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Die Wand der Goßli

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Die Wand der Goßli

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 16 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Die grüne Grotte.

Lord Morspam hatte mich gewarnt. „Abelsen, in den Bergwildnissen Formosas hausen noch etwa eine Viertelmillion braune Volksstämme, denen die Japaner als Herren der Insel nur mit Mühe die Menschenfresserei abgewöhnt haben – sagt man …! Sie verstehen mich: Die wenigen Polizeistationen tief im Innern sind Tropfen auf einen heißen Stein. – Dieser Vergleich trifft hier den Nagel auf den Kopf, denn die vier Hauptvölker dieser Urwälder, Schluchten und Hochebenen sind reinblütige Malaien, Nachkommen von Seeräubern, sind ein tollkühner, hinterlistiger, blutgieriger, freiheitliebender Menschenschlag, dem gegenüber eine Handvoll kleiner, wenn auch forscher Japs in Khaki mehr die Rolle widerwillig geduldeter Steuereintreiber spielt, mit denen es zumeist zu Schießereien kommt … Gewiß, zuweilen packen die Japs auch wohl sehr fest zu und knüpfen ein paar der Lekhoan auf, – das sind nämlich die schlimmsten, Abelsen, und Ihr Diener Gripu ist auch ein geborener Lekhoan. In letzter Zeit soll da im Ostdistrikt ein neuer Polizeimajor das Kommando übernommen haben, weil die braune Bande ohne eine eiserne Faust immer aufsässiger wurde … – Sie müssen ja wissen, was Sie tun, mein Freund …“ Das letzte sprach er im Tone sanften Vorwurfs … Sein Blick streifte sein einziges Kind, und Elsie Morspam wandte den Kopf zur Seite und preßte tapfer die Lippen zusammen und sagte dann ebenso tapfer:

„Einem Adler darf man die Fittiche nicht beschneiden, Vater …“

Wie gern hätte sie es getan! Aber wir gingen in Frieden auseinander, Elsie und ich, – wir würden einander nicht vergessen, wir hatten zuviel gemeinsam erlebt, und über dem, was uns verband, schwebte als schimmernder Kranz ein weicher Name: Ikima, des Fürsten Simisatto Insel, Ikima, die Insel mit dem großen Fragezeichen.

– Und an all dies dachte ich, als jetzt in dieser stürmischen Regennacht die schweren Tropfen auf die Wände unseres Zeltes trommelten und mitunter auch ein abgebrochener Ast irgendwo in der Nähe prasselnd herabsauste …

Gripu schlief. Nur Men Huleb, der zu meinen Füßen sich zusammengerollt hatte, war sehr unruhig. Men Huleb ist ein Mantelpavian, zahm, klug, treu und der beste Wächter. Freilich, hier, wo wir an diesem Abend unser Zelt aufgeschlagen hatten, dürfte uns weder Mensch noch Tier belästigen können, besonders nicht bei diesem Unwetter, bei der Finsternis und den Regengüssen. Es ist eine bewaldete schmale Halbinsel, die in einen eilig dahinschäumenden Fluß hineinragt, – das Wasser schützt uns von drei Seiten, und nach der Landseite hin gibt es einen Windbruch, ein Bollwerk gestürzter Stämme, das mit Dornen, Lianen und Brombeerranken völlig gespickt ist. Wir sind mit unseren Pferden mühselig durch den Fluß gewatet, und Gripu meinte, hier könnten wir getrost ein paar Tage rasten und vorsichtig Ausschau halten nach Helga Goßlis sagenhafter Plantage und Goldwäscherei.

Nein, ich schlafe nicht … Ich habe die Karbidlaterne halb verdeckt und versuche zu lesen. Lord Morspam hat mir Davidsons Reisewerk über Formosa „The island of Formosa, London 1903“ mitgegeben, und ich bin gerade bei dem Kapitel angelangt, das die Kämpfe der Holländer um das Jahr 1650 mit dem Seeräuberhauptmann Koxinga schildert, der mit 25 000 Mann die holländischen Niederlassungen schließlich eroberte und einen eigenen Piratenstaat gründete. – Erstaunlich, wie großzügig damals die Herren Piraten waren, noch erstaunlicher, daß China dann diesem Koxinga die Insel förmlich abkaufte, sie aber 1895 an Japan abtreten mußte und daß erst die Japaner, wenigstens die Küstengebiete nach blutigen Kämpfen dem freien Handel und der Zivilisation erschlossen. – Als J. W. Davidson sein Buch schrieb, hatte Vicomte[1] Kodama als Generalgouverneur gerade wieder einen Aufstand der Stämme des Inneren mühsam niedergeschlagen, – es war nicht der letzte Aufstand, und obwohl seitdem zwei Jahrzehnte vergangen sind, werden die Blockhäuser der Polizeistationen noch genau wie einst mit Mauern, Stacheldrähten und Wolfsgruben versehen. Sie sind freilich so dünn gesät wie Rosen in einem Distelfeld. Gripu und ich haben bisher nicht eine einzige angetroffen, vielleicht ist Gripu ihnen auch in weitem Bogen ausgewichen, er scheint keinen Wert auf intimere Freundschaft mit Khaki-Leuten zu legen, sehr wahrscheinlich dürfte Gripus Vergangenheit einige dunkle oder rote Punkte bergen, – ich frage nicht danach, mir ist er treu ergeben, das hoffe ich. Wie weit seine Treue auf abergläubischer Angst beruht, das ist eine andere Frage. Jedenfalls hält er Men Huleb für meinen Sohn, so lächerlich das klingen mag, und wenn ich mich mit Men in der Sprache meiner nordischen Heimat einseitig unterhalte, weiten sich Gripus schwarze Falkenaugen zu runden Riesenknöpfen, und seine Hand tastet nach dem Talisman, den er als Andenken an die kurze Zeit seiner angeblichen Bekehrung zum Christentum um den Hals trägt: Ein kleines Kreuz aus Messing, – in beschaulichen Stunden benutzt er es zum Pfeifestopfen, denn ohne qualmende Pfeife ist Gripu undenkbar.

Ich werde auf ihn noch später zu sprechen kommen. Er hat sehr viele Eigentümlichkeiten. – Zu dem Regen hat sich jetzt noch ein Gewitter gesellt, der Donner rollt durch die Bergtäler, und der Wind wurde Sturm, die Natur spielt auf allen Orgelpfeifen, und die Zeltwände bauschen sich nach innen und drohen die Stangen herauszureißen.

Trotzdem habe ich nach diesem fünftägigen Ritt die gefürchtete Fieberinsel lieben gelernt. Seit wir hier im Taito-Gebirge mühselig umherkraxeln, seit wir die Fieberzone hinter uns haben und die Nächte kalt und erfrischend sind, seit ich von Hochplateaus herabschaute über die Wipfel immergrüner Wälder und neben mir Silberstreifen von Wasserfällen über bemoostes Gestein rannen und die reiche Tierwelt mir ihre vielfachen Vertreter zeigte, seit von menschlichen Siedlungen nichts mehr zu spüren ist und Urwald und Gebirge und fröhliche Bäche und stille Bergseen in all ihrer Unberührtheit ihre Schönheiten mir geradezu aufdrängen, ist auch die letzte Schwere von meiner Seele genommen. Gripu allerdings begreift nicht, daß ich minutenlang ein neues Landschaftsbild begeistert betrachten kann und daß ich es ihm immer wieder untersage, seine Büchse auf harmloses Getier zu richten. Gripu möchte am liebsten jeden harmlosen possierlichen malaiischen Bär niederknallen, und von diesen schwarzen feisten kleinen Gesellen gibt es eine ganze Menge, – noch erpichter ist er auf Flugeichhörnchen, deren Fleisch ihm als Delikatesse gilt.

– – Wie toll der Sturm nur tobt!! Der Blitz soeben hat einen morschen Riesenstamm gefällt, das Krachen des stürzenden Baumgiganten übertönt noch den Donner, und die Erde zittert unter dem Aufprall des sterbenden Riesen, – es muß ganz in der Nähe gewesen sein …

Dann fährt plötzlich ein Kopf unter dem festgeknoteten Leinen des Eingangs hindurch, – ein Kopf mit einem triefenden Schlapphut, und eine wütende Stimme faucht mich an: „Licht aus!! Sind Sie des Teufels, Sir, daß Sie Ihre Zeltwand wie ein Plakat beleuchten, wo draußen auf dem Fluß die braunen Halsabschneider zu Dutzenden umherschwärmen?! Legen Sie die Decke noch mehr über die Laterne, Sir, – so, und jetzt darf ich wohl nähertreten …“

Der Fremde schiebt sich vollends ins Zelt, und Men Huleb, der nun einmal äußerst mißtrauisch ist, fletscht das weiße Gebiß und knurrt wie ein Bullenbeißer.

An dem durchnäßten Manne, der einen Rucksack hinter sich herzieht und diesen dann als Schemel benutzt, ist auf den ersten Blick nichts Besonderes: Ein dunkelhäutiger, stoppelbärtiger „Trapper“, würde man sagen können.

Die flache Nase, die etwas verkniffenen Augen und die dünnen Lippen deuten auf einen Mischling hin. Sein Lederanzug ist beste Fabrikware, die Wickelgamaschen, die derben Stiefel, die Bewaffnung, – ich schätze auf einen Leopardenjäger. Die japanische Regierung zahlt drei Dollar pro Fell Schußgeld, und das Fell bringt auch noch fünf Dollar mindestens. Nebenbei sind diese Formosa-Trapper auch stets noch Goldsucher, und mancher von ihnen, der drei, vier Jahre in der Wildnis ausharrte und den die Wilden und diese Wildnis am Leben ließen, ward ein reicher Mann, verkaufte seine „Fundstelle“ an eins der großen Syndikate und lebte als Rentner in Schanghai oder Hongkong, bis Spiel und Trunk und Opium ihn gründlich ruiniert hatten und er wieder in die Berge Formosas flüchtete, um gesund zu werden, um sein Glück nochmals zu finden – vielleicht, und, fand er es, war er auch kuriert für immer und mied die Lasterstätten der ostasiatischen Häfen. – So erzählte mir Gripu, und er behauptete, er kenne viele dieser kühnen Abenteurer.

Offenbar war unser Gast hier gleichfalls ein Vertreter dieser durchaus unromantischen Art von Waldläufern. Aber wie ich ihn nun im schmalen Lichtstreifen der verhüllten Laterne genauer betrachtete, erschien mir dieses Gesicht seltsam durchgeistigt und erfüllt von den Spuren feinerer Gedankenarbeit, als sie ein schlichter Leopardentöter und Goldsucher leisten könnte.

„Scannon heiße ich,“ sagte der Mann, und es wetterleuchtete dabei um seine Mundwinkel. „Meinen Beruf ahnen Sie wohl … – Was treiben Sie hier?!“ Er blickte in die dunkle Ecke, wo Gripus unharmonisches Schnarchen immer wieder auflebte. Dann musterte er Men Huleb, der sich inzwischen beruhigt hatte. „Komisches Gespann, ihr drei, – nehmen Sie es mir nicht übel, Sir. Ein Weißer, ein Malaie und ein Affe, – es überrascht mich! Aber für diese Gegenden taugt ihr nicht … Das Weib hat ihre Höllenhunde losgelassen, und die Wälder sind voll von der schleichenden Brut. Seit Stunden schnüffeln sie euch dreien nach, Sir, und hätte der Regen nicht den Fluß in einen reißenden Strom verwandelt, könntet ihr jetzt schon im Himmel sein. Die Frau duldet niemand in ihren Bergen.“

Ich hatte mich vollends aufgerichtet. „Meinen Sie Helga Goßli, Mr. Scannon?!“

Er nickte kurz. Seine Augen fixierten mich scharf. „Ja, die meine ich! Man redet von ihr bis hinab zur Küste, man redet viel Unsinn, aber das eine ist sicher: Sie hat die ganze Parker-Expedition verschluckt, und die Polizei wird nun wohl etwas sorgfältiger diese Dame unter die Lupe nehmen.“

Er wandte den Kopf zur Seite und horchte. Das Unwetter gönnte sich gerade eine Atempause. Die plötzliche Stille draußen war bedrückender als der Lärm der Regentropfen und das Rauschen des Hochwaldes und das Grollen des Donners.

Ich hatte es hier im Ostgebirge schon zweimal erlebt, daß die gewaltige Stimme der Natur mit all ihren Dissonanzen so jäh zum Schweigen gekommen war. Möglich, daß die schwarze Wolke, die den Regen und das Gewitter gebracht, bereits davongezogen war …

Scannon sagte gedämpft: „Es wird Zeit … Brechen wir auf … Diese Halbinsel eignet sich nicht recht zur Verteidigung, und Sie können überzeugt sein, Mr. Abelsen, daß wir angegriffen werden.“

Er bemerkte, wie überrascht ich war.

„Ich habe zweimal dicht hinter Ihnen im Busch gelegen,“ erklärte er mit liebenswürdiger Offenheit, „und Gripu nannte Sie dreimal beim Namen. Auch meine Ohren sind gut.“ Er lächelte wieder halb belustigt. „Sie werden sich an mancherlei Überraschungen gewöhnen müssen, Kamerad, – auch meine Wege laufen abseits der breiten Heerstraße, und das Abenteuer ist mir Bedürfnis, weil es mich innigst mit der Natur zusammenführt, und ich bin Naturschwärmer wie alle vom Leben Enttäuschten, die der großen Welt den Rücken gekehrt haben.“

Dieser vielleicht vierzigjährige Mann hatte seine Ausdrucksweise und auch sein Benehmen mit einem Male gänzlich verändert. Vorhin spielte er den rauhen Waldläufer, jetzt ließ er die Maske fallen und ward vollkommener Gentleman. Sein Englisch hatte, mochte es auch fehlerfrei, geläufig und wortschatzreich sein, einen fremden Beiklang. Er erhob sich elastisch, er war mittelgroß, sehr schlank, aber die vorgewölbte Brust und die sehnigen, gepflegten Hände verrieten die Kraft eines vielstrapazierten Körpers …

Er gefiel mir.

Ich weckte Gripu. – Gripus Atem duftet stets nach Tabak und Spirituosen, und sein Kordanzug duftet ebenfalls, Gripu müßte entschieden ein Bad nehmen. Er hat wie so viele Malaien regelmäßige, fast arische Züge, sein bartloses faltiges Gesicht wirkt wie zerknittertes braunes Leder, und das weiße Haar an den Schläfen und im Nacken (seinen buntseidenen Turban legt er nie ab) ist borstig und stur[2], genau wie seine Arme und Hände überreich und auch weiß behaart sind. Er ist fast so groß wie ich, aber schmalschultrig und schmalhüftig und dennoch stark wie ein Formosa-Stier. Er läßt sich, mag er noch so sehr zum Aberglauben neigen, durch nichts verblüffen.

„Wer ist das, Tuwan?“ fragte er nur und trat auf Scannon zu.

Sie musterten sich. Gripu zog die Oberlippe hoch und zeigte seine gefärbten Zähne. „Tuwan, ich muß Sie schon gesehen haben,“ meinte er nachdenklich und mißtrauisch. – Den Zustand der Schlaftrunkenheit kannte er nicht. Er schlief, wenn er schlafen durfte, wie ein Murmeltier, er wachte, wenn er wachen mußte, mit der Zuversicht eines Mannes, der hohes Pflichtgefühl besitzt.

„Mein Name ist Scannon, alter Gripu,“ sagte unser Gefährte gleichgültig. „Wie lange warst du auf den Küenling-Plantagen Lord Morspams? – Drei Jahre, wie …?! Du kannst mich nicht kennen, aber ich hörte von dir … Deine Sippe sehnt sich nach deinem Kopf, alter Gripu, deine Stammesbrüder vergessen nichts, und in dieser Nacht war der Tod dir näher denn je.“

Gripus Gesicht lief grau an.

„Tuwan, Sie …“

„Brechen wir das Zelt ab …! Beeilt euch. Die Lekhoan sind mit Kanus auf dem Flusse, und ein Teil steckt im Walde.“

Ich löste die Schnüre des Zelteingangs.

Draußen schien der Mond durch die Baumwipfel und warf helle Streifen auf das nasse Gras. Der Fluß tobte und schäumte, und von Norden her warfen die Berge die Echos des abziehenden Gewitters als dumpfes Grollen zurück.

Scannon half. In wenigen Minuten waren wir fertig. Unsere drei Pferde, die unter ihren Decken im Schutze eines nahen Brotfruchtbaumes wie in einer Laube gestanden hatten, ließen trist die Köpfe hängen. Es waren kleine ruppige, aber zähe Gäule, die bereits die Wildnis kannten und die sich darauf verstanden, ein Raubtier mit den scharf beschlagenen Hufen abzuwehren.

Scannon nahm sie am Zügel. „Es ist nicht weit bis zu meiner Hütte,“ sagte er nur und deutete auf die schwarze Wand des riesigen Windbruchs, der die Halbinsel nach dem Lande hin abriegelte.

Er schritt voraus. Vor dem Gewirr gestürzter, faulender Stämme und Dornen und Lianen blieb er stehen, schob mit beiden Armen die dicken herabhängenden Vorhänge der stachligen Ranken auseinander und legte so drei Baumstümpfe von Manneshöhe frei, die noch mit den Wurzelballen im Boden zu haften schienen. Er jedoch packte zu und zog sie nach außen. Es war ein seltsames, klug angelegtes Tor, und wir gelangten bequem in das Innere des unzugänglichen Riesenberges von sturmgeknickten Bäumen.

Meine Laterne beleuchtete einen gewölbten Hohlraum, in dem eine niedere, längliche, schlichte Blockhütte sich erhob. Sie war ganz roh und primitiv aus Bambus erbaut, die kleinen Fensteröffnungen waren von innen durch Felle verhängt, die Tür bewegte sich in Weidenbändern, das Dach war mit Palmblättern gedeckt, über die man schmale Bambusstreifen festgebunden hatte.

„Warten Sie bitte,“ sagte Scannon höflich und trat ein, schloß die Tür, und wir vernahmen hastiges Flüstern.

Gripu stieß mich an.

„Tuwan (Herr), dies gefällt mir nicht.“

Er lockerte seine Pistole und blickte prüfend ringsum. „Es kann ein Hinterhalt sein, Herr … Mir wurde erzählt, weiße Banditen machen den Ostdistrikt unsicher und wünschen das Gold der Goßli zu rauben.“

Ich leuchtete zur grünen Decke dieser grünen Grotte empor. Es war ein phantastischer Schlupfwinkel, und Gripus Bedenken fanden in mir schwachen Widerhall.

Da erschien Scannon bereits wieder, er ließ die Tür offen, und in dem Lichtschein, der aus der Hütte ins Freie fiel, stand eine Frau in einem Sportanzug aus Leder und begrüßte uns freundlich.

„Sie sind uns willkommen … Arthur, mein Gatte, war wieder vier Tage unterwegs …“

Sie blieb in der Tür stehen. Ihr rotbraunes reiches Haar war in losem Knoten am Hinterkopf durch ein Stirnband befestigt. Es war ein dunkles Seidenband, und gerade über der Nasenwurzel war auf dieses Band ein bunter Stein festgenäht.

„Ingrid ist stets sehr besorgt um mich,“ lächelte Scannon zärtlich. „Für eine Frau ist es eine schwere Aufgabe, die Angst in der Einsamkeit dieses Verstecks zu bannen. – Dies ist Mr. Abelsen, Ingrid, und das da ist der alte Gripu, und der da – das ist Men Huleb.“

Men Huleb stolzierte bedächtig auf Ingrid zu und beschnupperte sie. Dann richtete er sich auf den Hinterbeinen hoch, legte ihr die schwarzen Hände flach auf die vorgewölbte Brust und grunzte behaglich.

Sie streichelte ihn, und da erst sah ich ihr Gesicht deutlicher. Es hatte einen leichten Bronzeton und war von berückender Schönheit.

Men besaß Geschmack.

Ingrid lachte munter, fast kindlich, zog den starken Men in die Hütte und reichte ihm einend Hartzwieback.

Seitdem habe ich Mens Liebe mit einer wunderschönen Frau zu teilen.

 

2. Kapitel.

Der Leopardenjäger.

„Schlage dort das Zelt auf, Gripu,“ befahl Scannon ablenkend. „Und Sie, Abelsen, begleiten mich. Wir müssen die Spuren Ihres Lagerplatzes tilgen. Die Lekhoan-Krieger werden hier jeden Grashalm umwenden, und wenn sie auch nicht gerade hervorragende Fährtensucher sind, – Vorsicht schadet nie.“

Die letzten Ereignisse nahmen in dieser seltsamen Umgebung etwas Traumhaft-Unwirkliches an. Frau Ingrid war zweifellos Europäerin und … Dame! Das war keine Abenteurerin[3] jenes Schlages, wie sie in den Metropolen Asiens auftauchen und dunkle Beziehungen anknüpfen, hinter denen irgendein Syndikat mit enormen Geldmitteln als treibende Kraft stecken. – Und Scannon selbst?! Ein Mischling?! – Schon möglich, dennoch ein gebildeter Mann, aus der Bahn geworfen durch irgend etwas, das ihn in die Wildnis flüchten ließ. Was scherte es mich. Ich war froh, ihn gefunden zu haben, Leute seiner Art waren mir eng verwandt, und ich ahnte nach diesem eigentümlichen Beginn unserer Bekanntschaft noch seltsamere Dinge voraus.

Wir traten ins Freie, Scannon schloß die Balkenpforte, ließ die stachligen Vorhänge herab und winkte mir, im Baumschatten zu bleiben.

Wir horchten eine Weile, wir durchsuchten das Gebüsch mit den Augen, die hellen Mondzeichnungen auf dem Boden und auf den großblätterigen Sträuchern, die noch aus den Baumkronen fallenden Tropfen, unter deren Aufprall trügerische Bewegungen im Gestrüpp auflebten, das Brausen und Gurgeln des nahen Flusses und die wieder erwachenden nächtlichen Stimmen der Tiere der Wildnis schufen in ihrer Gesamtheit eine Szenerie von aufreizender Eigenart.

Längst verblaßte Erinnerungen wurden zu frischen, eindrucksvollen Bildern erweckt, – es war sehr lange her, seit ich wie jetzt unter so bedrohlichen Umständen neben einem Manne schweigend verharrte, dem offenbar der Urwald Heimat geworden und dem die menschenfernen grünen Dome der Wälder und die stillen, zerklüfteten Berge wie mir das Sinnbild der Freiheit waren.

Dann schritt Arthur Scannon federnden Schrittes zu einem mächtigen Kampferbaum, dessen Blattschmuck welk und tot erschien. „Ich habe vorgesorgt,“ sagte er leise. „Sechs Monate hausen wir hier, und der Tod war jede Stunde in der Nähe.“ Er bückte sich, sein Feuerzeug sprühte auf, und ich sah dicht über den freiliegenden Wurzeln des Kampferbaumes ein Ende Zündschnur in der borkigen Rinde.

„Der Baum ist eingekerbt, Abelsen,“ erklärte er schlicht. „Ich habe die Rinde wieder über der Kerbe befestigt … Er wird dorthin fallen, wo Sie lagerten, und seine Krone bedeckt dann die ganze Lichtung …“

Er kniete und zog die Zündschnur weiter heraus, – sie fing Feuer, eilends kehrten wir in die grüne Grotte zurück, dann erfolgte ein dumpfer, schwacher Knall … Sekunden regte sich nichts, der Baumriese, gemordet durch Beilhiebe, wehrte sich scheinbar noch immer gegen den endgültigen Sturz, – bis ein scharfes Rauschen und helles Splittern von Holz einsetzte und jäh anwuchs zum beängstigenden Getöse, und ein greller Schrei dieses Prasseln und Dröhnen und Krachen durchschnitt und Scannons Finger sich in meinen Ärmel krallten …

„Es war ein Mensch auf dem Baume, Abelsen, – ein Spion …!“

Seine Stimme klang hart und erbarmungslos.

„Ein … Weib,“ – und meine Stimme war erfüllt von Entsetzen. „Ein Weib, Scannon, – so schreit kein Mann!“

Wir standen im matten Licht der Laterne, die der alte Gripu an einen morschen Ast gehängt hatte. Scannons Gesicht wurde fahl, und seine Finger gaben meinen Ärmel frei. Hilflos blickte er mich an …

„Die Lekhoan-Krieger nehmen ihre Weiber niemals mit, Abelsen.“ Er befeuchtete sich nervös mit der Zunge die dünnen Lippen. „Es könnte die Goßli gewesen sein … könnte …! Kommen Sie mit, – wenn sie’s war, ist sie tot …“

Gripu mischte sich ein. „Tuwan, es war eine Frau … Jetzt sind die Leute der Berge draußen, – da, Tuwan, hörst du sie?!“

Ein Ruf erscholl, – Stimmen antworteten, die Halbinsel war plötzlich belebt von den vielfachen Lauten erregter Männer … Beilhiebe dröhnten, eine Art Chor von tiefen Bässen erwachte, jenes taktmäßige halbe Singen, mit dem die Asiaten so gern ihre schwersten Arbeiten verrichten …

Neue Beilhiebe, dann ein schrilles Stöhnen …

Spukhaft das Ganze, spukhafter noch, da ebenso jäh jedes Geräusch erlosch.

Wir warteten. Scannons Hand hatte jetzt die Pistole umkrallt …

Gripu huschte zur Balkenpforte …

Totenstille …

Und diese Stille zerrte an den Nerven und zauberte Gefahren herauf, die nicht vorhanden waren.

„Lassen Sie mich hinaus, Scannon,“ verlangte ich schroff. „Ich will Gewißheit haben … Ich verstehe mich auf das Anschleichen vielleicht besser als Sie, glauben Sie mir …“

Gripu zog die Pforte auf, und ich kroch langsam ins Freie … Der Mond fiel schräg in breiter Bahn durch die neue Baumlücke auf den gefällten Stamm und die zerschmetterte Krone, von der nur noch Bruchholz vorhanden war. Nur die dicksten Äste ragten noch als Stümpfe mit hellen Bruchflächen wie Pfähle hoch in die Luft. Ich schob mich mit äußerster Behutsamkeit vorwärts, da ich jeden Augenblick auf eine peinliche Überraschung gefaßt sein mußte. Ich hatte mich nicht leichtfertig zu diesem Kundschaftergang gedrängt, wir dort in der grünen Baumgrotte mußten unbedingt darüber Aufschluß erhalten, ob die Frau, die in der Krone des Kampferbaumes verborgen gewesen und die unser Versteck zweifellos ausspioniert hatte, noch imstande sei, ihren braunen Verbündeten das Beobachtete mitzuteilen. Ich wünschte ihr aufrichtig, daß sie mit dem Leben davon gekommen sein möchte, ich wünschte aber ebenso aus einer verständlichen Selbstsucht heraus, daß sie wenigstens zunächst infolge einer leichteren Verletzung schweigen müsse, bis wir uns anderswohin in Sicherheit gebracht hätten.

Die Nässe der Gräser, die Wasserpfützen und die feuchten Zweige, die mein heißes Gesicht streiften, kühlten die seltsame Unruhe in meinem Blut, die mich von dem Augenblick an befallen hatte, als ich Arthur Scannons Gattin in dem hellen Türrahmen wie ein unwirkliches Gemälde voll geheimnisvollen Reizes gesehen hatte. Jetzt erst wurde ich mir darüber klar, daß diese Frau sofort gleichsam von mir Besitz ergriffen, und daß ich in diesen nächtlichen, von Gefahren umlauerten Weg nur ihretwegen gewagt hatte. Es war weder Liebe auf den ersten Blick noch etwa ein ebenso jäh erwachtes Gefühl kameradschaftlicher Zusammengehörigkeit, das mich zu ihr hinzog. Es war ein unklares Empfinden, sie beschützen zu müssen, – vielleicht weil ihr Mann uns rechtzeitig und selbstlos gewarnt und in seinen Schlupfwinkel aufgenommen hatte – vielleicht deswegen. Jedenfalls hatte Frau Scannons Person den Ausschlag gegeben, – und dies und nichts anderes war der Grund, daß ich nun mit klügster Ausnutzung aller Vorteile des Bodens und der zahllosen kleineren Büsche wie eine Schlange dem Flusse mich näherte. Ich kannte die Uferbildung der äußersten Spitze der Halbinsel, es lagen da eine Menge Felsblöcke wie eine Mole schräg gegen den Strom, und wenn die Malaien die verletzte Frau in ein Kanu heben wollten, konnte es nur hinter dieser Steinbarre geschehen.

Es war so. Das Rauschen des überfüllten Flußbettes vermochte die Stimmen der Krieger des wilden Lekhoan-Volkes nicht zu übertönen, ich bog die letzten Zweige beiseite und gewahrte in dem Silberglanz des schillernden kleinen Hafens sechs flache Kähne und eine Anzahl Männer mit hellen Turbantüchern und derben Leinenhosen, und drei von ihnen schwangen gerade eine aus Baumästen und Lianen gefertigte Krankenbahre von den Felsen in das größte Boot. – Die Entfernung betrug keine zehn Meter, und als die drei stämmigen Krieger sich nun halb drehten, erkannte ich auch die Frauengestalt, der die zarte Fürsorge dieser blutdürstigen Kinder der Wildnis galt.

Im Lichte des Mondes erschien das Antlitz der Frau von einer geisterhaften Blässe. Im Spiel der Mondstrahlen schimmerte ihr blondes, gelöstes Haar wie wogendes Gold.

Ich erschrak, und tiefes Grauen überkam mich, ich mußte an mich halten und den Schrei hinabwürgen, der mich von dem unerträglichen Seelendruck befreien sollte.

Die Frau dort glich Zug um Zug meiner toten Jane, deren kühles Grab die Wogen der fernen Südsee umspielen. – Jane war mir Gipfelpunkt seliger Tage gewesen, und genau wie jene Fremde dort kunstlos aufgebahrt im Mondschein ruhte, genau so hatte damals meine Jane an Deck der weißen Luxusjacht gelegen, bevor wir sie für immer dem Korallengrabe anvertrauten.

Gewiß – es konnte nur eine Ähnlichkeit sein, aber diese Ähnlichkeit traf mich wie ein tödlicher Hieb, mein Herz setzte aus, ich vergaß alles ringsum, und der wahnwitzige Wunsch, blindlings vorzustürzen und mich zu überzeugen, daß es nur eine Täuschung sei, begünstigt durch das Nachtgestirn und das goldblonde Haar, ward nur dadurch unterdrückt, meine Hand jäh in die harten Stacheln einer am Boden liegenden faustgroßen Erdfrucht griff. Dieser Schmerz genügte, mir die Besinnung wiederzugeben, und der Wechsel der mein Hirn durchflutenden Gedanken vollzog sich so rasch, daß ich mit einem grimmen Wort der Selbstanklage meiner Pflichten mir wieder bewußt wurde.

Ich beobachtete mit klaren, kritischen Augen das Treiben der Malaien, ich sah neben der Kopfseite der Bahre einen Mann im Wasser stehen, der behutsam jener Bewußtlosen aus einem Becher irgendeinen Trank einflößte.

Sie war nicht tot. Ich fühlte eine Erleichterung, als ob ich unbeabsichtigt ihr Schaden zugefügt hätte, und ich war doch schuldlos an dem Geschehenen – genau wie Arthur Scannon ohne Schuld war. Die Umstände hatten den Sturz des Baumes gefordert, – konnten wir ahnen, daß Helga Goßli über uns in der Krone lauerte und sich dort droben sicher wähnte?!

Dann setzte die kleine Flottille der flachen Kanus sich stromauf in Bewegung, taktmäßig tauchten breite Blattruder ein, und die leichten Fahrzeuge flogen dahin wie Schatten und verschwanden in dem Felsental, das der Fluß durcheilte.

Die Gefahr war vorüber.

Ich richtete mich auf, schüttelte die Nässe von mir und wollte zu den Gefährten zurück. Der erste Schritt, den ich tat, war jedoch ein Ausgleiten auf einem schlüpfrigen Stein, ich sank vornüber, und im gleichen Augenblick vernahm ich das merkwürdige hohle Surren eines gefiederten Pfeiles, der dicht über mir hinwegzischte.

Ein Zufall hatte mir das Leben gerettet, – ein langer Sprung brachte mich in Deckung, und an eine knorrige immergrüne Buche geschmiegt entsicherte ich die Pistole und erwartete einen neuen Angriff.

Nichts geschah. Ich mußte mit mehreren Gegnern rechnen, – die Malaien hatten hier zweifellos Wachen zurückgelassen, und meine Lage war inmitten dieses Dickichts, das rundum mit tiefen Schatten lauerte, verzweifelt genug. Gripu hatte mir vieles über seine wilden Stammesbrüder berichtet, die noch immer neben erbeuteten Gewehren den altgewohnten Bogen und den langen Pfeil mit Vorliebe benutzten als weit geräuschlosere Waffe. – Es war ein scheußliches Gefühl, jede Sekunde damit rechnen zu müssen, hinterrücks an diesen Baum gespießt zu werden. In solchen Momenten wird die Empfindung ungewisser Angst, die nie Feigheit ist, durch das raschere Spiel der Gedanken zu noch rascherem Entschluß: Mein Leben hing hier einzig und allein von meiner Schnelligkeit ab, – ich flog ohne Besinnen durch eine Lücke des Gestrüpps, ich raste vorwärts, duckte mich nach jedem Sprung zusammen, fuhr empor, jagte weiter und … stand atemlos vor dem riesigen, düsteren Windbruch, in dessen Pforte der alte Gripu, die Büchse im Arm, mich mit der hastigen Frage empfing: „Tuwan, sind sie noch da, die blutigen Lekhoan?“

Er hatte die Vorhänge der Dornen und Lianen durch einen doppelt gegabelten Ast klug auseinandergebreitet, und sein zerknittertes Gesicht verriet Sorge und Freude zugleich.

