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Wie Fremde betrogen werden

 

Wie Fremde betrogen werden. Von W. Kabel.

 

[1][2][3][4]Der englische Reisende Lionel Darings erzählt in seinem Werke „Marokkanische Streifzüge“ ein sehr spaßreiches Vorkommnis. Darings war in Fes von dem Besitzer eines Cafés darauf aufmerksam gemacht worden, daß sich in dem südwestlich gelegenen Städtchen Miknasa eine uralte Moschee befände, in der als größte Sehenswürdigkeit ganz Marokkos ein Mantel Mohammeds ausgestellt sei. Der Engländer ließ sich wirklich zu dem zweitägigen Ausfluge verleiten.

Die Moschee bestand jedoch nur noch aus einigen zerfallenen Mauern, in denen ein halbverrückter Derwisch hauste und erst gegen ein unverschämt hohes Trinkgeld den sogenannten Mantel Mohammeds, einen zwar völlig zerrissenen, aber gewiß noch keine 100 Jahre alten braunen Burnus, zeigte. Unwillig wollte Darings nach dieser Enttäuschung den Ort sofort wieder verlassen, als ihn der Führer eines größeren, ebenfalls von Fes herübergekommen Fremdentrupps beiseite nahm und ihm mitteilte, daß am Nachmittag in dem Hofe der Kaserne der hier in Miknasa in Garnison liegenden Truppen zwei Räuber standrechtlich erschossen würden. Zu dieser Hinrichtung könne er dem hochgeborenen Efendi einen Zuschauerplatz an dem Fenster eines dem Kasernenhof benachbarten Gebäudes besorgen.

Darings bezahlte als echter Engländer für dieses nervenerregende Schauspiel ein sehr reichliches Bakschisch, hatte dafür aber auch die Genugtuung, die Erschießung der beiden Übeltäter in mehreren Momentaufnahmen mit seinem Kodak festhalten zu können, wobei ihn nur störte, daß so und so viele andere Fremde die übrigen Fenster des Gebäudes besetzt hielten und daher dieselben hochaktuellen Photographien wie er zu „knipsen“ vermochten.

Darings beschreibt dann genau, wie die Verbrecher inmitten eines Trupps schmutziger Soldaten aus den Kasernen heraustraten; wie ihnen von einem, nach der geringeren Zerlumptheit seines Äußeren offenbar höheren Militär der Inhalt eines großen Papiers mit einem mächtigen Siegel vorgelesen und wie darauf das Urteil an den beiden Räubern, die mit verbundenen Augen vor einer frisch aufgeworfenen Grube knieten, sogleich vollstreckt wurde.

Nach der Salve seien sie rücklings in die Grube hinabgestürzt. Dort hätten die Soldaten sie auch vorläufig liegen lassen.

„Wer beschreibt mein Erstaunen“, fährt Darings fort, „als ich nach drei Monaten bei der Rückkehr von der Küste wieder Miknasa passierte und derselbe Fremdenführer, der mich schon einmal zu der Hinrichtung eingeladen hatte, mich vor der Karawanserei anspricht und mir fast mit denselben Worten geheimnisvolle zuraunt, was er mir schon vor einem Vierteljahr zugeraunt hatte. Da ging mir ein Licht auf. Ich schwieg aber klugerweise, zahlte dem frechen Spitzbuben abermals ein sehr anständiges Bakschisch, beobachtete aber jetzt die Hinrichtung der beiden Räuber – das Programm war in allen Punkten genau dasselbe geblieben – mit ganz anderen Augen. Und da merkte ich sofort, daß es sich hier um nichts anderes als ein recht häufig wiederholtes Schaustückchen handelte, in dem jede einzelne Person ihre Rolle bereits mit einer gewissen Nachlässigkeit spielte. So hielten zum Beispiel die beiden Verurteilten es für ganz überflüssig, noch ein wenig Todesangst zu heucheln. Im Gegenteil, ihre Gleichgültigkeit den Flintenläufen gegenüber konnte gar nicht größer sein. Sie waren ans „Sterben“ schon längst gewöhnt!

Nachher nahm ich mir dann den Halunken von Fremdenführer vor und sagte ihm auf den Kopf zu, daß die Erschießung ein plumper Schwindel sei und die Gewehre nur Papierpfropfen als Geschosse enthalten hätten. Erst versuchte er zu leugnen, dann gab er alles zu. Bezeichnend für marokkanische Militärverhältnisse ist es, daß der Verdienst aus diesen Hinrichtungen ehrlich zwischen allen Auftretenden geteilt wird –, und zu diesen gehörten auch der Kommandant der Truppen in Miknasa und seine Herren Offiziere.“

 

 

Anmerkungen:

  1. Die Geschichte Lionel Darings wurde von Walther Kabel teilweise wortgleich auch in den Beitrag Marokkanisches Militär eingearbeitet, welcher mit der Verfasserangabe W. Kabel erschien in: Deutscher Hausschatz, Illustrierte Familienzeitschrift, 37. Jahrgang (Okt. 1910 – Okt. 1911), Heft 18, S. 809–810.
  2. Desweiteren erschien die Geschichte Lionel Darings fast wortgleich in dem Beitrag Gimpelfang in Afrika, welcher mit der Verfasserangabe K. W. erschien in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 9, S. 217–219.
  3. Leicht gekürzt und mit einigen kleinen Textänderungen erschien die Geschichte Lionel Darings unter dem Titel Gimpelfang in Afrika auch in: Illustriertes Unterhaltungsblatt (Union Deutsche Verlagsgesellschaft; 8 S.), Wöchentliche Beilage zum Darmstädter Tagblatt, Jahrgang 1915, Heft 52, S. 416.
  4. Ebenfalls erschien die Geschichte Lionel Darings fast wortgleich unter den Namen Marokkanisches Militär mit der Verfasserangabe W. K. Abel in: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang (1912), 1. Bd., S. 176–178.