonner von Freudenfesten herrühren, die die Bewohner dieses armen Landes aus Anlaß der endlichen Waffenruhe feiern?“
Der Türke schwieg verlegen, und ehe er sich zu einer Erwiderung aufraffen konnte, hatte der englische Offizier schon ein versiegeltes Schreiben hervorgezogen und hielt es dem Kapudan-Bei dicht vor das verlegene Gesicht.
„Dieses Schreiben“, erklärte er schneidend, „enthält folgendes Ultimatum: Sollte Ibrahim-Pascha bis morgen Mittag zwölf Uhr meinem Admiral nicht den Beweis dafür gebracht haben, daß die strengsten Befehle gegeben sind, um den bestehenden Waffenstillstand auch tatsächlich durchzuführen, so werden die drei verbündeten Mächte sich genötigt sehen, ihrem Willen durch Zwangsmaßregeln Geltung zu verschaffen. Dieses Ultimatum bitte ich Ihrem Oberbefehlshaber, dessen Hauptquartier sich wohl noch in Navarino befindet, möglichst umgehend zukommen lassen zu wollen.“
Darauf verließ der Engländer nach kurzer Verbeugung die Kajüte, durchschritt das nur schwach beleuchtete Batteriedeck und stieg das Fallreep hinunter in sein Boot, ohne von dem ihn begleitenden türkischen Admiral und der präsentierenden Schiffswache irgendwelche Notiz zu nehmen. Dann ein helles Kommando, die Ruder tauchten ein, und der Kutter mit der stolzen Flagge am Heck war bald in der Richtung nach der Hafeneinfahrt in der Dunkelheit verschwunden.
Der Kapudan-Bei eilte jetzt auf das Achterdeck, wo ein Mann, eingehüllt in einem dunkelbraunen Burnus, der offenbar seine reichgestickte Uniform verdecken sollte, an der Reling lehnte. Dieser Mann mit dem gebräunten, scharfgeschnittenen Gesicht war niemand anderes als Ibrahim-Pascha, der Stiefsohn des Vizekönigs Mehemed Ali von Ägypten, der Erstürmer von Missolunghi, des Bollwerkes von Westhellas, und der gefährlichste Gegner des griechischen Freiheitsgedankens.
Eine ganze Weile sprachen die beiden flüsternd miteinander. Als sich Ibrahim-Pascha dann wieder an Land rudern ließ, hatte sich die Stirn des Beis sehr nachdenklich gekraust.
* * *
In jener Nacht vom 19. zum 20. Oktober 1827 ankerte in dem geschützten Hafen von Navarino als einziges größeres Kauffahrteischiff ein Klipper, dessen scharfe Bauart und große Takelage jedem Seemann auf den ersten Blick den Schnellsegler verriet. Er führte an der Gaffel die holländische Flagge und zeigte unter dem Bugspriet eine reichvergoldete Galionsfigur, die in Übereinstimmung mit dem Namen des Schiffes den Kaiser Barbarossa darstellte.
An der Reling auf der Backbordseite standen zwei Männer, die mit ihren Nachtgläsern eifrig nach der kaum fünfhundert Meter vor ihnen liegenden „Alexandria“ hinüberschauten.
