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Das Dorf im Winter

 

Das Dorf im Winter

von R. Hansche

 

Im Winterschlafe liegen Wald und Feld. Wo noch vor wenigen Wochen der Pflüger die Erdschollen umgeworfen hat, leuchtet es wie von tausend Kristallen, denn der erste Schnee ist über Nacht gefallen. Was vor den rauhen Winden nicht im Walde Schutz fand, das sucht jetzt Zuflucht im Dorfe und seiner nächsten Umgebung. Als der Pflug den Boden aufriß, mußten sich die Feldmäuse neue Wohnungen suchen, die sie unter den rings um die Scheunen gruppierten Strohmieten fanden. Auch Brand- und Zwergmäuse kommen vom Walde herüber und quartieren sich unter den Mieten ein; ja, hier haben selbst viele Insekten vor den rauhen Herbstwinden Unterschlupf gesucht, die dann später in Erstarrung und Winterschlaf gefallen sind. Sie alle bieten jetzt den Zuzüglern willkommene Nahrung dar, so daß sie fürs erste nicht nötig haben dieselbe in den Scheunen zu suchen. Vor den Strohmieten liegt Kaff, das vom Drusch liegengeblieben ist. Hier finden Hänflinge und Grünlinge manch verstreutes Körnchen, das ihnen in der mageren Jahreszeit bitter not tut. Oft sieht man ganze Scharen dieser niedlichen bunten Vögel in die Bauergärten einfallen, um auch hier nachzuforschen, ob unter den umgeknickten Pflanzen noch Samenkörner verborgen liegen. – In allen Fugen der rissigen Lehmfachwände hat sich Schnee angesetzt, und die Rohrdächer erscheinen wie überzuckert. Ein kalter Wind läßt es an den Schattenseiten der Gebäude und Ackerfurchen nicht zum Tauen kommen, aber wo die Sonne auftritt, da hat sie die ursprünglichen Farben wieder hervorgerufen. Die ganze Landschaft ist in einen zarten Duft getaucht, der von der Verdunstung der Schneemassen herrührt. Kühles Violett im Schatten und goldiges Rot auf den Lichtseiten ist der alles beherrschende Akkord.

Von den Zweigen hoher Pappeln halten Nebelkrähen Umschau, ob es etwas für ihren Schnabel gibt; ab und zu erhebt eine ihr Gefieder und streicht an den Strohmieten vorüber, um mit einer zappelnden Maus auf ihren Standplatz zurückzukehren. Mitunter sieht man sie auch die auf den Feldern liegenden Misthaufen nach darin verborgenen Larven untersuchen. Beim Begehen der Felder finden wir Fuchsspuren, die nach den Rückseiten der Ställe führen. Hier hat also Meister Reineke nachgeschaut, ob ein Löchelchen in Tür oder Fenster das Einschlüpfen ermöglichte; aber nein, alles ist ganz und außerdem mit Mist verstopft, um die Kälte abzuhalten. Da muß er wohl auch mit einer Maus vorliebnehmen und die Hühner ungeschoren lassen.

Auf einem Dachfirst sehen wir eine Anzahl Sperlinge sitzen, denen der Wind die Federn über die Köpfchen bläst. Sie schauen aufmerksam nach einer Richtung, aus welcher der bekannte Dreiklang der Dreschflegel tönt. Jetzt streichen sie ab. Als wir um die nächste Scheunenecke biegen, sehen wir die Torflügel offen stehen und die Spatzen eifrig beschäftigt, die über die Schutzbretter springenden Körner aufzulesen. Hinter den Scheunen ranken Brombeersträucher und Schlehdorne, die so undurchdringlich sind, daß ein Igel sicher unter den dahinterliegenden Grundbalken wohnen kann. Seine Spur ist deutlich in dem losen Schnee zu erkennen. Und nun finden wir auch zahlreiche Spuren von Damwild, das rudelweise über die Feldmark gekommen sein muß, um die Futterstelle aufzusuchen, die der im letzten Hause des Dorfes wohnende Förster etwas abseits in einem jungen Fichtengehölz eingerichtet hat. Hier stehen unter schützendem Rohrdach mehrere Raufen mit Heu, und Krippen, die mit Eicheln und Kastanien gefüllt werden. Jetzt sind sie freilich leer, denn die hungrige Gesellschaft hat alles aufgefressen. Aus dem Dorfe führen auch Schlittenspuren zum Walde, die von den Gespannen der Holzfäller herrühren, die jetzt das schlagreife Holz niederlegen und einfahren. – Aus der Schmiede klingt es herüber, dort sind die Leute mit der Instandsetzung von abgenutztem Ackergerät beschäftigt, das vor der Tür haufenweise herumliegt. Der davorliegende Dorfteich hat eine dicke Eisschicht angesetzt, auf deren Spiegelfläche die Kinder ihre Schlitterversuche anstellen. Die Frösche, deren Gequake ihn im Sommer belebte, ruhen jetzt auf seinem Grunde im Schlamm, wo sie der Winterschlaf umfangen hält. An der anderen Seite des Teiches steht die kleine Kirche inmitten hoher Rüstern, die selbst ihren Turm überragen. Die alte rostige Wetterfahne ist über Nacht eingefroren und die Uhrzeiger sind schneeverweht. Das Ganze ein wunderhübsches Wintermärchen. Während die unteren Partien schon im Schatten liegen, empfangen die Äste der Rüstern noch Sonnenlicht und heben sich grüngoldig von dem blaßblauen Winterhimmel ab. In den blitzblanken Scheiben des Pfarrhauses spiegelt sich die Wintersonne wider und lockt des Herrn Pfarrers Hyazinthen aus ihren Knollen hervor, die in Gläsern zwischen den Doppelfenstern stehen. Hinter dem Schulhause erstreckt sich ein Obstgarten, in dem ein wohlvermummtes Bienenhaus steht, bis zum Ufer eines schilfumgürteten Sees hin. Gerade sind Leute im Begriff, das hohe Mauerrohr zu mähen, was zum Teil auch schon im Herbst vom Kahn aus geschieht. Sie setzen es in Hocken unter den Schwarzerlen auf, die eine Strecke des Ufers besäumen. Wenn diese Arbeit getan ist, wird der alljährliche große Winterfischzug vorgenommen, wobei Lumen in das Eis geschlagen werden, um das Netz mittels Stangen darunter durchzuführen.

Auf einem Hofe sind Männer mit dem Zerkleinern von Stubben beschäftigt; sie treiben scharfe Keile mit Axthieben in dieselben hinein, bis das zähe Wurzelwerk platzt, eine sehr mühevolle, zeitraubende Arbeit, fast ebenso mühevoll wie die der Steinhauer. In den Häusern aber wird jetzt manche Arbeit getan, für die im Sommer keine Zeit ist. Alte Leute beschäftigen sich mit dem Flechten von Körben, wozu sie nicht nur Weidenruten, sondern auch dünne Kiefernwurzeln benutzen, denn diese sind sehr zähe und haltbar. Andere machen Pantinen aus weichem Pappelholz, ja, sogar das Spinnrad ist in einigen Gegenden, die Flachs bauen, noch im Gange.

Es will Abend werden. Die Sonne sinkt, und der Wind wird kühler. Da wird es wohl Zeit, an den Heimweg zu denken, der durch ein Stück Hochwald zur Bahnstation führt. Ammern und Meisen haben bereits ihre Nester aufgesucht, es ist still geworden. Das Dorf haben wir hinter uns gelassen und schreiten rüstig unserem Ziele zu. Über dem Walde steht der Sonnenball. Bald wird er ganz verschwunden sein. Also nach Haus!