von R. Hansche
Wer das Glück hatte, in unserem Vaterlande herumzukommen, wird sich mit Vergnügen manches malerischen Stadtbildes erinnern, das er auf seinen Wanderungen zu sehen bekam. Was solchen altehrwürdigen Städten einen ganz eigenen Reiz verlieh, das waren ihre festen Tore und Türme, auf deren Ausgestaltung die damalige Bürgerschaft den größten Wert legte. Sie sind, da sie aus bestem Material erbaut wurden, meist gut erhalten, und wir können uns daran erfreuen. Die meisten Tore, so verschieden sie auch in ihrer äußeren Gestalt sein mögen, halten im Prinzip einen bestimmten Grundriß ein. Sie zerfallen nämlich in ein äußeres und ein inneres Tor. Das äußere Tor wurde durch einen Wallgraben, über den eine Zugbrücke führte, geschützt und konnte durch ein Fallgatter gesperrt werden. Das ebenso starke innere Tor wurde als das eigentliche Tor betrachtet und trug einen Torturm, worin ein Wächter wohnte. Solche noch völlig erhaltenen Anlagen sind freilich nur noch in geringer Zahl vorhanden. Beispiele dieser Art sind das Rödertor in Rothenburg ob der Tauber, die Nürnberger Tore, der Bayerturm in Landsberg am Lech und das Neustädter Tor in Tangermünde. Auch beim Breiten Tor in Goslar erkennt man noch diese Grundanlage, indessen ist der Zusammenhang gestört.
Es ist natürlich, daß jede Landschaft ihre Tore aus dem Material erbaute, das ihr zur Hand war. So finden wir in Westdeutschland Schiefer- und Sandsteinquadern, während in Süd- und Norddeutschland auch Backsteine verbaut wurden. Mitteldeutschland zeigt eine Vermischung verschiedener Bauweisen, wodurch manches reizvolle Bild entstanden ist. Hier herrscht ebenso wie in Süddeutschland der Putzbau vor, der durch buntbemaltes Fachwerk belebt wird. Norddeutschland hat dagegen den Backsteinbau zu höchster Blüte entwickelt. Die ältesten Torbauten sind aus Findlingen, wie sie die Feldmark hergab, erbaut und so dauerhaft, daß sie bis heutigentags erhalten geblieben sind. Auch die Mauern sind stellenweise erhalten, wenngleich sie mehr gelitten haben als die kompakten Tore. Es gibt mehrere Städte, die noch ihre wohlerhaltenen Mauern besitzen; es sind dies wiederum Rothenburg ob der Tauber und Sulzfeld am Main. Dieses altfränkische Städtchen ist eine wahre Fundgrube altertümlicher Baukunst; es wird einem beim Durchwandern der abschüssigen Gäßchen zumute, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Kein Laut, der nicht mit dem täglichen Leben der Acker- und Weinbauern in Verbindung stände, kein nervösmachender Lärm unserer hastenden Zeit dringt hierher. In breiter Behäbigkeit lagern die Häuser an der Straße, kühn steigen spitze und gestufte Giebel empor, und die gewundenen Gassen bieten immer neue anziehende Bilder. An der Innerseite der Mauern zog sich in der Regel ein Wehrgang hin, der überdeckt und von Weichhäusern unterbrochen war. Rothenburg, die Perle aller fränkischen Städte, zeigt auch diese Anlage in wohlerhaltenem Zustande. Was einem die fränkischen Tor-und Turmbauten so anheimelnd erscheinen läßt, das ist ihr förmlich gemütliches Aussehen, Wie köstlich wirkt das Rödelseertor zu Iphofen, dem sein Erbauer eine spitze Haube von Ziegelsteinen aufgestülpt hat, unter deren überhängendem Rande die kleinen Fensterchen wie schlaftrunkene Augen hervorblinzeln! Es ist im übrigen aus Fachwerk erbaut, und kleine windschiefe Fachwerkhäuser lehnen sich hilfesuchend daran. Durch den Torbogen aber rollen zur Zeit der Weinlese die von Ochsen gezogenen Ladfässer von den Weinbergen zur Kelter in das Städtchen. Ein anderes reizvolles Bauwerk ist das Obertor in demselben Städtchen, bei dem Bruchstein, Holzwerk und Putzflächen aufs malerischste zusammenwirken. Der Unterschied zwischen Dorf und Stadt verwischt sich im Maingau, denn manche wie ein Städtchen anmutende Ansiedlung ist eigentlich ein Dorf, das zur Sicherheit durch Mauern und Türme bewehrt wurde. Dies trifft bei dem Dorfe Sommerhausen zu, dessen bewachsene Mauer reizende Gäßchen umschließt. Die Tore sind nicht hoch, aber wohlgeformt, und die Stuben des ehemaligen Torwartes werden anscheinend von kinderreichen Familien bewohnt, denn ab und zu schauen mehrere Blondköpfe aus den Fenstern, Was allen diesen Bauwerken zur Zierde gereicht, das sind die überall auf Fensterbrettern wuchernden Blumen. Hier heben sich glühendrote Geranien, dort bunte Bohnen und Kresse von dem Gemäuer ab. Wieder an einer anderen Stelle klettert wilder Wein an den Türmen hinauf und rankt sich rings um den Dachhelm. In Sulzfeld und Frickenhausen schmiegen sich an die Außenseite der Mauern alte Friedhöfe, in denen es grünt und blüht, darüber hinweg schauen aufgesetzte Häuschen von der Höhe der Mauern weit ins Land. Das obere Tor in Sommerhausen trägt ein Zifferblatt und eine Zeitglocke, zur Seite steht das Häuschen, das in der guten alten Zeit dem Zollwächter als Wohnung diente, denn in jener eigenbrötlerischen Epoche erhob jedes kleine Nest seine eigene Schlacht- und Mahlsteuer, Besonders malerisch wirken natürlich die Wassertore, jene, die den Verkehr zum Flusse vermitteln. Ein Bild dieser Art finden wir in Frickenhausen, das hart am Main gelegen ist, den eine Fähre überquert. Ausziehende Ackersleute, heimkehrende Winzer, alle müssen die Fähre und das Tor passieren.