Jetzt setzte der eine das Fernrohr ab und sagte unzufrieden: „Dieser Abendbesuch des englischen Bootes bei dem Bei gibt mir zu denken. Ich muß Ihnen überhaupt ehrlich sagen, daß mir die Geschichte hier schon seit einigen Tagen nicht mehr ganz geheuer vorkommt. Uns wird jetzt von den türkischen Kriegsschiffen höllisch scharf auf die Finger gesehen. Mir scheint, den Herren ist es doch aufgefallen, daß unsere Reparatur am Steuer schon fast zwei Wochen dauert. Daß man uns gestern den Befehl gegeben hat, den Hafen bis auf weiteres nicht zu verlassen, ist für mich ein neuer Beweis, wie wenig der Kapudan-Bei uns traut. Und wenn dieser Türke erst merkt, daß wir hier innerhalb des Hafens nur für die Verbündeten herumspionieren, könnte es uns passieren, daß wir plötzlich an einer Rahe baumeln!“
„Ich habe gleich davor gewarnt, uns zu diesem Geschäft herzugeben“, meinte von Straaten, der erste Steuermann. „Gewiß – die Verbündeten bezahlen uns gut, aber mein Geschmack ist’s nie gewesen, den Spion zu spielen. Ein zu gefährliches Handwerk. Wir hätten ruhig bleiben sollen, was wir bisher waren: ehrliche holländische Kauffahrer.“
Kapitän Müller zauste etwas verlegen seinen dichten grauen Bart. „So Unrecht haben Sie nicht, van Straaten. Aber was hilft’s … Jetzt heißt es: durch – so oder so. Jedenfalls benutzte ich die erste sich darbietende Gelegenheit, um aus diesem Mauseloch hinauszuschlüpfen. Wird nur nicht so ganz einfach sein. – Doch kommen Sie, wir wollen zur Ruhe gehen. Zu sehen gibt es doch nichts mehr. Und wer weiß, ob wir nicht schon morgen all unsere Kräfte sehr notwendig gebrauchen.“
Die beiden Männer verschwanden unter Deck. –
Als im Osten der Tag zu grauen begann, zeigte sich auf den Schiffen der ägyptisch-türkischen Flotte eine seltsame Geschäftigkeit, die bei der trägen Ruhe der letzten Tage besonders auffallen mußte. Boote fuhren an Land und von Schiff zu Schiff, Signale wurden gewechselt, und nachdem dann die zunehmende Helle einen Blick über die ganze Hafenfläche gestattete, sah man, daß der größere Teil der türkischen Linienschiffe bereits unter kleinen Segeln die Einfahrt passiert und draußen im Golf gegenüber den dort ankernden vereinigten Geschwadern eine neue Stellung eingenommen hatte. Der Rest der türkischen Flotte schwenkte eben in Kiellinie ein und verließ dann ebenfalls den Hafen. Nur drei schwerfällige Gaffelschoner blieben zurück.
An Bord des „Kaiser Barbarossa“ hatte man diese Bewegungen aufmerksam verfolgt. Als jetzt noch der leichte Morgenwind langsam an Stärke zunahm, rieb sich der alte Kapitän Müller sehr vergnügt die Hände und sagte zuversichtlich zu dem neben ihm stehenden ersten Steuermann: „Was gilt die Wette, van Straaten, daß wir in drei Stunden auf dem freien Meere schwimmen? Leichter konnten uns die Herren Türken ja das Entschlüpfen gar nicht machen! Sehen Sie, die ganze Gesellschaft geht da draußen im Angesicht der verbündeten Flotte wieder vor Anker. Sie bergen das bißchen Zeug, das sie ausgesetzt hatten, schon wieder, und ehe die gelben Affen nachher abermals seeklar machen, bin ich längst über alle Wellenberge!“
„Aber hier im Hafen sind noch drei. –“
„Die?“ meinte Müller verächtlich. „Die alten Kähne sollen Allah preisen, wenn ich sie in Ruhe lasse! Meine vier bronzenen Bullenbeißer haben gute Zähne, glauben Sie mir nur, und meine Jungens verstehen ebensogut ein Geschütz zu richten, wie ’ne halbe Flasche Rum auf einen Zug zu leeren!“
So wurde auf dem „Kaiser Barbarossa“ jener denkwürdige 20. Oktober begrüßt, der die Freiheit eines ganzen Volkes entscheiden sollte. Und dem holländischen Klipper war es beschieden, im Hafen von Navarino die Würfel der Weltgeschichte ins Rollen zu bringen.
