Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 19 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
Der dichte Nebel war bei Sonnenuntergang wieder gewichen. Die frische Abendbrise hatte ihn fortgefegt, und in der unbeschreiblichen Farbenpracht eines märchenhaft schönen Abschieds des Tagesgestirns spähten wir nun vom Heck unseres zwischen den großen Außenriffen vertäuten Kutters mit halb geblendeten Augen in seltsamer Ergriffenheit nach dem kahlen Felsplateau hinüber, auf dem in fast geisterhafter Unwirklichkeit Feen zu tanzen schienen.
Ich sage: Sie schienen zu tanzen. – Es konnten auch Nebelfetzen sein, die sich dort zwischen den Randklippen des Plateaus gleichsam als Nachhut des abziehenden Heeres der Nebelarmee festgesetzt hatten, – wie man es im Gebirge so oft beobachten kann, wenn eine Wolke in den Klüften der Steilwände noch die hellen Streifen losgetrennter Teile zurückläßt.
Das in Rot und Rosa getauchte Bild war phantastischer Spuk, und der bei aller Gemütstiefe so überaus sachliche Bert Beng meinte dann auch zu uns dreien, die wir gleich ihm den Augenblick herbeisehnten, wo der sinkende Sonnenball uns die Sehnerven nicht mehr reizte und wir dann, nicht mehr geblendet, Gewißheit erhalten würden:
„Drei Schleiertänzerinnen im Scheinwerferlicht auf einer Naturbühne – mal was anderes, besonders hier dicht an der Treibeisgrenze des Südpolarmeeres einige hundert Meilen nördlich der australischen Ablegerinsel Tasmanien! – Noch einige Minuten, und wir werden Gewißheit haben!“
Zwei Frauen, zwei Männer, ein Hund in einem Hochseekutter mit starken Motoren schlossen die überreizten Augen und warteten geduldig auf das endgültige Verschwinden der Sonne.
Sie verschwand auch … Glühende Strahlen wie von der Sonnenkrone des Gottes Jupiter, der ein Bad im Ozean zu nehmen beliebte, zierten nun den mit Wolkentupfen bedeckten Horizont.
Wieder starrten wir hinüber, – das Plateau war leer.
„Es waren behende, graziöse Mädchen“, sagte da Mita Mac Barny, die von dem Namen ihres toten Gatten nichts mehr wissen wollte, mit allem Nachdruck, und ihre klaren Züge, denen die Mischung von indianischem und europäischem Blut in glücklicher Ausgeglichenheit den Zauber exotischer Eigenart verlieh, lehnten von vornherein mit bewußter Strenge jeden Widerspruch ab.
Bert Beng, Schicksalsgenosse banger Stunden in Eis und Kälte, hätte schon aus tiefer Liebe seiner Mita bei so geringfügigen Anlässen sich niemals widersetzt. „Mag sein, mag sein …“, nickte er, und sein hageres, überhageres braungebranntes Gesicht mit den kühnen stolzen Linien eines Mannes der Tat überflog ein nachsichtiges Lächeln. „Was hältst du davon, Olaf, – und du, Grita?!“
Grita und ich waren das zweite Paar an Bord, und Taito, der Hund, Wunderprodukt von etwa zwölf Hunderassen, stellte den ruhenden Pol in der Gefühle scharf umgrenzter Regelmäßigkeit dar: Taito, Liebling aller, mißglückter Riesenteckel, gab seine Meinung unaufgefordert kund und knurrte dumpf.