Machen wir einen Abstecher über die fränkische Grenze nach Schwaben hinein, so stoßen wir auf höchst malerische alte Reichsstädte wie Nördlingen und Hall, deren Besuch man nie bereuen wird. Die Nördlinger Tore zeigen größere Ausmaße, woran sich die ehemalige Bedeutung der Stadt erkennen läßt. Das Reimlingertor, das von einem Baum malerisch flankiert wird, führt noch heute den Reichsadler im Wappen über dem Torbogen; das Deiningertor überrascht dagegen durch die schlanke, elegante Form seines Turmes. Je mehr Städte wir besuchen, nirgends eine Übereinstimmung der Formen, überall Wechsel. Hier das barocke Westertor zu Memmingen, dort jener urgemütliche Winkel am Überlinger Franziskanerturm. Hier ein Lämpchen, da ein Brünnlein, Poesie auf Schritt und Tritt.
Die größeren bayrischen Städte, wie Ingolstadt und Augsburg, lassen den Ankömmling ihre ehemalige Bedeutung für das Reich schon beim Anblick ihrer Torbauten ahnen, denn diese sind, wie das Ingolstädter Kreuztor oder das Augsburger Jakobertor, groß und stark. Aber die Tore der kleineren Städte sind ungleich malerischer; das mag wohl darin seinen Grund haben, daß unser Auge sie besser umfassen kann. Ein Bild, wie es die Stadtmauer von Donauwörth bietet, die sich in schöner Schwingung an der Wörnitz entlangzieht, dürfte kaum seinesgleichen finden. Alte Spitzpappeln beschatten das Flüßchen, und Netze trocknen am Ufer. Hier haben wohl in alter Zeit die Färber ihre Stoffe gespült, denn noch jetzt heißt ein mit einer Wasserpforte versehener Turm der Färberturm. Ähnliche Verhältnisse liegen in Dinkelsbühl vor, das, ebenfalls an der Wörnitz gelegen, in seinem Nördlinger Tor uns einen schönen Putzbau aus der Renaissancezeit vor Augen führt. Im alten Stadtgraben lassen noch heute die Gerber ihre Felle wässern.
In der Rheingegend sind uns einige bemerkenswerte Stadtbefestigungen erhalten, wenngleich sie in manchen Fällen repariert werden mußten. Wimpffens Häuser schauen von hoher Mauer über den verwachsenen Wallgraben hinweg in die Berglandschaft, ein schönes Bild, das uns in seiner Lieblichkeit nochmals in den Sinn kommt, wenn wir die völlig anders aussehenden, fast römerhaft anmutenden Mauern der alten Nibelungenstadt Worms betrachten. Ihr Wehrgang ist von gotischen Spitzbögen unterfangen, und die Tortürme tragen Brustwehren und haben keine Dachhelme, sondern sind flach. Mitunter stehen auch einzelne Türme ganz unvermittelt mitten in den Städten, so der Pulverturm in Vaihingen an der Enz; diese dienten jedoch, wie der Name andeutet, nur diesem Zwecke und hatten mit der Stadtbefestigung nichts zu tun. Noch manche wehrhafte Bauten grüßen über den Rheinstrom, wie die Türme von Andernach; im Moseltale dagegen liegen sie versteckter. Die Tore sind dort mitunter mit sogenannten Zehnthäusern überbaut, die Steuerfreiheit genossen. Fest aus Schieferbruchstein gefügt, sind sie oft überputzt und lassen den Schiefer nur an Gesimsen und Treppen hervortreten. Mitunter aber ist auch, ebenso wie am Rhein, Basaltlava angewandt worden. Alle diese Tore und Türme sind in ihren Dachhelmen geschiefert. Entzückende Winkelchen und Überschneidungen bilden viele dieser auf kleinstem Grundriß entstandenen Bauten.