Die Geschichtsforschung hat nachgewiesen, daß an jenem Tage der Kampf nur infolge eines Ineinandergreifens merkwürdiger Zufälle begann. Weder die Türken noch die Verbündeten haben die Absicht gehabt, sich eine Seeschlacht zu liefern. Wenn auch Sir Codrington das Ultimatum gestellt hatte, so wäre er doch niemals, selbst bei Ausbleiben einer bündigen Erklärung von türkischer Seite, zum Angriff übergegangen. Aber der durch die Verhaltungsmaßregeln seines Vorgesetzten Ibrahim-Pascha nervös gemachte Kapudan-Bei hatte das Unglück, sehr zur Unzeit mit einer Kanonade zu beginnen.
Es war gegen 10 Uhr vormittags, als plötzlich wie auf ein Zauberwort der „Kaiser Barbarossa“ seine sämtlichen Segel entfaltete und wie ein Pfeil der Hafeneinfahrt zuschoß, vor der in einer Entfernung von kaum drei Seemeilen die ägyptisch-türkische Flotte in großem Bogen lag. Dem einen der zurückgebliebenen Schoner gelang es noch, zwei Geschütze hinter dem Flüchtling abzufeuern, die aber nichts weiter ausrichteten, als daß sie die draußen ankernden Schiffe alarmierten. Der schnellsegelnde Klipper fegte nur so über die leichtbewegte See dahin und nahm tollkühn seinen Kurs auf die „Alexandria“ zu.
Kaum waren die beiden Kanonenschüsse im Hafen gefallen, als auch schon auf den türkischen Schiffen in wilder Hast die Anker gelichtet und Segel beigesetzt wurden – um wenige Minuten zu spät! Denn als der Klipper jetzt zwischen der „Alexandria“ und dem nächsten Linienschiff hindurchjagte, hatte man die günstige Gelegenheit längst versäumt, dem Ausreißer eine volle Breitseite zu geben. Die jetzt beginnende unregelmäßige Kanonade kostete dem „Kaiser Barbarossa“ nur ein Stück von seiner Reling.
Dafür war aber in die Flotte der Verbündeten durch diese Schießerei plötzlich Leben gekommen.
Der Klipper verfolgte ruhig seinen Kurs, unbekümmert um die neben ihm immer zahlreicher einschlagenden Kugeln. Eine wilde Verfolgung begann, die aber nur so lange dauerte, als der Flüchtling noch außerhalb der Geschwaderlinie der Verbündeten segelte. In demselben Augenblick, da ein leichtsinnig gezielter Schuß in die Batterie des russischen Flaggschiffes „Peter der Große“ einschlug, ein Geschütz demolierte und mehrere Matrosen tötete, hörte diese Jagd auf. Ein großartiges Drama begann, das der weltbekannten Seeschlacht von Navarino. Der russische Admiral antwortete auf den einen Treffer sofort mit einer wohlgezielten Salve, die dem türkischen Linienschiff die Backbordseite dicht über der Wasserlinie aufriß und es in kurzer Zeit wegsinken ließ.
Dies war das Signal zum allgemeinen Angriff.
Nach einer Stunde verschwand der „Kaiser Barbarossa“ hinter der Insel Sphakteria. Und als der Kapitän Müller schmunzelnd zu van Straaten sagte: „Sehen Sie, Sie wären schön reingefallen, wenn Sie gewettet hätten“, da legte sich die von Kugeln wie ein Sieb durchlöcherte „Alexandria“ auf die Seite und ging in einem tosenden Strudel mit Mann und Maus in die Tiefe.
Die Schlacht bei Navarino endigte mit der Vernichtung des größten Teiles der ägyptisch-türkischen Flotte. Diesem Siege der Verbündeten hat Griechenland seine Befreiung von dem türkischen Joche hauptsächlich zu verdanken. In dem Frieden zu Adrianopel wurde der Sultan gezwungen, sich den Beschlüssen der Mächte über Griechenland zu unterwerfen, und vier Jahre später, am 7. Februar 1833, hielt Prinz Otto von Bayern als König Otto I. von Griechenland seinen feierlichen Einzug in die Hauptstadt des neugegründeten Königreichs.
Anmerkung: