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Das versteinerte Schiff

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das versteinerte Schiff.

 

W. Belka.

 

Doktor Melcher stand etwas abseits von dem Schwarm der anderen Passagiere an der Reling und hatte die Zähne schmerzhaft fest in die Unterlippe vergraben. Eine ohnmächtige Wut kochte in ihm. Er war gewiß ein friedliebender, ruhiger Mensch. Aber was er in den letzten Tagen, seit der lange, dürre Engländer Patterson ihm frech ins Gesicht gesagt hatte, daß sein peruanischer Ausweis gefälscht, und er sicherlich ein Deutscher sei, an kleinen Demütigungen und versteckten Drohungen auszustehen gehabt hatte, war selbst für ihn zuviel gewesen.

Jetzt nun, wo soeben ein englischer Kreuzer aus dem Morgennebel aufgetaucht war und den alten, schmutzigen Passagierdampfer „Präsidento Maraso“ durch sehr energische Signale zum Halten gezwungen hatte, lag auf den Gesichtern all dieser Fahrgäste, die sämtlich feindlichen Staaten angehörten, ein schadenfrohes Lächeln. Man freute sich darüber, daß dieser angebliche Peruaner mit dem schwarz gefärbten Bart- und Kopfhaar niemals Hongkong erreichen würde, von wo er sich wahrscheinlich durchzuschmuggeln gehofft hatte.

Herbert Melcher wußte, daß seine Schicksalsstunde geschlagen hatte. Gewiß, der „Präsidento Maraso“ war ein peruanisches, also ein neutrales Schiff. Aber was kümmerten sich die Engländer darum! Der alte Kapitän, ein geborener Holländer, war nicht der Mann dazu, ihn zu schützen, obwohl er den Doktor bisher sehr anständig behandelt hatte.

Melcher ballte heimlich die Fäuste in den Taschen seiner dunkelblauen Jacke. Diesem Patterson, der da eben so hämisch zu ihm herübergrinste, wäre er am liebsten an die Kehle gesprungen. Und das kleine, aufgeputzte Weibsbild, die dauernd an der Schiffstafel damit geprahlt hatte, daß ihr Bruder französischer Fliegeroffizier sei, hörte er jetzt ganz laut sagen: „On doit deporter tons ces barbares a Cayenne!“ (Man muß alle diese Barbaren nach Cayenne verschicken!) … Und dieses ist bekanntlich eine der berüchtigtsten Verbrecherkolonien …!!

Da wurde des jungen Gelehrten Aufmerksamkeit plötzlich von der Schar seiner haßverblendeten Widersacher durch eine freundliche, helle Knabenstimme abgelenkt, die auf Englisch fragte:

„Wünschen Sie etwas Tee und Gebäck, Sennor Salfaro?“

Herbert Melcher wandte sich um. Es war einer der in einer Art Uniform steckenden Kajütjungen, denen an Bord des „Präsidento Maraso“ die Bedienung der Fahrgäste erster Klasse oblag, ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge mit blondem Haar, der allgemein Edward gerufen wurde und seit einigen Tagen sich stets allerlei in Doktor Melchers Nähe zu schaffen machte, so daß dieser schon auf den Gedanken gekommen war, der Bursche sei vielleicht ein Spion, den Patterson auf ihn gehetzt hatte.

Daher musterte er jetzt auch den mit einem großen Teebrett vor ihm stehenden, kräftigen Knaben mit keineswegs wohlwollenden Blicken und schon wollte er ihn barsch fortweisen, da er jetzt alles andere nur keine Neigung für einen Imbiß empfand, als er förmlich zusammenfuhr.

Heimatklänge, seit langem nicht mehr gehört, erreichten wie ein Hauch sein Ohr, – deutsche Worte, die aus des Kajütjungen Munde kamen:

„Gehen Sie sofort unauffällig in Ihre Kabine, sofort, und warten Sie dort auf mich!“

Absichtlich recht laut fügte Edward dann wieder auf Englisch hinzu:

„Darf ich Ihnen vielleicht etwas anderes bringen, Sennor Salfaro? – Eislimonade? – Wie Sie befehlen … – Sofort bin ich wieder da.“

Und gewandt das Teebrett auf den gespreizten Fingern balancierend, eilte er der Tür zum Anrichteraum des Kajütaufbaues zu.

Herbert Melcher war durch die ihm heimlich in seiner Muttersprache zugeflüsterten Worte so überrascht worden, daß er einige Zeit brauchte, um einen Entschluß zu fassen. Bisher hatte er den kleinen Burschen stets für einen waschechten Engländer oder Amerikaner gehalten. Offenbar war diese Vermutung falsch gewesen, denn Edward hatte mit ganz leichtem Anklang von Berliner Dialekt gesprochen, den kein Ausländer nachzuahmen vermag und der dem Doktor als geborenem Potsdamer nur zu gut bekannt war.

Ein ungewisses Hoffnungsgefühl regte sich plötzlich in Herbert Melchers verzagtem, verbittertem Herzen. Noch einen Blick warf er nach dem englischen Kreuzer hinüber, der in den dichten Nebelschwaden, die wie schwere Wolken langsam über die nur von einer trägen Dünung bewegte See hinzogen, hin und wieder ganz untertauchte. Er sah noch, wie ein Boot sich von dem dunklen Schiffskörper drüben loslöste und auf den Passagierdampfer zugeschossen kam. Dann schlenderte er langsam nach der Steuerbordseite hinüber, wo seine Kabine in dem Gange unter der Kommandobrücke lag.

Als er die unverschlossene, dunkelgebeizte Tür aufstieß, stand der Kajütjunge mitten in dem engen Raum über den länglichen Schiffskoffer gebeugt und wühlte darin umher.

Melcher wollte auffahren. Was hatte der Bursche in dem fremden Koffer zu suchen!! – Und abermals zuckte ein häßlicher Verdacht in ihm auf.

Doch Edward sorgte dafür, daß die Sachlage sofort geklärt wurde. Er drückte die Tür schleunigst hinter Melcher ins Schloß und sagte dann aufgeregt:

„Wir haben keine Minute zu verlieren! Ich bin ein Landsmann von Ihnen, ein Berliner. Näheres über mich erzähle ich später. Mit dem Erscheinen eines feindlichen Kreuzers habe ich seit unserer Abfahrt von Callao gerechnet und mir daher schon vorher überlegt, was in einem solchen Falle zu geschehen hätte. – Schnell – – stecken Sie Ihre wichtigsten Papiere zu sich. Einiges von Ihren Sachen packe ich hier in diese Ölleinwand ein. – Vorwärts, jede Sekunde ist kostbar!“

Herbert Melcher war nun gewiß ein sehr gelehrter, aber auch ein sehr ungeschickter Mann, dem es auch an Entschlußfähigkeit gerade dann stets mangelte, wenn er diese am nötigsten brauchte. Wäre der aufgeweckte, schlanke Bursche nicht gewesen, so hätte der Doktor wahrscheinlich eine halbe Stunde zwecklos vertrödelt. Edward – oder wie wir ihn mit seinem deutschen Vornamen besser nennen wollen – Eduard aber merkte kaum, wie kopflos Herbert Melcher sich benahm, als er selbst alles Nötige zusammensuchte und dann, als das Bündel geschnürt war, eiligst damit verschwand, indem er dem jungen Gelehrten zuraunte:

„Folgen Sie mir sofort in den Speisesaal. Dort hält sich jetzt niemand auf.“

Melcher sah den Knaben den Gang entlangeilen, schaute sich nochmals in seiner Kabine um und schritt dann ebenfalls, bereits geschüttelt von einer geradezu fieberhaften Aufregung, der gewundenen Treppe zu, die in den Speisesaal hinabführte. Hier befand sich außer dem Kajütjungen zur Zeit tatsächlich keine Seele. Das Erscheinen des englischen Kreuzers hatte die Schiffskellner, die vorhin mit dem Decken der Mittagstafel beschäftigt gewesen waren, sämtlich nach oben gelockt.

Im Hintergrunde des langgestreckten Raumes ging eine neben dem hohen Büfett gelegene Tür in eine Vorratskammer, die wieder durch eine eiserne Wendeltreppe mit dem Proviantmagazin verbunden war. Diese Wendeltreppe lief in einem nur durch einige Glühbirnen matt erhellten runden Schacht abwärts, der gleichzeitig als Ventilatorrohr diente.

Melcher sah, daß sein kleiner Landsmann, nachdem dieser die Tür neben dem Büfett mit einem Schlüssel geöffnet hatte, ihm hastig zuwinkte und die Treppe hinunter deutete, worauf der Doktor die durchbrochenen Stufen hinabzuklimmen begann. Inzwischen sperrte Eduard den Eingang zu dem Schacht wieder ab, indem er den Schlüssel herumdrehte und im Schlosse stecken ließ. Dann rief er Melcher ein leises Halt zu, eilte ihm nach und zwängte sich durch die Geländersprossen hindurch auf eine winzige Plattform, die unterhalb einer in der Bordwand angebrachten, jetzt durch zwei starke Riegel verschlossenen kleinen Ladeluke lag.

Im Augenblick hatte der kräftige Junge die Riegel zurückgedrückt und die eiserne, in Gelenken bewegliche Luke nach oben hoch geklappt. Nun vernahm der Doktor ganz deutlich das Gurgeln und Plätschern des Wassers an der Außenwand des Schiffes und begrüßte wie einen Wink in die Freiheit hinaus den dämmerigen Schimmer des Tageslichtes, der durch die viereckige Öffnung in den Schacht eindrang.

„Hier, diese beiden Korkwesten sind für Sie! Ziehen Sie sie an, – schnell, ich helfe Ihnen! – Wir können uns durch die Luke nachher bequem in die See hinablassen. Es sind keine zwei Meter bis zum Wasserspiegel. – So – nun seien Sie mir bitte bei meinen Schwimmwesten behilflich. – Der Nebel wird unser Retter sein. Sind wir erst ein Stück vom Schiffe entfernt, findet uns kein Mensch mehr. Und daß wir unbemerkt die gefährliche Strecke zurücklegen können, dafür sorgt ja das Boot des verd… Engländers, welches auf Backbord anlegen wird und uns, die wir hier von Steuerbordseite aus uns davonmachen wollen, neugierige Augen fernhält.“

„Aber – wir befinden uns doch hier mitten auf hoher See, weitab von jeder Küste“, wagte Melcher etwas ängstlich einzuwenden, indem er den letzten Riemen der zweiten Korkweste zuzog.

„Keine Sorge – wird schon alles werden!“ beruhigte ihn der Kajütjunge. „So – nun hinaus aus der Luke, und rein ins Wasser, aber leise – leise! Nachher reiche ich Ihnen das Bündel zu. Hoffentlich habe ich es wasserdicht verschnürt, daß es schwimmt. Ich selbst werde noch die Luke wieder hinter mir herabzulassen versuchen, damit die Engländer, wenn sie nach Ihnen den Dampfer durchstöbern, nicht gleich merken, daß die Mäuse durch dieses Loch entwischt sind.“

Ein paar Sekunden später ein leises Aufklatschen im Wasser, dann ein dumpfer Krach wie das Zufallen einer schweren Tür, abermals ein kaum vernehmbares Gurgeln neben dem langsam hin und her schlingernden Dampfer, und die Flucht war fürs erste geglückt.

Der Knabe schwamm voran. Das auf der Oberfläche der See wie ein schlechtgeformter, gelber Riesenball treibende Bündel mit den Sachen des Doktors zog er an einer kurzen Leine hinter sich her. Oft genug schaute er sich in den ersten fünf Minuten um, ob auch niemand an Bord des Schiffes auf die drei über die langen Wogen des Stillen Ozeans hinausragenden Punkte aufmerksam geworden sei. Aber diese Sorge erwies sich als überflüssig. Schneller als der kecke Junge es erwartet hatte, hüllten die grauen Nebelschleier, die ein leichter Wind in kaum merklicher Bewegung nach Osten zu hielt, die beiden Köpfe und den gelben Ball ein.

Da, als von dem Dampfer keine Spur mehr zu sehen war, sondern nur eine trübe milchige Dämmerung die beiden Schwimmer umgab, ruhte Eduard sich eine Weile aus, bis der Doktor sich neben ihm befand. Tiefe Stille lagerte über den Wassern Die wiegende Dünung ließ keine sich überstürzenden Schaumkämme aufkommen. Nur in weiter Ferne war jetzt ein anhaltendes Brausen zu hören, zunächst nur ganz schwach, so daß der Kajütjunge seinen Gefährten erst auffordern mußte, einmal angestrengter zu lauschen.

„Ah – jetzt weiß ich, worauf Du hoffst“, meinte der Doktor dann lebhaft, indem er, dem Beispiel seines kleinen Beschützers folgend, mit langsamen Schwimmstößen wieder vorwärtsstrebte. „Dies Geräusch da vor uns in östlicher Richtung kann nur eine Brandung sein. Und – wo es eine solche gibt, ist auch Land vorhanden.“

Und nach kurzer Atempause fügte er hinzu:

„Ich weiß gar nicht, Edward, wie ich Dir danken soll. Du bist in Wahrheit mein Retter geworden. Ohne Dich befände ich mich jetzt bereits in Händen der Engländer.“

„Und ich ebenfalls, da ich in der Liste der Schiffsbesatzung mit meinem ehrlichen deutschen Namen Eduard Pachnitz verzeichnet bin. Bei meinen fünfzehn und ein halb Jahren hätten die Herren Briten mich also ohne Frage ebenfalls mitgenommen. Es gibt also nichts zu danken – wahrhaftig nicht!“

Während die beiden einsamen Schwimmer dann ruhig ohne Überanstrengung, um ihre Kräfte zu schonen, ihrem unbekannten Ziele entgegen ruderten, machten sie sich gegenseitig näher bekannt, indem sie einander kurz das Wichtigste über ihre Person erzählten.

Herbert Melcher war Privatdozent für Altertumskunde an der Berliner Universität. Als der Weltkrieg so plötzlich ausbrach, hatte er sich gerade im Innern Perus befunden, um dort in den Ruinen uralter Städte nach Kipus zu suchen.

Dieses sind Schnüre von beträchtlicher Länge und verschiedener Farbe, in die in bestimmten Abständen Knoten und Seitenschnüre geknüpft sind, so daß ein Kundiger hieraus ganze Worte und Sätze herauslesen kann, da sowohl die Abstände der Knoten unter sich als auch die Farbe der Schnüre und ihre Anhängsel eine bestimmte Bedeutung haben. Durch diese altperuanische „Knotenschrift“ hat die Altertumsforschung überaus wichtige Aufschlüsse über die Staatseinrichtungen der früheren Ureinwohner des Landes der Inkas, erhalten.

Vier Monate hatte Doktor Melcher dann in dem Hafen von Callao vergebens auf eine Gelegenheit zur Heimkehr nach Deutschland gewartet. Endlich war er, versehen mit falschen Ausweispapieren und unkenntlich gemacht durch gefärbtes Haar und eine goldene Brille mit grauen Gläsern, an Bord des „Präsidento Maraso“ gegangen, der nach Hongkong bestimmt war, hatte hier aber recht bald zu seinem Leidwesen erfahren müssen, daß sein Peruanisch doch nicht hinreichte, um dem mißtrauischen Engländer Patterson gegenüber für einen Sohn der südamerikanischen Republik gelten zu können.

Weit abenteuerlicher war die Lebensgeschichte Eduard Pachnitz’, der zusammen mit seinen Eltern vor zwei Jahren nach Peru ausgewandert war, wo der wackere Tischlermeister und seine Frau aber schon nach vier Wochen in dem kleinen Hafenorte Corrientes vom gelben Fieber hinweggerafft wurden, so daß ihr einziges Kind sich gezwungen sah, fernerhin allein für sich zu sorgen, was der aufgeweckte Junge denn auch mit leidlichem Glück getan hatte. In diesen zwei Jahren war er eigentlich alles gewesen, was für ein so junges Bürschchen paßt: Stiefelputzer in der Hauptstadt Lima, Maultiertreiber in den Gebirgspässen der Anden, Kellnerjunge in einem Gasthof in Callao, Lehrling bei einem deutschen Kaufmann ebendort, und schließlich seit einem halben Jahre Kajütwärter auf dem „Präsidento Maraso“, der bisher nur als Küstendampfer den Verkehr nach mittelamerikanischen Häfen, hauptsächlich nach Panama und Acapulco, besorgt und erst jetzt, wo die englische Dampferlinie wegen der Bedrohung ihrer Schiffe durch deutsche Kreuzer die regelmäßigen Fahrten eingestellt hatte, des guten Verdienstes wegen es einmal mit einem Abstecher nach Hongkong versuchen wollte, was für den alten Kasten von Schraubendampfer beinahe ein kleines Wagnis bedeutete. – Eduard Pachnitz hatte sehr bald gemerkt, daß der angebliche Sennor Salfaro alles andere nur kein Peruaner war und sofort vermutet, hier entweder einen Landsmann oder einen Österreicher vor sich zu haben. Um keinerlei Verdacht zu erregen, war er dem falschen Peruaner jedoch fern geblieben, hatte aber stets die Augen gut offen gehalten, um diesen rechtzeitig warnen zu können, falls sich etwas Besonderes ereignete. Daher war es ihm auch nicht entgangen, daß Patterson, ein dürrer, glattrasierter Ingenieur mit dem ganzen anmaßenden Benehmen des Vollblutengländers, dem Sennor Salfaro allerlei Fallen stellte, bis dieser sich eines Tages wirklich eine entscheidende Blöße gab, so daß es nun trotz seines hartnäckigen Ableugnens erwiesen schien, daß er in Wirklichkeit ein Deutscher sei. Bereits an diesem Tage war Eduard Pachnitz zu dem Entschluß gelangt, zu versuchen, ob er nicht sowohl den Landsmann als sich selbst im Falle des Auftauchens eines feindlichen Schiffes retten könne. Deshalb hatte er auch die Korkwesten heimlich beiseite geschafft und sich den Schlüssel zu der Tür nach der Wendeltreppe besorgt. Der Plan, den er dann heute mit so viel Geschick und Kaltblütigkeit durchgeführt hatte, war allerdings erst in seinem Geiste zur Entstehung gelangt, als er auf Deck, nachdem der „Präsidento Maraso“ mit abgestoppter Maschine das Boot des Engländers erwartete, das ferne, leise Brandungsgeräusch vernahm und hieraus auf die Nähe einer Insel schloß. – –

Drei Stunden später trieben die beiden Gefährten noch immer auf der jetzt bereits etwas lebhafteren Oberfläche des Großen Ozeans. Der Nebel hatte sich längst verzogen, und heiß stach die Sonne vom klaren Himmel auf die schon recht erschöpften Schwimmer herab. Eine starke Meeresströmung, die sie nach Norden zu mit sich fortgeführt hatte, war schuld daran, daß sie das Eiland, welches sie bereits deutlich vor sich liegen sahen, noch immer nicht erreicht hatten. Freilich – insofern mußten sie dieser Strömung wieder dankbar sein, als sie nur durch den unfreiwilligen, weiten Bogen nach Norden hin der Dampfpinasse entgangen waren, die der Kreuzer nach Verschwinden der Morgennebel in Richtung auf die kleine Insel zur Verfolgung der Flüchtlinge ausgeschickt hatte.

Jetzt war die Pinasse längst wieder hinter der Horizontlinie untergetaucht. Einsam lag die weite Wasserfläche da. Nur im Süden winkten lockend in einer Entfernung von vielleicht einer Meile die grünen Bäume des verloren im Weltmeer liegenden, sicher namenlosen und ganz unbedeutenden Eilandes herüber.

Eine Weile hatten die Gefährten, um auszuruhen, sich von der Strömung treiben lassen. Aber diese brachte sie leider immer weiter von dem rettenden Gestade weg.

„Herr Doktor“, sagte Eduard Pachnitz nun sehr ernst und nachdrücklich, „wir müssen unbedingt aus der Strömung heraus. Gelingt uns dies nicht, so sind wir verloren. Wir wollen daher jetzt schräg gegen sie anschwimmen. Vielleicht drückt sie uns dann durch ihre eigene Kraft in ruhiges Wasser. – Vorwärts, beißen Sie die Zähne zusammen, Herr Doktor! Dort drüben winkt die Rettung!“

Und es gelang. Keuchend und kaum mehr seine Arme und Beine fühlend hatte der an körperliche Anstrengungen wenig gewöhnte Gelehrte sich stets zur Linken des kräftigen Knaben gehalten, der bei diesem Kampf gegen die Meeresströmung dergestalt die Hauptarbeit auf sich nahm. Nun befanden sie sich in kälterem Wasser – der beste Beweis, daß sie den gefährlichen Armen der Strömung entronnen waren. Ist doch z. B. der Wärmeunterschied zwischen den Wassermassen des berühmten Golfstromes zu den ihn einschließenden Ozeanteilen überall so beträchtlich, daß man Temperaturveränderungen bis zu zehn Grad zwischen Strömungs- und benachbartem Meereswasser gemessen hat, ebenso wie sich auch besonders die Farbe dieser größten aller Meeresströmungen von den grünen Wogen des Atlantischen Ozeans bei dem Austritt aus der Straße von Florida auf viele Meilen mit ihrem dunklen Indigoblau deutlich abhebt.

Frischer Mut erfüllte das Herz des ermattenden Doktors, als er jetzt merkte, daß man langsam dem grünen Eiland näher und näher rückte. Trotzdem vergingen weitere zwei Stunden, bevor die Schwimmer endlich Grund unter den Füßen fühlten. Taumelnd richtete Herbert Melcher sich auf und versuchte die steile Uferwand emporzuklimmen, von deren Höhe so vielverheißend die schlanken, fruchtbeladenen Stämme von Kokospalmen den müden Gefährten entgegenwinkten. Aber jetzt im letzten Moment versagten seine Kräfte. Von einem Schwächeanfall gepackt, glitt er in das Wasser zurück.