Die rheinische Bauweise wurde von den ostwärts vordringenden Franken nach Mitteldeutschland verpflanzt, wo uns Torbauten entgegentreten, die auch am Rhein stehen könnten. Das bemerken wir namentlich bei mehreren Harzstädtchen, namentlich dem entzückenden Neustadt, an dessen Miniaturtor sich ein Gäßchen schließt, in dem die Lore am Tore gewohnt haben könnte. Auch Stolberg besitzt ein lindenumrauschtes Tor, das eine Idylle ganz eigener Art ist. Zu seiten murmelt ein Bach, und im Obergeschoß nisten die Vögel. Wenn des Morgens die Sonnenstrahlen über die Bergwände schräg herab in das Waldtal schießen und den Knauf auf dem Turmdache vergolden, dann wandert die Kuhherde durch den alten niederen Torbogen in den Wald hinaus. Eine kurze Zeit später folgen ihr die Ziegen, und in derselben Reihenfolge kehren beide Herden am Abend zurück. Schön ist das alte Tor. Schön ist es am Tage, wenn die Sonne seine altersgrauen Mauern umspielt, schön ist es des Nachts, wenn das silberne Mondlicht die Schiefer des Dachhelms aufleuchten läßt.
Bis zur Elbe setzt sich diese Bauweise fort; östlich dagegen, in der ehemaligen wendischen Mark, tritt der Backsteinbau an ihre Stelle. So schlicht und unscheinbar die norddeutschen Städtchen meistens aussehen, in ihren Torbauten besitzen sie bedeutsame Bauwerke. Es sei in diesem Zusammenhange auf märkische Städte wie Jüterbogk und Königsberg hingewiesen. Namentlich letztere Stadt weist sehr bemerkenswerte Befestigungen auf, die das Stadtbild völlig beherrschen. In Bernau und Templin nisten seit vielen Jahren Störche auf den Tortürmen, die sich die Froschkost auf den umliegenden feuchten Wiesen wohlschmecken lassen. Das Templiner Tor ist eins, das noch aus ältester Zeit stammt und ganz aus Findlingen erbaut ist.
In Mecklenburg findet man in Neubrandenburg eine noch wohlerhaltene Stadtmauer mit Weichhäusern und festen Türmen, die mit malerischen Giebeln geschmückt sind. Was das Ganze noch schöner erscheinen läßt, ist ein Wäldchen, das aus den trockenen Wallgräben emporgewachsen ist, und in dessen Schatten die Bürger sich an schönen Tagen ergehen. Das benachbarte Ackerbürgerstädtchen Friedland zeigt uns in seinem Anklamer Tor ebenfalls eine prächtige Anlage. Daß die am reichsten ausgestalteten Backsteintore in den Seestädten liegen, bedarf kaum eines Beweises, war doch die Hansa, der sie alle angehörten, eine begüterte Macht, und die reichen Bürger setzten ihren Stolz darein, ihre Tore so machtvoll und schön wie möglich zu gestalten. Hierher gehören das Holstentor und das Burgtor in Lübeck, ferner die Rostocker, Wismarer und Stralsunder Tore. Der Backsteinbau setzt sich über Hinterpommern nach West- und Ostpreußen fort. Von den Mauern von Pyritz und Konitz ist es zwar ein weiter Sprung bis nach Danzig, den wir aber doch machen, um uns die dortigen Torbauten etwas näher anzuschauen. Danzig, das an der einen Seite von der Mottlau begrenzt wird, erhielt vor einigen Jahrhunderten eine Umwallung, die aus Erde aufgeschüttet und so hoch war, daß man sich in gleicher Höhe mit den Hausdächern befand, wenn man auf dem Kamm der Wälle stand. Die im Barockstil erbauten Tore waren ebenfalls hoch, und das eine von ihnen führt sogar den Namen das Hohetor. Es ist ebenso wie das zur Mottlau führende Grüne Tor aus Backsteinen erbaut, die mit Gesimsen von Sandstein verziert wurden; besonders markante Linienführungen sind durch aufgetragene Goldbronze betont. Es ist dies eine ganz spezifisch Danziger Bauweise, die sich sonst nur selten wiederfindet. Das grüne Tor hat seinen Namen von dem prachtvoll oxydierten Kupferdache, das es krönt und sich als feintöniger Hintergrund hinter den mit Voluten geschmückten Barockgiebel legt. Die beiden anderen zur Mottlau führenden Tore stammen aus älterer Zeit, es sind dies das Frauentor und das Krantor. Das letztere trägt einen Kran im hölzernen Mittelbau, der bis heutigentags der Schiffahrt Dienste leistet. Das zu allen Jahreszeiten schöne Bollwerk wird im Winter am interessantesten. Dann setzen sich die alten Tore dicke Schneehauben auf, die ganz prachtvoll zu dem dunklen Braunrot der Ziegel und dem alten geteerten Holzwerk passen. Die Mottlau aber führt Treibeis, das träge dem Meere zuschwimmt und knirschend an der dickwandigen Fähre entlangschrammt, die den Verkehr vom Krantor nach dem gegenüberliegenden Bollwerk vermittelt.