„Gut, daß Sie gesund zurückkehrten, Tuwan,“ fügte er froh hinzu. „Men Huleb wollte durchaus Ihnen folgen, aber Tubana Scannon duldete es nicht …“

„Es wäre besser gewesen!“ meinte ich nur … „Men hätte die Kerle aufgespürt … – Schließe das Tor … – Was tut Scannon?“

„Er und die Tubana packen ihre Sachen, Herr. Geh’ nur hinein … Ich soll das Zelt wieder abbrechen und die Pferde satteln …“

Als ich jetzt zum ersten Male das Bambushaus betrat, saß Ingrid auf ihres Gatten Schoß und errötete flüchtig, erhob sich schnell und fragte mit ihrer zarten Stimme:

„Was fanden Sie draußen, Mr. Abelsen?“

„Nichts Gutes, Frau Scannon … Es sind noch Krieger auf der Halbinsel zurückgeblieben, ein Pfeil mahnte mich an beschleunigten Rückzug, die anderen fuhren mit Helga Goßli davon, – sie lebt, aber sie scheint schwer verletzt zu sein.“

Scannon hatte mir die Worte von den Lippen abgelesen. Der besorgte, gespannte Ausdruck seiner Züge verlor sich. „Gott sei Dank,“ sagte er leise. „Nur verletzt … Ich hätte nie darüber hinwegkommen können, wenn dieses tapfere Weib durch mich getötet worden wäre. – Ich bin nicht sentimental, Abelsen,“ fügte er hart hinzu. „Die Leute, die immerfort ihr subtiles Gewissen erwähnen, sind Heuchler. „Gewissen“ ist nur Angst vor eigener Verantwortung und vor gradlinigem Handeln. – Sie sehen, wir haben bereits gepackt, wir verlassen ungern diese Hütte, in sechs Monaten wird man heimisch in einer so schlichten Umgebung …“

Ich schaute mich um. Der Raum war durch dünne Bambusstäbe in drei Teile gesondert. Scannon zeigte mir alles, und wieder zuckte es wie ein heimliches Lächeln um seinen kühnen Mund. „Hier schlief Ingrid, – das ist die Küche, hier ist mein Lager, – viel Komfort hatten wir nicht, aber dieses halbe Jahr brachte mir dreißig Leopardenfelle …“ Er deutete auf einen Stapel sauber gegerbter Felle. „Eine ganz nette Beute, Abelsen, und kein einziges ist darunter, das ein Kugelloch hätte. Ich ziele nur auf das Auge, Abelsen … Nun müssen wir die Felle vergraben – vorläufig … Helfen Sie mir …“

Ingrid war ins Freie getreten, und dieser treulose Wicht von Men Huleb blieb abermals neben ihr und schien mich völlig vergessen zu haben.

„… Wir werden unser Boot recht schwer beladen müssen,“ sagte Scannon, als wir die Felle, eingehüllt in gefettetes Zeltleinen, in ein Felsloch am Rande der grünen Grotte legten und sorgfältig Steine darüber deckten. „Unser Boot ist auch nur ein Kanu, Abelsen. Ich habe es mir von den Lekhoan geliehen, ohne sie zu fragen.“

„Und die Pferde?!“ bemerkte ich etwas zerstreut, denn Ingrid stand jetzt neben uns, und Men Huleb war mir in die Arme gehüpft, – er schien Gewissensbisse zu empfinden, der wankelmütige Hundsnasenaffe.

„Werden schwimmen müssen,“ erklärte Scannon und beobachtete Gripu, der die struppigen Gäule eilig sattelte. „Es wird eine lange Schwimmtour werden, – der See Biba-Schoni[4], der See der hohen Felsen, liegt eine halbe Meile nach Norden zu … – Hörten Sie von ihm, Abelsen?! Kein angenehmes Gewässer … Die Parker-Expedition wollte ihn erforschen, aber Madame Goßli hat die Amerikaner abschlachten lassen, fürchte ich, und wenn wir Pech haben, zieren unsere edlen Köpfe in geräuchertem Zustande ebenfalls demnächst die Hütten der wilden Lekhoan. Doch, das soll uns nicht schrecken, Kamerad, die Hauptsache: Das Gewitter und der Regen kehren zurück, wie es hier immer geschieht. Verfängt sich erst einmal so eine blitzspeiende Wolke in diesen Bergen, so pendelt sie hin und her, bis ihre Kraft erschöpft ist. Da – horchen Sie! – ich habe recht, ich kenne das, es tröpfelt bereits wieder, nach zehn Minuten gießt es, und die braunen Halunken hier auf der Halbinsel werden das Nachsehen haben. Mein zweites Schlupfloch aus diesem Baumverhau mündet am Flußufer. Ingrid, mache den Zugang frei, meine Kupfertaube. Rühre dich, Kind, – weine dieser Hütte keine Träne nach, unser neuer Schlupfwinkel ist besser, du wirst staunen.“

Kupfertaube, – nicht schlecht gesagt! Ingrids Haar war wie blankes Kupfer. Aber daß Scannon sie so väterlich „Kind“ titulierte, mißfiel ihr gründlich. Ihre jähe Gereiztheit wirkte etwas sonderbar.

„Ich werde dich fernerhin „mein Junge“ anreden,“ meinte sie ärgerlich und blickte ihn eigentümlich herausfordernd an. „Mit einundzwanzig ist man kein Kind mehr, nicht wahr, Mr. Abelsen?!“

Sie wartete eine Antwort nicht ab und schritt zum Nordrande der grünen Grotte, wo fünf geknickte Stämme wie Pfähle dicht nebeneinander standen. Ich beobachtete Ingrid, es war nicht die Neugier, den zweiten Ausgang kennenzulernen, es war die Freude an ihren graziösen, kraftvoll-ausgeglichenen Bewegungen. Nur das Leben in der Wildnis verleiht dem gestrafften Körper diese spielende Leichtigkeit der Glieder, diesen schwebenden Gang, der trotzdem nichts Schleichendes an sich hat, und diese bewußte Ruhe des Muskelspiels, das man nicht sieht, aber unter den neidischen Hüllen mit aller Deutlichkeit ahnt.

Ingrid Scannon reckte sich empor und griff in das Gestrüpp hinein, zog an einem Tau, das zuerst unsichtbar blieb, und hob so die fünf Baumpfähle wie ein Fallgatter empor – samt den Schlingpflanzen, samt den Wurzelresten.

Ich bewunderte ihre Kraft, ich bewunderte ebenso die Schlauheit Arthur Scannons, der dieses Tor nicht als Drehtür hergerichtet hatte. Ingrid stützte eine Bambuslatte unter einen der Stümpfe, und hinter diesen sah ich einen dunklen breiten grünen Hang.

Ein gewaltiger Blitz zuckte nieder, – prasselnder Regen folgte, und die schweren Tropfen fanden selbst Zutritt zu diesem Versteck, über dem sich mehrere Meter hoch der Windbruch auftürmte. Es goß in Strömen, der Donner hallte in den Bergen wider wie eine wilde Kanonade, und bei dieser großartigen Musik des Himmels brachten wir das dicht am Ufer liegende lange Kanu zu Wasser, nachdem Scannon den Weg zum Flusse durch einfaches Beiseitedrücken einiger stacheliger Büsche freigelegt hatte.

Zum ersten Male sah ich ein Kanu der wilden Lekhoan-Malaien aus der Nähe. Daumendicke, lederzähe Rinde einer besonderen Palmenart war über ein leichtes Bambusgestell genagelt und mit Harz und Lappen abgedichtet. Das Flachboot maß sechs Meter etwa bei anderthalb Meter Breite. Es war so leicht, daß Scannon und ich es heben und tragen konnten. Scannon hatte in die Löcher des Bootsrandes, die eingebrannt waren, dünne Stäbe gesteckt und eine Ölplane darüber gespannt. Noch mehr staunte ich, als er aus dem Gestrüpp einen kleinen Außenbordmotor hervorzog und ein Steuer, das dem eines Kutters glich. Wortlos trugen wir alles zwischen die Felsen des Ufers und standen im strömenden Guß und machten das Fahrzeug bereit. Die Regenschnüre fielen wie dicke Stricke hernieder, wir waren im Nu durchnäßt, aber kein noch so greller Blitz konnte gegen die Sintflut aufkommen.

Das geschützte Kanu glitt in offenes Wasser, unsere Gäule schwammen schnaubend nebenher, von Gripu gehalten, das Puffen des Motors war gegenüber dem Grollen des Donners wie das bescheidene Ticken eines Spielzeugs, und rasch nahm uns die Strömung mit fort gen Norden zu dem großen Bergsee, der unser unbekanntes Ziel war. Nur Scannon hatte ihn bereits besucht, und jenseits seiner kahlen Felsenufer sollte gen Westen Helga Goßlis „Heim“ zu finden sein, – so meinte Scannon gleichgültig, als wir unter dem Regendach des Kanus hockten und blindlings in die Finsternis hineinsausten, die über dem gurgelnden, angeschwollenen Flusse lastete.

– So fuhren wir damals zum Biba-Schoni, wie die Lekhoan ihn nennen, zum See der hohen Felsen. Auf den Karten heißt er Richards-See, wenn ich mich nicht irre.

Ich schreibe dies auf der Insel im Biba-Schoni, und diese Insel ist es wert, ihr ein paar besondere Abschnitte zu widmen. Ingrid klappert in der Küche mit den Aluminiumtöpfen, Men Huleb hält auf dem zackigen Hügel Wache, und Scannon und Gripu fischen in dem Kanal. Es ist heiß und sonnig, und alle Wunder des Biba-Schoni liegen im grellen Lichte da. – Wir sind heute den dritten Tag hier, und bisher ist nichts Wesentliches geschehen.

Mir fällt die Feder aus den Fingern …

Aber den niederträchtigen Schützen haben wir erst nach Stunden erwischt. Der lange Pfeil ritzte mir den Hals und steckt noch drüben in dem Holzpfosten, der die Matten trägt, die Ingrids Gemach von dem unsrigen trennen.

 

3. Kapitel.

Der Doktor aus Korea.

Es war ein ganz junger Bursche. Wir faßten ihn drüben inmitten der Felsmassen ab, die einst durch einen ungeheuren Bergrutsch auch diese Insel hervorgezaubert haben. Vulkanische Einflüsse haben dabei mitgespielt, Formosa ist kein sicherer Boden, in den Tiefen der Gesteinsmengen der drei Gebirgszüge, die von Norden nach Süden die ganze Insel ausfüllen und nur an den Küsten Flachland für Plantagenbetrieb freilassen, – in diesen Tiefen rumoren noch andauernd die finsteren, unberechenbaren Gewalten, die auch so häufig dem Inselreiche Japan ganze Städte kosten und neuerdings zu derselben Bauweise zwangen, die sich auch in San Franzisko unter gleichen Bedingungen glänzend bewährt hat: Eisenkonstruktionen, ausgefüllt mit leichtem Mauerwerk, Fußböden und Zwischenbalken aus elastischem Material, das jedem Erdbebenstoß widersteht. –

Der Pfeilschuß war durch das Fenster unserer Steinhütte gekommen, der Tod war wieder haarscharf an mir vorübergegangen, und Frau Ingrid war leichenblaß geworden, als ich sie herbeirief und sie dringend bat, die Hütte fest verschlossen zu halten und ihre leichte Winchesterbüchse bereit zu legen. Dann erst eilte ich ins Freie. Die Stelle, wo der heimtückische Bursche gestanden hatte, war unschwer zu finden. – Inmitten der das kleine Inseltal spärlich umsäumenden Nadelhölzer, zumeist Bergtannen und eine kleine Art von Zedern, erhebt sich unser Steinhaus, das wir aus Vorsicht der felsigen Umgebung trefflich angepaßt haben. Von außen gleicht es einem Hügel von Geröll und stachligen Büschen, aber unter diesen Steinen, Felsplatten und sauber eingepflanzten Büschen liegt die Blockhütte, sehr primitiv, sehr praktisch, – eine kleine Festung im Notfall. Das Inseltal ist ein Kessel von sechzig Meter Durchmesser, nach Westen zu sind die Randberge am höchsten, und dorthin zieht sich auch bis zum Seeufer eine Art Damm von Felsen und Steinen, der allerdings große Lücken aufweist. Es ist mehr eine Reihe von Klippen, eben nur Überbleibsel des großen Bergrutsches, der einmal dieses Inselchen geschaffen hat. Ich habe mit Arthur Scannon über die Entstehung der Insel häufiger disputiert, und ich bleibe dabei, daß sie, so seltsam es klingt, der Gipfel einer der Berge im Westen des Biba-Schoni sein muß, – was Scannon als allzu phantastische Theorie zurückweist. An sich ist dies ja gleichgültig, aber unser Eiland hat seine Eigentümlichkeiten, die man nur durch meine Theorie erklären kann. – Wie gesagt, – ein Inselchen, das sich aus dem Talkessel und nach Osten zu aus gewaltigen Steinmassen zusammensetzt, zwischen denen winzige Kanäle blinken, von denen nur der eine (wir haben ihn Ingrid-Kanal getauft) fünf Meter breit und mit seinen Windungen etwa hundert Meter lang ist. Den östlichen Abschluß der Insel bildet eine steile Felswand mit einer flachen Terrasse und stärkerem Baumwuchs nach Nordost hin.

Es ist wirklich ein sehr eigenartiges Eiland, in den Kanälen kann man sich verirren, und der Ostteil birgt auch zahllose kleine Grotten und Höhlen, die leider sämtlich feucht und muffig sind. Fischottern hausen dort neben Wasserratten und einer Tierart, die man Baumzibetkatze nennt, eigentümlich flinken, scheuen Geschöpfen, deren Mordlust sogar den größeren Vogelsorten gefährlich wird. Ihr Name deutet eigentlich auf Baumbewohner hin, aber es ist nun einmal hier auf unserer Insel alles ein wenig „verdreht“, wie Scannon lächelnd behauptet, sogar wir fünf Bewohner (Men wird als „Mensch“ gezählt) empfinden den Einfluß der seltsamen Umgebung und kommen uns wie Insulaner oder … „verwunschene Prinzen“ vor, auch so ein Ausdruck des humorvollen Leopardentöters, der die ganze Welt nicht recht ernst nimmt und sich selbst am allerwenigsten.

– Ich wollte von dem jungen Burschen reden, der mir seine lange Spicknadel in den Hals zu schießen gedachte, obwohl niemand ausgerechnet am Halse einen Wildpretbraten spicken würde.

Der Jüngling hatte hinter den Zedern gegenüber dem Nordfenster gekniet, – der Schußrichtung nach konnte es sich nur um den Platz handeln. Ein alter Spurensucher wie ich, brauchte dazu nur ein paar Minuten. – In dem zermürbten Gestein und in den dünnen Grasbüscheln zeichneten sich die flachen schmalen Abdrücke hackenloser Schuhe ganz deutlich ab. Aber umsonst suchte ich den Boden nach dem spitzen Löchlein ab, das der Bogen des Schützen zurückgelassen haben mußte. Die Lekhoan benutzen zumeist sehr lange Bogen aus vierfachen Streifen gespaltenen Bambusholzes, das in Fett gekocht wird, sie stützen diese Bogen beim Schuß regelmäßig auf die Erde auf, schon um für die meist 1,30 Meter lange Waffe an der einen Seite einen Halt zu haben. Lord Morspam hatte mehrere echte Bogen der wilden Lekhoan besessen, und wir hatten damit auf der Plantage Schießversuche angestellt. Ich kann nur sagen, daß schon sehr erhebliche Kräfte dazu gehören, einen solchen Bogen zu spannen, und nur stete Übung von Jugend an verleiht dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand die nötige Muskulatur, Sehne und Pfeil richtig zu halten und an sich zu ziehen.

Das Löchlein in der Erde fehlte also. Noch eins stieß mir an diesem Platze auf: Der Bogenschütze hatte gekniet, und die dadurch entstandenen Eindrücke befanden sich so dicht hinter einer Zeder, daß bei genauerer Überlegung gar kein Raum zum Aufsetzen und Spannen eines Bogens blieb.

Alle Instinkte des Schülers meines unvergeßlichen indianischen Bruders Coy Cala wurden wieder in mir lebendig. Der doch sicherlich sehr ernst gemeinte Pfeilschuß, nun schon der zweite hier im Ostdistrikt der Taito-Berge, gab mir verschiedene Rätsel auf. Mochten die Lekhoan auch in keiner Weise als Jäger und Kämpfer mit meinen Araukanern von der Gallegos-Bucht verglichen werden können: Daß dieser Attentäter hier sich so gar keine Mühe gegeben hatte, seine Fährten zu verbergen oder auszuwischen, war mehr als leichtfertig, mehr als dumm, grob gesagt! – Nun, es würde sich ja zeigen, ob der Bursche wenigstens auf seiner Flucht mehr Intelligenz entwickelt hätte.

Ich pfiff nach Men Huleb. Der brave Men hockte an der Ostseite der Talhöhen im Gestein und kam wie ein Blitz herbeigeschossen.

Ich drückte ihm die lange Hundsnase auf die Spur des Fremden, Men sog schnüffelnd die Witterung ein, und wir begannen die Verfolgung.

Es war hier feststehender Brauch auf unserer Insel, bei Tageslicht den Talkessel nur in guter Deckung zu verlassen. Wir hatten bisher noch keinerlei Ausflüge in die Berge der Seeufer unternommen, Scannon meinte, wir müßten erst einmal abwarten, ob wir wirklich unbeobachtet die Insel erreicht hätten, die ihm ja bereits bekannt war. Sein Vorschlag hatte so manches für sich, und ich war damit durchaus einverstanden gewesen, Frau Helga Goßli lief uns nicht weg. Sollte es zutreffen, daß diese geheimnisvolle Frau die Parker-Expedition hatte verschwinden lassen, fanden wir untrügliche Beweise dafür, so wollte Scannon den nächsten Polizeiposten benachrichtigen und der Abenteurerin für alle Zeit gründlich das Handwerk legen.

Men und ich schlichen also sehr behutsam die Talwand empor, ich hatte Men für alle Fälle an die Leine genommen, denn sein Spür- und Jagdeifer verführt ihn leicht zu übereiltem Handeln. So erreichten wir die hier kahle westliche Anhöhe, – die Fährte war längst auf dem nackten Gestein unsichtbar geworden, und gebückt kroch ich nun zu der Klippenbrücke wieder abwärts, nachdem ich durch das Fernglas die Seeufer sorgfältig gemustert hatte.

Es war jetzt gegen elf Uhr vormittags. Die Sonne stand hoch, und die Berggestade des blaugrünen Biba-Schoni zeigten bei dieser klaren Beleuchtung all ihre wechselvollen Schönheiten.

Trotzdem: Es war ein Bild trügerischen Friedens, ich konnte mir nicht denken, daß der Schütze ganz allein hier an den See aus den östlichen fernen Waldschluchten gekommen sein sollte, ich rechnete bestimmt damit, daß wir entdeckt seien, und ich richtete mich danach. – Scannon, der vielseitige, hatte mir aus einem Bambusrohr eine Art Signalflöte geschnitzt, die ähnlich wie der schrille langgezogene Schrei eines schwarzen Reihers klang, die hier am Ufer zahlreich in den hohen alten Bäumen horsteten. Ich nahm die Signalpfeife und entlockte ihr dreimal den vereinbarten gellenden Warnruf, der so überlaut und so eigentümlich war, daß die Uferwände ihn wie das satanische Hohngelächter eines Chors von Teufeln zurückwarfen und verstärkten.

Scannon und Gripu mußten das Signal hören, würden schleunigst zum Steinhaus zurückkehren und dort von Ingrid alles Nötige erfahren.

Ich entsicherte meine Büchse, bevor wir den gefährlichsten Teil des Weges, den über die Klippen, begannen. Wir mußten springen, waten, kriechen, zuweilen verlor Freund Men wohl die Fährte, doch nie für lange. Als wir erst in der Nähe des Seestrandes, wo stellenweise dichteste Buschstrecken wie grüne Polster sich zwischen das Geröll klemmten, mehr in Deckung waren, gab ich Men Huleb frei, und drei faule Krokodile, die in einer sumpfigen grünlichen Lagune auf dem Trockenen sich sonnten, schnappten zu spät nach meinem überflinken vierhändigen Freunde, der die Frechheit besessen hatte, die moschusstinkenden Saurier als Sprungbretter zu benutzen. Ebenso empört über Hulebs Erscheinen war ein großer Ameisenfresser, der sich soeben erst aus seinem Erdloche zur Einnahme des Frühstücks herausgewagt und die endlose Zunge wie eine rote Schlange hatte spielen lassen. Men versetzte ihm einen Nasenstüber, und quiekend fuhr das Tier in seinen Bau zurück.

Vor uns lag nun die etwa dreihundert Meter breite, steile Bahn, über die einst die Felsmassen in die Tiefe und in den See geglitten waren – eine Rutschbahn der Natur, glatt wie eine Tenne, ohne jeden Pflanzenwuchs, nur durchschnitten von ein paar schmalen Rinnen, in denen bei Regen das Wasser sich sammelte und nachher an der Südseite der Gleitbahn als spärliche Kaskade abwärts plätscherte.

Die Felsmassen neben dieser glatt geschliffenen schrägen Fläche bildeten mit ihren Klüften, Spitzen, Terrassen, Büschen, verkrüppelten Bäumen und einzelnen gigantischen Kampferbäumen einen wirksamen Rahmen für die kahle, glatte Halde. Daß Scannon, der doch deren besondere Beschaffenheit sofort hatte erkennen müssen, dennoch meine Theorie der Entstehung der Insel verwarf, blieb mir unverständlich. Meine Ansicht ging sogar dahin, daß dieser Absturz der ungeheuren Felsmassen gar nicht so sehr lange her sein könnte. Freund Scannon lachte mich aus. Unser Inselchen erschien ihm denn doch zu umfangreich, als daß es eine abgebrochene, abgerutschte Bergspitze sein könnte. In diesen Dingen war er Laie. Er hätte sich getrost auf meine fachmännischen Erfahrungen verlassen können. Bei Tunnelbauten im Hochgebirge haben die Ingenieure durch unrichtige Sprengungen schon ganz andere Wunder hervorgerufen.

Zu meinem Erstaunen bog Huleb nach kaum fünf Minuten vorsichtigen Anstiegs in eine der erwähnten Rinnen der Gleitbahn ein. Seine feine Nase war zuverlässiger als die eines Schweißhundes, und ich wußte nun, daß ich den Schützen sehr bald in Schußnähe haben würde, da gerade die Rille im Gestein mitten in der steilen Gleitbahn aufhörte.

Ich lockte Men leise neben mich, und sehr bedächtig schritt ich in diesem vielleicht drei Meter tiefen schmalen Kanon dahin, die Büchse schußbereit, die Augen scharf nach vorn gerichtet …

Hinter der letzten Biegung hockte der Bursche sechs Schritt vor mir am Boden und … las!

Las …! Er las wirklich, rauchte dazu eine Zigarette und hatte seinen echt koreanischen großen spitzen Roßhaarhut neben sich gelegt.

Auf den ersten Blick sah ich, daß der Jüngling weder Malaie noch Japaner noch Chinese, sondern Koreaner war.

Ich stand minutenlang regungslos.

Vor dem eifrig Lesenden lag ein großer, prall gefüllter Rucksack aus Wildleder, und an diesem Rucksack lehnten eine Remingtonbüchse, ein Bergstock aus Bambus, ein Klappstativ für eine Kamera und ein … Regenschirm mit Hornkrücke im seidenen Überzug.

Mir blieb die Sprache weg.

Was tat dieser flachgesichtige, hellhäutige Koreaner mit dem pechschwarzen Scheitel, der schwarzen Hornbrille, dem braunen Khakianzug und den echt koreanischen Schnabelschuhen hier in der Wildnis?!

Und – was las er?!

Es war ein schmales Büchlein, – soeben entfaltete er eine in dem Buche befindliche Karte …

Es war ein Reiseführer – wahrhaftig, ein grüner Führer der sehr emsigen Firma Cook, vor der auch wohl der Nordpol nicht mehr sicher sein dürfte.

Der eifrige Jüngling studierte die Karte, schüttelte jetzt wie zweifelnd den Kopf, ließ das Buch sinken und schaute auf und mich an.

Er lächelte höflich …

Men wollte ihm an den Kragen.

„Men, hierher!!“

Der Jüngling hatte sich erhoben.

„Ich wollte Sie vorhin nicht stören, Sir,“ sagte er in etwas geziertem Salonton. „Sie schrieben gerade … Ich hatte auch mein Gepäck hier zurückgelassen und beabsichtigte es zu holen. Sie gestatten, mein Name ist Doktor Skiru Suul, Geologe und Chemiker …“

Sein Englisch glich in der Aussprache dem Arthur Scannons. Seine Züge waren jung, ehrlich und offen, seine Augen etwas verträumt und blinzelnd …

Wollte er mich narren?!

„Pflegen Sie Ihre Visitenkarte stets in Gestalt eines Pfeiles abzugeben, Doktor Suul?“ meinte ich ironisch und behielt die Büchse im Anschlag.

Das höfliche Lächeln verschwand. „Ein Pfeil?“ fragte er nachdenklich. „Ich verstehe Sie nicht ganz, Sir … Ich habe nie einen Pfeil besessen, ich führe nur modernste Feuerwaffen mit mir, bin jedoch ein miserabler Schütze, ehrlich gestanden. Was den Pfeil betrifft, muß unbedingt ein Irrtum vorliegen.“

Seine Worte klangen nicht nach Lüge.

„Sie haben doch neben der Zeder gekniet und mich beobachtet, Doktor Suul?“ fragte ich etwas unsicher.

„Gewiß – ganz recht, hinter der Zeder, Sir, hinter … Sie schrieben sehr eifrig, und es erschien mir unpassend, Sie zu stören, – – zweifeln Sie?“

„Nein,“ sagte ich lachend. „Jetzt nicht mehr. – Was tun Sie hier in den gefürchteten Lekhoan-Bergen, Doktor Suul?“

Er rauchte zwei Züge, warf den Zigarettenrest weg und antwortete sehr bestimmt

„Ich kenne Sie nicht, Sir. Was tun Sie hier?“

Hm – dieser knabenhafte Doktor war doch keine gelehrte Null. Seine Augen bekamen etwas sehr Hartes, Unbeugsames, und seine nächsten Worte klangen noch schärfer: „Major Sakomo vom Ostdistrikt warnte mich vor weißen Abenteurern, Sir. Die angebliche Goldwäscherei der Frau Goßli soll der Magnet für allerlei lichtscheues Gesindel sein. Sind Sie vielleicht solchen Leuten begegnet – ganz zufällig? Es könnte ja sein … Jedenfalls gehöre ich nicht dazu.“

„Danke!“ sagte ich gutgelaunt. „Ihre Andeutungen haben den Vorzug, daß ein Tauber sie verstehen müßte. – Mein Name ist Abelsen, Doktor Suul, – Abelsen, Ingenieur, zur Zeit ohne bestimmte Beschäftigung, es sei denn, daß Sie die Jagd nach einem hinterlistigen Bogenschützen als Beschäftigung bewerten …“

„Allerdings, Mr. Abelsen, – im Grunde ist jede Art Tätigkeit, so lange sie ehrlichen Zwecken dient, durchaus löblich. Also sind Sie zur Zeit Polizeiagent, nicht wahr?“

„Etwas Ähnliches, Doktor Suul … Wollen Sie mich begleiten? Sie sind uns willkommen, sobald Sie den Nachweis erbringen, daß Sie in der letzten Stunde die Mattenstange unserer Hütte nicht durch einen Pfeil beschädigt haben.“

„Mit Vergnügen, Mr. Abelsen … Der Nachweis ist sehr einfach. Der Schütze steckte oben in der Zeder in dem verlassenen Reihernest, vermute ich. Sie besinnen sich wohl, es gibt da ein sehr großes Nest, und es haben sich dort Schmarotzerpflanzen angesiedelt, die förmliche Büsche bilden. Mir war es so, als ob sich in dem Nest etwas bewegte, ich legte dem jedoch keine weitere Bedeutung bei – leider, wie ich jetzt erklären muß. Wir werden den Schützen noch finden, denn er dürfte sich dort oben sehr sicher fühlen, außerdem haben wir ihm den Weg zum Ufer versperrt. – Gut, ich begleite Sie …“

Er setzte seinen Koreanerhut auf, schulterte mit leichtem Schwung den prallen Rucksack und verstaute seine sonstigen Sachen, ohne sich dabei weiter um mich zu kümmern. Erst als er marschbereit da stand, meinte er mit feinem Lächeln: „Ich kann Sie übrigens auch über einen unklaren Punkt beruhigen, Mr. Abelsen: Es sind keine wilden Lekhoan in der Nähe, die braunen Leute meiden diesen See, nachdem der Bergrutsch vor anderthalb Jahren einigen von ihnen das Leben gekostet hatte. Ich weiß das aus durchaus zuverlässiger Quelle, nämlich von Major Sakomo, einem sehr energischen Polizeioffizier, der mir eng befreundet ist. Die Lekhoan durchqueren den See stets sehr eilig, wenn sie nordwärts auf dem Flusse ihren heimischen Bergen zueilen. Vor drei Tagen, nein, vor dreiundeinhalb Tagen kam hier eine Kanuflotte vorüber, der ich am Ufer zu folgen suchte. Ich mußte umkehren, da mein Maultier von einem Leoparden zerrissen wurde, – ich bin ein sehr schlechter Schütze, und meine Kugeln trafen leider mein Reittier …“

„Schade!“ sagte ich belustigt. „Sie sollten besser niemals schießen, Doktor Suul, es wäre wirklich ratsamer …“

Als wir die Insel erreichten, beschaute ich mir das Reihernest, kletterte dann mit Men nach oben und fand dort lediglich einen ganz neuen, aber nicht in Öl gekochten Bogen sowie vier ebenfalls neue Pfeile mit Spitzen aus Hufnägeln, was mir sehr zu denken gab.

Doktor Suul war inzwischen schon von Scannon in die Hütte geführt worden, und als ich selbst eintrat, fand ich meine Gefährten gemütlich um den plumpen Tisch versammelt, nur Gripu fehlte, und Scannon meinte, der Alte stecke wohl noch immer in den Kanälen und sei hinter den wundervollen großen lachsähnlichen Fischen her, die man nur mit der Harpune fangen könne … –

Ich kann wohl sagen, daß mich Scannons Worte noch mehr beunruhigten.

„Hat Gripu denn die Signale nicht gehört?“ fragte ich mißtrauisch.

„Anscheinend nicht, Olaf … Aber setzen Sie sich doch … Ingrid, gib ihm eine Tasse Mokka, der gute Abelsen scheint durch den Pfeilschuß arg mitgenommen worden zu sein. Doktor Suul ist weit abgeklärter, finde ich, obwohl Sie, Doktor Suul, als Koreaner das Lügen sicherlich in der Vollendung beherrschen …“

Scannon grinste unseren Gast gemütlich an. – Mit einem Schlage fand ich da dieses trauliche Bild um den Tisch durchaus verändert und für Mr. Skiru Suul recht bedrohlich.

Freund Scannon schaute ihn durchdringend an.

„Na, Sie Reiher, – wie ist es mit einem Geständnis?!“ sagte er bedächtig. „Haben Sie geschossen? – Sie haben es getan, nur Sie!!“

Und er hielt Mr. Suul plötzlich seine Pistole unter die Nase. „Raus mit der Sprache, mein Junge! Wer schickte Sie her, unseren Olaf aufzuspießen? Wer?! Und – nicht schwindeln!! Mein Zeigefinger juckt, und meine Pistole wedelt zustimmend mit dem Schwänzchen, – die Anzeichen sind betrübend, mein Junge, – – also los!!“

Ingrid erhob sich schnell und verließ uns … Die Szene war auch nicht gerade für Frauenaugen bestimmt …

Doktor Skiru Suul antwortete ohne jedes Anzeichen von Furcht:

„Major Sakomo bat mich, einen Verbrecher unschädlich zu machen, der hier am Biba-Schoni-See sich verborgen halten soll. – Stecken Sie Ihre Pistole weg, Mr. Scannon … Ich gebe zu, ich habe mich geirrt. – Entschuldigen Sie, Mr. Abelsen … Es war wirklich nur eine Personenverwechselung.“

Scannons dröhnendes Lachen begriff ich noch weniger als Skiru Suuls ehrliches Geständnis.

„Kinder,“ rief Scannon überlaut, „die Welt ist ein Narrenhaus …!! – Erzählen Sie, Doktor. Wo trafen Sie Major Sakomo, den die Eingeborenen nur noch Tiger nennen?! Erzählen Sie, – meine Pistole wedelt nicht mehr, – – Ingrid, herein mit dir, Kind, – die Sache hat eine durchaus harmlose Wendung genommen!“

Arthur Scannons Heiterkeit war übelste Komödie, – endlich war ich mir darüber klar geworden. Mein Mißtrauen war hauptsächlich dadurch geweckt worden, daß dieser junge Koreaner hier als Schauspieler versagte. In seinem ganzen Verhalten gab es zu scharfe Widersprüche, und den Blick, den er soeben heimlich mit Scannon ausgetauscht hatte, war ebenso unvorsichtig wie belustigt gewesen. Der angebliche Doktor Suul erlaubte sich offenbar, mich innerlich als das Opfer irgendeiner mir undurchsichtigen Intrige zu belächeln.

Meine Gedanken jagten. Ich überflog im Geiste die letzten Tage seit meiner Bekanntschaft mit Scannon und Frau. Hieß der Mann Scannon?! Hieß dieses verführerische Weib Ingrid?! Wer waren sie?! Leopardenjäger?! Konnten sie nicht ebenso gut Verbrecher sein?! Scannon und Suul waren sich nicht fremd, wahrscheinlich hatten sie sich hier verabredet gehabt, Scannons „Flucht“ hier auf diese Insel war lediglich Teilstück irgendeines dunklen Planes, der wahrscheinlich gegen Frau Helga Goßli sich richtete, gegen deren Goldmine, gegen deren Reichtümer! Gripu und ich waren Scannon unbequem, – dort auf der Halbinsel wagte er noch keinen Mord, dort mochten wir ihm als Verbündete ganz willkommen sein – vorläufig! Jetzt aber sollte mit mir Schluß gemacht werden. Vielleicht lebte Gripu gar nicht mehr, vielleicht war Ingrid nur hinausgegangen, weil sie sich zu verraten fürchtete oder weil sie sich scheute, Zeugin dieser Komödie zu sein, die sehr leicht tragisch enden konnte. Nun – tragisch, – – für mich nicht!! Ich war gewarnt, ich war auf der Hut, und wenn es hier etwa doch zur Schießerei kommen sollte, – ich würde bestimmt nicht den zweiten, sondern den ersten Schuß abgeben!

Ich saß zurückgelehnt da, ich mag harmlos dem Doktor Suul zugenickt haben, ich hörte seine Antwort auf Scannons Frage, aber das Blut in meinen Ohren rauschte wie eine wilde Brandung und mein Hirn glühte, und das Wortgeklingel traf mich nur wie ferne Laute – etwa wie hastige Tropfen, die auf einen glühenden Stein fallen, und der Stein war mein eigenes überhitztes Hirn.

Ich vernahm und begriff Bruchstücke dessen, was Suul eilends in gewählter Form zusammenphantasierte, all das war ja ohne Bedeutung, war Lug und Trug und nur darauf berechnet, mich in Sicherheit zu wiegen.

Ich brachte es fertig, irgendeine gleichgültige Bemerkung einzuwerfen, auch Scannon tat dies, – ich hatte nur Augen und Ohren für das, was vielleicht als Anzeichen eines plötzlichen Kampfes gedeutet werden könnte.

Aber die Worte zerrannen dem Lügner Suul gleich letzten Tropfen eines brüchigen, trügerischen Behälters, und Arthur Scannons derbe Bemerkung, ich sollte doch nunmehr mit Doktor Suul in aller Form mich aussöhnen …

„… Da, drückt euch die Pfoten, Herrschaften, – alles ist in bester Ordnung …!“

erreichten durchaus ihren Zweck, zumal Scannon noch immer mit der Pistole spielte und noch immer Gelegenheit hatte, der Waffe jäh eine andere Richtung zu geben …

Meine Zeit war noch nicht gekommen, und der Händedruck für Suul über den Tisch hinweg fiel so kräftig ans, daß der schlanke Halunke schmerzlich das Gesicht verzog …

„Alles in bester Ordnung!“ nickte ich sehr munter … „Es stimmt schon, Scannon, – irren ist menschlich … – Jetzt werde ich Gripu beim Fischen helfen … Kommt ihr mit? Schon als Junge habe ich die Hechte im Götha-Elf gespeert, und als Mann habe ich Walrosse in den Kanälen der Wellington-Inseln harpuniert, – das war ein feiner Spaß, Scannon, das war ein ander Spiel als einen Rehbock niederknallen, da ging es immer Leben um Leben, und bei solchen Gelegenheiten versage ich nie …!“

„Gehen Sie nur!“ brummte Scannon rauh, und der Atem blieb ihm wohl weg, denn ich hatte auch ihn mit einem Händedruck bedacht und dabei seine Pistole mit umklammert … Das Riffelmuster des Kolbens wird er wohl eine Weile in der Innenhand gespürt haben.

Das tat meine Rechte, – meine Linke langte nach der Büchse, und ich hatte sie im Arm wie ein leichtes Stöckchen und pfiff meinem Huleb und schritt durch den Küchenraum hinaus.

Wenn sie was gemerkt hatten, die beiden da, – mochten sie!!

Ich fürchtete sie nicht. – –

Eine Stunde drauf hatte ich festgestellt, daß Gripu nicht mehr auf der Insel sein konnte …

In dem Kanu, das in dem Hauptkanal in einer der nassen Höhlen lag, entdeckte ich frische, schlecht weggewaschene Blutspuren.

Ich besann mich nicht lange. – Das Spiel hier auf der Insel war zu ungleich, drei gegen zwei, wenn ich Men mitzählte …

Ich trage meine Haut nie leichtfertig zu Markte. Ich hatte genügend Patronen bei mir … Ich würde in der Wildnis schon meinen Mann stehen.

Als Men und ich mit dem Kanu durch den Hauptkanal glitten und ich immerfort auf heimtückische Kugeln wartete, – als die letzte Biegung mir nun linker Hand die steile hohe Felswand mit der Terrasse freigab, erblickte ich dort oben Ingrids prächtige Gestalt mit der kupferschimmernden Haarkrone und dem gesunden, leuchtenden Glanz köstlicher Augen …

Da wußte ich, daß meine Flucht mir schwer ward dieser Frau wegen!

Armes Weib!

Ihr entsetzter Blick, ihr schriller Ruf, die jähe Blässe der Wangen …

„… Olaf, bleiben Sie …!“

– aber das Kanu flog pfeilschnell in den See hinaus …

Fünfzig Meter weiter hinter mir ein Schuß – noch einer …

Sauschützen, die Schurken!!

Unverletzt sausten wir mit dem Rindenboot in die grünen Sümpfe des Ostufers hinein …

 

4. Kapitel.

Der Adlerhorst.

… Es ist ein Leben wie in einem Cooperschen Grenzerroman, das ich jetzt führe. Oder besser wir: Men und ich! – Ein romantisches, herrliches Leben, bei dem man jung wird, jung und frisch und innerlich rein. In diesen Tannen- und Buchenwäldern Formosas, die hier endlos mit feierlichem Schweigen sich über Berghänge und Hochplateaus hinziehen, in diesem Halbdunkel der ungeheuren Forsten findet man sich selbst wieder und lernt die Jämmerlichkeit der Menschen milden Auges betrachten …

In diesen Dickungen, über die der Fuß leicht hinweggleitet – lautlos wie der schleichende Tritt der scheuen Leoparden und der noch scheueren, noch hinterlistigeren[5] Nebelparder, – in diesen harzduftenden, ozongetränkten Waldhöhen der Taitokette und ihrer gigantischen Felsbrücken, die zu dem höheren Mittelgebirge hinüberleiten, schwebt der Engel der göttlichen Einsamkeit, der Weltenferne … Riesenadler mit schwarz umrandeten Fittichen horsten auf Felsnadeln, die ebenso steil und himmelhoch sind wie jene Bergkegel in Tiroler Landen, auf denen heute Burgruinen trutzig der Jahrhunderte noch immer spotten und uns, dem Geschlecht von heute, die erstaunliche Frage stellen, wie es einst diese Burgherren fertig brachten, dort oben ihre unangreifbaren Festen aufzubauen … Adler scheinen es gewesen zu sein, diese längst vermoderten Geschlechter, an deren verfallenen, unzugänglichen Wohnsitzen heute die Automobile auf glatter Bergstraße ins Engadin vorüberrollen.

Und wir, Men und ich, – wir sind ebenfalls Adler geworden … Wir haben die wunderbarste Hütte, die je das unbegreifliche Spiel der Natur halb fertig schuf, als ob das Nest in den Gipfeln der vier schrägen Riesenfichten nur gerade auf uns gewartet hätte

… Ein Adlerhorst aus vier Baumkronen, eine Riesenkugel von Ästen und Zweigen und seltsamen Schmarotzerpflanzen, – eine leichte Arbeit, inmitten dieser grünen Turmkuppel einen Fußboden und Wände und einen Vorplatz aus dünnen Schößlingen zu zimmern, – ein einziger Tag hatte genügt.

Unter mir liegt das Wipfelmeer, vor mir liegt fern, ganz fern die kahle helle Schlucht aus gelblichem Sandstein, dahinter ein kahler Höhenzug, der schon zur Zentralkette Formosas gehört und bis zu viertausend Meter ansteigt. In der gelben Schlucht aber blitzt es an Sonnentagen wie flüssiges Silber, und das Glas zeigt mir bewegliche Pünktchen und Steinhütten mit Rauchspiralen: Menschen hausen dort, – ich erkenne sogar das plumpe Pfahlgerüst mit den langen Rinnen, die das Wasser zu Helga Goßlis Goldwäscherei leiten dürften. Aber die Ostseite der Schlucht sehe ich nicht, und dort wird wohl der seltsamen Frau feste Wohnung sich erheben, über die der arme ermordete Gripu, der so gern meine Zigarren zu Pfeifentabak verarbeitete, in märchenhaft unklaren Andeutungen sprach wie über alles, was diese Abenteurerin betraf, die Scannon beschuldigte, eine amerikanische Expedition „verschluckt“ zu haben.

Der vierte Abend hier in unserem Adlerhorst naht mit leuchtenden Farbentönen … Die Sonne ist soeben drüben hinter dem kahlen Gebirge versunken, geheimnisvolle Schatten hüllen die Täler und Waldblößen, noch erscheinen die Ränder der Bergketten dort im Westen wie vom rückwärtigen Licht eines grellen weißen Scheinwerfers bestrahlt, aber diese blendende Helle schwindet sacht, und ebenso unmerklich färben sich die unsichtbaren Strahlen des fernen Sonnenballes zu zartestem Rosa, – das Rosa glüht auf, wird zum Flammenspiel eines gewaltigen Scheiterhaufens, und die Bergspitzen erhalten die glutvollen Farbstriche des Sonnenuntergangs, – die Schatten vertiefen sich, das glühende Rot verblaßt, – – der Abend ist da, keine fünf Minuten hat das Farbenwunder gewährt, die Nacht kommt, die vierte im Adlerhorst auf Formosa.

Es wird Zeit, an das Abendessen zu denken. Ich habe heute stundenlang, über diese Blätter gebückt, die Feder in der Hand, all das nachgeholt, was mir in meinem Tagebuche fehlte. – Wirklich – – all das?! Habe ich nicht vieles unausgesprochen gelassen, vielleicht aus … Feigheit?! Wir belügen uns so gern selbst … Wir weichen der Wahrheit in unserem Herzen aus, und unser Herz ist Liebe, verfeinerter Trieb.

Ich kann Ingrid Scannon nicht vergessen. Ich sehe sie droben auf der Steilwand, auf schmaler Terrasse stehen, als Men und ich flohen. Ich vergesse ihre Augen nicht … nicht die Blässe ihres Gesichts, das so seltsam erschien wie ein gemalter Frauenkopf, über dem noch in schleiernden Linien die Züge eines zweiten ganz mild erglänzten.

Ingrid war Rätsel, Sphinx. Ich habe nicht viel von ihr geredet. Ehrlich: Ich bezwang meine schmeichlerische Feder, die von Ingrids pikanter Schönheit allzu viel vermerken wollte.

So ist’s.

Und diese Frau, vielleicht Gefährtin eines elenden Mischbluts und Verbrechers, ist um mich wie ein Schatten …

Men Huleb vermißt sie. Men Huleb hat in den ersten Tagen ruhelos die Baumkronen durchstreift und immer leise gewinselt mit jenen hündischen, ergreifenden Lauten, mit denen ein Tier den toten Herrn wohl sucht … Men Hulebs braune Augen unter den starken Stirnwülsten schimmern feucht und traurig. Wer in den Augen der Affen nicht zu lesen weiß, wer den Blick seines Hundes nicht begreift, der sollte Asche auf sein Haupt streuen und sich an die Brust schlagen und bitten und beten, daß Gott ihm das Verständnis für die Tierseele schenke. Aber von hundert Menschen sind es vielleicht zehn, die nicht jenen Hochmut und nicht jene „gottgewollte“ Gelahrtheit besitzen, die das Tier nicht tief, tief unter den Menschen stellt …

Wenn am Tage des Jüngsten Gerichts die Abermillionen von Menschenhand gequälter Kreaturen anklagend vor Gottes Thron erscheinen werden, – denn sie werden es, sie sind seine Geschöpfe wie wir, dann werden die Schlünde der Verdammnis nicht ausreichen, jene Folterknechte zu strafen, die im Übermut ihres Dünkels, Gott gehöre nur denen, die da auf Knien Gebete plärren, mitgeholfen haben, das freche Wort von der Scheidegrenze zwischen Mensch und Tier in die Welt zu schleudern.

Die Sätze entstammen keinem christlichen Buche. Ein indischer Gelehrter schrieb sie, einer, dem der heilige Buddha und der große Gott Brahma nur Wegweiser waren zu der reinen Lehre der reinen Liebe, der Läuterung und der Selbsterkenntnis.

Ich habe die Tiere geliebt, liebe sie, schütze sie, und ich weiß doch, daß ich unvollkommen blieb innen und außen und daß ich niemals vollkommen sein werde, mag auch mein Gotteshaus, die freie Natur, mich dauernd vor dem Altar ihrer Allmacht auf den Knien finden. Tiere teilten meine Einsamkeit, Tiere halfen mir hinweg über Stunden der Verzweiflung … Auf die Menschen ist niemals Verlaß. Treue gibt dir nur das Geschöpf anderer Art, das lediglich „Instinkt“, keine Vernunft, keine Seele haben soll, – so wollen’s die, denen die Herrschsucht und der Hochmut in den gleißnerischen Fratzen zucken. Huleb hatte Ingrid geliebt, Huleb vermißte sie und Huleb beschwor mir Ingrids Gestalt herauf und gab mir ein liebes Phantom zur Gesellschaft. Ingrid Scannon kann keinen Teil haben an den dunklen Taten ihres Mannes, Ingrid steht unsichtbar hinter mir, und eine sanfte Hand streicht über mein blondes Haar, in das sich die ersten grauen Fäden der wilden Jahre meiner Wege abseits vom Alltag mischen. Ich dulde diese Hand, ich fühle ihr Versprechen, daß wir uns wiedersehen werden, daß dann alles klar und licht werden wird und Zweifel und Haß und Feindschaft zerrinnen müssen vor dem heiligen Wunder der Liebesoffenbarung. –

Men und ich haben das Abendessen hinter uns: Früchte, kaltes Fleisch, einen Schluck Tee.

Meine Lampe qualmt … Es ist nur eine Harzfackel, aber reines Harz, das wie seltsame Bärte an den mächtigen Stämmen hängt.

Rings um unseren Adlerhorst ist das nächtliche Leben der Wildnis erwacht. Irgendwo schreit ein Leopard in schrillen, langgestreckten Tönen, – er sucht ein Weibchen, es ist Paarungszeit, und weither erschallt ihm die lockende Antwort …

Unsere nächsten Nachbarn drüben in den Felsen und Dickichten sind malaiische Bären. Sie schlafen noch, erst der Mond lockt sie aus ihrer Familienhöhle hervor, dann hören wir sie unten umhertappen und Früchte und Wurzeln naschen und sich balgen, und werden Zeugen ihres kindlichen Übermuts. Es sind possierliche kleine schwarze Kerle, scheinbar allzu verwegen und furchtlos, aber ihr Gehör und ihr Geruchssinn sind so überaus fein entwickelt, daß selbst der alte Baumschleicher, der Leopard, selten zum Sprunge kommt, – springt er wirklich, rollt sich auch schon blitzschnell eine schwarze Kugel zwischen die Luftwurzeln der Urwaldriesen in ein unzugängliches Versteck oder gar in ein Distelgestrüpp oder auch in einen der drei Meter hohen Ameisenhügel hinein. Das sah ich oft, und andere sahen es auch, die vor mir hier auf Formosa die Tiere der Wildnis belauschten.

Liebe Kerle sind es, diese malaiischen Meister Petze, – harmlos, spaßig, vielleicht unschwer zu zähmen.

Unangenehmer sind jene Herrschaften, die da soeben ihr Nachtkonzert beginnen, die Makaks, die Zyklopen der hiesigen Affenwelt, – freche Burschen mit orangutan-ähnlichen, aber durch Streifen verzierten Gesichtern, Hundeohren, dicker Halswolle, hochbeinig wie Freund Men, auch mit einem furchtbaren Gebiß bewehrt, brillante Kletterer, und Mens geschworene Feinde. Sie leben drüben als stattliche Herde in einem Windbruch, aus dem ein zerklüfteter Felsen herausragt. Ich mache stets einen Umweg um diese Gegend, denn die starken Kerle pflegen auf unangenehmste Art mit Felsbrocken zu werfen, und da ich leider hier meine Schußwaffen nicht gebrauchen darf, weil der Knall mich verraten würde, bin ich auf den selbstgefertigten Bogen und die Pfeile angewiesen, – ein sehr mäßiger Ersatz für Repetierpistolen und Remingtonselbstlader.

Dann leben hier noch in einem unheimlichen Dickicht halb entwurzelter Stämme, das sich eine halbe Meile weit nach Norden hinzieht, riesige braungrüne Eulen, – ich möchte sie Adlereulen nennen, ebenfalls freche Gesellen, die nichts verschonen, was sie durch die Kraft ihrer Schwingen und Krallen nach ihren schäbigen Nestern schleppen können. Flugeichhörnchen, Ratten, die wirklich zierlichen Wildzwergkatzen und die Jungtiere der eigenartigen Geisantilope (man könnte sie die Gemsen Formosas nennen) sind zumeist die Opfer dieser lautlos dahinstreichenden nächtlichen Räuber. – Das wären nur so die Hauptvertreter der Wildnis, – die Insektenwelt nehme ich aus, denn ihre Zahl ist Legion, die Stechmücken und die Baumameisen hasse ich geradezu, sie sind es, die mir das wundervolle Leben im Adlerhorst verbittern. Daß sich dafür die riesigen Leuchtkäfer bemühen, das Dunkel der Nacht als wandernde Laternchen zu verschönen, ist ein schwacher Trost, wenn man überall Mückenbeulen an Händen und im Gesicht hat und wenn die lieben Ameisen sogar die Stiefel anfressen. Ich glaube übrigens, daß die Leuchtkäfer jetzt wie Raubtiere Paarungszeit haben. Gestern nacht hing eine Riesentraube dieser intensiv gelbgrün strahlenden, fingergliedlangen Weichkäfer an einem nahen Baumast – wie ein geflüchtetes Bienenvolk in der Schwarmzeit. Diese lange leuchtende, ihre Form ständig veränderte Traube machte einen geisterhaften Eindruck. Ein Neuling hätte sicherlich an eine Waldnixe gedacht, die ihr Strahlenkleid angelegt hatte. –

So leben wir hier, Men und ich … Einsam, umgeben von vierbeinigen Widersachern, stets im Alarmzustand, stets auf unseren Ausflügen von Gefahren umlauert, die die Langeweile verscheuchen.

– Doch zurück zu meiner Flucht von Scannon und Suul … Es gibt da Einzelheiten nachzuholen, die unbedingt der Vergessenheit entrissen werden müssen. – Ich war von Gripus Tod überzeugt, aber mein Vorhaben, Helga Goßli kennen zu lernen, wurde durch den Verlust meines treuen alten Gripu nicht weiter berührt, im Gegenteil, noch andere Gründe sprachen jetzt dafür, die geheimnisvolle Frau aufzusuchen und zu warnen.

Als wir den See überquert und die östlichen Sümpfe mit dem Kanu erreicht hatten, wartete ich in einem trockenen Versteck die Nacht ab. Ich hatte ja auf der Insel all meine Habe bis auf Waffen und Kleinigkeiten zurückgelassen, ich mußte mir zurückholen, was mein war, und ich begrüßte daher den mitten in der Nacht niederströmenden Regen als wertvollen Verbündeten, ruderte im Bogen über den See und schlich mit Men, den ich an der Leine führte, dem Steinhause zu. Es war ein harmloses Unternehmen, da die beiden Abenteurer und Ingrid fest schliefen und da meine oft erprobte Fertigkeit im Anschleichen das Unterfangen erleichterte. Mein Gepäck lag neben der Hütte in einer Art Grotte in einem Dickicht. Dort standen auch die Pferde. Nur mein Tagebuch in dem Zinkkasten sowie die Patronenpakete, die im großen Schlafraum lagen, erforderten sehr vorsichtiges Einsteigen durch das Fenster, – auch das glückte. Scannon und Suul schnarchten ein friedliches Duett, und ein schlechtes Gewissen schien hier wieder einmal das beste Ruhekissen zu sein. Ich nahm noch meine drei Wolldecken und den langen Regenmantel mit, hätte den Kerlen sehr gern den Streich gespielt, ihre Büchsen gleichfalls zu entführen, nur die Rücksicht auf Ingrid hielt mich davon ab.

Und als ich dann durch das Fenster wieder ins Freie schlüpfte und mit Men mich dem Ufer und dem Kanu zuwandte, weil ich zur Westküste hinüber wollte, fand ich das Kanu besetzt. Erst als ich dicht davor stand und Men verdächtige Zeichen großer Freude verriet, ahnte ich, wer die dunkle Gestalt war.

Ingrid erhob sich. Bei dem Regen war von ihrem Gesicht nicht viel zu sehen. Ich hatte sofort die Pistole gezogen, – sie merkte es, lachte bitter und sagte leise: „Olaf, wie sehr verkennen Sie die Sachlage doch! Es war sehr unrichtig von Arthur, Ihnen nicht die Augen zu öffnen. Gripu hat beide Male auf Sie mit dem Bogen geschossen, sowohl auf der Halbinsel als auch hier, und Arthurs Gründe, Ihnen dies zu verschweigen, mußten gegenüber diesen bedrohlichen Vorfällen unbedingt zurückgestellt werden.“

Mein Lachen mag sie wie ein Schlag auf die Wange getroffen haben.

„Bemühen Sie sich nicht weiter, durch so plumpe Lügen Ihre Begleiter herauszuhauen,“ meinte ich grob. „Ich fand die schlecht weggewaschenen Blutspuren im Boot, und ich glaube kaum, daß es Fischblut war, – jedenfalls habe ich kein Fischblut in den Adern, – scheren Sie sich raus aus dem Kanu, und sagen Sie den beiden feinen Herren, sie sollen sich hüten, Helga Goßli zu belästigen, – Platz da, Frau Scannon, sparen Sie sich weitere Zungengymnastik, – das Kanu finden Sie morgen früh drüben bei den drei Kampferbäumen …“

Men, dieser Narr, ließ sich von dem Frauenzimmer streicheln, und Weibertränen sind mir verhaßt, – ich stieß ab und ruderte davon, Ingrids Schluchzen und ihr halblautes Rufen, von dem ich nur die Worte: „Olaf, Arthur ist ja der …“ verstand, waren das Letzte, was ich von ihr vernahm.

Ich war bis obenhin mit Bitterkeit gefüllt. Ich fühlte einen scheußlichen Geschmack auf der Zunge, und meine Menschenverachtung steigerte sich bis zum Ekel.

Aber während des nächtlichen Marsches durch die Berge und Wälder, immer nach Osten zu, ward ich ruhiger und kritischer.

Wenn Ingrid von Grund auf schlecht und verderbt gewesen wäre, sagte ich mir mit leisem Empfinden reumütiger Selbstbesinnung, hätte sie doch Scannon und diesen koreanischen Doktor-Jüngling wecken können, und sie hätten mir ebenfalls eins auswischen können wie dem alten Gripu.

Die Frau ward mir immer mehr Rätsel. Hinzu kam noch, daß sie auf mich einen sehr starken Eindruck als Weib gemacht hatte, denn, mochte sie nun Scannons Frau oder Geliebte sein, es umgab sie doch ein zarter Hauch mädchenhafter Unberührtheit, und selbst Arthur Scannon schien dies zu empfinden, da er schon durch seine häufige Anrede „Kind“ andeutete, daß er sich ihr gegenüber mehr als Beschützer fühlte.

Jene nächtliche Wanderung zu unserem Adlerhorst legte ich daher in sehr zwiespältiger Stimmung zurück. Stundenlang stiegen Men und ich auf ungebahnten Pfaden aufwärts, immer nur nach Möglichkeit östliche Richtung einhaltend, immer nur darauf bedacht, keine allzu sichtbaren Spuren hervorzurufen. Wir kamen durch Wälder, die noch von dem soeben niedergefallenen Regen trieften, wir kamen durch Schluchten und Täler und Abgründe, in denen dünne Rinnsale plätscherten oder Gießbäche in lärmenden weißen Streifen durch die Finsternis schimmerten. Wir tappten dahin über weichen Nadelboden uralter Forsten, und nur bleiche vereinzelte Mondstrahlen wiesen uns in dieser gefahrschwangeren Finsternis den Weg. Der schrille Schrei eines frechen Leoparden, der droben in den Baumkronen neben uns marschierte und auf eine Gelegenheit zum Ansprung lauerte, begleitete uns eine volle Stunde, bis der Morgen anbrach und der blinde Zufall uns an die vier Riesenzedern, die so eigentümlich schräg gewachsen waren und deren Wipfel die grüne Riesenkugel bildeten, die mich als vorläufiger Unterschlupf lockte. Ich sage Zedern, aber die Nadelbäume Formosas werden wohl anderer Art sein als die berühmten Zedern des Libanon, es sind harzreiche Kiefern mit breiten Nadeln und vielen Astknorren, rissiger, zum Teil heller Rinde, und in diesen Rissen haust das Volk der Käfer und das der kleinen gefiederten Sänger.

Zufall, – und hier trifft’s zu –, bloßer Zufall führte uns an diese Stelle. Noch lagerte die Dämmerung über der Wildnis, und da gerade vernahm ich weither von Osten mit geübtem Ohr den Knall eines Schusses, den der Wind herübertrug aus unbekannten Gebieten. Ein Büchsenschuß, wußte ich, aus einer Repetierbüchse, kein Schuß etwa aus vorsintflutlichem Vorderlader, wie die Lekhoan sie heimlich aufkaufen von chinesischen Schacherern, denen selbst die von den Japanern angedrohte Todesstrafe für Waffeneinfuhr nichts ausmacht. Ein Chinese ist nie zu erwischen, wenigstens nicht der große Handelsherr, der das „Geschäft“ vielleicht von Hongkong aus leitet und über eine Organisation zweifelhaftester Handlanger verfügt.

An jenem Morgen haben wir, Men und ich, mühsam den Horst erklettert, haben droben im grünen dichtesten Versteck gen Osten bei ersten Sonnenstrahlen das Land der wilden Lekhoan und das Tal der Goßli erspäht und uns dann sofort an die Arbeit gemacht, Pflöcke in die eine Zeder als Leiter getrieben und die Hütte gebaut und nachher wunderbar geschlafen.

Jeder dieser Tage brachte neue Arbeit, – wir sammelten Früchte, wir schossen mit dem Pfeil eine junge Geisantilope, wir knüpften Matten aus breiten Baststreifen, und unser Heim ward wohnlicher und wuchs uns ans Herz, da es so recht ein Nest war für zwei freiheitstrunkene Naturburschen unseres Schlages.

Und dies ist nun die erste Nacht, in der ich die nötige innere Sammlung fand, einmal wieder diesen zum Teil so verschimmelten, feuchten, zerknitterten Blättern meine kleinen und großen Erlebnisse und meine geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Papier ist doch der verschwiegenste[6] Beichtvater, es legt uns keine peinlichen Fragen vor, und nur die schwarzen Spuren der dünnen Tintenstriche, die man Buchstaben nennt, verraten durch ihre Struktur, durch die wechselvolle Art ihrer flüchtigeren oder gefeilteren Formen, ob und wie sehr unser Herz an den Einzelheiten dieser Beichte mehr oder minder beteiligt ist. Die Feder verlangsamt ihren flüssigen Lauf, sobald sich mir Gedanken aufdrängen, die der Klarheit entbehren, – und dann lauert im Hintergrund der Name Ingrid, oder aber diese Feder malt die Buchstaben mit einer gewissen Zierlichkeit, wenn ich all der Schönheiten dieser weiten Wildnis mich lebendig erinnere. Sie fliegt, sobald ich wie jetzt wieder den brünstigen Schrei der Leoparden vernehme … Teuflische Gesichter haben diese gelbbraunen Katzen, die Zähne fletschen sie, sobald man sie auf irgendeinem Baumast erspäht hat, wo sie eng angeschmiegt da liegen und lauern und hoffen … Der Blick des Menschen zieht ihre bärtigen Lippen kraus, die Mordgier und doch auch die Scheu vor dem zweibeinigen Feinde lassen die Fangzähne zwischen den halb geöffneten Kiefern aufblinken, aber der erste Griff nach der Büchse, die ich hier freilich nur als äußerstes, allerletztes Schutzmittel mit mir herumschleppe, läßt die Bestie spurlos verschwinden. Sie kennen die Bedeutung des langen schwarzen Stockes, aus dessen Spitze das grelle Feuer hervorsprüht und der bleierne Tod dahergeflogen kommt … –

Es wäre eine Nacht, fällt mir ein, in der man versuchen könnte, einmal ganz nahe an das Tal der Frau Helga Goßli heranzuschleichen und Ausschau zu halten, ob sie bereits ihr Krankenlager verlassen haben mag. Der Sturz mit dem welken Kampferbaum dort auf der Halbinsel des Flusses mag ihr weniger geschadet haben, als ich bisher dachte, – ich weiß es nicht. Ich verspüre schon wieder die Unrast im Blute, die nach irgendeiner ungestümen Betätigung lechzt. Es ist jene Wildheit des Blutes, die vom Körper als Entspannung unerhörte Anstrengungen fordert, es ist die Tollheit der Gier nach berauschendem Taumel des Spieles der Muskeln … Irgend etwas, das noch immer stärker war als ich, verlangt von mir, daß ich diese im Grunde zwecklose Spielerei schleunigst in den Zinkkasten berge und mit Men Huleb durch das feierliche Schweigen der Urwälder dem dunklen Rätsel entgegeneile, das da Helga Goßli heißt.

Ich horche …

Und – – was war es, – – hörte ich wirklich Töne, die sich nicht einfügten in dieses Lied der nächtlichen Wildnis?!

Knisterte da nicht soeben unter mir am Stamme meines zur Leiter geformten Baumes die rissige Borke unter den tastenden, kratzenden Krallen eines fremden Geschöpfs …?!

… Hebt da nicht der schlafende Men mit einem Ruck den hundsnasigen Kopf und richtet den Quastenschwanz schräg empor, duckt sich zusammen und zieht schnüffelnd die Luft ein?

Wohl nur ein Bär … denke ich …

Und dann ein halblautes Stöhnen, ein halb verschluckter Schrei der Verzweiflung …

„Olaf!!“

Ich fahre hoch … Ich bin wie der Blitz draußen auf dem Vorbau, packe den nächsten Ast.

Aber Men ist schneller, flinker …

Men fährt in die Finsternis hinab, als rutsche er an einem Seil abwärts … Nur ein Affe vermag das …

Wieder ein qualvoller Ruf …

Dann ein hellerer Schrei:

„Men – – du?!“

Und ich plumper, armseliger Mensch, der sich über die Tierwelt emporrecken möchte im Narrentum seines Hochmuts, muß mühsam jeden in den Baum getriebenen Pflock erst erfassen, bevor ich den nächsten mit den tastenden Füßen suche.

Endlich sehe ich unter mir in der trägen Dunkelheit der Schatten der Nacht zwei Gestalten … Men hat Ingrid beim Gürtel gepackt, Men hält die Erschöpfte, und meine Hand krallt sich nach vorsichtigem Fühlen neben die schwarze Affenpfote, – ich spüre es am Gewicht, daß Ingrid aus eigener Kraft sich nicht mehr aufraffen kann …

Ein ersterbender Seufzer trifft als nachdrücklichste Mahnung mein Ohr, – die Last wird noch schwerer, und Ingrid antwortet auf keine Frage, wie tot hängt sie zusammengekrümmt nach unten, nur ein Schattenbild, nur umspielt von einem dünnen Streifen Mondlicht, der durch die Baumkronen lugt, verschwindet, wieder erscheint, verschwindet …

Es gibt nur ein Mittel, Ingrid nach oben zu schaffen in den Adlerhorst: Ich binde sie an dem Stamm mit meinem eigenen Ledergurt fest, ich haste empor, hole das dünne gefettete geräucherte Lederseil aus fünf Riemen – – und ich weiß, daß es das fünffache Gewicht tragen würde, – – ich schnüre den Lasso um die Bewußtlose und hisse sie empor, Hand um Hand, – – bis sie dann vor mir liegt auf meinem Lager aus Moos und Decken und ich neben ihr knie und mit zarten scheuen Fingern die Wunde suche, aus der das rote Blut ihre Jacke tränkte …

Drei Zentimeter über dem Herzen hat der Pfeil sie getroffen, – den Schaft brach sie ab, die Spitze ziehe ich heraus, und es ist ein blanker Hufnagel, breit gehämmert, geformt zur Pfeilspitze, es ist dasselbe Geschoß, das ich schon kenne … – –

Ingrid schläft …

Die Harzfackel tropft und qualmt …

Draußen kommt der neue Tag herauf mit mattem Dämmern …

Neben Ingrid Scannons Lager hockt Men Huleb und läßt keinen Blick von den halb geöffneten Lippen der Schläferin. Ingrid stöhnt leise.

Draußen beginnen die Sänger des Waldes schüchtern ihr Konzert …

Es rauscht und raunt und wispert rundum …

Der Himmel weint Ingrids wegen.

Es regnet.

 

5. Kapitel.

Zwei Frauen im Zelt.

Es regnete so, wie es hier auf Formosa zu regnen pflegt, selbst wenn der Südwestmonsun von Mai bis Oktober dieser „Regeninsel“ sommerliche Trockenheit vortäuschen möchte, – ununterbrochen, in Strömen, in Gießbächen, begleitet von tollen Gewittern, die sich in den Bergen verfingen und deren wilde Kanonaden der mit dem Tode ringenden Frau die Ängste der Fieberphantasien noch zu qualvollerer Pein gestalteten.

Noch nie war es mir begegnet, daß ich Krankenpfleger am Schmerzenslager eines Weibes spielte, dessen Leben mir wertvoll war, weil aus dem Gestammel fiebertrockener Lippen immer wieder dasselbe Geständnis hervorklang, das die Gesunde als zartestes Geheimnis niemals verraten hätte: Ihre große, übergroße Leidenschaft für … mich!

Das war nicht die scheue Liebe eines verzärtelten übersättigten Kulturgeschöpfes, das war die ehrliche stolze Liebe und Hingabe einer Frau, die dem Dasein mit freier Kühnheit einer reinen Seele ihren Tribut zollt. Ingrid Scannon mochte Frau oder Geliebte des anderen sein, – jetzt war sie mein, und ich hatte diese drei Tage und drei Nächte um das erlöschende Lebensfünkchen gekämpft mit der verbissenen Zähigkeit eines Mannes, der dieser Kranken unendlich viel abzubitten hatte und nicht dulden wollte, daß der unbarmherzige Tod hier ein Opfer in der Blüte der Jahre pflückte und einen Leib und eine Seele für das irdische Reich zerstörte, in dem auch ich noch wandelte und als Mann meine selbstlosen, gerechten Forderungen stellen durfte.

Drei Tage, drei Nächte sah Ingrid nichts als Spukgestalten um ihr Lager, raste im Fieberwahn, wollte empor aus den sie beengenden harten Decken, die ihren zarten Körper peinigten. Feinste Seidenwäsche wäre für diese feine Haut angebracht gewesen, – ich besaß nichts als grobes Gewebe, ich bemühte mich stündlich um die Ärmste, in deren fieberfleckigem Gesicht die dunklen Augen wie sprühende Kugeln leuchteten und deren Leib kein Geheimnis mehr für mich barg.

Nur Arzt und Pfleger war ich, nur verzweifelter Ringer um ein fremdes Leben, nur Mensch ohne Geschlecht, der ein ihm teures Weib betreute.

Wie dankte ich es Lord Morspam jetzt, daß er mir die Reiseapotheke geradezu aufgezwungen hatte, wie dankte ich es meinem unvergleichlichen verblichenen Freunde Coy, daß er mir einst die Naturmethoden der Wundbehandlung beigebracht hatte!

Die Wunde eiterte, – ich sorgte dafür, daß sie sich nicht schloß und daß der Eiter nach außen Abfluß hatte.

In der dritten Nacht trat die Krise ein. Zwei unerhört bange Stunden waren es, in denen ich spürte, daß das überanstrengte Herz Ingrids immer mehr versagte. Sie lag ganz still da, leichenblaß, ihre Hände fuhren ruhelos tastend auf der Decke umher, ihre Augen fielen ein, und dreimal griff ich zu der winzigen Injektionsspritze und gab dem erlahmenden Herzmuskel neue Kraft durch das bewährte Medikament des Kampfers …

Kampfer inmitten ganzer Kampferwaldungen, – seltsamer Gedanke!

Und dann seit Tagen auf der bleichen Stirn die ersten kühlen Perlen wohltuenden Schweißes, – dann das erste müde Gähnen eines bisher verzerrten Mundes, und ein Hinabsinken in die weichen Gefilde des Schlafes der Genesung.

Ingrid schlief.

Der Kampf schien gewonnen, ich fand Zeit, an mich selbst zu denken, ich nahm seit drei vollen Tagen zum ersten Male wieder meinen Rasierspiegel zur Hand und betrachtete mein eigenes Angesicht und sah fremde Züge, mager, fahl, übernächtigt, gealtert …

So hatte ich bei diesem Kampfe gelitten!

Stoppelbärtige Wangen, eingesunken zu Löchern, das Haar verwildert, um die Augen eine Unmenge Falten und Kerben, die Nase noch schmaler, fast fleischlos, – – und das war ich!

Drei Tage, drei Nächte ohne Schlaf, drei Tage, drei Nächte beständig in stärkster Nervenanspannung, drei Tage, drei Nächte nur Nahrung durch Früchte, die der kluge Men herbeischleppte. – Ob Men Huleb wirklich so klug ist, daß er für mich all das herbeitrug, – ich weiß es nicht. Er tat es jedenfalls, und er holte gehorsam in der leeren Konservenbüchse kühles, klares Quellwasser, Hunderte von Malen kletterte er den Leiterbaum hinab und hinauf und wagte sein Leben in den Dickichten, wo die Makaks und die Leoparden lauerten. Aber Men ist schlau und kräftig, und wenn ich ihn damals nicht gehabt hätte, wenn ich auch nur für eine halbe Stunde die im Fieber rasende Ingrid hätte verlassen müssen, wäre mir die Kranke in ihren sinnlosen Phantasien aus der Hütte getaumelt und hinabgestürzt in die Tiefe des Urwaldes, denn unsere Hütte ist nur ein loses Gefüge von Ästen und Matten und kein festes, weißgestrichenes Krankenzimmer.

Ingrid schlief. Und da übermannte auch mich die Müdigkeit … Ich sank zusammen, halbe Ohnmacht verdunkelte mir den Blick, meine Gedanken verwirrten sich und enteilten in das unerforschte Land der Träume. Ich streckte mich lang, und aus Schlaf wurde Tiefschlaf, aus Tiefschlaf ward nach vielen Stunden dämmerndes Empfinden der Umwelt …

Ein verlorener Sonnenstrahl traf mein Gesicht. Ich fuhr empor, saß aufrecht da, schwankte hin und her wie ein Trunkener, durch die westliche Fensteröffnung glühte das Feuer des Sonnenuntergangs, und zu meinen Füßen bewegte sich in dem großen Rucksack ungestüm ein wütend grunzendes Wesen.

Mit einem Schlage war ich wach, vollkommen wach.

Ein Blick nach Ingrids Lager …

Leer!!

Niemand!!

Ich schrie auf …

„Ingrid!!“

Und der Rucksack tat wilde Sprünge, das Grunzen ward zum bösartigen Keifen, – ein Blitz erhellte mein umnebeltes Hirn: Ingrid war entführt worden, und meinen Men hatte man irgendwie überwältigt und in den Sack gebunden.

Ich riß die Schnur auf, Men schoß hervor, sein Kopf war verschwollen, das eine Auge kaum sichtbar, aber seine grenzenlose Freude, als er mich wieder umarmen konnte, und seine ungestüme Zärtlichkeit beruhigten mich: Ihm fehlte nichts Ernstliches, der Hieb über dem Kopf hatte ihm nichts geschadet …

Nur – – Ingrid fehlte!

Und ich hatte geschlafen, mindestens zwölf Stunden, in dieser Zeit mochten Scannon und Doktor Skiru Suul die Kranke weggeschafft haben …

Vielleicht …

Was wußte ich denn überhaupt von Ingrids Verwundung und von ihren Abenteuern seit jener Nacht, als sie mir vom Inselufer klagend irgend etwas nachgerufen hatte?!

Was wußte ich? Nichts!

In ihren Fieberdelirien hatte nie der Feind eine dämonische Rolle gespielt, der ihr den Pfeil in die Brust geschossen hatte – in diese pralle, zarte, süße Brust, die mir so jungfräulich unberührt erschienen war wie der ganze herrliche Leib dieses rätselvollen lieben Wesens.

„Men, wo ist sie …?!“ – und ich packte Men bei der Mähne und hielt ihn von mir ab und starrte ihm in die braunen Augen, die morgen vielleicht beide schon wieder scharf spähend jeden grünen Winkel absuchen würden.

„Men, wo ist Ingrid?!“

Und er, dem der Name längst vertraut war, grunzte traurig, und seine schwarze Hand, die für den muskelstrotzenden Leib viel zu klein sein mag, kraute mein Haar, und aus seiner Kehle kam ein sanftes Grunzen wie ein trauriges verlegenes: „Ich weiß es nicht! Ich war ein schlechter Wächter.“

Der Himmel weinte nicht mehr um Ingrid, höhnend blinzelte das Rot des sinkenden Feuerballs durch die Zweige des Adlerhorstes, und noch höhnender schrie irgendwo ein frecher lüsterner Leopard.

Ich erhob mich … Die Hüttentür stand offen. Ich trat hinaus auf den Balkon aus dicken Ästen und Flechtwerk …

Nichts verriet draußen, wer und wie man Ingrid mir entführt hatte. Alles war wie sonst, nirgends entdeckte ich Anzeichen fremden Besuchs, – hätte man nicht Men Huleb in den Sack gesteckt, würde ich das Geschehene falsch gedeutet haben.

Es gab nur eine Deutung: Scannon hatte Ingrid gefunden und geholt! Er hat ein Anrecht auf sie, er nahm sein Eigentum mit, und …

Meine Zähne mahlten knirschend aneinander. Eifersucht lohte empor …

Anrecht?! Er?!

Wen liebte Ingrid? – Mich!!

Wer hatte Ingrid das Leben gerettet? Ich!! Nur ich, und ich hatte sie mir erobert in diesen drei Tagen und Nächten hier im Adlerhorst, und was mein geworden, gebe ich nicht mehr hin, das halte ich, das hole ich mir zurück …!

Der Rausch verflüchtigte sich … Ich ward kalt wie Stahl und kühl im Abwägen wie ein Unbeteiligter. Ich würde Ingrid finden. Ich sah, daß die Blätter trocken waren, daß die Regenflut seit vielen Stunden aufgehört haben mußte. Mens scharfe Nase würde die Fährte finden, und dann …

Oh – ich übereilte nichts.

Ich wollte erst an mich selbst denken. Ich bin es nicht gewöhnt, wie ein Strauchdieb umherzulaufen und mich vor meinem eigenen Äußeren zu schämen.

Das Licht genügte noch. Ich schabte mir die Bartstoppeln ab, wusch mich, kämmte mein Haar, packte den Rucksack und verließ den Adlerhorst erst, als die Mondsichel die Wildnis mit hellen Streifen durchschnitt.

Men nahm die Fährte sofort auf. Ich hatte ihn wieder an der Leine, denn ich kenne sein Ungestüm, und in dem rechten Arm hing mir die entsicherte Büchse, die Pistolen im Gurt waren gespannt.

Essen, Trinken?!

Ein paar Früchte genügten …

Und so ging es denn gen Westen durch die nächtliche Wildnis, erst noch durch Urwald, in dem alle Schrecken der Finsternis lauerten, dann hinab in ein Quertal über kahles Gestein, vorüber an den weißen Sturzbächen und stachelbewehrten Dickungen. Tierleiber huschten von dannen, eine kleine Herde Makaks bombardierte uns mit Steinstücken, ein streifender Nebelparder spürte die Sicherheit meines Steinwurfs, scheußliche Rieseneulen schwebten durch dunkle Klüfte …

Men war wie ein Pferd, das einen Skiläufer zieht …

Men drängte unaufhaltsam vorwärts, und immer wieder bogen wir in westlichen Kurs zurück – dorthin, wo Helga Goßlis heimliches Reich lag, das wir bisher gemieden hatten.

Also dort waren Scannon und der gelehrte junge Koreaner zu suchen, – dort, wo die Goßli das Gold aus dem Gestein wusch, und wo ich in der Schlucht ganz fern mit dem Glase die beweglichen Pünktchen beobachtet hatte: Helga Goßlis Leibgarde, die wilden blutigen Lekhoan, die Nachkommen reinblütiger malaiischer Seeräuber!

– Ich weiß im übrigen nicht genau, wie es um die sogenannten „Wilden“ von Formosa heute bestellt ist. Mein Nachrichtenmaterial ist im Grunde sehr widerspruchsvoll. Lord Morspam schätzte die völlig unabhängigen Eingeborenen auf 300 000, Scannon hielt diese Zahl für zu hoch, und auch Gripus Angaben waren recht unbestimmt. Man unterscheidet scharf vier Stämme voneinander, die Pegos, die Lomschis, die Leks und die Chis. Sie alle hängen ihrer Stammesbezeichnung das „hoan“ aus Stolz an, denn Hoan heißt etwa „Leute aus der Ferne“, und sie wollen nichts mit den eingewanderten Chinesen, den Hoklo und Hakka, zu tun haben. Am zivilisiertesten sollen die Pegos sein, aber hierüber Einzelheiten zu bringen, hieße Märchen verbreiten. Die Urwälder Formosas, die Bergmassen des Innern der Insel sind immer noch „schwarzer Erdteil“ wie endlose Gebiete Südamerikas. Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß jeder Forscher Welt und Menschen mit anderen Augen sieht. Der eine hat das Glück, unangefochten unbekannte Gegenden zu durchqueren, der andere wieder stößt auf unüberwindliche Schwierigkeiten und bezeichnet dieselben Bewohner vielleicht als Diebe und Mörder. Das eine bleibt bestehen: Kopfjagd und Menschenfresserei waren im Innern Formosas sehr im Schwange, dürften es noch heute sein und werden sich wohl erst völlig ausrotten lassen, wenn die Industrie als stärkste Bahnbrecherin der Kultur selbst die Urwälder und Gebirge sich erobert hat, da die reichen Bodenschätze (Gold, Silber, Kupfer, Blei, Eisen, Schwefel, Steinkohle, Petroleum) die Syndikate der Ausbeuter zu wirksamsten Gehilfen japanischer Regierungskunst macht.

Hier jedenfalls, wo wir auf ungebahnten Pfaden vorsichtig einem unbekannten Ziele zustrebten, war nichts von der Nähe menschlicher Siedelungen zu spüren. Nirgends in diesen zum Teil dicht bewaldeten, zum Teil trostlos kahlen oder nur mit farbenfrohen Gestrüppstreifen bedeckten Tälern stieg die Rauchspirale eines Hüttenfeuers zum mondhellen Himmel empor, nirgends konnte ich, der doch schließlich auch die schwachen Fährten zu finden weiß, den Eindruck der Ledersandalen der Lekhoans entdecken oder gar die schärferen Umrisse derber Stiefel, wie Scannon sie trug. Nur Men Hulebs Nase versagte nicht, der überfeine Geruchssinn des Tieres triumphierte selbst dort, wo in dem porösen Gestein weite grüne niedere Felder des Pfefferminzkrautes wucherten oder wo hellgelber Kriechginster mit stärksten Duftwellen die kühle Nachtluft schwängerten und der gelbe Blütenstaub die Steine dick bepudert hatte.

Eine fast trostlose Leere der Landschaft drängte sich mit beklemmendem Schweigen allmählich den gespannten Sinnen auf. Seit einer halben Stunde waren wir keinem Tier mehr begegnet, nicht einmal die kleinen murmeltierähnlichen flinken Erddachse huschten nirgends durch das Felsgeröll, keine Tierstimme meldete sich, als einzige Begleiter hatten wir Schwärme von großen Fledermäusen, deren lautloses Dahingleiten diese Leere und Stille noch unheimlicher machte. Es schien fast, als ob über diesen Bergen, Waldstücken und Gestrüppbuchten ein Fluch lagerte, der jegliches Geschöpf verscheuchte.

Meiner Berechnung nach mußten wir jenem Tale, in dem Helga Goßli fernab von den Stätten der Zivilisation ihr einsames Dasein verbrachte, bereits ganz nahe sein. Drei volle Stunden beschleunigten Marsches hatten uns weite Strecken zurücklegen lassen, und wenn auch die Orientierung bei diesem milchigen Lichte des Mondes sehr erschwert war, glaubte ich doch, wir könnten nur unwesentlich von der östlichen Richtung abgewichen sein.

Vor uns lag jetzt ein tiefer, steiler, finsterer Kanon, ein förmlicher Abgrund, der sich von Norden nach Süden in gleichbleibender Breite, mindestens dreißig Meter, endlos dahinzog – ein Riß im Gebirge wie eine Furche, von Giganten als Grenzmarke gepflügt, vielleicht wirklich eine Grenzlinie zwischen dem Ostdistrikt des Major Sakomo und den ungebändigten Leschos, die der geheimnisvollen Frau Goßli treu ergeben sein sollten.

Eine Kluft an der Ostseite des Kanons gestattete nur an dieser Stelle den Abstieg, und ohne Zaudern trabte mein wackerer Men in die drohende Finsternis ab. Ich nahm ihn kürzer an die Leine, – ein Gefühl, das aus dem Unterbewußtsein emporstieg, warnte mich, aber ein Zaudern gab es hier nicht. Wollte ich Ingrid finden, mußte ich alles wagen.

Eisige feuchte Moderluft quoll mir entgegen, das Plätschern eines unsichtbaren Baches wurde vernehmbar, und unter den tastenden Füßen lösten sich bei dem steilen Abstieg Steine und Felsbrocken und rollten polternd in noch unbekannte Tiefen.

Ich machte halt. Meine Augen sollten sich erst an diese schwarze Dunkelheit gewöhnen. Men zerrte an der Leine, und seine Ungeduld war so auffällig, daß ich nur vermuten konnte, die Fährten müßten hier frischer, jünger sein als bisher.

Es war unmöglich, unter mir in dem Schlunde irgend etwas zu erkennen. Ich strengte meine Augen über Gebühr an, ich empfand immer klarer, daß hier tatsächlich eine Gefahr lauerte, deren Art und Bedeutung mir in diesem Falle lediglich der Verstand zu erklären vermochte. Men besaß wohl die feineren Sinne, ich besaß als besseren Ersatz die Fähigkeit logischen Denkens, und dieses sagte mir, daß gerade des Mantelpavians Übereifer, hervorgerufen durch die stärkere Witterung, nur auf eins hinweisen konnte: Daß die, die Ingrid so lautlos entführt hatten, in dieser Kluft vor kurzem neuerdings geweilt hatten, nachdem sie Ingrid an einen sicheren Platz getragen hatten.

Ich horchte, spähte, – Men stieß ein mürrisches Knurren aus, er begriff mein Zögern nicht, aber ich ließ mich nicht irre machen, duckte mich zusammen, schloß die Augen eine Weile und versuchte wiederum, die Finsternis mit den Blicken zu durchdringen.

Jeder weiß, daß Tieraugen im Dunkeln leuchten, daß besonders Katzenaugen gelbgrün oder gelbrötlich schillern und daß diese runden leuchtenden Doppelflecke schon so manchen Jäger rechtzeitig gewarnt haben.

Was ich dort halbrechts in der Tiefe bemerkte, waren mindestens acht Augenpaare, und meine bisherigen Erfahrungen mit Leoparden hier auf Formosa drängten mir die Überzeugung auf, daß keine dreißig Schritt unter mir mehrere dieser Bestien auf demselben Platze dicht beieinander verharrten und daß unmöglich ein Zufall die großen Katzen hier in solcher Anzahl zusammengeführt haben könnte.

Ich bückte mich noch tiefer, und langsam zog ich Men dicht an mich heran und streichelte ihn.

Er … zitterte …

Und das genügte mir. Ich kenne meinen vierhändigen Freund, – dieses Zeichen von Erregung wird man an ihm nur wahrnehmen, wenn er die grimmen Feinde seines Geschlechts aufgespürt hat.

Also Leoparden …!

Ich suchte die glühenden Augenpaare zu zählen. Es gelang mir nicht. Die Bestien bewegten zweifellos die Köpfe und saßen oder lagen ganz eng aneinandergedrängt.

Es war eine so eigentümliche Situation, wie sie mir bisher nicht begegnet war. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich war überzeugt, daß es sich um gezähmte Jagdleoparden handelte, die dort unten von irgend jemandem am Lederriemen vorläufig festgehalten wurden, bis der Zeitpunkt gekommen sei, wo man die Meute auf mich loslassen könnte. Der Ausgang eines solchen Kampfes war kaum zweifelhaft. Mir blieb nichts anderes übrig, als in aller Stille mich zurückzuziehen.

Zum Glück benahm Men sich in dieser heiklen Lage sehr verständig und sträubte sich nicht, mir zu folgen. Wir erreichten den Rand des Kanons, ich kroch nach Norden zu zwischen ein paar Felsen, richtete mich dann erst auf und begann nun einen scharfen Dauerlauf, der mich, den Kanon immer links neben mir, in wenigen Minuten aus dem Bereich augenblicklicher Gefahr brachte.

Das Gelände war ziemlich kahl, ein schmales Plateau dehnte sich vor mir aus, und mein Entschluß ging dahin, an einem leicht zu verteidigenden Platze den Rest der Nacht auszuharren. Leider fand ich nirgends eine günstige Stelle, – schon ein starker hoher Baum oder eine steile Felsgruppe hätten mir genügt, ich mußte also das beschleunigte Tempo fortsetzen und hoffen, daß noch weiter nördlich mir ein Schlupfwinkel sich darbieten würde. Wiederholt schaute ich zurück, – ich sah nichts irgendwie Bedrohliches, und dann gewahrte ich linker Hand halb über dem Kanon schwebend zwei mächtige Kiefern, die auf einer langen Felsnase wuchsen und deren untere Stammteile von hohem Dornengestrüpp völlig umrankt waren.

Sofort bog ich dorthin ab, und in demselben Moment tat auch Men Huleb, der sich bisher neben mir gehalten hatte, einen Satz nach vorn und … riß mir die Leine aus der Hand und jagte auf die Felsenkanzel zu und verschwand in dem scheinbar unpassierbaren Dornendickicht.

Ich hörte einen leisen Schrei, – die Stimme hätte ich unter tausenden erkannt, ich rannte vorwärts, fand einen Dornenbusch zur Seite gebogen, schob mich in die Öffnung hinein und … stieß in der auch hier lastenden Finsternis mit dem Kopf gegen ein prall gespanntes Zeltleinen, tastete die Leinwand ab, kroch weiter, entdeckte den Eingang des Zeltes, – – ein schwaches Flämmchen sprühte auf, eine Laterne puffte, weißes Karbidlicht leuchtete mit breiter Flamme, und ich sah … zwei Frauen vor mir, Ingrid auf einem weichen Mooslager und eine zweite, fremde, die mich scharf musterte und dann matt zurückfiel …

„Ah – Abelsen!“ flüsterte sie, und es klang wie erfreutes Aufatmen.

Men hockte neben Ingrid und streichelte ihre Kupferlocken.

Das war meine erste Begegnung mit Helga Goßli.

 

6. Kapitel.

Helgas Festung.

„Mr. Abelsen, bitte, bringen Sie den Dornbusch wieder vor das Schlupfloch,“ sagte sie ganz matt … „Sie werden an dem Strauch ein paar Drähte finden. Binden Sie ihn so fest, daß er nicht zu entfernen ist. Vorher aber streuen Sie dies hier auf Ihre Fährte …“

Sie reichte mir eine Blechbüchse, ihre weiße Hand zitterte, und ihre Stimme war ohne jede Kraft. „Beeilen Sie sich, Mr. Abelsen … Seien Sie jedoch vorsichtig … Es ist Gift …“

Dann bedeckte sie die Laterne mit dem Zipfel einer wollenen Decke, – ich zauderte nicht lange, ich kroch ins Freie, wieder um das braune Zelt herum und tat, wie die Fremde mir befohlen. Die Büchse enthielt ein grobkörniges Gemenge, offenbar Harzstückchen, die scharf nach Pfeffer rochen, und ich ging ganz gründlich vor und streute das Gift sorgsam bis dorthin, wo ich nach der Felskanzel abgebogen war, – es mochten fünfzig Meter sein. In der Büchse verblieb nur ein geringer Rest des Giftes.

Nachdem ich den Dornbusch ebenso sorgsam vor das Schlupfloch mit drei starken Drähten befestigt hatte, kehrte ich in das kleine Zelt zurück. Immerhin hatte dieser kurze Ausflug mir gezeigt, daß der Felsenbalkon tatsächlich über dem Kanon hing und die Dornbüsche (es war jene langstachelige Art, die aus einem knorrigen, vielgekrümmten Stamm Äste mit Blüten und Blättern und endlose Ranken mit zahllosen Stacheln treibt) weit über die Felsnase hinweghingen und diesen Platz tatsächlich unangreifbar machten.

Das Zelt erhob sich zwischen den beiden Kiefern, überragt und verdeckt von einem Rankengewirr, das keinen Lichtstrahl durchließ. Man konnte mit vollem Recht sagen, daß das braune Leinenzelt in ein Dornenzelt hineingebaut war.

Die Laterne warf nur einen schmalen Lichtstreifen auf den Eingang. Ich ließ die Zeltbahn des Eingangs hinter mir zufallen und hockte mich auf den dicht mit Moos belegten Boden nieder.

Die melodische, matte Frauenstimme flüsterte hastig:

„Alles besorgt, Mr. Abelsen?“

„Ja … Sie können ganz beruhigt sein. – Verzeihung, wer sind Sie?“

Ich liebe klare Verhältnisse. Hier in der Wildnis gilt nicht der rücksichtsvolle Brauch des Salons.

„Helga Goßli,“ erwiderte sie zögernd. „Das ahnten Sie wohl?“

„Nein … Denn Helga Goßli soll hier Herrin sein, hörte ich.“

Die Frau, die ihr Lager quer zu dem Ingrids hatte und aufgestützt im Halbdunkel ruhte, sagte bitter:

„Es hat sich vieles geändert, Mr. Abelsen … Der größte Schurke, der je diese Wälder entweihte, triumphierte über meine braunen Freunde …“

Im Augenblick war Helga Goßli mir gleichgültig.

„Wie geht es Frau Ingrid Scannon?“ fragte ich ängstlich, da Ingrid sich nicht rührte.

Die Goßli erhob sich halb.

„Wem – – Frau Scannon?!“ fragte sie keuchend. „Wem?! Wer soll diese … diese Person sein?! Frau Scannon?!“

Ihre Erregung war so groß und wirkte so eigentümlich, daß mir ihr Verhalten immer seltsamer erschien.

Unzählige Fragen, die dringend Antwort erheischten, drängten sich mir auf. Im Gegensatz zu Frau Goßli blieb ich jedoch durchaus Herr meiner Nerven und vermochte daher unser Gespräch ganz nach meinem Willen zu lenken.

„Sie werden doch nicht leugnen wollen, daß Sie zumindest Arthur Scannon, den Leopardenjäger kennen,“ sagte ich eindringlich. „Es war wohl verfehlt, unter diesen sonderbaren Umständen, die eine noch sonderbarere Vorgeschichte haben, mit halben Wahrheiten operieren zu wollen. Sie waren dort auf dem Baum der Halbinsel, Frau Goßli, Sie spionierten und wurden schwer verletzt. Ihr Gesicht konnte ich nur undeutlich sehen, als Ihre Lekhos Sie nachher in das Kanu hoben. Sie hier in Gesellschaft Ingrid Scannons als Schutzbedürftige wiederzufinden, setzt mich ebenso in Erstaunen wie Ihre Versuche, mich über gewisse Tatsachen täuschen zu wollen.“

Leider konnte ich auch jetzt ihre Gesichtszüge nur undeutlich unterscheiden. Ich drehte die Karbidlaterne so, daß der Lichtstreifen ihr Antlitz traf. Sie hielt einen Moment die linke Hand wie geblendet vor die Augen, ließ die Hand dann aber sinken und zeigte mir ein Frauengesicht von elfenbeinerner Blässe und klaren, feinen Linien.

Die Frau war überraschend schön. Es war die zarte Schönheit antiker Idealköpfe mit einem Hauch von Melancholie und herber Energie. Auffallend waren ihr sehr helles, blondes Haar und die geradlinigen dunklen Augenbrauen. Die Augen selbst erschienen matt und eingesunken, und selbst jetzt, wo sie mich starr fixierten, blieben sie glanzlos und wie tot.

„Ich war es,“ erwiderte sie schroff. „Ich hatte gute Gründe, dem Herrn da auf die Finger zu sehen. Monate spürte er in nächtlichen Ausflügen diese Berge ab. Er war sehr vorsichtig, wir fanden zuweilen seine Fährten, nie ihn selbst, bis ein Zufall mich zu seinem Versteck führte. Daß er ein Weib bei sich hatte, ahnte ich nicht. Die Dinge nahmen dann einen etwas tragischen Verlauf, nach dem Sturz des Baumes wollten meine Lekhoan schleunigst mit mir heim, da sie mich für schwer verletzt hielten. – Also Arthur Scannon heißt der Mann, – sehr interessant … Arthur Scannon!“ Ein verächtliches Lächeln verzog ihre vollen Lippen.

Ich wurde ungeduldig. „Sie müssen ihn schon vorher gekannt haben,“ beharrte ich mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit. „Mir ist da in der kurzen Zeit, als Gripu, Men und ich mit Scannons zusammen waren, verschiedenes aufgefallen, und …“

„Gripu?!“ rief sie leise. „Etwa der alte Gripu, Mr. Abelsen? War der Ihr Gefährte?“

„Ja … Er ist tot,“ sagte ich hart. „Bisher muß ich annehmen, Scannon und Doktor Skiru Suul, ein junger Koreaner, haben ihn ermordet, obwohl …“

Sie hatte sich vorgebeugt, und ihre Linke berührte meinen Arm.

„Suul? Suul?!“ Ihre Stimme vibrierte. „Also … Suul!! Bei Gott, Scannon hat seine schärfsten Köter mobil gemacht,“ meinte sie noch verächtlicher. Dann raffte sie sich auf. „Bitte, erzählen Sie mir alles, Mr. Abelsen,“ sagte sie in fast befehlendem Tone. „Glauben Sie mir, es geht hier um große Dinge … Dieses ganze undurchsichtige Spiel ist keine alberne Posse. Ich muß klar sehen.“

„Ich auch!“ erklärte ich noch schroffer. „Reden Sie, – – dann rede ich. Ich verschenke mein Vertrauen nicht leichtfertig. Die Frau dort“ – und ich zeigte auf die festschlafende Ingrid, neben der mein Men mit Engelsgeduld hockte, – „die Frau fand ich todwund, die Frau habe ich vom Rande des Grabes ins Leben zurückgezwungen, und ich habe ein Anrecht zu erfahren, wer mir Ingrid stahl. – War es Scannon?“

Helga Goßli lächelte bitter. „Sie werden mir nicht glauben, Mr. Abelsen: Ich weiß es nicht! Ich floh hierher, und ich fand hier in diesem Versteck zu meiner größten Überraschung dieses Zelt und die schlafende Fremde, der man zweifellos ein Schlafmittel gegeben hat. Ich war noch keine zehn Minuten hier, als Sie erschienen.“

„Und woher ist Ihnen mein Name bekannt?“

„Scannon nannte ihn auf der Halbinsel, ich hörte ihn droben im Kampferbaum.“

Es trat eine längere Pause ein. Ich wartete, mochte die Goßli nur als erste mit ihren Eröffnungen beginnen, ich wollte ihr jedenfalls keine Handhabe geben, ihre Mitteilungen etwa den meinen anpassen zu können. Und noch anderes ließ mich stumm bleiben. Allzu deutlich schwebte mir noch das Bild vor Augen, wie dort unten in der Schlucht die Leoparden mir warnend durch ihre gelbgrünen Lichter die Nähe einer großen Gefahr verraten hatten. Wenn der, der da die Bestien am Riemen sprungbereit als tückische Angreifer gehalten hatte, mir gefolgt war, befanden wir uns hier keineswegs in Sicherheit, falls das Gift versagte.

Da begann die Goßli leise: „Ich weiß nichts von Ihnen als Ihren Namen, Mr. Abelsen. Aber ich glaube Gesichter entziffern zu können. Den meisten Menschen sind Gesichter Geheimschriften, mir nicht. Sie sind zweifellos ein ehrlicher Charakter …“

„Danke.“

„Lassen Sie doch die Ironie! Meinen Sie, ich will Ihnen schmeicheln?! – Sie wünschen die Wahrheit über mich … Nun gut. Ich bin Schweizerin, ich heiratete sehr jung den Hotelbesitzer Goßli in Schanghai, einen Mexikaner mit viel englischem Blut in den Adern. Er starb sehr bald, und ich lebte einige Zeit in Tokio. Ich war nicht reich, besaß jedoch viel Streben und Mut. Besondere Umstände brachten mich vor fünf Jahren auf den Gedanken, die Bodenschätze Formosas auszubeuten. Mit drei Begleitern, die echte wilde Lekhoan waren und die mir Treue hielten, da ich sie vor der peinlichen Prozedur des Gehenktwerdens bewahrte, kam ich hier ins Innere und fand Anschluß bei den Lekhos, fand eine Goldader und ward Umstürzlerin. Damals war Gripu, Ihr Diener, noch Oberhäuptling der wilden Lekhos. Sein blutiges Regiment endete mit seiner Flucht. Wo trafen Sie ihn denn?“

„Auf den Küenling-Plantagen Lord Morspams an der Ostküste …“

„Ah, dort hatte er sich verkrochen …! Und er war es wohl, der Sie dazu bestimmte, mit ihm in die Berge zu reiten, er wird Ihnen so manches von mir erzählt haben …“

„Das stimmt …“ Ich war recht nachdenklich geworden. Sollte etwa dieser Gripu mit mir ein falsches Spiel getrieben haben?!

Die Frau sprach schon weiter. „Natürlich konnte der alte Bursche sich nicht allein in die Wildnis wagen. Gerade Sie mögen ihm wertvoll erschienen sein … Er brauchte einen Begleiter, dem der Lord Pferde, Waffen und alles übrige überließ. Mir ist nun so manches klar geworden … Ich habe Gripu auf der Halbinsel nicht zu Gesicht bekommen, und meine Lekhoan erkannten ihn auch nicht … – Beenden wir die Beichte. Meine Leute brachten mich im Kanu und dann auf einer Bahre nach meinem Tale. Ich war sehr bald wieder fähig, mich zu bewegen, vor drei Tagen spürte ich dann in dem Benehmen der Meinen eine gewisse stille Widersetzlichkeit, am verflossenen Abend trat schließlich das ein, was ich allmählich vorausgeahnt hatte: Die Lekhos suchten sich meiner zu bemächtigen, ich floh und gelangte hierher. – Das ist die Wahrheit, Mr. Abelsen.“

Sie reichte mir freimütig die Hand, und als diese kühlen schlanken Finger in den meinen ruhten, empfand ich mit unumstößlicher Gewißheit, daß Helga Goßli nicht gelogen hatte, mochte sie auch über manche Einzelheiten allzu eilig hinweggehuscht sein.

Helga Goßli trug einen Lederanzug aus feinster Antilopenhaut, eine Art Trapperkostüm, das vielleicht nicht recht kleidsam war. Sie erschien darin überschlank, beinahe mager, – möglich, daß das Krankenlager nach dem Sturz mit dem Baume ihre Formen verflacht hatte. Ihr haftete bei aller Feinheit der Züge etwas Vermännlichtes an, ich erriet unschwer, daß in dieser Brust eine starke, selbstsichere Seele wohnte. Schon allein ihr abenteuerliches Unterfangen, nur mit drei Lekhos, die wahrscheinlich wegen Kopfjagd hatten aufgeknüpft werden sollen, diese Wildnis zu besuchen, und dann die Kühnheit, den blutigen Gripu einfach zu verjagen, zeugten von einem Übermaß an Energie, wie es nur weiblichen Naturen eigen ist, die nichts mehr zu verlieren haben und als vom Leben Enttäuschte der Zivilisation den Rücken kehrten.

Sie imponierte mir. Das war ein Typ von Weib, der über dem Alltag stand.

Sie ruhte nun wieder in derselben Stellung, den Kopf leicht in die Hand gelehnt. Irgendein neuer Gedanke schien sie völlig in Anspruch zu nehmen.

Ganz unvermittelt fragte sie:

„Wann und wie trennten Sie sich von Arthur Scannon und dem Koreaner und … und der Frau dort? Wie kamen Sie hierher? Sie brauchen mir nur kurz zu antworten, Mr. Abelsen. Betrachten Sie mich nicht als Gegnerin. Ich werde Sie ohnedies sofort verlassen müssen.“

„Das ist unmöglich,“ erklärte ich warnend. „Ich habe Scannon verlassen, weil er vielleicht … vielleicht den alten Gripu niederschoß. Dann fand ich nach Tagen Ingrid Scannon verwundet in halber Höhe meines Baumverstecks, sie muß sich mit letzter Kraft so weit emporgeschleppt haben, und ohne Men Hulebs rasches Eingreifen wäre Ingrid abgestürzt. Ich pflegte sie, und als die Krise überstanden, fiel ich in einen totenähnlichen Schlaf, der mit dem trüben Erwachen endete: Ingrid war mir geraubt worden, und Men Huleb steckte in einem Ledersack. Ich ahnte sofort, daß nur Scannon seine Frau zurückgeholt hatte, und ich nahm auch sogleich die Verfolgung auf, denn Scannon sollte Farbe bekennen, die ganzen letzten Ereignisse waren nicht nach meinem Geschmack, ich liebe das Undurchsichtige nicht, und ich liebe noch weniger jene Sorte von Leuten, die mit dem geraden Blick der Ehrlichkeit eine doppelt verhüllte Seele verbinden. Vorhin gelangte ich weiter südlich an einen Einschnitt im Ostrand des Kanons, Men drängte vorwärts, zum Glück gewahrte ich da in der Finsternis unter mir die glühenden Augenpaare mehrerer Leoparden, – es können nur Leoparden gewesen sein, sicherlich halb gezähmte Bestien. Ich hörte von Scannon, daß die Lekhos junge Leoparden tadellos abzurichten wissen und …“

Die Goßli saß wieder aufrecht. Ihre jähe Bewegung und der angespannte Ausdruck ihrer Züge ließen mich verstummen.

„Sie meinen, ich soll der Leoparden wegen dieses Zelt und diesen Schlupfwinkel nicht verlassen …“ – es klang halb belustigt und doch auch wieder schwer gereizt. „Ich ahnte, daß der Schurke hinter alledem als treibende Kraft steckte und daß er auch die Tiere gegen mich ausspielen würde. Es wäre schade um die Bestien, – was Sie so Bestien nennen, Mr. Abelsen. Ein ungezähmter Mantelpavian ist auch kein Schoßhündchen …“

Ihre Sätze erschienen mir widerspruchsvoll und dunkel. – Sie fügte mißmutig hinzu: „Eines solchen Menschen wegen nun all die Umstände – lächerlich fast!! – Die Leoparden waren kein Hinterhalt für Sie, nein, – es waren meine Verfolger, und Scannon und Suul dürften in diesem Augenblick das Schicksal der Expedition Allan Parkers teilen … Hätte ich hierüber Gewißheit, würde ich sofort eine Entscheidung treffen …“

„Und vielleicht Ihre Flucht fortsetzen?!“ warf ich zweifelnd hin … „Dazu dürfte es zu spät sein, Frau Goßli. Ich kenne die Stimmen der Wildnis, ich habe seit Jahren in der Wildnis gelebt, und ich rate Ihnen, Ihre Waffen bereit zu halten. Da – – hören Sie … Mir scheint, Ihr Gift wirkt, das ist das ferne Stöhnen und Jaulen eines Tieres, das sich vor Schmerzen windet, das ist nicht der Morgenwind, der durch die Klüfte streicht und jede Ritze als Orgelpfeife benutzt.“

Wir saßen sekundenlang bewegungslos. Ich beobachtete Men, und er hielt den Hundekopf schief und lauschte ebenso angestrengt wie wir.

Dann hakte ich mir den schweren Rucksack vom Rücken, legte ihn beiseite und ergriff die Remingtonbüchse.

„Wollen Sie mit, Frau Goßli?“

„Ja …“

Ich band den braven Men rasch an eine Zeltstange fest. „Er ist etwas zu selbständig,“ meinte ich.

Wir krochen bis zu dem großen Dornbusch und lugten hinaus. Noch immer lagerte die Dunkelheit über dem Plateau, sie war noch schwerer, bedrohlicher geworden, denn der Mond war verschwunden, und wir vermochten nichts zu erkennen, nur das Gehör vermittelte uns ferne nervenpeinigende Töne eines winselnden Geschöpfs, das vielleicht den letzten Kampf kämpfte.

„Er wird nicht daran sterben,“ sagte die Frau in Leder ganz zart. „Das Gift wirkt nicht tödlich, es sei denn, man präpariert einen Köder damit.“

Wir lagen Seite an Seite, sie bog mit dem Lauf ihrer Waffe die Zweige mehr auseinander und meinte geringschätzig:

„Lebend möchten sie mich haben, die armen Narren!!“

Ich hatte nun doch etwas erspäht, was keine zufällige Anhäufung von Felsstücken sein konnte: Im Bogen um die Felszunge hier lagen auf dem Plateau zehn Steinhaufen, und daß hinter jedem ein brauner Schütze steckte, war mit aller Bestimmtheit anzunehmen.

„Sie denken an die Steinhaufen, Frau Goßli?“

„Ja … Wir sind eingekreist. Der alte Gripu ist ein geriebener Schuft, – in dem Punkte tun Sie Scannon unrecht, – Gripu lebt – – zu sehr für meinen Geschmack.“

Ich hatte ihr nichts über die Pfeilschüsse mitgeteilt. Jetzt mochte ich nicht länger schweigen.

„Ließen Sie dort auf der Halbinsel auf mich schießen, Frau Goßli?“

„Nein, – und wenn einer meiner Leute einen Pfeil geopfert hätte, wüßte ich’s. Wahrscheinlich brauchte Gripu Sie nicht mehr …“

Es war eine bittere Erkenntnis, doppelt bitter, weil ich gleichzeitig auch Scannon so arg verdächtigt hatte. Also Gripu beide Male der Schütze!! Es stimmte schon, und Scannon mochte es geahnt haben, und das Blut im Kanu rührte wohl mehr von einem ehrlichen Kampfe her. Jetzt begriff ich auch Ingrids Verhalten in jener Nacht, als ich mir meine Sachen aus der Steinhütte holte und als Ingrid am Kanu mich erwartet hatte.

Doch es war hier nicht Zeit noch Gelegenheit, diesen Fragen nachzuspüren.

„Die da können uns wie die Ratten abknallen, Frau Goßli … Wir müssen die Felsnase verlassen, bevor es hell wird. Es muß gehen. Ich habe zwei Lederlassos bei mir. Wie tief schätzen Sie den Kanon?“

„Dreißig Meter. – Geben Sie den Gedanken nur auf, Mr. Abelsen … Wir sitzen in der Falle, und morgens wird Gripu seine Bedingungen stellen.“

„So?!“ Der alte tatenfrohe Übermut straffte mir die Muskeln. „Gripu wird sich täuschen, und eines Tages wird er sich wundern, wenn ihm die Sonne durch das Hirn scheint. Beobachten Sie hier … Ich spiele nicht gern Maus in der Falle.“

Sie sagte nichts, und ich schob mich rückwärts und war rasch im Zelt, nahm die Laterne und beleuchtete Ingrids Gesicht. Sie atmete tief und ruhig, und ich durfte es wohl wagen, etwas rauh mit ihr umzugehen, falls es not tat.

Ich knotete die Lassos zusammen und kroch zur äußersten Spitze der keilförmigen Felskanzel, wo nur ein Gewirr von Luftwurzeln der beiden Kiefern und einzelne Grasbüschel Deckung boten. Das eine Lassoende ward fest an eine Wurzel geknotet, dann warf ich das lange Lederseil in die Tiefe und ließ die Beine über den Felsenrand gleiten, rutschte an dem Lederstrick getrost abwärts und spürte wieder den feuchten Moderduft des finsteren Kanons und die eisige Kühle der unten plätschernden Wasser.

Frau Goßli hatte sich verrechnet. Der Kanon war vielleicht fünfundzwanzig Meter tief, aber unten wuchsen knorrige Stämme, die nach Harz dufteten, und ein paar Pendelschwingungen brachten mich in die Krone einer verkrüppelten Kiefer hinein, die auf einem langen, bemoosten Wall von Felsblöcken wuchs.

Meine Augen hatten nun das Dunkel zerteilen gelernt, meine Augen haben längst durch Übung jene Fähigkeit gewonnen, die man nur Tieren nachsagt.

Ich kletterte eilends empor, – eilends rief ich leise Frau Goßli herbei, sie ward mir emsige Helferin, sie glitt mutig in die Tiefe, sie blieb in der Baumkrone unten, und ich hißte dann Ingrid abwärts, Frau Goßli nahm die Genesende in Empfang, Men folgte, dann das braune Zelt, die Rucksäcke, schließlich ich selbst. Es wäre mir schmerzlich gewesen, die Lassos zu opfern, ich wollte wenigstens versuchen, Men zu veranlassen, droben den Knoten zu lösen und an dem lose um den Asthaken gelegten doppelten Riemen so weit herabzurutschen, bis er, der glänzende Springer, den Baum in freiem Satz erreichte und den Lasso nach sich zog.

Es dämmerte bereits, dennoch wagte ich es, obwohl Frau Helga dringend abriet.

Es gelang schließlich, und nun hatten wir hier am Grunde des Kanons noch genügend Zeit, für Ingrid eine Art Tragstuhl herzustellen, den ich dann auf den Rücken nahm. Die Teile des Zeltes und alles überflüssige Gepäck verbargen wir.

Droben schimmerte schon das Zwielicht. Hier unten war es zum Glück dunkel, und daß wir auf diese Weise entwischen könnten, hatte selbst Gripu nicht beargwöhnt.

Helga Goßli kannte sich in dieser unheimlichen endlosen Schlucht gut aus. Wir wanderten gen Norden, Men und Helga voran, ich hinterdrein mit einem starken Ast als Bergstock, tief nach vorn gebeugt, denn ich trug Ingrid, die nur zeitweise erwacht war und die in dem Tragstuhl festgebunden war …

Über schlüpfriges Gestein, durch blanke Pfützen, über knietiefe Moospolster, über faulende Stämme und ganze Vorhänge triefender Baumbärte, die von den fast wagerecht in den Ritzen wuchernden Tannen herabhingen, durch kleine Wälder riesenblätteriger Farnbäume schlängelten wir uns behutsam dahin – unbekannten Zielen zu. Helga Goßli legte ein Tempo vor, das sie kaum lange aushalten konnte. Oft genug griff sie nach ihrer Feldflasche und trank, oft genug taumelte sie vor Erschöpfung, aber in dieser Frau steckte der verbissene Ingrimm eisernen Willens, und der geschwächte Leib gehorchte vorläufig.

Es ging langsam bergan. Der Kanon hatte hier und dort Abzweigungen, schmale Schluchten, aber wir blieben im Halbdunkel der Tiefe und fühlten[7] uns nur hier sicher.

Ich war vielleicht ebenso müde wie Helga Goßli. Ich trottete dahin wie ein Träumender, ich schwitzte trotz der eisigen Luft, zuweilen rannen mir kalte Schauer über den Leib, zuweilen zuckten vor meinen Augen rote kreisende Sonnen auf, – aber ich verjagte die Anzeichen körperlicher und geistiger Abspannung und … dachte lediglich an die mir so teure Last auf meinem Rücken.

Dann bog die Goßli nach Osten in ein ganz enges Seitental ab, das zunächst allmählich aufwärts führte und bald wieder in kurzen Windungen sich senkte. Die Luft wurde wärmer, trockener, und plötzlich öffneten sich die hohen Felswände und gaben mir den Blick frei auf einen kleinen runden Bergsee tief unter uns. Wunderbar grünblau schimmerte das stille Wasser, die himmelhohen Berge spiegelten sich darin wieder, freundliche Baumgruppen belebten die schmalen Uferstreifen …

„Am Ziel,“ sagte Helga Goßli und lehnte sich an die Felswand der Terrasse …

„Am Ziel … – sehen Sie, Kamerad Abelsen, – dort … dort, das ist meine kleine Festung, heimlich erbaut für die Stunde der Not, heimlich bewacht von den drei Getreuen, denen ich die Schlinge vom Halse nahm, als ein paar blindwütige japanische Polizisten des Ostdistrikts vor meiner Büchse flink die Arme hochreckten …“

Dort …

Ich folgte der Richtung ihrer Hand, und ich sah an der Südseite des Sees im Sonnenlicht die Bergwand weit vorgewölbt zum halbrunden Pfeiler und oben auf diesem Felsgebilde ein Haufen von Steintrümmern …

Nichts als das … –

Eine halbe Stunde drauf lag ich in einem kleinen behaglichen Gemach auf einem Moosbett, und ein brauner Mann mit sanften dunklen Augen salbte mir die von dem Tragstuhl wundgescheuerten Stellen des Rückens und sprach mit mir in einem bemitleidenswerten Englisch, das nicht viel anders klang als Men Hulebs abwechslungsreiches Grunzen.

„… Tuwan, einer von uns gehen und streuen Sika in schmale Schlucht,“ sagte er vertraulich und grinste. „Sika sein Gift von Wurzel, Tuwan … Wenn essen, dann sterben, wenn riechen, dann Bauch sich drehen und alle Eingeweide zum Halse kriechen …“

Er grinste stolz, dieser Kopfjäger.

Sein Name ist Tubeli, und das heißt übersetzt: Der, der viele tötete.

Tubeli ist mein Diener.

„Und wie geht es der Tubana mit dem Kupferhaar?“ fragte ich zum zweiten Male.

„Sie schlafen … Sie sein gesund. Aber du, Tuwan, – dein Rücken sein eine einzige Wunde. Du schlafen auf Bauch, so am besten.“

Men Huleb saß dabei und fraß eine große gelbe Frucht, und der Saft lief ihm in die Mähne.

 

7. Kapitel.

Der sanfte Tubeli.

… Wollte ich Tubelis Eigentümlichkeiten hier im einzelnen schildern, würde ich vor jeden Satz, der dem Gehege seiner braunroten, spitz gefeilten Zähne entfleucht, drei Sätze „Eigentümlichkeiten“ vorausschicken müssen.

Eins ist sicher: Tubeli war für den Strang zu schade!

Tubeli ist Universalgenie, ist hier mein Diener, zugleich Haushofmeister, Festungskommandant, Kommandeur der Artillerie, – er hat zahllose Würden und Ämter.

All das besagt nichts.

Die Hauptsache ist: Er verehrt mich! –

An diesem Morgen, als wir Helga Goßlis Schlupfwinkel halbtot erreichten, war ich bis auf weiteres für Damenbesuch nicht geeignet. Ich lag auf dem Bauche, rauchte und ließ die Wundsalbe meinen bloßen Rücken kühlen. Auch die Verlängerung des Rückens war stark in Mitleidenschaft gezogen.

Helga Goßli sprach mittags mit mir nur durch den Türvorhang.

„… Ingrid läßt herzlich grüßen …“ Ein feines klingendes Lachen folgte. „Ich wollte sagen: Frau Ingrid Scannon, Mr. Abelsen.“

„Sagen Sie „Ingrid“, es genügt,“ erklärte ich begeistert …

Und ich dachte an die drei Tage und drei Nächte, in denen Ingrid mein Pflegekind gewesen und in ihrem Fieberwahn mich mit Zärtlichkeiten überhäuft hatte. Seit damals kannte ich sie so, wie nur ein Gatte ein geliebtes Weib kennt.

Abermals kam die melodische, frische, übermütige Stimme durch das feine dichte Gewebe der Türöffnung:

„Darf ich Sie nun auch Olaf nennen, Kamerad Abelsen? Es ist so lächerlich, hier in der Wildnis die starren Formen gesellschaftlichen Zwanges zu wahren … – Ich darf also … – Wie sind Sie mit Tubeli zufrieden? – Sehr? Das freut mich. Tubeli ist augenblicklich Küchenchef. Wir sind gut verproviantiert, und wenn Ihre Wunden geheilt sind, werden wir eine Gelegenheit suchen, einige gute Bekannte zu befreien und Gripu das Rauchen für immer abzugewöhnen.“ Die melodische Stimme änderte den Tonfall. „Scannon und Doktor Suul sind zweifellos gefangen genommen worden. Alles andere mag Ingrid Ihnen erzählen … – Wiedersehen, Olaf …“ –

Men, der Schurke, ist mir ausgerückt und wird bei Ingrid weilen. So ein Affe hat es gut. Ingrid wird ihn streicheln und wird ihm vielleicht manches anvertrauen, was sie mir nicht so leicht Auge in Auge sagen würde.

Es ist erstaunlich – und diese Erfahrung hat wohl jeder Forscher und Jäger in „wilden“ Gegenden gemacht – wie gut die braunen, braunschwarzen oder schwarzen Medizinpantscher sich auf das Zubereiten von Salben verstehen, die selbst die ärgsten Wunden vor Eiterung schützen und leichtere Verletzungen rasch ausheilen lassen. Tubelis Zaubersalbe stank zwar wie der Fußlappen eines Zigeuners, aber die Heilkraft war verblüffend. Schon nachmittags brachte er mir mein frisch gewaschenes Unterhemd und hieß es mich überstreifen.

„Du kannst nun aufstehen, Tuwan … Du bist gesund.“

Ich traute dem Frieden nicht sehr, aber Tubeli behielt auch diesmal recht, und als ich mich erhob, verspürte ich rückwärts und achterseits nur ein leichtes Spannen der Haut. Ich kleidete mich vollends an, und Tubelis Gesicht glänzte vor Stolz, wie fein er mein stark mitgenommenes Jagdhabit in Ordnung gebracht hatte. Ich sah wie ein Gentleman aus, nachdem ich mich rasiert hatte.

„… Tuwan,“ erzählte der Herr Kammerdiener, der selbst nur in grobem Leinen steckte, mit gefährlicher Zungenfertigkeit, „Tuwan, der See hier haben nur einen Zugang, aber Zugang nun Pfad voll Gift und Pulver. – Pulver, Tuwan … Das sein so: Wer kommen durch enge Schlucht von Kanon, treten auf Steinplatte, unter der liegen alte Pistole und knallen und spucken Feuer in Topf mit Pulver …“ Er lächelte sehr mild. „Dann können zusammensuchen ihre Knochen die Feinde, Tuwan, – – das ich erfinden, Tuwan …“

Er war sehr stolz. Für seine etwa dreißig Jahre besaß er neben viel angeborener Würde ungeheure Muskeln.

Aber seine Unterhaltungsgabe entbehrt entschieden der inneren Geschlossenheit.

„… Tuwan, Festung hier kennen nur Herrin und wir drei Lekhoan und jetzt ihr … Gute Festung, Tuwan. Du staunen, wenn alles sehen. In Wasser unten viel Fische. Ich jeden Abend legen aus Angeln, und morgens immer dann Fische … In Bäumen drüben wohnen viel Tauben, und wenn schießen, dann mit Pfeil, damit nicht knallen. Tuwan, Affe jetzt sein mit rote Herrin unten am Ufer, wo weißer Sand so heiß von Sonne wie Herdasche …“

Mein Interesse für alles übrige zerschmolz in nichts.

„Ich will auch an den Strand, Tubeli,“ erklärte ich so nebenher, denn Tubeli braucht nicht gerade zu erraten, daß ich Frau Ingrid mehr verehrte, als es den Umständen nach schicklich war.

Ich verließ mein Steingemach, dessen Schießschartenfenster (alles Natur) nach Norden zeigte.

Die „Festung“ war im Grunde nichts anderes als die durch Steinplatten bedeckte und durch Geröll oben beschwerte tiefe Aushöhlung der gewaltigen Steinsäule. – Steinplatten bildeten die Zwischenwände der Gemächer, über diese Platten hatte man bunte Gewebe gelegt, und ein Mittelflur mündete in eine schräge Spalte, die nach Süden zu mit ihrem groben Schutt als Treppe hergerichtet war. Im ganzen gab es acht Räume, – ob das Dach wasserdicht war, bezweifelte ich. Trotzdem hatte diese Felsenburg etwas sehr Romantisches, zumal sie selbst aus nächster Nähe niemandem verriet, wie wohnlich ihr Inneres ausgestaltet war.

Als ich über die „Treppe“ den Strand erreicht hatte, war weder von Ingrid noch von Men etwas zu sehen. Aber die frischen Fährten auf dem kaum acht Meter breiten Uferstreifen redeten für mich ihre besondere Sprache. Ingrid und Men hatten sich nach Osten gewandt, und als ich die erste Baumgruppe passierte, vernahm ich Ingrids helle, frohe Stimme und Mens tiefes, vergnügtes Grunzen.

Ich war schamlos genug, mich den beiden ganz leise zu nähern, und das Bild, das sich meinen freudigen Blicken alsbald darbot, hätte mich noch neidischer gemacht, wenn nicht mein angeborenes Mißtrauen mich veranlaßt hätte, gleichzeitig einen Blick über den wundervollen blaugrünen Märchensee zu werfen.

Ich stand wie angewurzelt, ich sah nichts mehr von dem Zaubergemälde dieser einzigartigen Gebirgslandschaft, ich verfolgte lediglich die eigentümlichen dünnen Streifen auf der Wasseroberfläche, die blitzschnell sich der Stelle näherten, wo Ingrid und Men hart am Ufer saßen und … Steinchen in die Flut schleuderten …

Nur Steinchen …

Das, was die dünnen raschen Streifen hervorrief, waren keine Steinchen …

Ich kannte die Erscheinung, und jeder kennt sie, der einmal dicht über dem Wasser eine Kugel abfeuerte und das Geschoß dann tänzelnd, zischend dahingleiten sah, – bald die Oberfläche furchend, bald in der Luft verschwindend, dann wieder das Wasser berührend, – und so fort, bis die Kugel sich in der Ferne verliert, versinkt.

Mein greller Warnungsruf kam zu spät …

„Ingrid – hinter den Baum – – schnell!!“

Die acht, neun tänzelnden Streifen hatten bereits den Strand erreicht, – weißer Sand stiebte empor, Ingrid schrie auf, mit zwei Sätzen war ich hinter ihr, riß sie in meine Arme und sprang wieder in Deckung …

Men Huleb, durch ähnliche Erfahrungen bereits gewitzigt, hatte sich selbst in Sicherheit gebracht. Ingrid war nicht verletzt, eine Kugel hatte lediglich ihren linken Ärmel durchschlagen und die Haut leicht gerötet.

Wäre dieser Zwischenfall nicht eingetreten, dann hätte unser Wiedersehen zweifellos einen weit weniger zwanglosen Verlauf genommen, da Ingrid ja wußte, was alles ich ihr in den Tagen ihrer schweren Krankheit an Handreichungen hatte leisten müssen. Das Schamgefühl hätte sie in ihrem Benehmen unsicher und verlegen gemacht, und selbst mit dem größten Taktgefühl meinerseits wäre wohl kaum diese Peinlichkeit so schnell überbrückt worden wie jetzt, wo die heimtückischen, rätselhaften Schüsse uns abermals einer gemeinsamen Gefahr gegenüberstellten.

Ich hatte Ingrid am Fuße des Baumes hinter ein paar Steinen sanft in das Gras gleiten lassen. Sie war noch sehr blaß, sah noch sehr angegriffen aus, ihre Augen erschienen unnatürlich groß, aber ihre dankbaren Blicke, belebt von heimlicher Zärtlichkeit verrieten nichts von Scheu und Befangenheit, und ihre feine Stimme fragte nur voller Entsetzen:

„Was bedeutete das, Olaf? Ich hörte keinen einzigen Schuß …“

„Ich auch nicht …“ – Ich spähte zum jenseitigen Ufer hinüber. Ich bemerkte nichts Verdächtiges. Still und starr lagen Berge, Täler und Schroffen, und gerade dort, woher die Kugeln gekommen sein mußten, gab es nicht einmal Bäume oder Buschstreifen.

Ich schalt mich selbst leichtfertig, daß ich ohne Waffe den Felsen verlassen hatte, ich war durch Tubelis Geschwätz über die Unzugänglichkeit dieses Seebeckens so sehr in Sicherheit gewiegt worden, als befände ich mich hier etwa in den Bayrischen Alpen am Ufer des Eibsees am Fuße der Zugspitze, und dieser Vergleich traf zu, denn dieser tropische See hier und der Eibsee besaßen genau dieselbe köstliche Wasserfarbe.

Ich lehnte an dem starken Zedernstamm und pfiff zunächst meinem Men. Er kam mit kerzengerade aufgerichtetem Quastenschwanz herbei und machte ein Gesicht, als ob er in grimmigster Laune sei. Ingrid zog ihn dicht neben sich, und ich mußte lächeln, wie rasch mein vierhändiger Freund in ihren Armen zum schmeichelnden Kätzchen wurde.

Dann surrte etwas mit hohlem dünnen Pfeifen haarscharf an meinem Kopfe vorüber, – weitere Kugeln folgten, aber wieder vernahm ich keinen Schuß. Ich ließ mich rasch auf den Boden gleiten, Baumrinde flog umher, Ingrids Augen wurden noch größer, – wir waren hier am Ostrande von der Burg abgeschnitten, wir hätten mindestens fünfzig Meter freien Sandstrand passieren müssen, und die da drüben hätten uns abgeschossen wie Hasen bei der Treibjagd.

„Ich werde rufen,“ sagte ich zu Ingrid. „Man muß mich in der Burg hören … Nur keine Angst, Ingrid …“

Ihre Hand haschte nach der meinen.

„Ich schulde Ihnen so unendlich viel Dank, Olaf … Nein, überlassen Sie mir nur Ihre Hand, wir sind doch Freunde, mehr als das: Geschwister durch die Tage meiner Krankheit! Wie lieb waren Sie zu mir!!“

„Davon … später …“ Meine Stimme klang vielleicht etwas rauh … zu rauh …

Dann rief ich …

„Hallo – – Tubeli – – hallo!!“

Die Berge äfften den Ruf nach, ein vielfaches Echo tönte nach, und durch eine Lücke der Bäume erblickte ich droben in einer der Spalten des Säulenfelsens des Lekhos freundliches Gesicht. Er sah uns.

Nochmals rief ich …

„Tubeli, wir werden beschossen. Drüben am Westufer stecken die Feinde. Vorsicht, Tubeli!!“

Neben dem braunen Malaien dort oben tauchte die überschlanke Gestalt der Goßli auf. Die Entfernung war zu groß, um ihre Züge zu unterscheiden, aber die kräftige Frauenstimme verriet Unglauben und Bestürzung.

„Schüsse, Olaf?!“

„Ja …! Schüsse, doch kein einziger Knall … Ich begreife das nicht. Ich sehe niemand am Westufer, und dort, woher die Kugeln kamen, fällt die Uferwand senkrecht ab.“

Tubeli und seine Herrin schienen zu beraten.

Ingrid drückte meine Hand.

„An alledem ist der alte Gripu schuld, Olaf. Arthur ahnte es längst, – Gripu hat auch mir den Pfeil in die Brust gejagt … nachts, als wir Sie suchten, Olaf, und als Arthur mir riet, in Ihren Adlerhorst emporzusteigen, weil er mit Doktor Suul noch den anderen Fährten folgen wollte … So war es, Olaf … Und ich kletterte empor, – dann traf mich der Pfeil …“

Von der Felsenburg abermals Helga Goßlis klarer Ruf:

„Tubeli hat sie schon entdeckt … Warten Sie, Olaf …“

Die beiden droben verschwanden, und wenige Minuten drauf ertönte ein dumpfer Krach, dem drüben an der Steilwand ein zweiter folgte … Der Aufschlag einer Granate zweifellos!

Der Seekessel war erfüllt von grollenden Schallwellen, – drüben schlug eine zweite Granate ein, löste Steinsplitter ab, ganze Scheiben des Felsens, die donnernd in die Tiefe rutschten. Ein dritter, vierter folgte, und diese beiden, stellte ich fest, fuhren in eine von mir bisher nicht beachtete Felsspalte hinein, die sich als dunkler Fleck an der Steilwand abzeichnete.

Wieder da Helgas Stimme: „Kommt jetzt … Sie werden nicht mehr schießen … Beeilt euch!“

Ich hob Ingrid schnell empor, ich lief mit ihr über den hellen Sand, erklomm die Gerölltreppe, vor uns her jagte der vergnügt grunzende, dumme Men, der nicht ahnte, wie bitter ernst dieser Wettlauf mit dem Tode war.

Oben empfing uns Helga. Ihr Gesicht war dunkel gerötet, ihre Mienen drückten eine verbissene rachsüchtige Entschlossenheit aus.

„Die Schleier fallen,“ sagte sie hart. „Mir schob man die Schuld an dem Verschwinden der Parker-Expedition zu … Die Dinge liegen etwas anders! – Olaf, dort hinein mit unserer Patientin.“

Sie hob eine der Türmatten, und ich legte Ingrid auf eine Art Diwan[8].

Es war ein mir unbekanntes Gemach. Es war freundlich und hell, und der feine Duft gepflegter Weiblichkeit durchzog es mit unmerklichen Wellen.

„Gehen Sie bitte nach oben zu Tubeli,“ meinte Helga schon weit beherrschter. „Am Ende des Flurs finden Sie die Leitern … Für Ingrid werde ich sorgen. Unser armes Vöglein ist wieder ganz matt …“ Sie sagte das mit verhaltener Zärtlichkeit, und ihre Finger strichen in mütterlicher Sorge über Ingrids Wangen.

Die festen, breiten Holzleitern brachten mich unter den Dachstuhl der Festung, – wenn man hier von Dachstuhl sprechen konnte. Es waren nur dicke Baumstämme, auf denen die Steinplatten und das Geröll ruhten.

Tubeli kauerte vor einem Felsenschlitz neben einem kleinen Berggeschütz älterer Konstruktion. Er lächelte harmlos, obwohl der hier angesammelte beizende Pulverqualm ihn husten ließ.

„Tuwan, es sein zu viel Geheimnisse um den See …“ meinte er achselzuckend. „Wir nicht wußten, daß dort in Westrand großes Loch … Von dort Schüsse kamen … Aber keine mehr kommen werden, Tuwan, und wenn dunkel, wir ausräuchern die Schufte …“

Er hatte ein Fernglas in der Hand. Der runde See mochte einen Durchmesser von zweihundert Meter haben. Er gab mir das Glas. Ich sah, daß die Spalte drüben wie ein schwarzes Komma von dem Gestein abstach, – das Loch reichte bis unten, war dort aber kaum zwei Hände breit.

„Wer schoß, Tubeli?“ fragte ich befehlend.

Unter meinem harten Blick duckte er sich scheu zusammen. Sein Grinsen ward verlegen, und etwas ungereimt flüsterte er …: „Vor zwei Jahren, Tuwan, rutschte die Bergspitze in den Biba-Schoni, den fernen See, den du kennst … Die Parker-Leute werden umsonst suchen … Es war eine Nacht, in der die Stimme der Teufel tief unten grollte und die Fäuste der Teufel gegen das Erddach hämmerten und viel Unheil geschah. Wälder knickten um, die Flüsse nahmen einen neuen Pfad, die Sturzbäche verschwanden und tauchten anderswo auf …“

Er beschrieb in seiner Art ein Erdbeben.

„… Damals sank die Bergspitze in den See und wurde Insel, und die Herrin hatte ihren Sessel verloren, Tuwan. Danach suchten sie, Tuwan.“

„Wer?!“

„Die Lügner, die zu uns kamen mit friedlichen Reden und dicken Büchern und Zauberapparaten: Die Parker-Expedition! – Mr. Allan Parker, der ein großer Weiser unter seinem Volke sein soll, hatte eine große Gabel aus blankem Metall, Tuwan, und er hielt sie in den Händen und sagte: „Hier lagert Steinkohle, hier lagern Erze …“ – Die Herrin war freundlich zu ihnen, aber sie hielt sie fern von dem Tale, wo wir das Gold wuschen.“ Er lachte spöttisch. „Es waren Betrüger, Tuwan, und nur sie haben vorhin geschossen, denn sie hatten Büchsen, die ganz leise knallten, und sie hatten andere Büchsen, die gar nicht knallten.“

Der Hohn in seiner Stimme verstärkte sich …

„… Es waren dumme Teufel, Tuwan … Sie boten der Herrin viel bedrucktes Geld, wenn die Herrin sagen würde, woher das andere Gold sei, das wir heimlich zur Küste schafften … Sie bestachen einen Teil des Stammes, Tuwan, und sie zogen scheinbar weiter nach Norden, – – dann kehrte der blutige Gripu zurück, und in jener Nacht floß viel Blut und die Herrin floh und du fandest sie. Mr. Scannon aber und der Koreaner sind gefangen, – das ist schon so, aber es wird nicht so bleiben, denn Gripu liebt das scharfe Wasser und wird wieder der Bösewicht werden wie einst, und die Lekhos werden die Herrin zurückholen.“

Tubelis Angaben genügten mir vorerst. Manches war nun geklärt. Es blieb doch immer das alte klägliche Lied der Habgier …

Gold …!!

Verfluchter Dreck, – Gift, schlimmer als der Giftzahn der Kobra!

Die Expedition Parker, die nach außen hin so streng wissenschaftlich aufgezogen war, hatte sich als Goldsuchergesindel entpuppt.

Kläglich war es, daß selbst der Frieden dieser Berge und Wälder durch die stinkende Gier von Börsenmagnaten, die letzten Endes als Drahtzieher hinter alledem steckten, verpestet wurde. Schachergeschäfte im großen hatte man mit Helga Goßli abzuschließen gedacht, mit einer Frau, die ganz anderen Schlages war, die aus eigener Kraft in zähem Ringen unter Entbehrungen in dieser Einsamkeit nach Wohlstand strebte …

Ich blickte verbittert hinaus auf das friedliche, schöne Gewässer, in dem Berge und Bäume sich so klar widerspiegelten, ich fühlte mich als Europäer gedemütigt vor diesem kindlich naiven Kopfjäger und halben Wilden, der von Jugend an in blutigen Bräuchen erzogen war und nichts Unrechtes dabei fand, die Schädel erschlagener Feinde in den Rauchfang der Hütte zu hängen und seine Ruhmestaten nach diesen geräucherten Köpfen zu berechnen.

Tubeli schien meine Gedanken zu erraten. Diese Wilden haben den Instinkt der Gedankenleser, und mit ernstem Gesicht beteuerte er plötzlich:

„Tuwan, ich sein anders geworden durch die Herrin … Unser kleiner Stamm vom großen Volke der Lekhos hat viel gelernt … Missionare kamen, wir fraßen sie auf … Die Herrin kam, und wir dienten ihr. Parker kam, und seine Leute und Maultiere brachten das scharfe Wasser, das den Verstand dunkel macht, und Gripu kam, und sie waren ohne Verstand und schossen und mordeten. Die Herrin hatte es geahnt und uns drei hierher geschickt, mich und meine beiden Freunde, denen schon die Schlinge um den Hals lag, – das weißt du, Herr.“

Ich hörte seine Worte, aber mein Denken eilte verworrene Nebenwege dahin und suchte nach den hellen Lichtungen des Verständnisses für vieles, was noch immer dunkel.

Mein Blick begegnete Tubelis Augen.

„Was bedeutet „Sessel“ der Herrin, Tubeli?“

Er preßte die Lippen fester zusammen, seine Augenlider klappten herab.

„Es … es war eine Felswand, Tuwan …“

„Wo?!“

„An der Bergspitze, die in den See rutschte.“

„Und was hat es mit dieser Felswand auf sich?“

Er hob den Kopf. Er schaute mich lange an.

„Tuwan, du hast die Augen der Güte. Trotzdem darf ich nicht sprechen.“

Unklar trat mir da ein Bild vor die Seele: In jener Nacht am Biba-Schoni-See hatte Ingrid auf der Terrasse der Felswand gestanden und gewinkt und gerufen! – War das die Wand der Goßli?!

„… Tubeli, etwas anderes … Du gedenkst die Parker-Leute auszuräuchern. So sagtest du vorhin.“

„Ja, Tuwan … Die Giftwurzel, von der wir den giftigen Staub und die Körnchen gewinnen, brennt wie Harz, ihr Qualm ist wie die Dünste, die aus den heißen Felsspalten steigen und Baum und Strauch welken lassen. Wir haben einen Korb dieser Wurzeln, und wir werden die Feinde verscheuchen und die Felsspalte verschließen oder …“ – er zögerte – „eindringen und die Büchsen sprechen lassen, Herr …“

Ich überlegte.

„Dann muß es gleich geschehen, Tubeli. – Wer lehrte dich diese Kanone bedienen? Woher habt ihr sie?“

Ein stolzes Grinsen …

„Tuwan, es sind viele Jahre dahingegangen, als die Japaner gegen die freien Völker Formosas kämpften. Vielleicht zwanzig Jahre … Ich war noch ein Knabe. Damals eroberten wir diese Kanonen. Gripu kannte sie, und ich lernte es von Gripu … Bei den großen Festen erklang ihre Stimme, und nachher brachte ich die eine hierher. Ich war immer ein guter Schütze, und die Herrin zeigte mir, wie man die Kanone reinigt und ölt. – Soll ich sie nochmals sprechen lassen?“

„Nein, nicht gleich. Ich werde den Korb mit den Giftwurzeln mitnehmen, Tubeli. Wenn ich um den See schreite, wirst du feuern. Vielleicht ist es nicht mehr nötig, aber ich möchte nicht leichtfertig sein.“

Wir stiegen die Leitern hinab, und Tubeli schickte einen der beiden anderen Lekhos nach oben. Es waren Leute in seinem Alter, wenn auch nicht so kräftig und nicht so rein malaiischen Gesichtsschnittes.

Der Vorhang des Gemaches Ingrids wurde zur Seite gehoben, und Helga Goßli trat zu uns.

Ihr kühnes Gesicht neigte sich zustimmend, als ich von meiner Absicht sprach … „Es ist kaum eine Gefahr dabei,“ fügte ich hinzu.

„Ich komme mit,“ entschied sie in einem Tone, der keinen Widerspruch duldete.

Aus dem Gemach rief Ingrid nach mir. „Olaf, bitte …“

„Gehen Sie nur,“ lächelte Helga schalkhaft. – Wie köstlich konnte sie lächeln, und wie gütig strahlten ihre Augen! Diese Frau in dem Lederanzug mußte seelisch unendlich viel gelitten haben, um so lächeln zu können.

 

8. Kapitel.

Der lange Parker.

… Nun ist es Nacht geworden, und ich habe wie im Fluge die Feder über das Papier eilen lassen und viele, viele Seiten gefüllt … Ich lockte die Erinnerungen an die jüngsten krausen Pfade meines Lebens aus ihren halbdunklen Verstecken hervor und gab ihnen Licht, Blut und Wärme frischen Geschehens.

Man muß sich nur hineinversenken in diese traumhaften Eindrücke, und je mehr man es tut, desto zahlreicher werden die Einzelbilder, desto klarer wird die Umwelt der Vorgänge, desto deutlicher spürt man an sich selbst die Stimmung, die die Begleitmelodie der Ereignisse gewesen.

Die Melodie dieser Nacht ist der melancholische Sang der Entscheidung: Wir haben nichts ausgerichtet!

Aber die Melodie jener Minuten, als ich mit Ingrid allein war, während Helga und Tubeli alles vorbereiteten, war der Sang der Liebe.

Ingrid ruhte noch auf dem hellbedeckten Diwan … Durch die Fensterspalte fiel ein breiter Sonnenstreifen über ihr bleiches Gesicht und über das gelöste Kupferhaar. Men Huleb hockte auf einem Stuhl aus Baumwurzeln und war in die Betrachtung einer stacheligen Frucht vertieft, die einem zusammengerollten Igel glich. Er wußte nicht recht, wie er sie öffnen sollte, – ein Messerschnitt erledigte die Frage, und Ingrid sagte schelmisch:

„Er ist versorgt …“

Sie zog mich neben sich. Sie behielt meine Hände in ihren heißen Fingern, und ihr Flüstern war überhastet wie das sanfte, klingende Murmeln einer unsichtbaren Quelle unter fröhlichen grünen Moospolstern.

„Olaf, du bist mein Bruder geworden … Ich möchte dir danken …“

Seltsam, daß Frauen stets Zärtlichkeiten auf dem Umwege über eine Phrase einleiten …

„… Olaf, ich gehöre dir … Du hast mich gesund gemacht, und …“

Ich spürte den Durst dieser Lippen, die sich mir sehnsüchtig darboten … und … doch nur redeten … redeten …

„… Ich werde mich von Arthur trennen, Olaf … Auch er war mir nur Freund, Olaf …“

In diesem Augenblick war Arthur Scannon für mich nur noch ein wesenloses Phantom. Und als ich Ingrid küßte, hatte ich noch den anderen Gedanken als Schild gegen mein Gewissen: Vielleicht siehst du sie lebend nicht wieder! – Der Gang, der meiner wartete, konnte ein Todespfad werden, und letzten Endes handelte es sich doch auch um Scannons Befreiung dabei.

Ingrids Kopf ruhte an meiner Brust, Ingrids Augen waren glänzende Sterne in einem zart rosigen Gesicht, das die Morgensonne des Glücks zu streicheln schien. Ich hatte nie geglaubt, daß ich nach meiner Jane, deren meerumspültes Grab zugleich das große Wunder der Insel Malmotta, der vergehenden und wieder erscheinenden, in sich birgt, je ein Weib finden könnte, zu der mich die Allmacht der Sehnsucht der Geschlechter so kraftvoll, so hemmungslos hinzöge wie jetzt zu Ingrid. Aber gerade die einsame Wildnis mit ihren vielfachen Schönheiten und die Gefahren dieser Wildnis und das Abenteuerliche starken Erlebens, das uns das Blut verjüngt und uns zu freien, natürlichen Menschen inmitten einer freien Natur werden läßt, fördert den seelischen Gleichklang zwischen Weib und Mann und gibt der Liebe das zauberhafte, stille, märchenhafte Glühen, jener weltfernen Bergseen, die den Glanz des Abendrots köstlich widerspiegeln.

„… Wohin gehst du, Olaf?“

„Meinen Weg, Ingrid …“

Sie fragte nicht weiter.

„Ich weiß, daß du zurückkehren wirst,“ meinte sie nur … „Gib auf den treuen Men acht, Liebster … – Lebe wohl …“

Im Flur standen dicht an der Gewölbetreppe einer der Lekhos mit einem Korbe und Helga, die Büchse im Arm.

„Warten wir auf Tubelis ersten Schuß,“ sagte die Herrin mit abgewandtem Gesicht …

Ich trat vor und lugte um die Ecke des Säulenkolosses. Drüben die Westwand war starr und stumm. Dann rollte der Donner des Schusses durch den Bergkessel, weckte das vielfache Echo und verhallte: Die Granate war durch die Spalte in die unbekannten Räume hineingesaust. Nur ein schwacher ferner Knall zeigte die Explosion des Geschosses an.

Wir drei brachen auf, unbehelligt gingen wir am Strande entlang, ich hatte Men wieder an der Leine, und – – der zweite Donner grollte und verhallte …

Keine Kugel störte uns. Die Sonne stand über uns am lichtblauen Himmel, nur winzige Wölkchen schwebten wie Flocken durch dieses grenzenlose, sonnendurchtränkte Nichts, verstörte, verschüchterte Tauben, die in den Uferbäumen nisteten und den Lärm des kleinen Geschützes mit Schrecken vernommen, flatterten beunruhigt hin und her, wippten auf schwankenden Astspitzen, erhoben sich wieder in die Luft und kreisten in pfeilschnellem Dahingleiten um ihre Brutstätten. Stolz und massig ragten Bergwände, Felsspitzen und steile schmale Grate in das lichte Blau, gerändert von dem Scheinviolett des unvollkommenen menschlichen Auges, darüber standen stolz und steif ein paar Riesenzedern, hochmütig sich reckend über das kleinere Wölkchen der harzreichen Kiefern. Vereinzelte Kampferbäume suchten auch hier dem spröden Boden die Nahrung abzuringen, aber sie blieben Zwerge, Kümmerlinge, denn ihre Heimat ist der Urwald mit metertiefen Humusschichten und der Fruchtbarkeit, die aus der Verwesung aufkeimt[9].

Keine Kugel störte uns. Der schmalhüftige Malaie[10] hatte den Giftkorb umsonst geschleppt. Ich kroch mit Men von der Seite hin zur Felsspalte heran, Men schnupperte und schnupperte, nieste und benahm sich sehr gleichgültig.

Dann kletterte ich in der unten so schmalen Spalte empor, bis ich mich hindurchdrängen konnte und ich halb eingeklemmt die Szenerie hinter der Steilwand betrachtete.

Es war keine Höhle. Diese Westwand an dieser Stelle war nur eine Felsenmauer, kaum drei Meter dick, vierzig Meter lang, – dahinter lag ein Tal, und jenseits dieses grünen Tales stiegen die Berge erneut in langen Terrassen empor.

Men Huleb hatte sich längst mit frecher geschickter Hand die Schlinge der Leine abgestreift und untersuchte das Tal auf eigene Faust. Es gab da Büsche, Farnbäume, ein sumpfiges Wasserloch und manches andere, was seine Affennatur reizen konnte.

Ich kletterte abwärts, nachdem ich Helga durch Zuruf verständigt hatte, und stand nun vor der Spalte der gewaltigen Naturmauer. Der Boden zeigte Blutspuren, am Gestein klebte ein blutiger Haarschopf, – – Tubelis Granaten hatten offenbar einiges Unheil angerichtet.

Aber in dem Tale war kein lebendes Wesen außer Men und mir. Eine leicht erkennbare Fährte lief nach Süden bergan, anscheinend waren es fünf Leute gewesen. Drei davon mit derben Stiefeln mit genagelten Absätzen, also Europäer. Die Fährte war absichtlich verwischt worden, doch so ungeschickt, daß ein Neuling sie hätte bemerken müssen. Sie führte zu einer Art Engpaß, einem tiefen dunklen Abgrund, und setzte sich an der westlichen Wand auf schmalem Grat weiter fort.

Mit einem Male war Helga Goßli hinter mir. „Kehren wir um, Olaf … Ich kenne den Paß flüchtig. Ich bin ihm nie gefolgt, da es nur ein Ziegenpfad zu sein schien. Er mündet irgendwo in der Nähe meines Tales … Es genügt, daß wir die Spalte verrammeln können. Bevor Ingrid nicht völlig bei Kräften ist, sind wir an die Burg gefesselt. Nachher wollen wir dann energischer vorgehen.“

Sie hatte wohl recht. Wir mußten zusammenbleiben.

Tubeli kam ebenfalls, und er und sein Stammesgenosse verschlossen die Spalte von der Seeseite aus durch Steine und Felsteile. Sie war vorher ebenfalls versperrt gewesen, wie drüben das Steinmaterial bewies, das verstreut umherlag.

„Es war Parker,“ sagte der stille Tubeli sehr bestimmt. „Seine Stiefel sind lang und schmal … Seine Spur ist unverkennbar.“

Helga Goßli, Men und ich kehrten zur Burg zurück. – Der Tag verging ohne wichtigere Vorfälle. Ingrid schlief nachmittags am Strande, und ich las ihr nachher aus einem Buche vor, das mir Helga gegeben hatte. Die Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam ein, es waren jedoch keine frohen Stunden, fand ich, die beiden Frauen schienen bedrückt, wenn wir alle beisammen waren, und der Verdacht, daß sie mir manches doch noch vorenthalten hatten, ward bei mir zu enttäuschender Gewißheit.

Jetzt bin ich mit Men allein in meinem Gemach. Vor der Fensteröffnung hängt eine Decke, der Tisch könnte fester sein, aber Tubelis Schreinerkünste sind eben nicht weit her. Eine kleine Petroleumlampe brennt mit rötlichem Schein und stinkt mit beleidigender Schärfe, die Feder kratzt, aber es ist meine letzte und sie wird morgen auf Tubelis Wetzstein frisch hergerichtet werden.

Seltsame Umwelt wieder … Noch vor Wochen war mir Formosa nichts als ein Name ohne Inhalt. Heute ist mir Formosa Erlebnis. Heute kenne ich seine Urwälder, Bergzüge, seine Flüsse und seine Urbewohner – – Piraten! Kein Land für schwache Nerven, kein Land für Menschen, die ohne Kursbuch und gedruckten Reiseführer und Schrankkoffer hilflos sind. Noch immer die Insel der blutigen Erinnerungen … Tubeli erzählte mir vorhin von seinen Jugendjahren, und ich sah ihn verträumt lächeln, als er über die nächtlichen Kopfjagden berichtete. Zweifellos waren die Indianer Nordamerikas weit grausamer, zweifellos sind all diese blutigen Scheußlichkeiten der Naturvölker aber auch eine radikale Auslese gewesen, ein haarscharfes Sieb, das die Schwächlinge vernichteten und nur die Starken am Leben ließ. –

Men Huleb rekelte sich drüben auf dem Bettrand. – Wenn ich „Bett“ sage, meine ich einen Kasten aus Holz mit Verzierungen aus knorrigen Ästen nach Tubelis Geschmack. Men findet den einen Ast vortrefflich und hockt dort wie ein böser Gnom und blinzelt mich zuweilen an. Ich weiß, was er heimlich möchte: Hinausschlüpfen und Ingrid besuchen und zu Ingrids Füßen sich zusammenrollen, der treulose Genießer.

In der Burg regt sich nichts. Tubeli steht in der Schlucht vor seiner Pulverfalle als Wache, und ein zweiter der braunen Freunde patrouilliert um den See herum. Nachher werde ich Tubeli ablösen. So ist es ausgemacht. – Wir haben Mondschein, und ein gelinder Wind stößt durch die Taleinschnitte bis in diesen Bergkessel hinab und bläht die Decke vor dem Fenster, daß sie zuweilen klatschend flattert. Es ist kühl, und von der vielverschrienen Tropenhitze spürt man nur am Tage etwas. Helga Goßli meint, wir könnten hier vielleicht in 1600 Meter Höhe uns befinden.

Merkwürdig, wie schnell die beiden Frauen sich angefreundet haben, – mir scheint, sie sind in vielem besser unterrichtet als ich und hüten irgendein gemeinsames Geheimnis. Mir wieder will der „Sessel“ der Goßli nicht aus dem Kopf. Ich grübele immer aufs neue über diesen einen gänzlich dunklen Punkt. Parker soll den „Sessel“ suchen?! So deutete Tubeli an. Das klingt, als wäre der Sessel irgendein Prunkstück aus gediegenem Golde. Aber das ist natürlich Unsinn. Es kann sich nur um einen Natursessel handeln, wahrscheinlich um jene Terrasse an der Steilwand der Insel im Biba-Schoni-See, – jene Insel, die eine Bergspitze ist, abgerutscht durch ein Erdbeben.

… Ich bin müde …

Soeben war ich eingenickt. Meine Zigarre ist erloschen, und ein Blick auf meine Uhr zeigt mir, daß ich aufbrechen muß, Tubeli abzulösen. Men darf nicht mit. Die enge Schlucht ist eingepudert, und der Puder ist Gift.

Armer Men, ich werde dir einen festen Lederriemen um den Hals tun, du wirst empört sein, – es geht nicht anders. Ich werde dich streicheln, und deine Klugheit wird dir sagen, daß in der Schlucht für dich, der alles beschnuppert, der Tod lauert. Zwei Zigarren nehme ich mit, und Tubeli hat mir außerdem eine Pfeife geschnitzt, mit einem Kopf, der einen Leopard vorstellen soll. Es kann auch ein Stachelschwein sein, lieber Tubeli … Ich will nicht zu hart kritisieren, denn die Pfeife ist an sich gut.

Ich breche auf. – –

– –

Und jetzt sitze ich, den Kopf in die Hand gestützt, und lese die letzten Seiten …

Men ist tot.

Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich denke immer, seine schwarze Hand müßte wie einst behutsam die meine streicheln, und seine Mähne mein Kinn kitzeln und seine Hundsschnauze sich an meine Wange schmiegen …

Ich denke …

Es müßte …

Aber Men ist tot.

Drunten im Süden auf den Resten der Insel Malmotta ruht zusammen mit Jane der kleine Fennek, der mir fast ein Jahr Gefährte blieb, ein Wüstenfüchslein, ein gelber flinker Haarball mit Fledermausohren und spitzem Schnäuzchen. – Überlege ich es mir recht, so war mir Men Huleb doch mehr, Affen sind klüger, Affen haben jedoch so viel menschliche Eigentümlichkeiten.

Men starb für mich, und der spindeldürre Mr. Parker starb durch Tubeli. Es war eine Nacht, in der der Mond sein Antlitz hätte verhüllen müssen vor so viel Niedertracht und Gemeinheit.

Wie ich damals Men festgebunden und den Knoten doppelt und dreifach geschlungen hatte, damit er sich nicht selbst befreie, – wie ich ihn endlich beruhigt hatte und er schließlich zusammengekauert auf meinem Bett lag und ich die Lampe löschte, und hinausschlich, da hörte ich noch bis zur Treppe sein melancholisches Grunzen …

Nie wieder hörte ich es.

Ich hatte mir eine Wolldecke umgelegt, unten am Strande traf ich den Wachtposten, der See schillerte wie eine silberne Platte, die Berge schwammen im Dämmer der Mondnacht, und der Lekhoan meldete mir freundlich:

„Tuwan, es ist alles still …“

Ich schritt weiter, klomm zu der Schlucht empor, stieg abwärts in diese trübe Dunkelheit und tastete mich langsam vorwärts. Der Mond beleuchtete nur den Oberrand der südlichen Schluchtwand, und dieser schmale helle Streifen oder das Licht der Sterne genügten kaum, den Boden des engen Schlundes mit all seinen Unebenheiten zu erkennen. Es war ein mühseliges Tappen und Stolpern. Tubeli hatte mich gewarnt, keine Laterne zu benutzen, denn dieser Zugang zum See würde bestimmt beobachtet. Nach einer halben Stunde gelangte ich an die einzige breitere Stelle, und hier hatten die Lekhoan quer über den Boden der Schlucht einen Dornenverhau angelegt, vor dem sich unmittelbar die gefährliche Steinplatte befand, dahinter aber auf einem einzelnen Felsblock eine sehr praktische Beleuchtungsvorrichtung, die den Vorteil bot, ihre Strahlen nur nach vorwärts zu werfen: Drei Steinplatten aneinandergelegt, ein offenes Viereck, in dem ein Reisigfeuer brannte.

Tubeli lehnte stehend an der Nordwand hinter einem zackigen Vorsprung, eine Büchse im Arm, eine zweite lag in einer Felsspalte griffbereit. In seiner dunklen Wolldecke hob er sich kaum von der Umgebung ab. Seine scharfen Ohren hatten mein Nahen längst vernommen, er wandte nur flüchtig den Kopf …

„Vorsicht, Tuwan … Sie sind draußen, – ich werde bei dir bleiben …“

„Das wirst du nicht! Du brauchst den Schlaf, ich bin das Wachen mehr gewöhnt, Tubeli. – Ist genug Brennmaterial vorhanden?“

„Übergenug, Tuwan … Halte dich jedoch im Schatten, wenn du Reisig nachwirfst … Zweimal kam ein Pfeil geflogen …“

Ich drückte mich neben ihn.

„Der Platz hier ist gut, Tubeli.“ Ich konnte jenseits der Dornen die Schlucht bis zur nächsten Krümmung bequem überblicken. – Was hinter der Biegung steckte, – es waren zwanzig Meter bis dorthin, und eine Remingtonbüchse und zwei Repetierpistolen und einen Dornenwall, – – da hätten sie schon zu Dutzenden vorstürmen müssen, und einer hätte den anderen behindert, es wäre ein Blutbad ohne viel Risiko für mich geworden, denn[11] auch von oben war mir nicht beizukommen, die Schlucht verengerte sich nach oben zu, und die Wände waren glatt wie Mauern.

„Geh nun, Tubeli,“ sagte ich befehlend. „Nur eins noch: Wie viel zahme Leoparden besitzt dein Stamm?“

„Zehn, Tuwan … Sie sind nicht zu fürchten, das Gift liegt bis weit hinter jener Biegung. Es hat inzwischen nicht geregnet, und kein Leopard käme hier ein paar Schritt weit … – Ich gehe, Tuwan.“

Er warf noch dicke Äste in das Feuer, die Glut lohte höher empor, dann glitt er gebückt davon, und ich war allein. Ich band mir die Decke bequemer fest, damit ich die Hände völlig frei hatte, ich legte die Pistolen neben die Büchse in die flache Spalte, nahm eine Zigarre heraus und rieb das Feuerzeug an.

Sitt … t … t – – klatscht …

Das war die Quittung, – ein Pfeil, tadellos gezielt …

Die Spitze hatte den linken Ärmel am Ellenbogen durchbohrt …

Unter halb zugekniffenen Lidern spähte ich nach dem Schützen aus. Er mußte unbedingt nicht hinter der Biegung stecken, sondern vielleicht dort hinter dem Strauche an der Südwand. Ich zog den Pfeil heraus, warf ihn beiseite und beobachtete jenen in einer Felsritze wuchernden Strauch, der seine gelben Blüten an knorrigen Ästen herabhängen ließ. Zunächst bemerkte ich nichts, es erschien unmöglich, daß dort anderthalb Meter über dem Schluchtboden hinter dem kleinen Gestrüpp ein Feind sich eingenistet haben könnte. Der Mann mußte doch beide Hände frei haben, um einen Bogen zu bedienen, konnte sich also auch nicht irgendwie festklammern. Und doch war ich überzeugt, daß irgendein abtrünniger Lekho von dorther Schießversuche unternahm. Das Aufblitzen meines Feuerzeugs hatte ihm zum Zielen genügt, – der Kerl verstand sein Handwerk …

Ich auch …

Ich bückte mich, tastete nach einem handlichen Stein, wartete, bis das Feuer wieder besonders hell aufflammte und schleuderte den Stein mit voller Kraft in das Gestrüpp.

Der Bursche mußte meinen Schatten doch bemerkt haben, – sein zweiter Pfeilschuß und mein Stein machten einander Konkurrenz, das lange Ding sauste unschädlich hinter mir an den Felsen, der Stein aber entlockte dem armen Teufel einen grellen Schrei, – eine Gestalt flitzte hinter dem Gestrüpp herab und rannte, die rechte Hand gegen den Mund gepreßt, in langen Sätzen hinter die Biegung.

Armer Teufel, – sein Gebiß war entschieden in Unordnung geraten, und ein Zahnarzt hätte auch an ihm reichlich Arbeit gehabt. –

Den war ich also los.

In aller Gemütsruhe versorgte ich meine Zigarre, – halb belustigt rief ich den Kerlen hinüber:

„Unterlaßt die nutzlose Schießerei! Schämt euch überhaupt, daß ihr eurer Herrin untreu geworden seid …!“

Die Antwort?

… Hinter der Krümmung erschien ein Ast mit einem weißen Taschentuch als Parlamentärflagge, und eine schrille Stimme brüllte dazu:

„Ich möchte mit Ihnen verhandeln, Mr. Abelsen … Hier ist Professor Doktor Parker …“

Professor … Doktor …!!

Der Himmel mochte wissen, wo der Schuft die Titel in U. S. A. gekauft hatte!

„Hohe Ehre, – kommen Sie nur … Aber nur bis auf zehn Meter an die Dornen heran.“

„Sofort, Mr. Abelsen …“

Da sah ich ihn denn … Ein mageres Knochengestell mit einer Gelehrtenbrille, ein Totenschädel mit breitem Unterkiefer.

Auch er hatte eine Wolldecke umgehängt … Er kam sehr langsam und breitbeinig näher, blieb stehen und rauchte gemütsruhig eine Zigarette, warf sie weg, stemmte die Hände in die Seiten und meinte:

„Zehntausend Dollar, wenn Sie uns die Frau ausliefern!“

Das war kurz und bündig, aber unklar.

„Welche Frau?“

„Die Goßli natürlich …“

„Natürlich, – ich hätte es mir denken können. – Aber der Preis ist zu billig, Mr. Parker …“

„Zwanzigtausend,“ rief er schnell …

Der Schuft war bemitleidenswert dumm.

„Noch zu billig …!! Wenn ich mich schon mit Ihnen auf die gleiche Stufe stellen soll, Sie Lump, so kostet das … Bleikugeln!“

Breitbeinig, grinsend stand er da – etwa wie ein schäbiger Bandit mit seiner großen Wolldecke, die bei den abgespreizten Armen wie Fledermausflügel wirkte.

Er hüstelte … „Hm, überlegen Sie sich die Sache, mein Lieber …! Ich biete Ihnen großmütig eine Chance, sich zu retten.“

„Sie sind verrückt!“ sagte ich grimmig, „Scheren Sie sich weg! Der Sessel der Goßli wird Ihnen eine saure Traube bleiben! Verschwinden Sie!“

Wie infam schlau die Kerle diese Sache inszeniert hatten, sollte ich erst zu spät bemerken. Nachher wunderte ich mich selbst, daß ich mich derart hatte bluffen lassen.

Parker hüstelte abermals.

„Mr. Abelsen, einen Mann wie Sie könnte ich brauchen … Auf den Lump, den Gripu, ist kein Verlaß … Er weiß nicht, woher das Gold stammt, – es ist kein Körnergold, sondern ganze Stücke … – Ich gebe Ihnen noch eine Minute Bedenkzeit und betone, daß Sie nachher ein toter Mann sein werden, falls Sie nicht …“

„… Verschwinden Sie, oder ich knalle Sie wie einen tollen Hund nieder!“ – mir war es ernst damit, selten hat mir eine so ungeheure Empörung das Blut zu Kopfe getrieben wie damals. Wofür hielt dieser Jämmerling mich?! Er mußte doch von Gripu wissen, daß ich für derartige Geschäfte nicht zu haben war!

Ich hob die Büchse …

Zum Glück …

Denn jetzt erschien hinter Parkers Kopf ein zweiter …

Ein Arm schob sich über Parkers Schulter, ein Pistolenschuß knallte, – die Wolldecke war nur der Wandschirm für den zweiten Schuft gewesen, der Parker im Rücken hing und jetzt auf mich feuerte …

Ich verspürte einen harten Schlag gegen die Stirn, – mir verschwamm[12] alles vor den Augen, – ich sah irgend etwas an mir vorüber über den Dornverhau springen, hörte unklar ein wütendes Heulen …

Dann schwanden die Nebel, – ich erkannte Men Huleb, der an Parkers Brust hing, ich hörte einen zweiten Schuß, – Huleb flog zur Seite, und Parker und drei andere Kerle stürmten vorwärts …

Ein ungeheurer Knall, – ich hatte mich gerade noch rechtzeitig flach zu Boden fallen lassen … ich griff nach der zweiten Büchse … Der Dornenverhau wurde weggefegt, eine Feuergarbe schoß empor, Menschenleiber wirbelten durch die Luft, unser Scheinwerfer flog auseinander, brennende Scheite fielen auf den Reisighaufen, neue Glut flackerte hoch, und mit hohlem Krachen schlug die Felsplatte, unter der das Pulver explodiert war, drüben gegen die Wand der Schlucht … Jämmerliche Schreie, Stöhnen, Brüllen, – – und dann neben mir Tubeli, sanft lächelnd, im Knien abdrückend …

Peng … peng … peng …

Tubeli hatte gründlich aufgeräumt, – nicht ein Ton war mehr zu hören, still lagen drüben vier Tote …

Und still schleppte sich jetzt ein sterbendes winselndes Tier auf mich zu …

Hinter ihm her zog sich eine rote dünne Furche.

„Men …!!“ schrie ich wie von Sinnen. „Men …!!“

Schwer fiel sein Kopf gegen meine Wange …

Men war tot.

 

9. Kapitel.

Die steile Rinne.

… Ich fühlte, wie seine Arme, die mich hatten umfangen wollen, herabsanken, wie sein Leib schlaff wurde, und als ich seinen Kopf zurückbog, schaute ich ein Paar gebrochene Augen, die nie wieder mich anblicken würden … –

Tubeli schob bereits geschäftig die Dornen wieder zusammen, brachte den Scheinwerfer in Ordnung, kümmerte sich nicht um uns …

Und Men war doch tot.

Was war Men dem Malaien?! Nichts.

Was war er mir?

So viel, so unendlich viel, daß ich mich wie betäubt niedersetzte und den schlaffen Körper mir in den Schoß legte und ohne Gedanken die Mähne streichelte …

Aus Mens Brustwunde rann mir das letzte Blut über Rock und Hosen, meine Finger waren blutig, – ich hatte für nichts Gedanken, ich dachte an nichts …

Nur ein Tier!!

Nur?!

Wirklich nur ein Tier?!

Treue, Hingabe, Opferfreudigkeit ohne Selbstsucht, – nur das Tier schenkt sie uns!

Menschen?! – Freunde versagen im Augenblick der Not, Verwandte verleugnen dich, der eigene Bruder stößt dich von sich, – vielleicht erfährst du noch Schlimmeres als das! In jedem Menschen steckt der schamlose Egoist, – es ist die Erbsünde, die uns im Blute gährt, es ist das Gift des Teufels, der uns alle allzeit halb in den Krallen hat!

Erst ich, – – dann nochmals ich, dann erst der liebe Nächste! – Wahlspruch aller! – Ausnahmen?! Vielleicht findest du sie irgendwo unter denen, die die Faust des Schicksals spürten, daß ihnen das Haar davon bleichte. Unter denen, die mit sattem Lächeln und dem frechen Hochmut der Besitzenden dem zerlumpten Bettler im Bogen ausweichen, – da findest du die Ausnahmen nie!

Aber ein Tier, – nimm dir den ruppigsten Köter, den du lieb behandeltest – er gibt deiner Seele mehr als die schamlose Meute menschlicher Bestien, die in Frack und Seide „Wohltätigkeit üben“ – wie sie es nennen.

– – Men war tot.

Tubeli stand vor uns.

Dieser wilde Nachkömmling blutgieriger Piraten fühlte nun wohl, wie es in mir ausschaute.

„Tuwan,“ sagte er leise, „ich werde dir einen jungen Leopard schenken … Und morgen wasche ich deinen Anzug, Tuwan. – Es war ein kluges Tier, unser Men Huleb … Sei nicht traurig, ich schenke dir einen Leopard …“

Das war sein Trost, – gut gemeint, aus redlichem Herzen kommend. – –

Gleich darauf erschien Helga Goßli bei uns. Die Schüsse hatten sie herbeigelockt, und als sie nun den toten Men in meinem Schoße erblickte, kniete sie nieder und legte mir die eine Hand auf die Schulter und die andere auf Mens lange Schnauze …

„Olaf, wie trostlos wird Ingrid sein …!“ sagte sie mit ganz fremder Stimme. „Wir müssen es ihr sehr vorsichtig mitteilen … Sie schläft zum Glück und hat nichts gehört …“

Ich glaube, Helga hatte die Augen voll Tränen.

Ingrid! – Ja, Ingrid würde besinnungslos schluchzen, – Ingrid hatte mein Tier geliebt wie ich.

Der Gedanke brachte mich zur Besinnung. Ich legte Men auf meine Wolldecke, – wie kläglich schlaff waren seine muskelstrotzenden Hinterbeine, wie glanzlos die Augen schon …

Tubeli tauchte wieder auf.

„Es ist niemand mehr in der Schlucht, Herrin. Was soll mit den Leichen geschehen?“

Er hatte die Waffen der Toten gesammelt und hielt mir eine Brieftasche hin.

„Das fand ich bei Parker … Tuwan, es ist ein Bild von Tuwan Scannon darin …“

Eine Frauenhand griff schnell zu.

„Ich werde Ingrid die Brieftasche geben,“ sagte Helga Goßli merklich verlegen. „Wir haben kein Recht, seine Papiere zu durchsuchen. – Die Toten könnt ihr morgen irgendwo einscharren, Tubeli. – Kommen Sie, Olaf … Ihre Beule an der Stirn muß gesäubert werden. Die Haut ist aufgeplatzt, und … – kommen Sie … Wir tragen den armen Men. Tubeli mag hier wachen, es wird ja doch kein neuer Angriff erfolgen …“

Sie war seltsam fahrig und wich meinen Blicken aus. Die Brieftasche hatte sie vorn in ihren Jagdrock geschoben, – weshalb war sie so rasch bei der Hand gewesen, mich nichts von dem Inhalt sehen zu lassen?!

„Sie kommen doch, Olaf!!“

Und dann trugen wir Men zwischen uns in der Decke heimwärts zur Burg. Helga hatte eine Laterne angezündet, wir gingen rasch und bedrückt und still – wie Fremde, die nicht recht wissen, was sie miteinander sprechen könnten.

Aber ich ahnte, daß nur Arthur Scannons Brieftasche daran schuld war und daß unser trauriger Heimweg anders verlaufen wäre, wenn nicht in dieser Ledertasche Geheimnisse geschlummert hätten, die mir vorenthalten werden sollten.

Wir brachten Men in mein Gemach, und Helga half mir, ihm ein würdiges letztes Lager bereiten. Sie tat es ganz von selbst, und ich war ihr dankbar dafür, – sie holte ein Stück hellen Stoffes, und sie formte daraus ein Kissen, auf dem Men nun mit angezogenen Beinen auf der Seite ruhte, als ob er nur schliefe. Ich hatte ihm die Mähne gesäubert und ihm die Augenlider zugedrückt, – ich wußte, wie entstellt Mensch und Tier aussehen, wenn die Pupillen schrumpfen und einfallen. Besser, man sieht es nie.

– Nun bin ich wieder allein mit Men …

Vor drei Stunden lebte er noch. Dort liegt er, das Gesicht mir zugekehrt, und morgen … morgen wird er hier irgendwo sein Grab finden, – dann erst habe ich ihn ganz verloren.

Meine Gedanken gleiten zurück …

In einem Holzkäfig auf Janes weißer Jacht fand ich ihn vor Monaten, halb verhungert, halb verkommen, zerfressen von eigenem Unrat – – auf dem Meutererschiff, in der Lagune von Malmotta, wo die Palmen rauschten und in der klaren grünen Tiefe die Haie hin und her schossen und den Schurken Malcolm fraßen, der den jungen Mantelpavian so grausam eingesperrt hielt.

Monate …

Blickt man zurück über die bunte Perlenschnur des Erlebten, gewinnt jede einzelne Perle frischen Glanz, und Tote und Lebende umdrängen uns und raunen uns ihre Erinnerungen zu, die doch nur mit die unseren sind.

Mein kleiner Fennek fand in Men einen Nachfolger, und selbst Jane ist nur ein liebes, teures, verblaßtes Bild an[13] wunderholde Tage des Glücks auf Malmotta, – auch Jane fand ihre Rivalin …

Die Lebenden triumphierten über die Toten, und – das muß wohl so sein, denn das ganze Leben ist Bewegung, nie Stillstand.

Und doch bleibt eins bestehen: Wer erst einmal Mensch oder Tier oder Mensch und Tier geliebt hat – so, wie ich Jane und Fennek liebte, hat nur noch einen Teil seines Ichs aufs neue zu verschenken, nie mehr sich selbst als Ganzes. Die Toten fordern ihr Recht, und dieses Recht heißt: Nicht vergessen werden!

In dieser Minute fühle ich es deutlicher denn je: Auch Ingrid wird mich nie ganz besitzen, – und wenn Tubeli, der sanft lächelnd Sterbenden Fangschüsse gibt, mir wirklich einen jungen Leopard verschafft, den ich mir zähmen könnte, – in mir leben die Geister derer, denen ich Dankbarkeit bewahre, und deshalb wird alles, was folgt, nur Halbheit werden.

Ich schaue zu Men herab und nicke ihm zu …

Die Zigarre schmeckt nicht …

Mich fröstelt’s …

Ich werde zu schlafen versuchen …

Vergessen – für Stunden …

Der Türvorhang rauscht …

„Ingrid, du …?!“

– – Ingrid Scannon konnte kaum einen ungünstigeren Moment für ihren Nachtbesuch gewählt haben. Die Erinnerungen und Erwägungen, die mich soeben beschäftigt hatten, waren nicht dazu angetan gewesen, die zarte Frau mit dem wundervollen Kupferhaar, die sich in einen dunklen Regenmantel gehüllt hatte, als willkommenen Gast auftauchen zu lassen. Hinzu kam noch die weitere Peinlichkeit, ihr den Tod Mens behutsam beibringen zu müssen, – kurz, meine ganze Stimmung war mehr auf Alleinsein eingestellt, und das erste, das ich tat, war ein schneller Griff nach der Lampe, die ich so drehte, daß Mens Totenlager im Halbdunkel fast verschwand.

Frauen haben einen sehr feinen Instinkt für den Seelenzustand des Mannes, den sie für sich erobern möchten. Ingrid blieb in der Tür stehen und schaute mich forschend an.

„Verzeih’ die Störung, Olaf … Aber ich hörte Helga nebenan kläglich schluchzen, und als ich zu ihr hinüberhuschte, wies sie mich ungeahnt schroff wieder fort. Deshalb wollte ich dich fragen, ob irgend etwas Besonderes sich ereignet hat …“

Sie schwieg, fügte aber sogleich hinzu:

„Es hat sich etwas ereignet … Du hast eine verbundene Stirn … Du bist verwundet …“

Sie wurde verwirrt, ihre Augen forschten noch banger in meinen Zügen, und sie ward plötzlich rot und verlegen und stammelte: „Ich glaubte, du würdest dich nicht daran stoßen, daß ich dich auch zu dieser Stunde aufsuche … Nach dem, was du für mich getan hast, Olaf, dürfte es doch zwischen uns so kleinliche Prüderie nicht mehr geben …“

Ihre Wimpern wurden feucht, und langsam wandte sie sich um und wollte mich ohne weiteren Gruß beschämt verlassen.

Ich war mit zwei Schritten neben ihr und zog sie sanft an mich. Ihre körperliche Nähe tat mir wohl, und in meiner seelischen Zerrissenheit fühlte ich abermals, wie sehr eine Frau uns beste Trösterin und Gefährtin in kritischen Stunden werden kann.

Ich folgte ungehemmt dem großen nagenden Schmerz, als ich sie noch fester an mich drückte und verzweifelt rief: „Ingrid, Men ist tot!“

Da begriff sie alles, – wenn nicht alles, so doch das eine: Ich hatte sie von meinem toten vierhändigen Freunde fernhalten wollen, um sie selbst zu schonen!

Ihre Arme umschlangen mich jäh, und ihr Mund suchte den meinen zu flüchtigem Kuß …

„Du … Ärmster!“ sagte sie still, und ich merkte, welch’ ungeheure Anstrengung es sie kostete, die Tränen zurückzudrängen. Sie wollte tapfer sein meinetwegen, sie wollte mir den Verlust Mens nicht dadurch verdoppeln, daß sie sich zügellos ihrem Schmerze hingab. Also war sie doch groß in ihrer Art, hinausgewachsen über den Durchschnitt der Frauen, dabei feinfühlig und offenbar selbstlos.

In diesen Minuten, als Ingrid Scannon mich so umschlungen hielt und ihre weiche Stimme zum zweiten Male tröstend und liebreich flüsterte … „Du Ärmster …!“ eroberte sie sich für alle Zeiten gleich Jane einen Platz in meinem Herzen.

Gewiß, nachher kniete sie neben Men Hulebs letzter Lagerstatt, und ihre Tränen rannen wie Bächlein, und unsere Rollen waren vertauscht, ich spielte den Tröster, ich erhob Mens kleinen Heldentod in meiner Schilderung der Vorgänge in der Schlucht zu übertriebenem Heroismus. Mir war das Herz übervoll, und ich fand nicht genug der Worte, seinen Angriff auf Parker als meine Rettung hinzustellen. Vielleicht übertrieb ich … Ich sah noch immer das Bild vor mir, wie der totwunde Men mit letzter Kraft sich zu mir hinschleppte, ich fühlte noch immer, wie das sterbende Tier in meinem Arm verschied und sein Kopf schwer gegen meine Wange fiel.

Ingrid verlangte von mir keine Zärtlichkeiten in jener Stunde. Es genügte ihr, daß ich ihr für diesen nächtlichen Besuch dankte, und leise entfernte sie sich wieder, nachdem ich ihr noch mitgeteilt hatte, daß Arthur Scannons Brieftasche sich in Helgas Besitz befände und daß Helgas Gemütszustand wahrscheinlich mit dieser Brieftasche zusammenhinge. Sie sagte nichts dazu, sie errötete flüchtig und ging.

Ich wieder dachte nun anders über das Geheimnis, das die beiden Frauen mir vorenthielten, – ich traute weder Ingrid noch Helga eine mir nachteilige oder mich herabsetzende Geheimniskrämerei zu. Sie mochten wohl gute Gründe haben, vorläufig zu schweigen. Ich strich diese Frage aus meinen Gedanken, es war so am besten.

Der neue Tag dämmerte herauf, und im Zwielicht der Morgenstunde schritt ich unten am Seeufer dahin und suchte nach einer Stelle, wo ich Men würdig zur letzten Ruhe betten wollte.

Ich verharrte an der Stelle des Ostufers unter den Bäumen, die mir Schutz geboten, als gestern die feigen Kugeln über den See getänzelt kamen und ich Ingrid emporgerissen und in Deckung gebracht hatte. Zwischen den Kiefern hier, deren weiße Harzstreifen dicke Knollen bildeten, entdeckte ich dicht an der Steilwand ein tiefes steiniges Loch, umwuchert von blühenden Kindern tropischer Flora, überdacht von einem Vorsprung der Ufermauer. Hier sollte Men ruhen, hier hatte Ingrid mit Men ein letztes Mal im Übermut der Genesung gescherzt und gelacht und seine Mähne gezaust.

Dann umrundete ich den See, und die ersten Sonnenstrahlen glänzten auf den Spitzen der westlichen Bergkuppen, und langsam glitt die Lichtflut mit dem höher steigenden Tagesgestirn auch in den Seekessel hinab. Die Farbenpracht des Wassers leuchtete auf, das zärtliche Gurren der Wildtauben in den kleinen Waldstücken ward zum Chorgesang der Liebe, und der kraftvolle Schrei eines Adlers droben in den Klüften gemahnte an den ewigen Kampf in der Natur und vertrieb mir die müde Lässigkeit traurigen Gleichmuts. Mein Schritt belebte sich, ich kam zu der nun fest verkeilten Spalte der Ostwand, aus der Parker und Parkers Gesindel feige auf Ingrid gezielt hatten.

Prüfend betrachtete ich die Spalte, erkannte die Aufschläge der Granate im Gestein und merkte, daß diese Erinnerungen an Tubelis sichere Schüsse mein Blut rascher durch die Adern trieben und die Abenteurernatur und die Freude an buntem Erleben den Schmerz um Men auf ein meiner würdiges Maß beschränkten.

Ein Stein polterte von oben aus der Spalte herab, und mit langem Satz schmiegte ich mich an die Felswand und lockerte mißtrauisch die Pistole. Ich äugte empor, und eine schmale gelbbraune Hand fuhr oben durch ein Loch und bewegte sich wie grüßend, verschwand wieder, und eine leicht geziert klingende junge Stimme rief herab:

„Mr. Abelsen, hier ist Doktor Skiru Suul … Ich bin entflohen, aber Scannon befindet sich noch in den Händen der trunkenen Rotte. Könnten Sie mir nicht irgendwie helfen, zu Ihnen hinabzugelangen. Ich bemühe mich bereits eine Stunde, hier die Felsstücke zu lockern, und ich fürchte, meine Verfolger erreichen mich und knallen mich nieder, bevor ich in Sicherheit bin. An meinem Leben liegt ja nicht viel, Mr. Abelsen, immerhin lege ich einigen Wert darauf, wenigstens noch mitzuhelfen, gewisse Mißverständnisse aus der Welt zu räumen.“

Man hätte lachen müssen über Suuls gedrechselte Sätze … Dieser Jüngling war auch ein Typ für sich.

Ich winkte den Lekho-Wächter herbei, und nach kurzer Zeit half ich dem bebrillten Koreaner durch das Loch, das der Malaie dann wieder verkeilte.

Doktor Suul glich einem Strauchdieb. Sein Anzug war zerrissen, sein Gesicht zerschunden, dünne Bartstoppeln sproßten an dem spitzen Kinn, und sein schwarzes Haar war in schmählicher Unordnung.

Er verneigte sich dankend. Seine erste Frage galt Ingrid.

„Es geht ihr gut, Doktor. – Weshalb entführten Sie mir Frau Scannon aus meinem Adlerhorst?“

„Oh“ – er war verlegen – „Scannon wollte es so … Ich bin nicht befugt, hierüber mich zu äußern. Außerdem wäre es angebracht, Scannon baldigst zu befreien, da der Trunkenbold Gripu unberechenbar ist. Wenn wir sofort aufbrächen, fänden wir die Bande noch im Schlafe, – die fünf Verfolger dürften kaum ins Gewicht fallen, da es Leute sind, die mir noch immer Frau Goßli treu ergeben scheinen.“

„Kommen Sie …!“

In der Burg hielten wir mit Helga und Tubeli Kriegsrat. Suul wußte noch nichts von Parkers Ende, – er sagte nur: „Das vereinfacht die Sache wesentlich, denn Parker und Gripu haben offenbar seit langem insgeheim gemeinsame Sache gemacht. Parker schien auf Ihre Person großen Wert zu legen.“

Nach hastigem Frühstück wurde Men der Erde übergeben. Ingrid und ich taten’s, die anderen rüsteten derweil zum Aufbruch. Ich legte eine Felsplatte über das Grab, und Ingrid wand einen großen Kranz aus Tannen und Blumen.

Ich habe Mens Grab nicht wiedergesehen. Aber die Gräber unserer Lieben sind nur Stätten äußerer Trauer. Mens wahres Grab ist mein Herz, und das ist mehr als selbst Marmorstatuen und feierliche Grabinschriften. –

Als wir alle dann durch die freigelegte Spalte das Nachbartal betraten (für Ingrid war eine Tragbahre hergerichtet worden), fanden wir dort um ein kleines Feuer fünf Lekhoan hocken, alle in derben Leinenhosen, um den Oberkörper eine bunte Decke, alle gut bewaffnet, – stramme Burschen, die sofort demütig sich Helga näherten und mit ihr und Tubeli eifrig in ihrer Sprache redeten.

Helgas Gesicht umwölkte sich. Sie preßte die Lippen unfroh zusammen, und die Nachrichten, die sie von den Lekhos erhielt, mußten sie schwer enttäuscht haben. Sie sonderte sich von uns ab, blieb mit Tubeli stets weit voraus, und Ingrid schien mir in gleicher Weise verstimmt und verängstigt.

Es war ein Eilmarsch über schmale Pässe und durch finstere Schluchten, – nach drei Stunden gelangten wir an eine bewaldete Berglehne, und hier blieb Ingrid unter dem Schutze zweier Lekhos in einem Dornendickicht zurück. Wir anderen drangen im Walde weiter vor, eine volle Stunde mühseligen Kletterns brachte uns in die Nähe eines Wasserfalles, der donnernd in einer engen Schlucht verschwand.

Helga winkte mir, und kriechend näherten wir uns dem buschreichen Rande einer nach Osten abfallenden Talwand.

„Vorsicht, Olaf …“ mahnte sie. „Es ist mein Tal …!“

Ich schob den Kopf noch weiter vor und blickte hinab.

Tief unter mir sah ich das blühende Tal, sah Hütten, Steinhäuser, eingezäunte Felder, kahle Felspartien, einen blinkenden Bach, weidende Ziegen und Schweine, splitternackte Kinder, einzelne Frauen, die am Bache selbstgefertigte Gewebe reinigten.

Es war wie ein Blick auf ein fremdländisches Dorf, das aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut war.

Anderes fesselte mich mehr.

Rechts von uns bemerkte ich dicht an dem Wasserfall eine breite Gleitbahn, auf festen Pfählen bis ins Tal hinabführend, – nein, keine Gleitbahn, es war eine Wasserrinne aus drei dicken Planken, und das bewegliche Oberstück der Rinne dicht an dem stürzenden Fall war zur Zeit bei Seite geschoben. Die Rinne war leer.

„Damit wusch ich das Gold aus dem Gestein,“ meinte Helga gleichgültig. „Das Wasser schießt mit ungeheuerer Kraft herab, sobald man das obere Rinnenstück in[14] die richtige Lage bringt. Heute wollen wir die Rinne zu anderem Zweck benutzen. Wir werden in Sekunden unten im Tale sein, und Gripu und sein Anhang werden keine Zeit finden, sich zu verteidigen. Die meisten Lekhoan sind wieder zur Vernunft gekommen.“

Ich schaute sie fragend an. „Trotzdem sind Sie so verstimmt, Helga?!“

„Oh – das hängt mit anderen Dingen zusammen,“ wich sie mir aus.

Tubeli und einer der braunen Leute schleppten zwei Baumstücke herbei, an denen noch einige Äste wie Pflöcke sichtbar waren.

Sie trugen die Baumstücke bis zur Rinne, je drei Pflöcke lagen auf dem Rande der Rinne auf, vier senkrechte Pflöcke sollten zum Festhalten dienen.

Diese primitive Rutschbahn schien mir mehr für Akrobaten geeignet. Als wir jedoch erst Platz genommen hatten – Tubeli spielte auf unserem Baumstück den Bremser mit einem dicken Knüttel –, als die Talfahrt begann und wir pfeilschnell abwärts sausten, merkte ich, daß Helga und ihre Lekhos mit diesem Beförderungsmittel durchaus vertraut waren. Niemals verlor Tubeli die Gewalt über unseren Rutschwagen, und wir landeten unweit des Dorfes zwischen Bergen von Geröll und Sand so glatt, als hätten wir eine Seilbahn benutzt.

 

10. Kapitel.

Furchen der Seele.

Wir waren bemerkt worden. Weiber und Kinder flüchteten kreischend in die Hütten, – es galt flink zu handeln, wir liefen unter Suuls Führung einem vereinzelten Steinhause zu, vor dem friedlich vier Wachen, Büchsen im Arm, den tiefen Schlaf des Alkohols schliefen.

Scannon lag gefesselt auf einer Schütte Maisstroh. Als ich ihm die Stricke zerschnitt, konnte er sich zunächst kaum auf den Füßen halten. Er sah noch wüster als Doktor Suul aus. Das linke Auge war fast ganz zugeschwollen, die Kratzwunden im Gesicht eiterten, seine entblößte rechte Schulter zeigte Bißwunden, – die Schufte hätten ihn hier elend verrecken lassen.

Er drückte mir nur stumm die Hand.

„Haben Sie Brandy da, Olaf?“

Er trank die halbe Flasche leer. In seine Augen trat ein kaltes Glitzern.

„Ingrid?!“ fragte er kurz.

Das war nicht mehr der gemütliche, humorvolle Scannon …

„Lebt und ist gesund,“ erwiderte ich beklommen.

Schuldgefühl empfand ich.

Ein nadelscharfer Blick traf mich. Er reckte sich, sein Mischlingsgesicht bekam Farbe.

„Wie stehen Sie zu Ingrid, Olaf?“ – draußen knallten bereits Schüsse …

Wir waren allein, die anderen hatten leichtere Arbeit, – ich hätte lieber ein paar Kugeln pfeifen hören.

„Wir haben uns gern, Scannon,“ sagte ich rauh. „Ingrid gibt Sie auf …“

Er lachte, aber in seinen Augen funkelte der Übermut.

„Gratuliere, Freund Olaf! Es wird Zeit, die Maske fallen zu lassen … Ich heiße nicht Scannon … Ich bin Major Sakomo, Kommandeur des Ostdistrikts der Polizei.“

Er lachte wieder …

„Überrascht Sie das?!“

„Allerdings …“

„Ingrid ist meine Schwester. Unser Vater war Japaner, unsere Mutter Engländerin. Man schickte mich in besonderer Mission nach Formosa. Ingrid wollte mich durchaus begleiten, wir lieben uns sehr, Olaf, und Doktor Suul wieder ist mein Stationsarzt und war mit von der Partie gegen die Goßli, denn um diese Frau geht es, Olaf, ihr Treiben wurde uns unbequem, sie hat da sehr eigenmächtig drei Kerle befreit, die für den Strang reif waren, sie hat außerdem heimlich große Goldmengen exportiert, obwohl das verboten ist, sie hat Waffen eingeschmuggelt und sich hier in ihren Bergen allzu selbständig gemacht. Nur ein Verdacht unserseits war falsch: Die Parker-Expedition war eine Gaunerbande, – darüber rede ich mit Gripu noch! – Kommen Sie jetzt, die Schießerei flaut ab, ich hoffe, daß …“

Er wollte zur Tür.

„Halt, Sakomo … – Was gedenken Sie mit Helga Goßli zu tun?“

Seine Züge wurden steinern.

„Ich kenne nur meine Pflicht, Olaf … Die Frau wird bestraft werden, – wie, das mögen die Herren in Tokio entscheiden.“

„Bestraft?!“ Jetzt lachte ich ihm ins Gesicht. „Glauben Sie, dazu werde ich meine Hand bieten?! Niemals, Sakomo, niemals!! Sie sind nicht ganz ehrlich, fürchte ich … Sie kannten Helga Goßli längst, sie war in Tokio, und …“

„Leider!“ stieß er hervor …

„… und gestern nacht weinte sie … – Ihrer Brieftasche wegen, Sakomo! Tubeli nahm die Tasche dem toten Parker ab. Wollen Sie leugnen, daß zwischen Ihnen und Helga in Tokio Beziehungen bestanden haben, daß Sie dann nur deshalb hierher kamen, um …“

Sein verunstaltetes Gesicht wurde grau.

„Schweigen Sie …!!“ fuhr er mich an. „Ich werde tun, was ich für richtig halte, und …“

„Sie sind ein Narr, Sakomo! Sie befinden sich hier mit Suul allein einer ganzen Anzahl von erbitterten Feinden gegenüber! Wie denken Sie es sich, Helga Goßli hier zu verhaften?! Aus Ihnen spricht ein alter Haß, Sakomo, und Haß macht blind. Von mir haben Sie keine Unterstützung zu erwarten, und Ingrid und Helga sind wie Schwestern zueinander, Ingrid wird Sie ebensowenig verstehen wie ich, auch da haben Sie verspielt …! Kommen Sie zur Vernunft, Sakomo!“

Er blickte finster vor sich hin. „Es muß sein, Abelsen,“ sagte er ungeduldig. „Pflicht bleibt Pflicht …!“

„Und Redensart bleibt Redensart!“ Ich vertrat ihm den Weg. „Es fällt mir schwer, Ihnen zu drohen, Sakomo. Sie werden diese Steinhütte nicht verlassen – nicht eher, bis ich mir darüber Gewißheit verschafft habe, ob Helga Goßli dem Gesetz oder Ihrem Haß zum Opfer fallen soll. Das Schicksal hat mich oft genug in eine Richterrolle hineingedrängt – auch hier, – und das gedruckte Recht besagt mir nichts, ich urteile nach meinem eigenen Gewissen. Zwingen Sie mich nicht, Gewalt anzuwenden … Sie bleiben hier!“

Er hob langsam den Kopf. Um seine Mundwinkel zuckte es …

„Vielleicht …“ er nickte schwach, „vielleicht nehmen Sie mir eine peinliche Verantwortung ab, vielleicht ist Ihr Weg der richtige, Olaf … – Gut denn: Mein Wort, daß ich abwarten werde …! Aber begleiten muß ich Sie … Ich will mir den Genuß nicht entgehen lassen, Herrn Gripu baumeln zu sehen.“

Er streckte mir die Hand hin …

„Abgemacht?“

„Ja – einverstanden!“ –

Wir kamen zu spät. Gripu baumelte schon … Oder genauer ausgedrückt: Irgendein Lekho, der nie genannt wurde (sicherlich war es Tubeli mit dem sanften Lächeln), hatte Gripu mit einem Schwerthieb einen Kopf kürzer gemacht, und dieser Kopf steckte mitten im Dorfe vor dem großen Beratungshause auf einer Stange.

Was sonst noch von Gripus Anhängern Widerstand versucht hatte, war ebenso kurz und bündig erledigt worden, man hatte die Toten sogar bereits fortgeschleppt, und dieses braune Völkchen, spielerisch und leichtfertig wie die meisten Naturkinder, betrachtete den kurzen Kampf offenbar als angenehme Abwechslung und hatte ihn längst wieder vergessen. Jedenfalls traute ich meinen Augen kaum, als ich vor dem Gemeindehaus, das etwa einer grellbunt bemalten Scheune glich, deren Wände reihenweise gut gebleichte Ziegen-, Schweine- und Menschenschädel als Dekoration trugen, den kleinen Doktor Suul gemütlich auf einem zierlich geschnitzten Sessel sitzen und … rauchen sah. Über seinen Knien lag eine Winchesterbüchse, und um seine Beine krabbelten braune winzige Knirbse, während Männer und Weiber im Halbkreis umherstanden und Tubeli zuhörten, der ihnen offenbar eine grimme Standpauke hielt.

Unser Nahen ließ Tubelis Redefluß stocken, – er verneigte sich vor Major Sakomo und sagte hastig:

„Tuwan, gestatte, daß ich dich verbinde … Die Leoparden haben dich böse zugerichtet.“

Ganz so, wie ich Tubeli hier sprechen lasse, drückte er sich nicht aus, er beherrschte das Englische nur mäßig, seine außerordentliche Höflichkeit und Sanftmut glichen diese Mängel jedoch vollständig aus.

„Das überlasse nur dem Doktor,“ meinte Sakomo gereizt und deutete auf Gripus Kopf. „Wer tat das? Wer bist du?“

Tubeli war ihm fremd.

Tubeli grinste verschämt. „Einer der drei, o Tuwan, der gehenkt werden sollte, – jetzt der Herrin treuester Diener, – Gripu tötete die, deretwegen wir aufgeknüpft werden sollten, und ein fremder Mann schlug jetzt Gripu den Kopf ab, Gripu schlief noch und hat nichts gemerkt, o Tuwan.“

Vergebens schaute ich mich nach Helga um. Auch Sakomo blickte suchend umher, schwieg jedoch und nahm seinen kleinen Stationsarzt bei Seite.

Tubeli schlängelte sich rasch herbei und raunte mir zu, – seine Stimme war dabei von etwas unechtem Schmerz erfüllt: „Die Herrin hat uns für immer verlassen, – wir sind sehr traurig, Tuwan Abelsen … – Dort kommt die Tubana Ingrid …“

Es war wie der Einzug einer kleinen Königin, – ein Haufe Weiber und Kinder bildeten das Gefolge, voran schritten ein paar Krieger, und ganz hinten schlossen sich, ein recht komisches Bild, eine Herde Ziegen, einige zahme Affen und drei noch sehr junge, tolpatschige Leoparden an.

Die kleine Königin mit der Kupferkrone prächtiger Haarflechten schien jedoch sehr übler Laune zu sein. Ich hatte mir die Begrüßung zwischen den Geschwistern erheblich herzlicher vorgestellt. Kaum hatten die beiden Malaien, die die primitive Bahre trugen, diese niedergesetzt, als Ingrid nach flüchtigem Blick auf den aufgespießten Kopf des alten Gripu sehr temperamentvoll sich erhob und sofort auf Sakomo und Suul zuschritt. Mich sah sie gar nicht. Sie blieb vor Sakomo stehen, und jetzt bedauerte ich es, das Japanische nicht zu beherrschen. In äußerster Empörung rief sie Sakomo etwas zu, faßte ihn dann bei der Hand und zog ihn zur Treppe des Beratungshauses hin.

Ich hatte das schlanke, pikante Mädchen noch nie so erregt gesehen. Sie bewegte die Hände übereifrig vor Sakomos Gesicht, dessen Mienen jedoch zunächst nur eine gewisse nachsichtige Zärtlichkeit verrieten. Dann richtete er sich plötzlich straffer auf, und in dem Moment ließ er vielleicht die liebenswürdige Maske des geschulten Weltmannes vollkommen fallen, seine Züge wurden steinern, die dicken Falten auf der Stirn und die fest zusammengebissenen Kiefern verliehen ihm beinahe etwas Wildes, Ungebändigtes. Aber dieses Aufbäumen irgendwelcher Instinkte verlor sich sofort wieder, nur tiefer Ernst blieb in seinen Mienen zurück und ein schwaches schmerzliches Zucken um den schmalen Mund.

Er sprach leise auf Ingrid ein, immer eindringlicher wohl, denn auch ihre Erregung wich jetzt einer gewissen Hilflosigkeit, und mit einem Male lehnte sie sich an ihn und schien leise zu weinen.

Doktor Suul trat zu mir, wir wandten uns diskret zur Seite, und der geschwätzige kleine Doktor begann über Sakomos Verletzungen einen gelehrten Vortrag zu halten, der mich nur deshalb interessierte, weil ich dadurch erfuhr, daß Sakomo und Suul, nachdem sie damals Ingrid in dem Zelt über dem Kanon untergebracht hatten, in einen Hinterhalt geraten und von den Jagdleoparden angefallen worden waren, so daß Gripus Leute nachher leichte Arbeit mit den beiden von den Bestien arg Bedrängten gehabt hatten.

Tubeli, der sich in der Nähe hielt, erlaubte sich die bescheidene Zwischenbemerkung, daß die Leoparden zweifellos durch eine Fastenkur sehr gereizt gewesen seien. „Sie sind nur auf Wild abgerichtet,“ erklärte er, „und die Herrin hat sie alle groß gezogen, obwohl sie mir gern das Verdienst zuschob, die Tiere so weit gezähmt zu haben.“ Seine Worte klangen in einer begeisterten Lobpreisung Helga Goßlis aus, was Doktor Suul sichtlich unangenehm berührte, denn er meinte nachher ungewohnt bissig: „Das Werturteil über die Frau wird von anderer Seite gesprochen werden.“

„Ja – von mir!“ nickte ich zu seinem Erstaunen ganz ernst. „Sehen Sie sich dieses Dorf an, Doktor, – spüren Sie hier nicht überall den günstigen Einfluß einer begabten, tapferen Europäerin, die diese Lekhos als ihre Kinder betrachtete?! So sauber wie hier war es nicht einmal in dem Plantagendorfe Lord Morspams, und Männer und Frauen beweisen dieselbe nutzbringende Bevormundung durch Frau Goßli … Das Tal ist ein Paradies, und vielleicht bekommen wir noch mehr zu bewundern.“

Doktor Suul hüstelte höflich, rückte seine Brille zurecht und verbeugte sich zustimmend.

Dann trennten sich drüben die Geschwister, Sakomo rief Suul zu sich, damit er die eiternden Wunden in Behandlung nehme, und Ingrid schob ihren Arm zwanglos in den meinen und zog mich mit sich fort.

Sie war bedrückt und meinte seufzend:

„Jede Freude wird mir verdorben, Olaf … Ich hatte mir das Wiedersehen mit Arthur so ganz anders ausgemalt, er ist ein unerträglicher Eisenkopf, aber vielleicht hat er doch in manchem recht. Ich wußte nicht alles …“

Sie schluckte tapfer die Tränen hinab …

„… Weißt du, daß Helga unterwegs zur Küste ist? Sie war noch bei mir, sie ritt eins eurer Pferde, Olaf … Es war ein Abschied für immer.“

Jetzt weinte sie, – wir hatten das Gebiet der Schutthalden erreicht, vor uns lag die Rinne, unsere Füße versanken in lockerem Sand, und mit mehr Sammlung als wie vorhin betrachtete ich diese Goldwäscherei, die mich wieder an das erinnerte, was bei diesen bunten Erlebnissen wohl am dunkelsten blieb: Die Frage nach dem „Sessel“ der Goßli!

Daß Helga tatsächlich Formosa verlassen wollte, daran glaubte ich nicht, und deshalb mußte meine Gleichgültigkeit auch notwendig bei Ingrid den schmerzlich-empörten Ausruf auslösen:

„Und du sagst so gar nichts dazu, Olaf?! Dich läßt Helgas Flucht so völlig kalt?!“

Ich drückte sie sanft auf einen langen Holzkasten, der uns als Bank dienen konnte, nahm neben ihr Platz und streichelte ihre Hände …

„Helga wird wiederkehren,“ meinte ich sehr bestimmt. „Tubeli ist ein Schwindler … Er suchte mich zu täuschen, er redete allzu weinerlich davon, daß Helga auf und davon sei. – Du aber wirst nicht schwindeln, Ingrid … Was hattest du soeben mit deinem Herrn Gemahl, du … Heuchlerin!!“

Erst lachte sie mich an, dann kamen ihr wieder die Tränen.

„Ich war … wütend auf Arthur, – ich habe Helga lieb gewonnen, obwohl wir in Tokio in Unfrieden auseinander gingen. Ich glaubte, daß Arthur hier im Dorfe Helga irgendwie … schlecht behandelt hätte, und …“

Ein vielstimmiges Gebrüll vom Dorfe her ließ uns emporfahren.

Unzählige Hände dort drüben auf dem runden lehmgestampften Platz vor dem Beratungshaus deuteten gen Osten …

Wir schauten über die Wälder hinweg zu der höchsten kahlen Kuppe.

Dort oben hielt eine einsame Reiterin im blendenden Sonnenglast, klein wie eine Nippfigur bei der weiten Entfernung …

Es war Helga Goßli.

Sie winkte mit dem breitkrempigen hellen Basthut – sie winkte immer wieder, dann riß sie ihr Pferd herum und war im Augenblick verschwunden.

Arthur Sakomo, der mit nacktem Oberleib auf einem Schemel neben Doktor Suuls geöffnetem Pflasterkasten saß, starrte unverwandt dorthin, wo soeben noch die Reiterin sichtbar gewesen.

„Oh – es geschieht ihm recht!“ meinte Ingrid bitter. „Er war blind in seiner Liebe und seinem Haß …! Er hat zu viel dunkles Blut in den Adern, Olaf, – ich gleiche mehr meiner englischen Mutter. Unser Vater war ein Bruder des Vicomte Kodama-Sakomo, der als Gouverneur von Formosa im Jahre 1902 den blutigen Aufstand der Stämme des Innern niederschlug.“

Wir setzten uns wieder. Wieder nahm ich Ingrids Hände …

„Erzähle alles, – weshalb ward aus Liebe Haß? Weshalb suchte Helga vor etwa vier Jahren hier diese Wildnis auf?“

Sie lehnte sich leicht an mich. „Wenn ich das wüßte, Olaf …!“ Ihre Stimme klang ganz verzweifelt. „Ich habe nie die Wahrheit erfahren – auch jetzt nicht. Helga verkehrte in Tokio sehr viel in unserem Hause, sie war damals blendend schön, ganz Dame, und Arthur nahm keinerlei Anstoß daran, daß sie Witwe war und verehrte sie ebenso glühend wie ich es tat … Und dann war Helga eines Tages ohne jeden ersichtlichen Anlaß abgereist, Gerüchte tauchten auf, die zu erbärmlich waren, um sie hier vor dir zu wiederholen … Von dem Tage an war auch Arthur gänzlich verwandelt. Er würde nie preisgeben, was zwischen ihm und Helga gespielt hat, dazu ist er viel zu stolz und auch zu sehr Ehrenmann. Vor sieben Monaten erst hörte ich, daß er hier den Posten als Kommandeur des Ostdistrikts übernommen hatte, – unsere Eltern lebten nicht mehr, ich begleitete ihn, obwohl er sich anfänglich hartnäckig dagegen sträubte, und dann zogen wir mit Doktor Suul in die Wildnis, – – Helgas wegen, das weißt du bereits.“

Ingrid seufzte noch schmerzlicher. „Nicht wahr, Olaf, all das ist wie der ausgewaschene Sand hier zu unseren Füßen … Du hattest auf wertvolle Aufschlüsse gehofft, – ich kann sie dir nicht geben.

Nur eins betonte mein Bruder vorhin: Daß Helgas Flucht vielleicht die beste Lösung sei! – Als er das sagte, fühlte ich, wie schwer es ihm geworden, sich zu dieser Erkenntnis durchzuringen. Vielleicht … vielleicht ist es ein falsches Sichabfinden mit den Dingen. Beide bemitleide ich, ihn und sie, beide werden leiden, das kann ich erst jetzt verstehen, wo ich dich gefunden habe und dich liebe. Ich bin immer eine etwas herbe, verschlossene Natur gewesen, und ich konnte es mir nie vorstellen, daß eine Frau so völlig in einem Menschen aufgehen könnte, wie es jetzt bei mir der Fall ist, – ohne dich wäre mir das Dasein nur noch ein Vegetieren – ziellos, zwecklos, – – begreifst du das, Olaf?!“

Es gab eine Zeit, in der eine andere Frau ähnlich zu mir gesprochen hatte, damals war ich entsetzt gewesen, meine Freiheit hingeben zu sollen und mich einpferchen zu lassen in die staubigen Wüsteneien irgendeiner Großstadt – für mich Wüsteneien.

Heute?! – Seltsam, daß Ingrids unbewußte Andeutungen, mein Leben an das ihre zu ketten und dem Alltag mich wieder zuzuwenden, mich nicht mehr erschreckten und nicht mehr das Gefühl der Auflehnung gegen die Sklaverei einer Ehe weckten. War ich des Wanderlebens müde geworden?! War der starke Impuls des Vaganten verpufft?!

Ich blickte vor mich hin auf die Sand- und Steinhügel, in die die Wassersäule der Rinne tiefe Furchen gerissen hatte. Dieses Wasser mußte mit ungeheurer Kraft in breitem geschlossenen Strahl herabschießen, mußte Felsen unterwaschen, Felsen bewegt und Steine wie Kügelchen weggefegt haben.

Das Gelände vor uns glich dem faltigen Greisenantlitz eines Menschen, aus dem sich nichts mehr an Geist und Tat herauspressen läßt. Es war taubes Gestein, tauber Sand …

Ging es auch mit mir bergab?! Kam doch einmal die Sehnsucht nach einem beschaulichen Dasein, – – war auch ich ausgepreßt, erschöpft?!

… Zwei Menschen saßen hier fern dem frohen, leichtlebigen Getriebe des Dorfes, wo der Alltag bereits wieder regierte … Keine anderthalb Stunden war es her, als hier Schüsse geknallt hatten und Herzen zu schlagen aufhörten, – – vergessen war’s …!

Am glitzernden Bache hockten die Weiber, plantschten die nackten Kinder, – Männer, braun und sehnig und mit dem leichten Schritt der Naturkinder, eilten ab und zu und gingen ihrer Tätigkeit nach …

Und hier zwei Menschen angesichts der zerkerbten, ausgelaugten Erde, der Zukunft gedenkend, einer gemeinsamen Zukunft, die ein Glück werden sollte …

„… Worüber grübelst du nach, Olaf?“

Da erwachte ich …

Rundum standen die Berge wie Zeichen der Ewigkeit, rundum zogen die dunklen Streifen der Urwälder in die lichtblaue Ferne … Hoch über uns brauste der Wasserfall, Menschen- und Tierstimmen erklangen …

Ingrid hatte sich vorgebeugt und blickte mich besorgt an.

„… Worüber grübelst du nach, Olaf?!“

Mein Blick hing an den fernen Waldmassen, über denen ein Adlerpaar ruhig, seltsam würdevoll seine Kreise zog.

„Ich … denke an uns beide, Ingrid …“

„Dann – kenne ich deine Gedanken.“ Ihre Hände lösten sich sanft aus den meinen. „Du schaust den Adlern nach, Olaf, und du … fürchtest für deine Freiheit. Das ist es.“ Ihre Stimme wurde hart und trotzig. „Ja, das ist es … Und ich verstehe dich, Olaf … Ich werde dir keine Fessel sein. In der Einsamkeit, in der Wildnis mit dir leben, das könnte ich nicht.“

Sie erhob sich. „Ich werde dich nicht halten, Olaf, niemals … Ich bin zu klug dazu, dein Leben in eine andere Bahn zwingen zu wollen. Vielleicht würdest du mir heute erklären, du hättest dieses dein Leben satt. Dann sprächest du aus einer Augenblicksstimmung heraus. Der Tod Mens lastet auf dir, – noch mehr: Du hast Gripu vertraut, der dich schamlos hinterging, der dich morden wollte. Deine Menschenkenntnis hat einen argen Stoß erlitten, du bist seelisch aus der Bahn geschleudert, – vieles spielt da wohl mit. Würde ich heute irgendein Versprechen verlangen, wäre es von mir nichtswürdige Ausnutzung des Augenblicks. Ich sehe es deinen Augen an, daß sie sich schon wieder nach Einsamkeit sehnen, – vielleicht täusche ich mich … Wir wollen warten, Olaf, – – beide …“

Was Ingrid soeben mit fast seherischer Gabe ausgesprochen hatte, waren meine geheimsten Gedanken, die nur geschlummert hatten – oder dicht verhüllt gewesen waren durch die Schleier der Trauer um Men Huleb, – das mochte der Hauptgrund sein.

Ich fühlte, ich war doch nicht müde, doch nicht bereits leerer Sand.

Und als ob die Berge und Felsen und die stürzenden Wasser in diesem Moment einzugreifen trachteten, damit ich mich ganz wiederfände: Mein geübtes Ohr vernahm in den Geräuschen ringsum einen fremden Klang … Es war, wie wenn eine Riesenschlange zischend und fauchend einen Abhang hinabschießt auf ihre halb gelähmte Beute …

Ich schnellte herum …

Und sah …

Sah durch die tiefe, breite Holzrinne gurgelnd, schäumend ein blitzendes Band herniederfahren, durchsetzt mit dunklen Flecken, rollenden Steinen …

Hier, wo wir beide standen, lag uns das Ende der Rinne auf hohen Balken genau gegenüber, keine zehn Meter entfernt.

Das gleißende Band der herniederschäumenden Flut hatte die Geschwindigkeit des von der Bogensehne geschnellten Pfeiles …

Sekunden nur, – und die Wassersäule, vermengt mit Felsbrocken, würde Ingrid und mich zermalmen.

Ein Attentat, ahnte ich, – ein feiger Anschlag eines der flüchtigen Anhänger Gripus …

Das war’s …!

Aber der Moment der Gefahr fand mich wie stets gewappnet. Gefahr war das Lebenselixier, das alles Fremde, Matte aus dem Blute jagte … Noch immer war es so gewesen, auch jetzt war es so.

Ingrid stand mit hängenden Armen, mit weiten Augen erstarrt da und erwartete den Tod …

Gelbbleich war ihr Antlitz, feine Perlen schimmerten auf ihrer Stirn unter der Kupferkrone der prächtigen Haarfülle …

Sekunden …

Ich packte zu, riß Ingrid hoch, – sie war wie eine Feder in meinen harten Muskeln, – zwei Sprünge zur Seite …

Und dicht hinter uns fegte schon der Sprühregen der Wassersäule in unsere Nacken, hinter uns brauste und tobte die Flut, prasselten Steine, spritzte und sprühte und kochte die Wucht der stürzenden Wasser.

Ein befreiendes Lachen kam aus meiner Kehle, und in diesem hohen Glücksgefühl suchte ich Ingrids Lippen und trank mir den Dank aus ihrer heißen Zärtlichkeit.

An der Brust ruhte sie mir in meinen Armen wie ein girrendes Frühlingsvöglein, – lachend sah ich die Wasser gleiten und neue Furchen reißen und alte Furchen ausfüllen, – ein neuer Bach rann herab ins Tal zum alten Bache, und aus der Stimmung heraus, in der nun die Furchen meiner Seele weggewischt waren, küßte ich Ingrid abermals und fragte in nachsichtigem Übermut:

„Und einen Kerl wie mich willst du heiraten, du liebes Mädel?! Weißt du, wer ich bin: Ein ausgebrochener Zuchthäusler, ein Mann, hinter dem die sogenannte Gerechtigkeit her ist wie ein blinder Stier, dem man einen Steckbrief vor die Augen geklebt hat! Das bin ich, Ingrid Sakomo, Nichte des Marschalls Vicomte Kodama, – – das bin ich!!“

„… Und ich wußte es,“ sagte sie still, „ja, ich wußte das alles … Wir blieben nicht ohne Nachrichten dort in der Hütte in dem Windbruch der Halbinsel, wir bekamen Zeitungen, Olaf, und was du mit dem Fürsten Simisatto erlebtest, – – alles wußte ich … Und deshalb – – wir wollen warten, Olaf … Vielleicht … vielleicht …

Durch dieses gedehnte, zage „Vielleicht“ klang es bereits wie leidvolles Verzichten. –

Arthur Sakomo, der kleine Doktor, Tubeli, das halbe Dorf kamen herbeigestürmt …

Ingrid stand sittsam neben mir, aber Major Sakomo, der scharf nach Jodoform duftete, konnte nur stammeln:

„Das … das hätte böse ablaufen können!“

Es stimmte.

Es hätte …

Meiner Seele Furchen waren weggewischt, und der Weltentramp Abelsen blickte in die endlose Himmelsbläue, in der die freien Adler schwebten.

 

11. Kapitel.

Brautfahrt.

Abend ist’s … – Wir haben in Helga Goßlis geräumigem Hause Quartier bezogen, wir haben in dem großen Gemach um den offenen Kamin am prasselnden Feuer gesessen, und Freund Tubeli hat all das widerlegt, was an harten Anklagen gegen Helga durch den verlogenen Gripu in die Welt gesetzt worden war.

Tubeli und die beiden anderen Lekhos, die dem Strange verfallen waren, hatten jene Morde nie begangen, nie hatte Helga Waffen eingeschmuggelt, nie das Gold heimlich in der Hafenstadt Takar veräußert, – Tubeli brachte die Papiere herbei, und es zeigte sich, daß der japanische Zollbeamte in Takar die Beträge unterschlagen haben mußte. –

In diesem Hause der Helga Goßli war nicht ein einziges Möbelstück zu finden, das etwa fremde Fabrikware gewesen, alles hatten die wilden, zahmen Lekhos nach Helgas Angaben gefertigt, und diese Kopfjäger dort droben in den Bergen sind kunstfertige Schnitzer und Tischler. Ihre Frauen stellen Gewebe her, wie sie feiner und farbenfroher keine Fabrik liefern könnte.

In diesem Hause war dem Fleiß und der Lernfreudigkeit der Menschenfresser ein beredtes Denkmal gesetzt.

… Nun ist der Abend auch dahin mit seiner träumerischen Traulichkeit, und hier in meinem Zimmer qualmt die irdene Öllampe auf der Tischecke, und die Feder eilt wieder hurtig über schlechtes, rauhes Papier und hinterläßt die Spuren des großen Erlebens der letzten beiden Tage.

Kein Men ruht neben mir, kein Men schiebt seine kleine schwarze Hand in die meine.

Men ist tot. –

Heute nachmittag führte Tubeli mich zum Leopardenzwinger und zeigte mir lockend ein katzengroßes Junges.

Ich dankte.

Auf der Dorfstraße hatte ich vorher einen ruppigen, gelben Hund gesehen, den sein brauner Herr halb tot geschlagen hatte – eines Huhnes wegen, das der Hund zerrissen haben sollte.

Und dieser elende Bastard von Hund, strohgelb, langgereckt wie ein Teckel, aber mit wolligem Haar und einer Bulldoggenschnauze, hatte mich in all seinem Weh mit jämmerlich-traurigen braunen Augen angeschaut …

Der Hund liegt jetzt drüben in der Ecke, Doktor Suul hat ihm an drei Stellen die Wunden vernäht und ihn halbwegs auf die Beine gebracht.

Mein Hund jetzt.

Und er weiß es, – er weiß, daß er seinem Peiniger nie mehr in die Finger fallen wird, – vielleicht ist er noch nie gestreichelt worden, vielleicht sprach noch nie eine gütige Menschenstimme zu ihm.

Ich habe mit Ingrid über den Namen lange und ernst beraten und dann haben wir uns auf „Taito“ geeinigt, denn hier in den Taito-Bergen ist der Hund vor zwei Jahren geboren worden …

Als einziger von fünf Geschwistern entging er bisher dem Schicksal, als Feiertagsbraten verwendet zu werden, weil er zu mager blieb.

Also Taito heißt er.

Vielleicht weiß er auch das schon. Ingrid hatte ihm oft genug den Namen ins Ohr geflüstert, und ich habe etwas derber dasselbe getan.

„Taito! Hierher!“

Eine Probe …

Und dort in der Ecke erhebt sich wirklich ein Kopf mit kleinen spitzen Ohren und großen braunen Augen, und mühselig humpelt mein Taito herbei und sinkt matt zu meinen Füßen nieder …

Ich streichele ihn, und es steigt mir heiß in die Augen …: Taito leckt meine Hand mit kühler Zunge und winselt. –

Ich habe ihn behutsam wieder auf sein Lager getragen, und wenn wir morgen früh aufbrechen, werde ich Taito in einem Korbe dem Packpferde anhängen.

Morgen früh, – so haben wir es beschlossen, und ich war ausschlaggebend dabei, denn Tubeli und ich haben heimlich ein kleines Komplott geschmiedet, und wenn nicht alles trügt, werden wir den Sessel der Goßli doch noch finden. Auch Sakomo hatte danach gefragt, auch bis zu den Polizeistationen war ungewisse Kunde gedrungen, die weiße Frau, die dort bei den Kopfjägern in den Bergen hause, besäße einen uralten Thron von reinem Golde, den einst die Piratenscharen mit nach Formosa gebracht hätten. Tubeli hat zu Sakomos Fragen mild gelächelt und die offenen Handflächen gezeigt und den Kopf geschüttelt. Das hieß: „Ich weiß von nichts.“

Auch ich weiß von nichts, ich ahne nur etwas.

Die Pfeife stopfe ich nochmals, und bei den grauen Wölkchen eines beizenden Tabaks überlege ich, wie ich mir Ingrids Verhalten deuten soll. Sie ist fröhlich und heiter, sie hat zwischen uns den Ton harmloser Kameradschaft zartfühlend hergestellt und … wartet … vielleicht.

Vielleicht hofft sie noch.

Die Fenster, überzogen mit feinstem Flechtwerk gegen die Mückenscharen, sind geschlossen, aber die Stimme der Wildnis dringt doch in dieses abgelegene Heim einer seltenen Frau und erinnert mich an die Tage und Nächte im Adlerhorst. Der Urwald reicht hier mit schmaler Zunge bis dicht an das Haus heran, und in dem Gestrüpp unter den rauschenden Baumkronen schnarren die Riesenhupfer und zirpen die kleineren Grillen, – ein wilder Leopard schreit irgendwo, und das hohle Krächzen der Eulen klingt wie das Stöhnen unerlöster Geister.

Vielleicht hofft Ingrid noch …

Ich wünschte, sie täte es nicht, denn ich als Schwager des Major Vicomte Sakomo aus dem Feudalgeschlechte der Kodamas wäre eine unmögliche Figur.

Taito in seiner Ecke regt sich, hebt den Kopf.

Sein handlanger Stummelschwanz trommelt auf die Dielen, und draußen im Flur rauscht es wie von rasch bewegten Falten eines Gummimantels …

Die schmale Tür mit dem Holzgriff geht lautlos auf, und Ingrid tritt ein.

Das Kupferhaar hängt ihr gelöst über den Rücken, und die ranken Füßchen stecken in plumpen Sandalen – Lekho-Fabrikat, viel zu groß für die winzigen Füßchen …

Sie kommt leise und stolz, setzt sich auf meinen Schoß, bläst die qualmende Öllampe aus und legt mir den Kopf an die Wange.

„Es soll unser Abschied sein, Olaf …“ – und sie küßt mich ganz zart …

„… Ich weiß, daß ich dich nicht halten kann. Es würde nie ein Glück werden …“

So wie sie spricht, sprechen nur Frauen, die selbstlos sind.

– –

Als der Morgen graut, bin ich wieder allein mit Taito, dem neuen Freunde.

Zwei Stunden später schwimmen wir auf langen Kanus dem Flusse zu. Der Bach hat zahllose Fälle, und oft genug müssen wir die Kanus und die Pferde weite Strecken durch den Wald führen.

Dann nimmt uns der Fluß auf.

Unsere Flotte zählt fünf Kanus, zwei für die Pferde (durch einen Bretterbelag verbunden), drei für uns Reisende, die wir dem Biba-Schoni-See zustreben.

Wir sind zwanzig Menschen, zwei Pferde, ein Hund. Ingrid und ich sitzen mit Tubeli und vier Ruderern im vordersten Boot. Tubeli hat als Sonnenschutz Matten gespannt, und in dieser Hütte lächelt Ingrid mir verschämt zu und trällert irgendein Lied und streichelt den übelduftenden Taito. Taito riecht wie ein Medizinkasten.

Wir gleiten zwischen Kampferwäldern hindurch, deren scharfer Geruch abwechselt mit den sanften Düften gelber Blumenfelder an den flachen Ufern. Wir gleiten in halbdunkle, geheimnisvolle grüne Dome hinein, und der Fluß sieht über sich die langen Äste lianengeschmückter Waldriesen, die jeden Sonnenstrahl fernhalten.

Kleine Seen passieren wir, die uns wieder den Anblick des Gebirges freigeben, und enge Kanäle durchjagen wir in atemberaubender Geschwindigkeit.

Der Fluß hat zahllose Schleifen, tote Arme, Nebenflüsse, und nur Tubeli als Lotse findet diesen verschlungenen Weg zum See Biba-Schoni, in den vor zwei Jahren bei einem Erdbeben eine ganze Bergspitze hinabrutschte und zur Insel ward.

Auf flachem Stein inmitten des Kanus kocht Tubeli sanft lächelnd Tee, bratet Tauben am Spieß und röstet flache Reiskuchen.

Es ist ein köstliches Faulenzen in dem Mattenzelt, und es ist noch köstlicher, wenn ein Windstoß sogar den Türvorhang niederweht und unsere Hütte dunkel wird.

Die Ruderer arbeiten wie Maschinen, ohne ein Zeichen von Ermüdung, ihre Muskeln spielen, und die kurzen Blattruder lassen silbernen Tropfenregen im Sonnenglanz aufleuchten.

Fischreiher stehen auf Baumstümpfen über dem Wasser wie Statuen und starren in den glitzernden Fluß. Urplötzlich schießen sie dann herab, schwingen sich wieder empor und würgen den armen Fisch in den Beutelkropf hinunter.

Makakherden begleiten uns mit ihrem feindseligen Geschrei, und – dann fühle ich ein Brennen im Herzen …

Men war auch ein Affe.

Men ist tot.

– – Der Tag vergeht, und als die Dunkelheit die Sterne am Firmament erscheinen läßt, haben wir den großen See erreicht und landen am Westufer weit vor der Insel mit der schroffen, hohen Ostwand.

So habe ich es mit dem klugen Tubeli vereinbart.

Im Walde lagern wir, hinter Felsen flackern die Feuer, für Ingrid wird das braune Zelt aufgebaut, und wie von ungefähr schlage ich nach der Mahlzeit dem Major Sakomo, der mich immer so eigentümlich mustert, einen Pirschgang zur Insel vor …

Er ist einverstanden, und im Mondlicht suchen wir uns einen Weg am Ufer entlang. Weit vor uns schreit ein Leopard, und der muß mir als Vorwand herhalten …

Unsere Jagd gilt jedoch anderem Wild:

Helga Goßli!

Nur Sakomo weiß dies nicht.

 

12. Kapitel.

Die Wand der Goßli.

Wir gelangen bis zu der kahlen Berghalde, der Rutschbahn der Bergspitze, – bis zu den Klippen im Wasser, die eine Brücke zur Insel bilden.

„Wollen hinüber, Sakomo … Ich möchte das Steinhaus wiedersehen. Ich frische gern Erinnerungen auf.“

„Olaf – ehrlich!“ sagte er gepreßt. „Sie hoffen Helga hier zu finden?“

Seine Hand umkrallt meine Schulter, – der Mond scheint ihm ins Gesicht, und seine Augen bitten und flehen.

„Vielleicht,“ antworte ich nur …

Er holt tief Atem.

„Und wenn – wenn sie dort wäre, Olaf: Es würde noch einen harten Kampf geben … Von jenen Anklagen ist Helga frei, – nicht von der schwersten, die nur mich betrifft.“

„Und die niemand kennt, Sakomo, die nur in Ihrer Phantasie bestehen kann …!“

Er wendet sich schroff um.

„Das ist ausgeschlossen. – Helga und ich waren heimlich verlobt, damit Sie es wissen … Und dann schrieb sie mir einen eisigen Absagebrief, – am nächsten Tage war sie auf und davon. – Ist das Liebe, Olaf?!“

Wieder schaute er mich an. Seine Stimme wurde weich, und ein gütiges Schmunzeln zuckte um seinen Mund.

„Was Liebe ist, das zeigte Ingrid Ihnen …! – Sagen Sie nichts … Ich weiß alles … Ich bin kein Sittenrichter, ich räume jedem liebenden Weibe das Recht ein, sich zu verschenken. Und ich würde den Mann für einen Schuft halten, der ein solches Geschenk zurückwiese, – – wenn er „ein Mann“ ist, denn Zurückweisen hieße Demütigen, und daraus erwächst … Haß …“

Dann begann er die steinerne Brücke zu überspringen, dann halfen wir einander mit meinem Lasso, wo die Entfernung zu weit war.

Als wir die Randhügel des Inselkessels erklommen hatten, als wir hinablugten in die Büsche der Senkung, hinter denen das Steinhaus verborgen war, schimmerte ein einsamer Lichtstrahl uns entgegen, und ein Pferd schnaubte und schüttelte sich gegen die schwärmenden Mücken.

„Sakomo, Sie haben nun Ihr Schicksal in Ihrer Hand,“ flüsterte ich … „Gehen Sie allein zu ihr … Ich werde derweil draußen auf der Ostwand warten.“

Ich schlich davon, ich kletterte über Felsen und Zacken, und dann saß ich droben hoch über dem See auf dem Rande der Steilwand und freute mich des Mondlichtes, das soeben über den fernen Bergen aufglomm.

Windstöße fuhren über den See, und am Fuße des Felsens, vielleicht fünfzehn Meter unter mir, brandeten bescheidene Wellen.

Sessel der Goßli?!

Hatte Parker nicht von dem „anderen“ Golde gesprochen, das kein Schwemmgold sein sollte?!

Hier oben war die höchste Zacke nur schmal, und irgendein flüchtiger Gedanke ließ mich jetzt mit dem Jagdmesser das graue Moos von dem rissigen Gestein kratzen …

Seltsam …!

Schichten lösten sich, – steinhart gewordene Tonerde …

Ich grub tiefer …

Ich grub mit dem Eifer jener Gierigen, die dem Golde nachjagen …

Und als ich eine Fläche von vier Hand breit frei gelegt hatte, als ich das Messer in diesem Loch den Boden beschaben ließ, sank meine Hand matt herab …

Ich bückte mich …

Mein Feuerzeug flackerte …

Erlosch …

Ich hatte genug gesehen: Ich saß hier auf einem ungeheuren Klumpen reinen Goldes, und nun wußte ich, – dies war der Sessel der Goßli, dies war Helgas Geheimnis und das des treuen Tubeli.

Schattengleich huschte eine gebückte Gestalt herbei, kauerte neben mir, lächelte sanft …

„Tuwan, du hast es gefunden … – So höre denn die Geschichte von der Wand der Goßli, wie ich sie nennen will. – Einst, als diese Bergspitze noch drüben die Hügel krönte, jagten die Herrin und ich dort in den Bergen die flüchtigen Geisantilopen, die selbst dem geschickten Kletterer und Springer, dem Leoparden, entgehen. Eins der Tiere fiel durch der Herrin Kugel auf dieser Bergkuppe. Und als wir das Wild holen wollten, als wir neben dem Wilde knieten, da riß der Herrin genagelter Schuh das Moos und den angeschwemmten harten Lehm weit auf, und in der Spalte glänzte das Gold. – Wir sagten niemandem von dieser goldenen Bergzacke, kehrten heim und wollten mit Werkzeugen zurückkommen, um Stücke des Goldes loszuhauen und mitzunehmen. – In jener Nacht, Tuwan, als wir dann mit Hammer und Meißel dem Golde zu Leibe gingen, empörten sich plötzlich die Teufel der Tiefe, und nur mit genauer Not entgingen wir dem Verderben, denn der ganze Berg glitt mit einem Male talabwärts, und die Herrin und ich fürchteten seitdem die finsteren Gewalten und mieden die Insel, die in jener Nacht entstanden war. Wenn wir heimlich davon sprachen, redeten wir stets nur von dem „Sessel“, und wir wußten, was wir meinten. Die jedoch, die uns belauschten, reimten sich mehr zusammen, und als die Herrin die losgebrochenen Goldzacken an der Küste verkaufen ließ, gingen bald wilde Gerüchte um, wir Lekhos besäßen ein Goldlager von unermeßlichem Reichtum. Deshalb kam Parker nach Formosa, deshalb hielt er es insgeheim mit Gripu, deshalb schickten die Japaner den Major Sakomo, der die Herrin haßte – oder zu hassen glaubte. – – Tuwan, ich wünschte, die Herrin würde sich mit Sakomo versöhnen, denn ihr Herz hängt an ihm, und sie hat sich all die Jahre nach ihm gesehnt und nur für ihn gearbeitet …“

„Für ihn?!“

Tubelis Gesicht war schmerzlich verzogen.

„Tuwan, weißt du, daß der Major Sakomo sehr arm ist? Weißt du, daß sein Geschlecht berühmt ist, aber nichts besitzt? Weißt du, daß die Tubana Ingrid, die dich liebt, daheim in Tokio Geld verdiente bei fremden Leuten, denen sie Briefe schrieb und anderes mit dem schreibenden Klavier? – Ich kenne nicht viel von den großen Städten und ihren Menschen, o Tuwan. Doch das ist mir bekannt, daß die Menschen dort ihr Gold einem Kaufmann geben, um schnell reich zu werden. Und die Herrin war reich, als sie den Major Sakomo liebte, aber für ihre Liebe und für des Geliebten Armut erschienen ihr ihre Besitztümer noch zu gering, und sie vertraute sie einem Kaufmann an und das Geschäft schlug fehl und sie verlor alles – alles. Deshalb verließ sie die Stadt Tokio und kam in unsere Berge, und wir liebten sie und halfen ihr. – Das ist alles, o Tuwan, und es ist sehr traurig.“

Also das war Helgas Schuld! Sie hatte fraglos spekuliert, und wie so viele büßte sie ihr Vermögen ein und mochte nachher Sakomo die Wahrheit nicht gestehen.

War es nicht eine geradezu tragische Fügung, daß derselbe Mann, für den sie hatte noch reicher werden wollen, schließlich zu ihrem Verfolger ward?!

Tragödie der Wildnis, – so dachte ich, und – – der letzte Akt begann …

Unter uns auf der schmalen Terrasse ein schriller Ruf …

„Geh’, – – laß mich allein …! Du hast an mir gezweifelt, – du wirst nie die Wahrheit erfahren, weil du ihrer nicht wert bist …!“

Klar und schneidend klang die Stimme zu uns empor …

„Geh’, – – rühre mich nicht an, – – oder …“

Wie ich damals so blitzschnell den Lasso aufrollte, – wie es mir glückte, die völlig verstörte, bis zum Wahnwitz erregte Frau im letzten Moment vor dem Sprung in die Tiefe zu bewahren, – – das Schicksal wollte nicht, daß Helga Goßli unten auf den Steinen zerschellte.

Sie hing in der Lassoschlinge, wir hißten sie empor, – – und neben der Ohnmächtigen kniete Sakomo und hörte von mir die seltsame Tragik einer Liebe, die hier in der Wildnis endlich in beglückendem Begreifen ihre Erfüllung finden sollte.

– –

… Mein Hund Taito mahnt mich energisch, daß es Zeit zum Schlafengehen ist.

Wir sind hier allein auf der Insel im Biba-Schoni als Hüter des Goldes, das droben die Wand der Goßli zum güldenen Sessel macht. Heute früh ruderten die Kanus davon, heute früh hat Ingrid von mir Abschied genommen und mich geküßt und mir zugeraunt: „Ich komme wieder!“

Sie wird wiederkommen …

Aber ob mein Hund Taito und ich dann noch hier sein werden, – – ich weiß es nicht …

Vielleicht erwarte ich Ingrid und Helga und Sakomo, – es wird viele Wochen dauern, bevor sie hier wieder erscheinen können.

Vorläufig bleibe ich …

Was weiter wird: Es steht in den ewigen Sternen geschrieben!

Die Einsamkeit tut mir wohl, Taito ist ein lieber Kamerad, nur … nur etwas behagt mir nicht: Heute abend kurz nach Sonnenuntergang hörte ich ein verdächtiges Knattern, und als ich die Wand der Goßli erklommen hatte, sah ich gerade noch ein kleines Motorboot nach Norden zu im Flusse verschwinden …

Wer als Hüter eines Schatzes bestellt ist, hegt doppeltes Mißtrauen.

Die Gerüchte, die den langen Parker hierher lockten, können auch noch ähnlichem Gelichter zu Ohren gekommen sein. –

Der Hund Taito knurrt mahnend … Er ist bereits unglaublich verwöhnt. Er schläft mir zu Füßen in dem Moosbett …

… Ich horche auf …

Taitos Knurren gefällt mir nicht …

Blitzschnell lösche ich die Lampe …

– Es war wirklich höchste Zeit …

Das Bienchen surrte sehr dicht vorüber, aber meine Antwort scheint draußen Unheil angerichtet zu haben …

Zweifellos die Kerle aus dem Benzinstänker!!

Ich ahnte es …

 

 

Anmerkungen:

  1. „Vicomte“ / „Vikomte“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Bandübergreifend auf „Vicomte“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „sturr“ – Diese Schreibweise ist eigentlich nur im Plattdeutschen bzw. Hamburger Dialekt verbreitet. Trotzdem ein „beliebter“ Rechtschreibfehler, da z. B. „starr“ (im Sinne von „unbeweglich“, „unnachgiebig“) mit „rr“ geschrieben wird.
  3. In der Vorlage steht: „Abenteuerin“. Im gesamten weiteren Text wird aber (richtig) immer „Abenteurer(in)“ verwendet.
  4. „Biba Schoni“ / „Biba-Schoni-See“ – Bandübergreifend und einheitlich auf „Biba-Schoni“ sowie „Biba-Schoni-See“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „hinterlistigen“.
  6. In der Vorlage steht: „verschwiegendste“.
  7. In der Vorlage steht: „fühlen“.
  8. „Divan“ / „Diwan“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Bandübergreifend auf „Diwan“ geändert.
  9. In der Vorlage steht: „aufkneimt“.
  10. In der Vorlage steht: „Malie“.
  11. In der Vorlage steht: „den“.
  12. In der Vorlage steht: „verschwomm“.
  13. In der Vorlage steht: „… verblaßtes Bild an wunderholde Tage …“ – Syntaktisch-semantische Kontamination aus „Bild von“ und „Erinnerung an“, bei der offen bleiben muß, ob es sich um eine vom Setzer zu verantwortende Kürzung oder einen vom Autor selbst verursachten Fehler handelt, der auf die rasche Produktionsweise seiner Texte zurückzuführen ist.
  14. Doppeltes Wort „in“ entfernt.