Als er dann sehr bald wieder zu sich kam, lag er auf einer spärlichen Grasschicht unter einer kleinen Pandane, deren drei Fuß lange, schwertförmige, leuchtend grüne Blätter über ihm ein schattenspendendes Dach bildeten. Matt hob er den Kopf. Aber ein glückliches, beruhigtes Lächeln flog sofort über sein eingefallenes Gesicht, als er seinen kleinen Freund neben sich sitzen sah, der ihm nun eine der ananasähnlichen, rötlichen Früchte der Pandane reichte, deren säuerliches Fleisch ihn wunderbar erquickte. Stumm streckte er Eduard Pachnitz die Hand hin. Der wehrte jedoch abermals jeden Dank ab. Und um den Doktor schnell auf andere Gedanken zu bringen, sagte er:

„Während Sie hier ein wenig ausruhten“, – daß Herbert Melcher ohnmächtig geworden war, umschrieb der Junge auf diese Weise zartfühlend – „habe ich mir unsere Zufluchtstätte ein wenig näher angesehen, soweit ich sie von jener Anhöhe aus überschauen konnte. Es ist ein ganz merkwürdiges Ding von Insel, auf der wir uns befinden. Sie sieht aus, wie ein hochgewölbter, auf dem Wasser schwimmender Ring von größtenteils felsigem, wild zerklüftetem Boden, auf dem stellenweise jedoch eine recht üppige Vegetation tropischer Gewächse emporschießt. Die Breite dieses Ringes schätze ich auf durchschnittlich zweihundert Meter, während der Gesamtdurchmesser des äußeren Umkreises vielleicht tausend Meter betragen mag. Dieser in sich scheinbar geschlossene Ring umgibt einen runden Binnensee, aus dessen stillen Wassern genau in der Mitte sich ein seltsam geformter Felsen erhebt, der so aussieht, als habe man auf eine Felszacke ein großes Felsstück von vielleicht sechzig Meter Länge gelegt, so daß ungefähr die Form eines Tellerpilzes mit nach oben gebogenen Rändern herauskommt. – Das wäre alles, was von diesem merkwürdigen Gebilde von Eiland zu sagen ist. Jedenfalls habe ich noch nie etwas Ähnliches gesehen.“

Der junge Forscher hatte aufmerksam zugehört.

„Deine Beschreibung ist recht deutlich“, meinte er jetzt. „Ich glaube bereits zu wissen, welcher besonderen Art von Eilanden unsere Zufluchtstätte angehört. Suchen wir aber, bevor wir uns mit ihm näher beschäftigen, festzustellen, in welcher Gegend des Stillen Ozeanes wir uns überhaupt befinden. Wir haben heute den 4. Dezember 1914. Gestern bei der Mittagtafel erklärte der Kapitän des „Präsidento Maraso“, daß wir etwa auf der Höhe der Gesellschaftsinseln angelangt seien. Mithin dürfte unsere Insel so ungefähr in der Mitte des Großen Ozeans liegen, der im Osten von dem Festlande von Amerika und im Westen von den Küsten Asiens und Australiens begrenzt wird, und der seine zweite Benennung als „Stillen Ozean“ dem großen Seefahrer Magellan verdankt, der ihn 1520 zuerst durchquerte und ihn Mar pacifico, stilles Meer, taufte, obwohl diese Bezeichnung keineswegs zutrifft.“

Inzwischen hatte der Doktor sich erhoben, reckte und dehnte sich und erklärte dann, er fühle sich frisch genug, um sofort eine kleine Entdeckungsreise durch die Insel antreten zu können.

Die Gefährten waren am Nordufer des Eilandes gerade an einer Stelle gelandet, wo sich ganz in der Nähe die offenbar höchste Erhebung der ganzen Insel, ein zackiger, verwitterter Felshügel von vielleicht zwölf Meter Höhe, erhob, von dem aus vorhin auch der Knabe die Insel genauer gemustert hatte.

Dieser Erhebung schritt jetzt auch der Doktor zu und überzeugte sich dann von ihrer Spitze aus, daß die Schilderung des Gesamtbildes des Eilandes, wie Eduard sie ihm gegeben hatte, vollkommen zutraf. Auch Herbert Melcher war besonders überrascht von dem seltsamen Anblick, den der mitten aus den Wassern des kleinen Binnensees herausragende Riesenpilz darbot, der aus demselben grauen Stein wie die meisten Teile der Ringinsel zu bestehen schien und eine beträchtliche Höhe besaß.

Hierauf überblickte der junge Gelehrte auch den Horizont, ob er vielleicht irgendwo weitere benachbarte Inseln entdecken könne. Doch lediglich die unendliche, leicht bewegte und im Sonnenschein eines wolkenlosen Tages gebadete, endlose Wasserfläche dehnte sich ringsum aus. Einsam und weitab von jedem anderen festen Lande erhob sich diese Insel aus dem Meere, die eine gütige Vorsehung den beiden Deutschen als Retterin in den Weg geschickt hatte.

Dann begannen die Gefährten die Umkreisung ihrer neuen Heimat nach Osten zu. Laue, sanfte Lüfte umwehten ihre von der Sonne und dem Salzwasser des Meeres entzündeten Gesichter, berauschende Wohlgerüche tropischer Pflanzen, die auf der Innenseite des Eilandes besonders üppig wuchsen, umschmeichelten ihre Geruchsnerven. Das Auge wieder freute sich über die farbenprächtigen Blüten und Blätter der reichen Vegetation, über die hochragenden Kokospalmen, die kräftigen Pandanen, die breitästigen Brotfruchtbäume und die zahlreichen Papageien, die sämtlich ein und derselben bunten, beschopften Art angehörten. Übrigens waren das lustige Völkchen dieser Vögel die einzigen Vertreter der Tierwelt auf diesem entlegenen Fleckchen Erde, wie die beiden Flüchtlinge bald feststellen konnten.

Angeregt und froh gestimmt durch das farbenfrohe Bild ringsum schritten die beiden in lebhafter Unterhaltung immer weiter über den verwitterten Boden dahin, an dessen tieferen Stellen noch in kleinen Löchern sich die Überbleibsel des letzten starken Regengusses erhalten hatten. Während das äußere Ufer des Eilandes zumeist recht steil bei stellenweise sechs bis acht Meter Höhe in die See abfiel, senkte der innere Rand sich ganz allmählich nach dem kleinen Binnengewässer hin abwärts, welches ein durchsichtig klares, aber scheinbar von keinem einzigen Fische bevölkertes Wasser besaß.

Der Doktor machte jetzt seinen jungen Retter darauf aufmerksam, daß der Riesenpilz in der Mitte des Binnensees nunmehr, wo man ihn von Osten her sah, seine Form völlig geändert hatte. Der obere Teil war erheblich schmaler geworden, so daß die Ähnlichkeit mit einem Pilze sich ziemlich verloren hatte.

Während die Gefährten noch nach dem seltsamen Gebilde hinüberschauten, glaubte der Knabe etwas wie eine Rauchsäule zu erkennen, die dem Oberteil des Felsens entstieg. Auch der Doktor erklärte, es sei tatsächlich ein feiner Rauchfaden, der dort emporsteige. – Deutlich merkte man dann auch, daß der graue Qualm stärker und stärker wurde. Er schien tatsächlich aus einer Öffnung dem Oberteile des Felsens zu entquellen. Eine Täuschung war kaum möglich.

Kein Wunder, daß die beiden Kameraden durch diese Beobachtung in große Erregung versetzt wurden. Wo Rauch ist, muß es auch ein Feuer geben. Und dieses konnte vielleicht von Menschen angezündet sein. Außerdem versicherte Eduard auch auf das bestimmteste, daß vorhin, als er sich das Felsenriff in dem Binnensee betrachtet habe, keine Spur von Rauch zu sehen gewesen sei. –

Die Gefährten ergingen sich nun in allerlei Mutmaßungen über die Ursache dieser Rauchsäule, ohne jedoch eine Erklärung zu finden, zumal auf ihre lauten Rufe hin sich niemand drüben auf dem seltsam geformten Felsen zeigte. Trotzdem gewann dann die Annahme, das Eiland könnte möglicherweise bewohnt sein, dadurch noch an Wahrscheinlichkeit, daß die Flüchtlinge gleich darauf auf dem körnigen, kahlen Streifen des inneren Strandes die deutlichen Abdrücke von menschlichen Füßen entdeckten, und, als sie ihre Wanderung nach Süden hin fortsetzten, auch mehrere gewaltsam geöffnete und ihrer Feuchtigkeit beraubte Kokosnüsse fanden. Einige von diesen konnten erst vor wenigen Tagen erbrochen worden sein, wie noch deutlich zu erkennen war.

Diese neue Beobachtung stimmte Eduard Pachnitz recht nachdenklich, während der Doktor sich hierüber keine Gedanken machte, bis der ehemalige Kajütjunge dann sagte, indem er nach dem Pilzfelsen hinüberdeutete:

„Die Sache will mir gar nicht recht gefallen. Daß Menschen auf diesem Eiland hausen, dürfte nunmehr feststehen. – Warum zeigen sie sich aber nicht?! Unsere Rufe müssen sie doch zweifellos gehört haben! Wenn es zum Beispiel nun Insulaner sind, die uns als unerwünschte Eindringlinge am liebsten schnell wieder los sein möchten? Jedenfalls ist es ratsam, daß wir uns fortan hier mit einiger Vorsicht bewegen. Ich habe durchaus keine Sehnsucht nach einem Speer oder nach einem scharfen Pfeil – durchaus nicht!“

Der Doktor, der die entstellende Brille längst wieder weggeworfen und dessen feines, kluges Gelehrtengesicht selbst durch den roten Sonnenbrand nichts von seiner freundlichen Gutmütigkeit verloren hatte, war keineswegs ein Held, obwohl er auch nicht geradezu feige genannt werden konnte. Seiner ganzen Charakterveranlagung entsprach jedoch mehr eine vollkommen friedliche Beschäftigung, und daher ging er allen Aufregungen gern aus dem Wege. Seines kleinen Retters Bedenken stimmten ihn deshalb auch recht ernst. Und mit einer gewissen Ängstlichkeit folgte er jetzt Eduard Pachnitz, der den Führer machte, ganz dicht auf dem Fuße. Aber unangefochten gelangten sie wieder an die Stelle, wo sie das Eiland zuerst betreten hatten, lagerten sich hier unter den Bäumen und labten sich an den Früchten der Pandanen und einigen Kokosnüssen. Die letzteren zu öffnen, wurde ihnen nicht leicht, da sie lediglich ihre Taschenmesser als Werkzeuge besaßen. Dem Knaben gelang es dann aber doch, indem er die ihrer äußeren Bastschale beraubten Nüsse mit voller Gewalt auf den harten Boden schmetterte, so daß sie zerbrachen.

Die Wärme und der leichte Wind hatten die Kleider der beiden Landsleute inzwischen längst getrocknet. Und sicherlich würden sie sich auf der Insel ganz behaglich und zufrieden gefühlt haben, wenn nicht der Gedanke an die bisher unsichtbar gebliebenen Mitbewohner des Eilandes sie stark beunruhigt hätte.

Die Sonne neigte sich bereits dem westlichen Horizonte zu, als sie ihre Mahlzeit beendet hatten. Eduard erhob sich jetzt und erklärte entschlossen:

„Wir haben nun wieder während unseres bescheidenen Mahles von nichts anderem als der Rauchsäule und den Fußspuren gesprochen, Herr Doktor. Aber alles Raten und Grübeln hilft hier nichts. Wir können uns nur auf eine Art Gewißheit verschaffen, ob etwa auf dem merkwürdigen Pilzfelsen sich Leute verborgen halten, die das Feuer dort angezündet haben. Ich werde also meine Oberkleider ablegen und nach dem Felsen hinüberschwimmen. – Nein, Herr Doktor, suchen Sie mich nicht davon zurückzuhalten …! Ich tu’s bestimmt.“

Und wirklich durchschnitt er bereits wenige Minuten später mit kräftigen Stößen das stille Wasser des kleinen runden Binnensees.

Doktor Melcher stand indessen mit bang klopfendem Herzen am Ufer und schaute dem kleinen Freunde, den er bereits so sehr liebgewonnen hatte, erwartungsvoll nach.

Eduard hatte sich dem grauen Pilzfelsen, dessen Unterteil steil wie eine unregelmäßig runde Säule aus der klaren Flut herausragte, dann bis auf zwanzig Schritte etwa genähert, als von der Höhe des mächtigen Gesteinblockes herab eine laute Stimme ihm ein gebieterisches Halt zurief.

Gleichzeitig ertönte der scharfe Knall eines Gewehrschusses als ernstere Warnung, und eine Kugel schlug einige Meter vor dem Knaben zischend in das Wasser ein.

Doch der mutige Junge, der als Maultiertreiber auf den einsamen Pässen der Anden in Südamerika schon so manches Abenteuer mit Wegelagerern, die die Karawanen auszuplündern suchten, mitgemacht hatte, ließ sich so leicht nicht verscheuchen, zumal der unsichtbare Mann sich keiner fremden, sondern der deutschen Sprache bedient hatte, etwas, das Eduard Pachnitz weit mehr erregte, als der Knall des Schusses und die offenbar absichtlich zu kurz gezielte Kugel.

Er schwamm nicht etwa zurück ans Ufer, sondern trat auf derselben Stelle Wasser und brüllte mit voller Lungenkraft dem verborgenen Schützen zu:

„Hallo – Landsmann! Wir sind zwei Deutsche und hoffen, daß Sie sich unser ein wenig annehmen werden!“

Ein schrilles Hohngelächter vom Felsen her, und dann dieselbe Stimme:

„Wer Ihr seid, ist mir verwünscht egal! Jedenfalls laßt Euch gesagt sein, daß Ihr auf der Südhälfte der Insel nichts zu suchen habt …! Treffe ich Euch dort jemals an, so hat Euer letztes Stündlein geschlagen! Und mein versteinertes Schiff hier bleibt Euch erst recht verboten! Richtet Euch danach!“

Umsonst rief Eduard jetzt zurück, der Unbekannte solle sich doch schämen, so ungastlich sich gegenüber zwei Deutschen zu zeigen, die soeben mit knapper Not den gierigen Armen des Ozeans entgangen seien.

Die Antwort war lediglich ein neues Hohngelächter, welches derart gellend über das friedliche Wasser schallte, daß ein über den kleinen See hinstreichender Papageienschwarm kreischend seinen Flug beschleunigte. –

„Ein unhöflicher Gesell!“ meinte Eduard, als er wieder ans Ufer stieg. „Von einem Deutschen hätte ich Derartiges nicht erwartet. – Was der Mensch hier nur treiben mag?!“

Die Gefährten stellten nun allerlei Vermutungen an, von denen jedoch keine einzige mit dem Verhalten des Unbekannten in Einklang zu bringen war. Dann erinnerte Eduard daran, daß der Abend demnächst anbrechen würde und man noch keinen Unterschlupf für die Nacht habe. Diesen fanden die Gefährten in Gestalt einer Grotte, die sich von der Ostseite her in den hohen Felsenhügel hineinerstreckte und vor allen Unbilden der Witterung vortrefflichen Schutz gewährte. Nachdem sie von der Außenküste trockenen Seetang geholt und über den Felsboden zu einer Lagerstatt ausgebreitet, auch in einem aus Felsbrocken von Eduard schnell hergerichteten Herde ein Feuer angezündet, den Eingang der Grotte endlich noch mit der Ölleinwand des Bündels verschlossen hatten, sättigten sie sich abermals an dem öligen Fleisch der Kokosnüsse, das von dem Knaben auf einem heißgemachten Steine vorher geröstet worden war.

Lang ausgestreckt auf dem kräftig riechenden Seetang liegend, besprachen sie nachher ganz eingehend ihre Lage, wobei sie immer wieder notwendig des Unbekannten gedachten, der das einzige störende Moment in ihrem Robinsondasein, das sie nunmehr für unbestimmte Zeit zu führen gezwungen waren, darstellte. Eduard Pachnitz meinte schließlich, daß beide Parteien vielleicht ganz gut miteinander auskommen würden, wenn man nur die Wünsche des Fremden berücksichtigte und die Südhälfte der Insel mied.

Am meisten aber interessierte der aufgeweckte Knabe sich für die eine Bemerkung des ungastlichen Mannes, in der dieser von seinem „versteinerten“ Schiff gesprochen hatte.

Herbert Melcher war der Erörterung dieses Gegenstandes bisher absichtlich ausgewichen, da er seinem kleinen Freunde gleichzeitig die Entstehungsgeschichte des ringförmigen Eilandes, über die er mittlerweile auf Grund verschiedener Beobachtungen sich klar geworden war, und die Bedeutung des „versteinerten“ Schiffes näher erklären wollte, was für den Jungen recht lehrreich sein mußte.

Daher begann er jetzt, indem er ein Stück des ziemlich mürben, grauen Felsgesteins von der Grottenwand abbrach und Eduard in die Hand gab:

„Weißt du auch, daß du hier ein Gebilde vor dir hast, welches seine Entstehung kleinen Tierchen verdankt? – Korallenkalk ist’s, jenes kalkige Gehäuse der sogenannten Korallenpolypen, die sich selbst ihre Wohnungen bauen, indem sie eine kalkartige Masse absondern, in der der Polyp dann wie in einer Röhre wohnt. Unzählige, dicht aneinandergeklebte Wohnungen dieser Art vereinen sich schließlich im Laufe der Zeit zu vollständigen Riffen, die bis dicht unter die Oberfläche des Meeres reichen und den Schiffen sehr gefährlich werden können. Solche Korallenkolonien, die sämtlich nur in der heißen Zone vorkommen und zumeist aus den Bauten der Sternkoralle sich zusammensetzen, nehmen häufig einen derartigen Umfang an, daß sie zur Bildung ganzer Eilande führen, unter denen die Atolle die merkwürdigste Form aufweisen. Mit „Atoll“ bezeichnet die Erdkunde Inseln von ringförmiger Gestalt, die in der Mitte eine stille Lagune einschließen. Du merkst wohl schon, kleiner Freund, wo ich hinaus will. Unser Eiland hier ist ein solches Atoll, eine Laguneninsel, geschaffen von Korallentierchen in hunderten von Jahren unter Beihilfe der stürmenden Wogen und des brausenden Windes. – Ich will dir die Entstehung eines solchen Atolls kurz zu erklären versuchen. Daß der Meeresboden nicht etwa glatt und eben ist, sondern sich stellenweise zu richtigen Gebirgen auftürmt, wirst du wohl wissen. Nimm nun an, daß vor ungezählten Jahren an dieser Stelle, wo wir uns jetzt befinden, ein Berg mit einer flachen Kuppe bis auf etwa dreißig Meter unter den Wasserspiegel emporwuchs. Auf dieser Kuppe siedelten sich an den Rändern Korallenpolypen an und begannen ihre Bautätigkeit, schlossen sich allmählich zu einem Riffring zusammen, der endlich bis an die Oberfläche des Ozeans, ja auch darüber hinaus sich erstreckte. Wellen und Wind warfen dann abgerissene Trümmer von Korallen auf die Höhe des Riffs, füllten die Zwischenräume aus und bauten das beginnende Atoll höher und höher. Absterbende Meerespflanzen lagerten sich auch, von einem Orkane losgerissen, auf dem Riffringe ab, ferner Algen, Seetang und vieles andere, was durch die Strömungen und Wellen herbeigeführt wurde. Die Überbleibsel dieser verschiedenen Gäste aus dem Pflanzenreich bilden schließlich eine fruchtbare Humusschicht auf den Kalkfelsen, helfen weiter, das kleine Eiland immer mehr aus der See emporzurecken. Eines Tages führten die Wogen dann ein paar Samenkörner an den Strand des neu entstandenen Inselchens. So siedelten sich die nützliche Kokospalme, die Pandane und andere Bäume auf dem Atoll an, bis dieses den Charakter des reinen Felsenriffes verlor und zur fruchtbaren Insel wurde. – Was nun hier unsere Zufluchtstätte anbetrifft, so haben bei ihr noch andere Naturgewalten mitgewirkt, um sie zu so ungewöhnlicher Höhe über die höchste Flutgrenze, das heißt den höchsten Wasserstand zur Zeit der Flut, aufzutürmen, und zwar ist dies ein unterseeisches Erdbeben gewesen, durch das gerade an dieser Stelle der Meeresboden beträchtlich gehoben wurde. So nur ist es zu erklären, daß der Außenstrand derart hoch und steil wurde, wie wir es hier gefunden haben. Die gewöhnlichen Atolle reichen nämlich nur wenige Meter über die Flutgrenze hinaus. Wir leben also hier auf einem äußerst interessanten Fleckchen Erde, haben hier den Beweis vor uns, was die Natur mit Hilfe der kleinen Korallenpolypen alles zu schaffen vermag. – Nun zu dem … „versteinerten Schiff“. – Das, was wir anfänglich für den Teller eines Felsenpilzes hielten, ist tatsächlich ein Schiff, – ein richtiges versteinertes Wrack, das mit einer Korallenschicht vollständig überzogen wurde. Wie dieses Wrack auf den Korallenfelsen mitten in der Lagune hinaufgelangt ist, bildet ein kleines Seedrama für sich. Stelle dir vor, mein lieber Junge, daß unser Atoll vor einigen vierzig Jahren noch nicht durch das Seebeben so hoch über die Flutgrenze hinausgetrieben war, sondern noch als flaches Eiland bestand, dessen Gürtelform eine offene Stelle, das heißt, eine schmale Einfahrt zu der Lagune, aufwies. In der Tat gibt es im Süden unserer Insel eine Stelle, die weit niedriger als die anderen Teile ist. Dir wird das bei unserer Wanderung vielleicht auch aufgefallen sein. – Stelle dir weiter vor, daß damals vor dem Seebeben ein Orkan diese Gegend des Stillen Ozeans heimgesucht und ein armes, entmastetes Schiff in übermütigem Spiel durch die schmale Einfahrt in die Lagune getrieben hat, wo es, vielleicht schon vorher leck, sank und sich dann auf einem auf dem Grunde der Lagune befindlichen Korallenriff festbohrte. Hier, metertief unter dem Wasserspiegel begannen nun die Korallenpolypen das Wrack gierig mit ihren Kalkgebilden zu überziehen. Diese Korallenschicht wurde dicker und dicker. Immer mehr verlor das einstige Fahrzeug das Aussehen eines Schiffes, wurde zum unförmigen Felsen, versteinerte sozusagen. Der große Naturforscher Darwin hat zum Beispiel an einem im Persischen Meerbusen gesunkenen Segler festgestellt, daß die Korallen schnell genug wachsen, um schon in zwanzig Jahren ein Schiff mit einer Kalkschicht von einem halben Meter Dicke zu überziehen. – Unser Wrack lag nun also als mißgestaltete Masse auf dem Korallenriff inmitten der Lagune des Atolls. Dann kam das Seebeben, hob den Meeresboden, das ganze Eiland und mit ihm auch das versteinerte Schiff, das mit ihm durch starke Kalkschichten wie durch feste Steinstützen unlöslich verbunden worden war. Das ist das Geheimnis des versteinerten Schiffes, in dessen Räumen jetzt offenbar ein Mensch haust, ein Landsmann von uns, der jedoch in seiner Einsamkeit nicht gestört werden will.“

Eduard Pachnitz hatte mit atemloser Spannung diesen Ausführungen gelauscht. Als der Doktor jetzt schwieg, rief er ganz begeistert:

„Also wirklich ein versteinertes Wrack! Wer hätte das gedacht …! – Und das soll ich nicht aus nächster Nähe betrachten, nicht betreten dürfen …!! – Nein, mein Herr Unbekannter, so spielen wir nicht …! Das Schiff muß ich von innen sehen, – ich muß! Eher habe ich keine Ruhe! Wer weiß, was für Geheimnisse es birgt …!“

Der Doktor schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Ich werde nie erlauben, daß du etwas unternimmst, wodurch wir uns mit dem Fremden verfeinden könnten! Bedenke, – wir müssen hier vielleicht Monate und Monate ein richtiges Robinsondasein führen. Unter diesen Umständen darf kein Zwist zwischen uns als den Bewohnern der nördlichen Inselhälfte und dem Unbekannten als dem Herrn der südlichen entstehen …! Nachbarn sollen Frieden halten! Und das werden wir tun – verstanden, mein kleiner Freund!“

„Hm – gewiß, Herr Doktor, – recht haben Sie wohl. „Aber ist es mir zu verargen, wenn …“

Weiter kam Eduard Pachnitz nicht. Mitten im Satz mußte er abbrechen, weil der Schreck ihm das nächste Wort in der Kehle bannte.

Eine Stimme hatte urplötzlich vom Eingang der Grotte her den beiden Gefährten spöttisch in englischer Sprache einen Gruß entboten, – eine Stimme, bei deren Klang der Doktor vor Überraschung förmlich hochschnellte.

„Guten Abend, Sennor Salfaro …!!“

Unter der hochgehobenen Ölleinwand stand Patterson, der lange Engländer vom „Präsidento Maraso“. Und hinter ihm wurden die gelben Gesichter der beiden Mestizen (Mischlinge zwischen Europäern und Indianern) sichtbar, die auf dem peruanischen Dampfer als seine Diener gegolten hatten.

Patterson grinste höhnisch. „Freue mich außerordentlich, Sie hier wiederzufinden, Sennor Salfaro! – Ah – also mit Hilfe dieses Burschen sind Sie geflohen …! – Meine Anerkennung – Sie haben die Geschichte ganz schlau angestellt …! Ich sagte dem Leutnant von dem Kreuzer gleich, daß Sie wahrscheinlich das Eiland hier zu erreichen suchen würden. Aber er hielt sich für schlauer und kehrte mit der Pinasse zu früh um, da er bestimmt annahm, daß ein Haifisch Sie als schlechtes Mittagsmahl längst verspeist hätte. – Sie gestatten doch, daß ich mit meinen Begleitern nähertrete, nicht wahr?! – Oh, Sie haben es sich hier schon ganz gemütlich gemacht. Nur schade, daß der durch einen Spalt der Leinwand ins Freie dringende Lichtschein des Feuers Sie verraten hat.“

Dann ließ er sich auf den Boden nieder, winkte den Mestizen ein gleiches zu tun und fuhr fort:

„Sie wundern sich wohl, wie wir so plötzlich hier wieder auftauchen, obwohl der schmutzige alte Kasten von Passagierschiff doch seine Fahrt nach der Begegnung mit dem Kreuzer fortgesetzt hat …?! – Ja, mein werter Sennor Salfaro, – auf dem Vorschiff des „Präsidento Maraso“ lag nämlich ein seetüchtiges, kleines Segelboot verstaut, das ich eigens für meine Zwecke von Callao mitgebracht hatte. Ich habe hier nämlich Geschäfte zu erledigen, wichtige Geschäfte sogar! Nur sollte niemand wissen, was ich vorhatte, und deshalb habe ich mich mit meinem Boot und diesen beiden Sennores hier erst aussetzen lassen, als niemand an Bord des alten Rattenkastens vermuten konnte, daß wir es auf dieses Eiland abgesehen haben.“

Er zündete sich jetzt behaglich eine Zigarre an, sagte dann aber in völlig verändertem Tone barsch und befehlend zu Herbert Melcher:

„Wie ist Ihr richtiger Name? Und wie heißt jener kleine Bursche dort? – Aber keine Lügen, Herr, – ich warne Sie!“

Der Doktor schaute hilfesuchend zu Eduard hinüber. Der nickte ihm schnell verstohlen zu. Und daher gab Melcher nun dem Engländer jede gewünschte Auskunft.

Der lächelte überlegen.

„Na – von Euch beiden haben wir wohl kaum eine Störung zu befürchten …! Trotzdem laßt es Euch gesagt sein, deutsches Geschmeiß: Wir haben gute Schußwaffen bei uns! Macht Ihr uns irgendwie Schwierigkeiten, so blase ich Euch kaltblütig ein Stück hübsches, rundes Blei zwischen die Rippen. Lange bleiben wir hier nicht – höchstens einen Tag! Und nachher könnt Ihr meinetwegen auf diesem Eiland jahrelang den Papageien das Sprechen lehren! – Hier holt Euch kein Schiff ab. Dessen bin ich sicher. – So – nun hätten wir genug geplaudert.“

Er erhob sich. Einer der Mestizen flüsterte ihm jedoch noch etwas zu, worauf Patterson sich abermals an den Doktor wandte.

„Ihr erhaltet hiermit den Befehl, diese Grotte vor morgen Mittag nicht zu verlassen! – Zeigt sich einer von Euch draußen, so knallt’s!! Ich werde hier in der Nähe mein Lager aufschlagen, kann Euch also jeder Zeit beobachten.“

Dann verließen die drei die Grotte wieder.

Eduard Pachnitz, der absichtlich den völlig Verschüchterten gespielt hatte, glitt sofort lautlos bis zu der Ölleinwand nach dem Eingang hin und lauschte angestrengt. Nach einer Weile flüsterte er dann dem Doktor zu, dieser solle das Herdfeuer auslöschen. Das war im Augenblick geschehen. Als der junge Gelehrte sich jedoch nach seinem Gefährten umblickte und leise dessen Namen rief, war Eduard verschwunden.

Doktor Melcher machte sich des Knaben wegen die ernstesten Sorgen. Er ahnte ungefähr, was dieser vorhatte, billigte aber von seinem Standpunkt aus diese Waghalsigkeit in keiner Weise. Zum ersten Mal war er jetzt sogar wirklich böse auf seinen kleinen Freund, den die Abenteuerlust zu diesem leichtsinnigen Unterfangen verführt hatte.

Die Minuten, die Viertelstunden gingen hin. Der Doktor stand am Eingang der Grotte und blickte in die sternenklare Nacht hinaus. Jede Müdigkeit war bei ihm verflogen. Ringsum herrschte friedliche Stille. Nur an der Südseite der Insel schäumte eine schwache Brandung, und leise rauschte der erfrischende Nachtwind in den Bäumen der Laguneninsel.

Herbert Melcher schaute nach der Uhr. Diese hatte sich zum Glück ebenso wasserdicht erwiesen wie sein Benzinfeuerzeug, zu dessen Nachfüllung der vorsorgliche Eduard in das Bündel ein Fläschchen Benzin mit eingepackt gehabt hatte. – Der Doktor erschrak. Ungefähr zwei Stunden war der Junge nun bereits fort.

Aber selbst als die ersten hellen Streifen der Morgendämmerung den östlichen Horizont zu färben begannen, war Eduard noch immer nicht zurück.

Herbert Melcher hatte sich traurig und niedergeschlagen in den Hintergrund der Grotte zurückgezogen und auf das Seetanglager gesetzt. Hier schlief er dann schließlich doch gegen seinen Willen ein. Nur zu oft schreckte er empor, geängstigt von wirren Traumgesichten. Dann blickte er wild um sich, fand sich stets nur schwer in die Wirklichkeit hinein. Als er dann gerade wieder aufrecht auf seinem Lager saß und seine Gedanken zu sammeln suchte, schlüpfte eine schlanke Gestalt eiligst in die Grotte.

„Guten Morgen, Herr Doktor!“ rief der ehemalige Kajütjunge munter. „Ausgeschlafen …? – Ja, – ich bin es wirklich!“

Herbert Melchers Groll gegen den kleinen Freund hielt nicht stand gegenüber der Wiedersehensfreude.

„Junge, wo warst Du nur! Ich habe mich sehr um Dich geängstigt, sehr!“

„Oh – das war überflüssig. Dieser Patterson und seine beiden gelbgesichtigen Begleiter sind ja blind und taub“, erklärte Eduard geringschätzig.

Dann ließ er sich auf sein Lager sinken und griff gierig nach einer Pandanenfrucht, die noch von der Abendmahlzeit übriggeblieben war.

„Was hast Du denn nur all die Stunden getrieben?“ fragte der Doktor leise.

Eduard winkte ihm beruhigend mit der Hand zu. „Sie können unbesorgt ganz laut sprechen. Das Segelboot Pattersons liegt im Südwesten an jener Stelle vor Anker, wo eine Klippenwand, die der Küste in kurzem Halbkreis vorgelagert ist, einen engen, geschützten Hafen bildet. – Hm – wo ich war, Herr Doktor? – Bald hier, bald da. So zum Beispiel auch auf dem Riff, welches wie ein Sockel das versteinerte Schiff trägt.“

Melcher wurde ungeduldig. „Erzähle alles im Zusammenhang, Junge! – Du kannst Dir denken, daß ich mehr wie gespannt auf Deine Erlebnisse bin.“

Eduard hatte die Pandanenfrucht erledigt und griff nach einer angeschlagenen Kokosnuß, deren Saft er sich in die Kehle rinnen ließ. Die süßliche Kokosmilch erfrischte ihn merklich. Dann strich er das nasse Haar aus der Stirn, ging zum Eingang, nahm die Ölleinwand ab, um das Tageslicht ungehindert in die Grotte hineinfallen zu lassen, und rief Doktor Melcher zu:

„Ich denke, wir genießen den schönen Morgen hier vor unserer Haustür. Ich möchte nämlich gern das versteinerte Schiff im Auge behalten. Aus ganz bestimmten Gründen.

Dicht neben dem Eingang ließen die Gefährten sich auf eine natürliche Felsenbank nieder, von wo aus man durch eine Lücke in den Bäumen den Pilzfelsen bequem überblicken konnte. Dann begann Eduard mit seinem Bericht.

„Aus dem, was der hohngeschwollene Patterson uns in der Grotte mitteilte, entnahm ich, daß er die Insel schon von früher her kennt und in ganz bestimmter Absicht hierher zurückgekehrt ist. Er sprach ja auch von einem wichtigen Geschäft, das er auf unserem Eiland zu erledigen hätte. Die Tatsache nun, daß er mit seinen Begleitern auf so vorsichtige Art und Weise nach unserem Atoll gesegelt ist, um das Ziel seiner Fahrt den übrigen Passagieren des peruanischen Dampfers zu verheimlichen, brachte mich sofort auf die Vermutung, dieses Geschäft müsse nicht nur wichtig sein, sondern auch hohen Gewinn versprechen, von dem jedoch möglichst wenige Personen etwas erfahren sollten. Das Geschäft war also mit irgend einem Geheimnis eng verknüpft. Und dieses Geheimnis wieder konnte nur – so sagte ich mir weiter – mit dem versteinerten Schiff zusammenhängen. Der Gedanke lag ja so sehr nahe. – Um mir hierüber nun Klarheit zu verschaffen, bin ich Patterson und seinen Vertrauten heimlich nachgeschlichen. Der Engländer unterhielt sich auf dem Wege nach dem in dem kleinen Hafen verankerten Boot jedoch nur sehr wenig und sehr leise mit seinen Begleitern, so daß ich bereits fürchtete, nichts von ihrem Gespräch erlauschen zu können, als sie mit einem Mal stehen blieben, nach dem versteinerten Schiff hinsahen und lebhafter als bisher miteinander redeten. Da machte ich mich noch näher an sie heran, huschte von Baum zu Baum und stand schließlich keine drei Schritte von ihnen entfernt hinter dem Luftwurzelgespinst jener Pandanenart, auf die Sie mich besonders aufmerksam gemacht haben, Herr Doktor. Auf diese Weise vermochte ich wirklich einige Worte und auch Bruchteile von Sätzen aufzuschnappen. Daraus scheint hervorzugehen, daß Patterson hier Diamanten sucht, die in dem Schiffswrack dort auf dem Felssockel in der Lagune liegen, jedoch von einem Manne, den Patterson nur den „Alten“ nannte, bewacht und sozusagen verteidigt werden. – Jedenfalls einigten sich die drei nach einigem Hin und Her dahin, daß sie den Alten vorläufig in Ruhe lassen wollten, da das Wrack bei Nacht kaum zu ersteigen sei, ihm aber auflauern würden, wenn er seinen Schlupfwinkel inmitten der Lagune verließe und nach der Insel hinüber käme.

Wie gesagt – ich mußte mir das meiste hiervon zusammenreimen, da ich doch nur einiges deutlich verstehen konnte. Trotzdem dürften diese meine Ergänzungen richtig sein.

Hierauf setzten die drei ihre Wanderung, bei der sie jedes Geräusch nach Möglichkeit zu vermeiden suchten, fort und gelangten bald zu dem versteckten Liegeplatz ihres kleinen Fahrzeugs, wo Patterson und der eine Mestize unter Deck verschwanden, während der andere Farbige, bewaffnet mit einer Büchse, sich am Innenstrande niedersetzte und scharfen Ausguck nach dem versteinerten Schiffe hielt, auf dem sich jedoch nichts regte und das sich scheinbar verlassen und leer, mit seinen zackigen Umrissen wie ein mächtiger, grauer Felsblock von dem Hintergrunde des dunklen Baumgürtels abzeichnete.

Nachdem ich dann aus sicherer Entfernung den Posten wohl eine Stunde lang beobachtet hatte, um mich zu vergewissern, daß die drei in der Nacht tatsächlich nichts mehr gegen den Bewohner des versteinerten Schiffes unternehmen würden, schlich ich mich davon, umkreiste nach Süden zu die Insel und entledigte mich dann genau gegenüber der Stelle, wo der Mestize im Südwesten Wache hielt, am Lagunenstrande meiner Oberkleider, um so, gedeckt gegen Sicht durch das zwischenliegende Wrack, nach diesem hinüberzuschwimmen und zu versuchen, den Alten vor der ihm drohenden Gefahr zu warnen. Glücklich gelangte ich auch wirklich bis zu dem Korallenpfeiler, auf dem das Schiff in schräger Lage ruht, erklomm ihn, mich an den Zacken festhaltend, und … war dann mit meiner Kunst aber auch zu Ende, das heißt, ich vermochte das Wrack selbst nicht zu erklettern. Den Alten irgendwie auf mich aufmerksam zu machen, durfte ich ebenfalls nicht wagen, da der Mestize sicherlich jedes Geräusch gehört haben würde. Meine Schwimmtour war also recht zwecklos gewesen. Gewiß – ich habe mich nicht damit begnügt, nur an einer Stelle den Versuch zu machen, auf das Wrack zu gelangen. Aber der Schiffsboden ragt ja mit der Wölbung der Bordwände weit über den Sockel hinaus, so daß man nur mit Hilfe einer an der Reling befestigten Strickleiter oder auf ähnliche Weise das versteinerte Schiff betreten kann. – Nachdem ich die Aussichtslosigkeit meiner Bemühungen eingesehen hatte, kehrte ich an den Strand zurück, trocknete mein Unterzeug so gut es ging durch Auswringen und schlüpfte dann wieder in meine Sachen. In der Hoffnung, vielleicht noch wichtiges erlauschen zu können, wenn der Posten am Südwestufer der Lagune von einem seiner Gefährten abgelöst wurde, begab ich mich abermals zum Südstrande hin, wo der Mestize noch unter dem Brotfruchtbaum fast regungslos dasaß und unverwandt nach dem Wrack hinüberschaute, das bei dem hellen Sternenschein des südlichen Nachthimmels ganz deutlich zu erkennen war.

Auf allen Vieren kroch ich bis zu einer umgestürzten Kokospalme, die erst unlängst von einem Orkan entwurzelt sein muß und deren Krone mir ein vortreffliches Versteck bot. In der Aufregung spürte ich kaum etwas von der Nässe meiner Unterkleider, ebensowenig von der Müdigkeit, die nach den Anstrengungen unserer Flucht nur zu natürlich gewesen wäre. Ich hatte dann vielleicht eine halbe Stunde gewartet, als Patterson vom Außenstrande her leise herbeikam, um nun selbst die Wache zu übernehmen.

„Nichts Neues, Benito?“ fragte er, mühsam ein Gähnen unterdrückend. – Und als Benito mit einem kurzen „Nichts, Master Patterson“ antwortete, fuhr er fort: „Ob die beiden deutschen Tröpfe wohl schon dahinter gekommen sein mögen, daß der scheinbare Korallenfelsen da drüben bewohnt ist und was es mit ihm für eine Bewandtnis hat? – Ich habe sie absichtlich hierüber nicht ausgeforscht, um sie, falls sie noch nichts von dem Geheimnis dieses Eilandes ahnen, nicht unnötig darauf aufmerksam zu machen. – Die verd… Germans sind uns doch recht unbequem! Nun – sie werden ja sicherlich aus Angst vor einer Kugel bis zum Mittag, wie befohlen, in ihrer Grotte bleiben. Hoffentlich haben wir unser Geschäft bis dahin erledigt. Nun – ich denke, der Alte wird die Morgenstunden dazu benutzen, um nach der Insel herüberzukommen. Wenn nicht, so muß anderswie Rat geschafft werden.“ –

So ungefähr sprach Patterson zu Benito, Herr Doktor. Dann entfernte sich der Mestize nach dem Boote hin, während der Engländer seinen Platz unter dem Brotfruchtbaum einnahm.

Ich aber machte mich wieder lautlos davon und bezog nun meinerseits am Südstrande der Lagune Posten, um die Morgendämmerung abzuwarten. Meine Absicht ging dahin, den Alten um jeden Preis zu warnen, der uns beide nach diesem Liebesdienst doch sicherlich bei sich auf dem versteinerten Schiff aufgenommen haben würde. Aber – er erschien nicht. Die Sonne tauchte auf, der Morgenwind fegte durch die Bäume, die Brandung schäumte stärker und die Papageien über mir in den Zweigen der Pandanen lärmten und kreischten, – doch auf dem Wrack regte sich nichts – nichts! Es lag weiter wie ausgestorben auf dem dicken Korallensockel.

Von meinem neuen Versteck aus vermochte ich, seit die Dämmerung angebrochen war, nichts mehr von Patterson zu bemerken. Er hatte sich mit Hellwerden hinter die Sträucher zurückgezogen, ebenso wie auch ich mich hütete, mich sehen zu lassen. Nachdem ich dann noch eine Stunde auf meinem Beobachtungsposten ausgeharrt hatte, ohne daß sich irgend etwas ereignete, kehrte ich hier nach unserer Grotte zurück.“

Doktor Melcher hatte Eduards Bericht mit keiner einzigen Zwischenfrage unterbrochen. Jetzt aber sagte er ein wenig ängstlich: „Eigentlich sollte wir die Grotte doch auf Pattersons Befehl nicht verlassen, mein Junge! Und jetzt sitzen wir hier außerhalb derselben, als ob es gar keinen Patterson und keine Mestizen gäbe, die sicherlich mit uns nicht viel Federlesen machen werden!“

Der Knabe hatte eben herzhaft gegähnt. „Der Felshügel liegt ja zwischen uns und dem Südwestteil der Insel. Die drei können uns also nur sehen, wenn sie von Osten her kommen, Herr Doktor. Und da müssen sie ja um dreiviertel des Eilandes herum gehen, was sie schön bleiben lassen werden, da der Alte sie hierbei zu leicht erspähen könnte. Außerdem: Patterson hat zu dem Gehorsam der … „deutschen Tröpfe“ blindes Vertrauen und wird uns kaum stören, jedenfalls nicht vor der Mittagstunde.“

Abermals gähnte er. „Ich möchte mich jetzt schlafen legen, Herr Doktor. Geschieht etwas Besonderes so wecken Sie mich bitte. Der unfreundliche Alte hat ja vielleicht diese unsere Fürsorge gar nicht verdient … Aber er ist doch nun mal ein Landsmann …! Und dem langen Patterson, diesem aufgeblasenen, frechen Engländer, möchte ich zu gern die Suppe versalzen …!“ – –

Herbert Melcher war allein. Sein kleiner Freund suchte jetzt den versäumten Schlaf nachzuholen, lag da drinnen auf dem Lager der trockenen Seepflanzen und träumte vielleicht unruhig von den Erlebnissen der vergangenen Nacht. Aufregend genug waren diese ja gewesen …! – Nochmals rief der Doktor, während er von Zeit zu Zeit nach dem Wrack hinüberspähte, sich all das ins Gedächtnis zurück, was der Knabe ihm vorhin berichtet hatte. Nur zu viel war aber noch bei diesen Dingen, die mit dem Wrack, dem Alten, den Diamanten und Patterson zusammenhingen, ungeklärt, um sich ein vollständiges Bild von den jetzigen Vorgängen machen zu können.

So verging eine Stunde und noch eine. Neun Uhr vormittags war’s jetzt. Soeben hatte der junge Gelehrte nach der Zeit gesehen. Die warme, duftschwere Luft, das gleichmäßige Brausen der Brandung machten ihn müde. Hin und wieder fielen ihm die Augen zu. Gewaltsam riß er sie immer aufs neue auf. – Da – täuschte er sich …?! – Nein! – Das waren wirklich drei Köpfe, drei menschliche Köpfe, die sich auf dem blinkenden Spiegel der Lagune langsam auf das versteinerte Schiff zu bewegten. Der vorderste war Patterson. Der Doktor hatte gute Augen, und die Entfernung betrug ja kaum dreihundert Meter. Deutlich sah er, daß der Engländer etwas wie ein kleines Floß vor sich her schob, auf dem einige längliche, in dunklen, blanken Stoff, vermutlich also Ölleinwand, eingewickelte Gegenstände lagen, – vielleicht Gewehre. Und – wahrhaftig, die drei gingen zum Angriff auf das Wrack über! – Die beiden Mestizen zogen ja hinter sich zwei lange Bootshaken her, dessen eiserne Spitzen sie sich über die Schulter gelegt hatten.

Melcher stürzte in die Grotte und weckte den Knaben. In fliegender Hast teilte er ihm mit, was er soeben beobachtet hatte. Eduard war jedoch so schlaftrunken, daß er erst gar nicht begriff, um was es sich handelte. Dann aber sprang der Junge auf, ließ den Doktor einfach stehen und rannte zum Strande der Lagune hinab, formte hier die Hände vor dem Munde zur Muschel und brüllte mit Aufbietung seiner ganzen Lungenkraft: „Hallo – Vorsicht da drüben!! Achtung!“

Noch zweimal wiederholte er den Warnungsruf. Inzwischen hatte auch der Doktor sich seinem kleinen Gefährten wieder zugesellt. Melcher war über diesen Leichtsinn des Knaben ganz entsetzt, rüttelte ihn aber umsonst am Arm und raunte ihm ärgerlich zu, sich ruhig zu verhalten.

„Patterson wird sich blutig an uns rächen!! – Bist Du toll geworden!!“ stieß er atemlos hervor. Doch der Junge war nicht zum Schweigen zu bringen. Jetzt glaubte er alles getan zu haben, was zur Warnung des Alten unter diesen Umständen geschehen konnte, jetzt rief er dem Doktor zu: „Kommen Sie – es gilt einen Lauf um unser Leben!“

Und fort stürmte er am Ostufer der Lagune entlang nach dem Liegeplatze von Pattersons Segelboot hin. Melcher kam gar nicht dazu eine Frage an den Knaben zu richten, der wie von Furien gehetzt vor ihm herraste. Keuchend folgte er ihm. Nun bog Eduard nach dem Außenstrande ab, überquerte die schmale Insel und machte dann in fliegender Hast von den Felszacken die beiden Taue los, mit denen das Boot in dem engen Hafen festgemacht war.

Herbert Melcher hatte noch einen schnellen Blick auf die Lagune geworfen, bevor er vom Innenstrande abschwenkte. So sah er, daß der eine Mestize umgekehrt war und dem Südwestufer wieder zuschwamm.

Nun stand auch der Doktor neben Eduard auf dem Deck des Segelbootes, ergriff gleichfalls eins der langen Notruder und half wortlos, jetzt erst den schlauen Plan seines kleinen Retters richtig durchschauend, das scharfgebaute Fahrzeug in freieres Wasser hinausdrücken. Leicht war das nicht. Melcher benahm sich hierbei in der Aufregung recht ungeschickt. Aber endlich glitt das Boot doch in eine schmale Rinne zwischen den Außenriffen hinein, – und dies gerade, als der Mestize oben am Steilufer der Küste auftauchte und vor Wut und Enttäuschung einen gellenden Schrei ausstieß.

Da – von der Lagune her kurz hintereinander zwei Schüsse, denen nach einigen Sekunden ein dritter, schwächerer Knall folgte.

„Hurra – der Alte wehrt sich!“ rief Eduard frohlockend. Dann aber sah er, wie der Mestize über die äußere Riffwand des kleinen Hafens kletterte und nun mit größter Geschicklichkeit von Klippe zu Klippe sprang, um das Boot in dem engen Fahrwasser noch zu erreichen.

Verzweifelt arbeiteten die beiden Gefährten mit den Rudern. Doch das Glück war ihnen dieses Mal nicht hold. Plötzlich ein starker Ruck, und das Boot saß wie festgekeilt zwischen zwei verborgenen Korallenbänken fest.

Kaum drei Meter trennten es von der nächsten Klippenreihe, über die der Mestize jetzt hohnlachend herbeigestürmt kam, in der Hand noch den langen Bootshaken, den er gewandt als Sprungstange benutzte.

Nun befand er sich in einer Höhe mit dem Boot, nun nahm er auf der kleinen Klippe einen Anlauf, um auf das tiefer liegende Deck herabzuspringen.

Der Doktor war wie gelähmt. Er gab bereits alles verloren. Der Mestize war ja ein Riese von Gestalt, mit dem man einen Kampf gar nicht wagen durfte.

Aber neben Herbert Melcher stand der schlanke, unverzagte Knabe mit zum Schlage erhobenem Ruder. Jetzt setzte droben auf der Klippe der Mestize ab … Doch der Rand des Korallenfelsens, von dem er sich mit dem rechten Fuße abstieß, war hohl und bröcklig gewesen, gab nach, polterte in die Tiefe und bewirkte, daß der Mestize, anstatt auf dem Deck des Bootes zu landen, kopfüber in die schmale Fahrrinne hinabstürzte, wo er gerade auf einen der zahlreichen, dünnen Korallenäste mit der Brust aufprallte, die sich an dieser Stelle bis dicht unter die Wasseroberfläche hochreckten.

Schnell färbte sich das Wasser um den förmlich aufgespießten Mestizen rötlich. Der rührte kein Glied mehr. Nur sein Rücken ragte noch aus dem Wasser hervor.

„Entsetzlich!“ stöhnte der Doktor, der ganz aschfahl geworden war. – Und Eduard Pachnitz sagte ebenso leise: „Ein furchtbarer Anblick! – Sehen wir zu, daß wir schleunigst das Boot wieder freimachen und die offene See erreichen!“

Tatsächlich gelang es ihnen, nach wenigen Minuten aus den Klippen herauszukommen. Nachdem sie dann auch die Brandung hinter sich hatten, hißte Eduard die Vordersegel, so daß sie nun langsam nach Osten zu um die Insel herumsteuern konnten.

Scharf lugten sie fortwährend nach dem Strande aus, beobachteten ebenso sorgfältig die grüne Baumkulisse des Laguneneilands, ob dort nicht irgendwo Patterson und der andere Mestize auftauchen würden. Doch kein Mensch ließ sich sehen. Drei Mal hatten sie nun schon die Insel umfahren, und waren doch noch genau so im Unklaren darüber, was sich dort abgespielt haben könnte, wie vordem. An Land zu gehen wagten sie nicht. Sie fürchteten, daß der Engländer, falls er durch die Schüsse des Alten nur zurückgetrieben, sonst aber unbeschädigt geblieben war, jede ihrer Bewegungen heimlich verfolgen und sie niederschießen könnte, sobald sie gelandet wären. – Stunden vergingen so. Der Nachmittag kam, der Abend … Inzwischen hatten die Gefährten aus den Proviantvorräten des Bootes eine reichliche Mahlzeit gehalten. Die Schatten der Nacht senkten sich über das Meer. Undeutlicher, verschwommener wurde das Bild der runden Insel mit ihrer tropischen, duftschweren Pflanzenpracht. Der Wind war ganz eingeschlafen. Nur zuweilen blähte noch ein kaum merklicher Luftzug die Vordersegel des Bootes und gab ihm ein wenig Fahrt.

Seit einigen Minuten steuerte Eduard jetzt auf die Küste zu. Vorher hatte er sich mit dem Doktor des längeren beraten. Der wollte zuerst nichts von seines kleinen Freundes waghalsigem Plane wissen. Schließlich ließ er sich dann aber doch überzeugen, daß irgend etwas geschehen müsse, um die Lage zu klären.

Bis auf zehn Meter näherte das Boot sich der Steilküste. Dann schwang der Knabe sich lautlos über Bord und schwamm dem Ufer zu. Herbert Melcher aber zog das Fahrzeug an der Leine des ein Stück weiter in See versenkten Ankers, der hier erst nach längeren Versuchen wahrscheinlich an einer hohen Korallenbank festgehakt hatte, wieder aus der gefährlichen Nähe der Küste fort und harrte dann, scharf nach allen Seiten Auslug haltend, geduldig und im Vertrauen auf Eduards Schlauheit und Kühnheit auf dessen Rückkehr. –

Der ehemalige Kajütjunge war wohlbehalten bis in den Schatten der Bäume gelangt, hier lauschte er eine ganze Weile, ohne sich zu rühren. Doch nichts Verdächtiges zeigte sich oder war zu hören. Nun glitt er vorsichtig dem Innenstrande zu.

Da – Eduard fuhr ordentlich zusammen vor Überraschung – auf dem Wrack brannte ein hellschimmerndes Licht. Das war aber auch das einzige Zeichen für die Anwesenheit von Menschen auf dem versteinerten Schiff, dessen schräg liegendes Deck vollkommen der Oberfläche eines zackigen, unebenen Korallenfelsens glich. Nichts regte sich dort, nichts … Nur das Licht blinkte durch die Dunkelheit, blinkte und winkte … Aber Eduard wollte auf keinen Fall leichtsinnig sein. Zu viel stand auf dem Spiel. Leise begann er jetzt die Lagune, sich stets im Schatten der Uferbäume haltend, zu umrunden. Er wollte zusehen, ob er nicht vielleicht etwas von Patterson und dem Mestizen entdeckten könne. Dann lenkte ein dunkler Gegenstand, der noch halb im Wasser lag, die Aufmerksamkeit des Knaben auf sich.

Auf allen Vieren schlängelte er sich näher heran, fuhr dann aber entsetzt zurück, als er das starre Gesicht einer Leiche erkannte. Es war der Engländer. Und auf der entblößten Brust des Toten lag schwarz wie ein großer Fleck eine Menge geronnenen Blutes.

Jetzt glaubte der Knabe seiner Sache sicher zu sein. Der Alte hatte dieses Mal nicht nur Warnungsschüsse abgegeben, um die Schwimmer zu vertreiben, sondern nur zu gut gezielt. Und wahrscheinlich hatte auch der zweite Mestize dasselbe Ende wie Patterson gefunden. –

Fünf Minuten später umschwamm Eduard Pachnitz mit lautlosen Stößen den Korallensockel inmitten der Lagune. Jetzt waren am Himmel die unzähligen Sterne erschienen, spendeten genügend Licht, um den Knaben eine Strickleiter erkennen zu lassen, die von dem versteinerten Schiff fast bis zum Wasserspiegel herabhing.

Eduard pochte doch vor leicht erklärlicher Erregung das Herz, als er sich nun an der Strickleiter möglichst ohne Geräusch emporschwang und dann den Kopf über den Rand des Decks hob. Eine Laterne stand einige Schritte seitwärts auf einer zackigen Erhebung. Sonst war das Deck leer – vollkommen leer. Aber in der grauen Kalkmasse zeichnete sich etwas wie ein dunkler Strich ab, der nur durch häufige Schritte menschlicher Füße entstanden sein konnte. Und dieser Pfad lief gerade auf die Laterne zu.

Jetzt stand der Knabe vor der zackigen Erhebung, jetzt erst sah er, daß diese eigentlich ein Deckaufbau war, in den von der Seite her eine breite Öffnung hineinführte, die wieder den Zugang zu einer abwärts laufenden Treppe bildete. – Eduard nahm die Laterne in die Hand und leuchtete in die Tiefe hinab. Selbst die obersten Treppenstufen hatten die Korallenpolypen mit ihren Kalkabsonderungen bedeckt. Und auf dieser grauen Schicht zog sich deutlich eine Blutspur von Stufe zu Stufe nach unten hin.

Als der Knabe noch zögernd dastand, ungewiß, ob er in die Räume des Wrackes hinabsteigen solle, drang eine schwache Stimme an sein Ohr, – deutsche Laute, die sein Herz höher schlagen ließen.

„Bist Du es, mein Junge? – Fürchte Dich nicht … Ich habe Dich schon sehnsüchtig erwartet …“

Eilig hastete Eduard nun die Treppe hinunter. Sie war offenbar noch recht fest. Dann stand er in einem schmalen Gang mit mehreren Türen. Eine davon war offen. Ein heller Lichtschein quoll heraus hervor.

In diesem Raum, den der Knabe jetzt betrat, befanden sich nur die notwendigsten Einrichtungsgegenstände. Auf dem Tische brannte eine große Schiffslaterne, eine zweite hing an der Decke. Auf dem Kojenbett an der Rückwand aber lag ein weißhaariger Greis mit einem abschreckend mageren Gesicht. Zottig und verfilzt war der lange, silberschimmernde Bart, und um den Kopf hing eine wahre Mähne ebenso ungepflegten Haares. Gekleidet war der Alte in ein selbstgewebtes Gewand aus Pflanzenfasern.

Das Unheimliche seiner Erscheinung milderte jedoch der gütige Ausdruck der großen, in fast überirdischem Lichte erstrahlenden Augen. Und mit ebenso gütigem Lächeln winkte er jetzt Eduard näher heran, streckte ihm seine knochige Hand hin und sagte matt:

„Endlich bist Du da, mein Sohn, endlich … Ich fürchtete schon, daß Ihr beide von jenem Schurken, den Patterson Euch nachschickte, beseitigt sein könntet. – Da, setze Dich auf jenen Schemel. Ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht. Und vorher möchte ich Dir noch erklären, weshalb ich mich Euch gegenüber so unfreundlich benahm.“

Er vermochte nicht weiterzusprechen, atmete schwer und keuchend. Nach einer Weile fuhr er dann fort: „Wenn Du mich durch Deine Rufe nicht gewarnt hättest, mein Sohn, wäre den Schurken ihr Vorhaben sicher geglückt. Ich ahnte nicht, daß Patterson hier auf der Insel wieder gelandet war. – Erst schoß ich auf den gelben Burschen. Durch den Kopf getroffen versank er. Meine zweite Kugel galt Patterson. Auch sie ging nicht fehl. Aber er fand noch die Kraft, mir aus einem Revolver, den er auf einem kleinen Floße[1] vor sich liegen hatte, einen bleiernen Gruß zuzusenden. Auch er traf, verletzte mir die Schlagader des linken Beines … Mühsam habe ich mir die Wunde verbunden. Aber der Blutverlust ist zu groß für meine Jahre. Das spüre ich … – Höre nun kurz meine Lebensgeschichte. Ich heiße Friedrich Jensen und stamme aus Hamburg. Mein Vater war Besitzer dieses Schiffes, in dem wir uns jetzt befinden. Es war eine prächtige Brigg, die „Ariadne“, ganz aus Eichenholz gebaut, der Boden sauber mit Kupfer beschlagen. Vor dem Winde segelte sie gut ihre acht bis neun Knoten. – Im März des Jahres 1859, – die Engländer hatten damals gerade mit vieler Mühe den großen Aufstand in Indien nach zweijährigem, überaus blutigem Kampf niedergeschlagen, lag die „Ariadne“ in einem kleinen Hafen der Westküste von Vorderindien in der Nähe der Stadt Surata vor Anker. Ich fuhr damals als Matrose auf der Brigg, die ich später selbst einmal als Kapitän durch die Meere zu steuern hoffte. Es kam anders. Eines Abends brachte mein Vater heimlich drei als Pilger verkleidete vornehme Inder an Bord, darunter Nanpara, den Sohn der entthronten Königin von Audh, der in einem ledernen Pilgersack Edelsteine und Perlen im Werte von Millionen bei sich hatte, mit denen er nach Amerika flüchten wollte. Diese drei Inder gehörten zu den Hauptführern des Aufstandes. Da die Engländer ihnen dicht auf den Fersen waren, stachen wir noch in derselben Nacht in See. Nach zwei Wochen waren wir glücklich bis in diese Meeresgegend gelangt, als ein furchtbarer Orkan die „Ariadne“, nachdem ihre Masten geknickt waren, wie einen Ball durch die damals noch bestehende Öffnung dieser Ringinsel bereits schwer leck in die Lagune trieb, wo die Brigg dann sofort sank. Nur mir und meinem Vater gelang es, uns auf das Eiland selbst zu retten, wo wir dann endlose Jahre als Robinsons gelebt haben. Kein Schiff erschien, das uns mitnahm. Unsere Versuche, uns ein Fahrzeug zu zimmern, auf dem wir die Insel hätten verlassen können, mißlangen, weil es uns an Werkzeugen fehlte. Im Jahre 1875 oder 76 – genau weiß ich das nicht – starb mein Vater. Nun war ich ganz allein. Wieder schlichen die Monate hin, reihten sich zu Jahren, Jahrzehnten aneinander. Längst hatte ich jede Übersicht über die Zeitrechnung verloren. Dann gab es hier in einer Nacht ein Seebeben von solcher Gewalt, daß das Eiland wie ein armseliges Stückchen Kork hin und her geschüttelt wurde. Damals müssen die Schrecken jener Nacht meinen Geist verdunkelt haben. Jedenfalls bin ich erst heute infolge der Aufregung über den Angriff jenes Patterson und über meine Verwundung wieder zu klarem Verstande gekommen. Immerhin aber war ich in der Zwischenzeit wohl kaum völlig geistesgestört. Ich entsinne mich ja noch, daß nach dem Seebeben das Eiland um viele Meter plötzlich gehoben und daß die Ariadne über und über mit Korallenkalk bedeckt, in der Mitte der Lagune wieder aufgetaucht war, daß ich mir dann hier diesen Raum als Wohnung einrichtete und mein Leben durch die Dinge, die ich in dem Wrack fand, weit behaglicher gestaltete. Das versteinerte Schiff war ja sehr bald von den eingedrungenen Wassermassen dadurch befreit worden, daß diese durch die geborstenen, kalküberzogenen Planken wieder abflossen. – In der Kajüte meines Vaters entdeckte ich dann später auch die Diamanten, deren Glanz das lange Liegen im Seewasser nicht das geringste geschadet hatte. Der Anblick der gleißenden, sprühenden Edelsteine mag es gewesen sein, der mir die fixe Idee eingab, ich sei hier von dem indischen Königsohn Nanpara zum Hüter seines Schatzes eingesetzt und dürfe daher das Eiland nicht verlassen. Deshalb blieb ich auch hier, obwohl einmal ein Walfischfänger in der Nähe ankerte, der ein Boot herüberschickte, um Früchte einzusammeln. In diesem Boot befand sich jener Patterson. Er wollte dann das Wrack betreten, nahm aber hiervon Abstand, als ich ihm mit meiner Büchse drohte. Schußwaffen besaß ich ja genug. Hatte doch die „Ariadne“ gerade für Mexiko bestimmte Gewehre in verlöteten Kisten im Laderaum gehabt, als die Inder an Bord kamen. Und einige dieser Kisten waren in all den Jahren ganz unversehrt geblieben. Patterson mußte also damit zufrieden sein, daß er sich nur aus der Ferne mit mir unterhalten durfte. Dabei mag er mich, der ich meiner Sinne nicht ganz mächtig war, wohl soweit ausgeforscht haben, um es für ratsam zu halten, hierher später zurückzukehren, in der Hoffnung, sich die Schätze der Könige von Audh aneignen zu können. Die anderen Leute des Walfischfängers kümmerten sich um mich nicht weiter. Nur zwei Farbige steckten stets mit Patterson zusammen. Und diese werden es wohl gewesen sein, die er jetzt hierher mitgebracht hat. Nach einigen Tagen segelte der Walfischfänger dann wieder ohne mich ab. Wie lange Zeit seitdem verstrichen ist, vermag ich nicht anzugeben. – Nun landetet Ihr beide auf der Insel. In meinem umnachteten Geist erschient Ihr mir ebenso als Räuber, die es auf die Diamanten abgesehen hatten, wie Patterson und die Farbigen …“

Des Alten Stimme war immer leiser geworden. Wieder schwieg er, nunmehr völlig erschöpft. Dann winkte er Eduard zu, sich über ihn zu beugen.

„Ich sterbe“, hauchte er. „Ihr sollt die Schätze als Euer Eigentum betrachten, – Ihr, meine Landsleute … Sie liegen unter der schrägstehenden …“

Weitere Angaben konnte der Greis in diesem Leben über den Ort, wo er die Diamanten verborgen hatte, nicht mehr machen … Sein Lebenslicht war erloschen, bevor er den Satz beendet hatte … – –

Das Geheimnis des versteinerten Schiffes war aufgeklärt. Aber nicht ganz. Drei Monate lang suchten der Doktor und Eduard an allen möglichen Stellen nach den Kostbarkeiten. Sie fanden sie nicht. Schließlich gaben sie die nutzlosen Bemühungen auf, versahen das Boot Pattersons reichlich mit Früchten und stachen nach Osten zu in See, um die zum Kolonialbesitz Amerikas gehörigen Washington-Inseln zu erreichen, was ihnen jedoch erst beinahe anderthalb Jahre später gelang. – –

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage steht: „Flosse“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher geändert auf „Floße“.