Ich kannte ihn, und meine Antwort fiel danach aus. „Betrachten wir das Geschaute nicht als allzu nebensächlich. Wir sind vogelfrei, das Gesetz der Menschen, in Paragraphen gezwängt, hat uns auf die Liste der Verfolgten gedruckt. Vielleicht mit einigem Recht, wenn man Notwehr [aus][2] Selbsterhaltungstrieb allzu eng begrenzt. Wir müssen also vorsichtig2sein. Wir sind von Melbourne nachts entwichen, nachdem wir noch unsere Vorräte in aller Stille ergänzt haben, wir lasen in den Zeitungen, die Bert mitbrachte, daß Polizei und öffentliche Ankläger sich um uns bemühten, tagelang sind wir, die Küsten Tasmaniens meidend, durch das hier so einsame Weltmeer geeilt, bis vor einigen Stunden diese Insel vor uns auftauchte und gleich darauf der Nebel kam und wir gerade noch den Kutter hier in den Riffen festmachen konnten. – Halten wir uns dies vor Augen, Freunde. – Es mögen Leute auf dieser Insel sich befinden, die keine Seekarte verzeichnet … Es kann die unbewohnte Royal-Insel sein, von der man nicht viel mehr weiß, als daß sie von allen Robbenfängern wie die Pest gemieden wird … Es kann – Mein Vorschlag geht dahin, die Dunkelheit abzuwarten. Vorläufig sind wir unbemerkt geblieben. Ist die Nacht da, werde ich an Land schwimmen. Die Brandung flaut ab, die Ebbe naht, der Wind hat gedreht, und nach zwei Stunden werden wir wissen, woran wir sind. Ihr werdet mir zugestehen, daß ich für einen solchen Kundschaftergang wohl der geeignetste bin. Allen Respekt vor dir, lieber Bert, – aber in solchen Dingen habe ich nun einmal doch weit mehr Erfahrung.“
„Hast du, Olaf, stimmt …! Hast auch im übrigen recht mit deinem Unkengekrächze. Vorsicht ist die Zwillingschwester der Kühnheit, – wie wär es mit dem Abendessen, ihr Lieben?! Es duftet sehr bekannt nach warmem Büchsenfleisch und Gemüse, meine Kehle sehnt sich nach Tee mit viel Whisky, und diese Abendbriese ist reichlich kühl, finde ich. Essen wir also … Taito mag an Deck bleiben … Wenn du etwa laut bellst, mein Hündchen, lernst du das Tauende kennen. Knurren kannst du – verstanden! Du knurrst ja auch schon wieder, und Olaf wird kaum daneben geraten haben, daß da vor uns vielleicht auf der anderen Seite der Insel irgend eine moderne Luxusjacht moderner Globetrotter ankert und der Jachtbesitzer seine Dämchen Ballett tanzen ließ, – mal was Neues für übersättigte Nerven, so ein Schleiertanz im Sonnenrot. Los denn – essen wir!“
Gebückt, gedeckt durch die Riffe, stiegen die Freunde in die Heckkajüte hinab. Ich warf noch einen letzten Blick zur Insel hinüber. – Merkwürdige Form, dachte ich … Von hier aus, von den dichten, nadelförmigen Riffreihen im Südosten konnte man immerhin die scharfe Abgrenzung der Sandflächen und Sandhügel und der hohen, kahlen Felskuppen der Westseite unterscheiden, – beide Teile scheinbar von Nord nach Süd klar getrennt und zwei grundverschiedene Welten bildend. Das, was ich von Pflanzenwuchs sah, entsprach etwa dem australisch-antarktischen Charakter Tasmaniens. Fahle Eukalyptusbäume, zu Waldstücken vereint, sowie Nadelhölzer zwischen den Felskuppen, – rechts auf der Sandhälfte nur hohe Grasbüschel, Riesenfarne, Schachtelhalme, Gestrüpp … Am meisten setzte mich jedoch die kahle Sandniederung in Erstaunen, eine Wüste ohne jeden Halm von gut einer Meile im Geviert, die sich bis zu den Felsbergen und bis zu jenem Uferplateau erstreckte, wo die drei gespenstischen Damen ihre Tanzkünste versucht hatten.
Grita Coldawoors geliebte Stimme rief mich, und ich gehorchte. Ich streichelte noch schnell meinen Taito und folgte dann den Freunden, die bereits an dem kleinen Tisch Platz genommen hatten.
Unser Gespräch flutete lebhaft dahin, wir vier waren zusammengeschmiedet durch Wochen des Leides und der Gefahren, wir bildeten eine einzige frohe Familie, – was gewesen, lag hinter uns im fernen Eishauch des Südpols …
Bert sagte zu seiner Mita: „Etwas weniger Tee, Dearling[3] … Wirklich, nicht zu viel Wasser in den Whisky, Dearling … Keine Sorge, mein Hirn bleibt klar und rein wie meine Liebe.“ … Hatte recht, der Prachtkerl …
Wir schwatzten über die … Farbe. „Sie waren blond“, behauptete meine Grita. „Ihr Haar war wie Gold, helles Gold, und ihre Glieder wie die von Gazellen.“
„Zu poetisch“, knurrte Bert und seufzte. „Weiß Gott, das Büchsenfleisch und das dito Gemüse hängen mir schon zum Halse heraus … Alles schmeckt nach Blech. Morgen harpuniere ich einen jungen Seehund, den noch die Mutter säugt, der ist wie Kalbfleisch …“
Meine Uhr zeigte elf, als ich mich hinter den Vorhang drückte und in recht spärlicher Kluft wieder erschien: Nur leichte Leinenhosen, oben nackt, Füße nackt, auf dem Kopf keinen Hut, sondern ein Bündel: Messer, zwei Pistolen, kleine Lampe, Feuerzeug.
Grita küßte mich. Bert runzelte daraufhin die Stirn mit einem sanften Spott. „Grita, in spätestens drei Stunden, schätze ich, hast du ihn wieder ganz für dich, nur keine Rührszenen, er wird sich kaum in eine der Feen verlieben, schätze ich.“
Er war nun einmal so, er verbarg seine wahre Wesensart hinter leicht durchsichtige Hüllen einer nie verletzenden ironischen Kälte.
Grita lachte denn auch, und als ich mich von Bord in das ruhige Wasser hinabließ, winkte sie mir mit ihrem Tüchlein unbesorgt nach.
„Lege Taito an die Leine“, rief ich noch gedämpft.
Denn Taito und ich sind im Grunde noch unzertrennlicher, als jene weit jüngeren Fesseln, die Grita und mich verbinden.
Schwimmen in diesem kühlen Wasser wäre ein Genuß gewesen, wenn nicht unterseeische Riffe mit harten Zacken mir die Glieder zerschunden und meine Hose zerfetzt hätten.
Was tat es!! Nach diesen süßen Faulenzertagen[4] auf der „Antarktis“ war mir die Bewegung, das Spiel der Muskeln ein Jungbrunnen. Rasten – rosten, – das hat schon seine Richtigkeit, und voller Freude hätte ich mich zwischen den Riffreihen hindurchgeschlängelt, wäre nicht eine starke Strömung, die gen Westen zog, als zweites Hindernis hinzugetreten. Je mehr ich mich dem offenen Wassergürtel zwischen Riffbarriere und Inselstrand näherte, desto heftiger wurde auch dieser Wasserstrom, der mit lautloser, unheimlicher Gewalt mich dem felsigen Inselteil entgegenführte, und gerade dort, das hatte ich gesehen, gab es keine Möglichkeit, die Steilufer zu erklimmen.
Das Spiel der Muskeln ward harte Arbeit. Ich biß die Zähne zusammen, ich wollte östlich des Plateaus landen, wo die Tänzerinnen im Sonnenglast der Farbenpracht des Abends so zierlich sich umhergewirbelt hatten wie in tollem Übermut, oder wie in schwebenden bedächtigen Schritten einer geheimnisvollen Pantomime.
Zähne zusammengebissen, gegen den Strom, – noch besser wäre es ja, wollte ich mich hier in diesem harmlosen Gewässer unterkriegen lassen, wo ich in den brutalen Kanälen am Gallegos[5], am Wellington-Archipel mit den Robben um die Wette getaucht hatte!
Verteufelte Arbeit war es dennoch, – die Strömung zog wie mit tausend feinen Drahtfäden, und meine Lunge und mein Herz spürten bereits das Übermaß von Anstrengung, als ich glücklich hinter eine kleine schmale Landzunge geriet, in deren Schutz die Strömung lediglich kreiste und mich so von selbst auf die Felsbrocken des Uferstreifens warf.
Ich blieb liegen. Es war doch ein allzu anstrengendes Ringen gewesen. Das trügerische Meer hatte mit mir spielen wollen, und der Sieg war zunächst nur Erschöpfung, keuchendes Atmen und jagende Pulse.
Es verging.
Ein Blick ringsum zeigte mir trotz der rasch zunehmenden Dunkelheit und trotz des immer schwärzer sich bewölkenden Himmels die seltsame Offenbarung: Steine, grobes Geröll, dann sanft ansteigende Böschung von hellem Sande, der spärliche Gräser hervorbrachte, und oben als Umrankung der Düne dunklen Granit, wie eine teilweise eingestürzte uralte Mauer. Hinter mir der Wassergürtel, die finsteren Zacken der langen Riffreihen, und der Rest … Totenstille. Kein Vogelkreischen, kein Schnauben und Prusten von Robben, nicht einmal das Plätschern kleiner Wellen: Nur ganz fern im Nordosten tobte wohl die Brandung, von dort kam schwaches Rauschen herüber …
Ich kroch den Uferhang hinan, nachdem ich mir den Pistolengürtel umgeschnallt und Laterne und Feuerzeug in die Hosentasche gesteckt hatte.
Mochte auch nirgends eine wirkliche Gefahr drohen: Mein Gefühl sagte mir, daß diese Insel am Rande der Treibeisgrenze, vielleicht die unbewohnte, gemiedene Royal-Insel, lauernd auf mich wartete, um mich irgendwie zu verderben. Einen Vorgeschmack ihrer Tücken hatte sie mir bereits geliefert, – ich war gewarnt, und ich lasse mich nicht so leicht überrumpeln.
Nun vorsichtig den Kopf über die Ufermauer gereckt – trotz der Finsternis sah ich die tennenglatte Fläche der vorher schon vom Kutter aus erspähten Wüste, zauderte noch, setzte mich dann in Trab, um die westliche Felsgrenze etwa in der Mitte zu erreichen …
Der Sand war wie Mehl, war feucht, war wie dünner Teig, und ich, besessen von dem Hochmut überflüssiger Kraftfülle, jagte spielend dahin in meiner halben Nacktheit, um diese Sandebene möglichst rasch zu durchqueren.
Mir, dem alten, frohen, naturfreudigen, kundigen Weltenbummler, kam keine Erinnerung an einstige Zeiten, wo wir die Gebirgsmassive mit Dynamit durchlöchert hatten und wo das Berginnere uns all seine Schrecken offenbart hatte.
Ich lief, – – und dann sanken zum ersten Male die Füße ein wenig in den immer dünneren Sandbrei ein …
Eine allzu nasse Stelle, dachte ich …
Weiter …!
Daß ich dem entsetzlichen Tode in die Arme rannte, – ich ahnte es nicht … Noch immer mahnte mich weder das Platschen der Fußsohlen auf flüssigem Brei noch das mühseligere Herausziehen der rasch einsinkenden Zehen und Füße … Ich sah ja dort bereits die finsteren hohen Konturen der felsigen westlichen Inselhälfte vor mir, – kaum hundert Meter noch, – es regnete leicht, – – ich war trunken vom Rausch der Bewegung, von der frohen Gelegenheit, die Glieder auszutoben auf festem Boden …!
Fester Boden?!
… Noch zwanzig Meter …
Ein neuer Sprung …
Ein Versinken bis zu den Knien in dem nassen Sandbrei …
Ein verzweifeltes Ringen nach Freiheit, – – noch ein paar Meter … wieder hinein bis zu den Oberschenkeln, jetzt aber ein nutzloses Vergeuden der Kräfte, der platschende Brei hielt mich fest wie zäher Leim, – ich wollte heraus aus diesem Sandsumpf, ich fand nirgends festen Halt, unter mir, um mich her nur die satanische Lüge harmloser feuchter Wüste …
Tiefer versank ich …
Arbeitete mit den Händen, stützte mich, – unter den Händen … nur Brei … Brei, – ich wand mich wie eine Schlange … und sackte immer mehr in die Millionen, Milliarden, Billionen nasser, feuchter Körnchen, und wie ein betäubender Blitzschlag schlug da ein Name in mein Hirn ein …
Triebsand … Triebsand!!
Seit langem griff die Todesfurcht wieder mit eisigen Skeletthänden nach meinem Herzen …
Ich wollte schreien …
Ich wollte nicht so sterben – nicht so, daß der Triebsand mich verschlang, und keine, keine Spur von mir übrigblieb …
Das Meer ist ja noch barmherziger als dieser teuflische Schlamm …
Das Meer gibt seine Toten wieder heraus …
Der Triebsand niemals.
Wahnwitz kochte in meinem Hirn …
So sterben – – nein, es durfte nicht sein, ich mußte empor …!
Ich … Narr!
Blindlings war ich vorwärts gestürmt, beseelt, angefeuert, verführt von jenem Drang, die schlaffen Lungen voll Luft zu pumpen und das Spiel der Muskeln bis zum äußersten zu treiben, verführt von derselben bestimmungslosen, kritiklosen Sucht nach Anfeuerung meines Körpers, nach dem Wohlgefühl erfolgreicher Ermüdung, die auch den Bergsteiger, den Gletscherverehrer nach langer Ruhepause zu leichtfertigem Überschätzen eigener Leistungsfähigkeit und zu blindem Unterschätzen von tausend verborgenen Gefahren verleitet.
Mein Urteil war gesprochen, der Triebsand war der Henker!
Bis zu den Achseln hatte mich der leichte, nasse Brei, der so harmlos durch die Finger rann und dennoch schon zahllose Menschenleben in Bergwerken, Tunnelbauten, auf den berüchtigsten Triebsandebenen der Erde gekostet hatte, hinabgezerrt – allmählich – unmerklich … mit zarten Mörderhänden, die sanft zupackten, die keinen Schmerz bereiteten, die jedoch niemals losließen …
Ein heiserer Hilferuf wollte der keuchenden Brust entflattern …
Aber das Entsetzen war stärker.
Es wurde nur ein stöhnendes Röcheln …
Und dann sah ich – neuer Schreck, neue ohnmächtige Wut – da vor mir zwischen hohen Felsen, die offenbar einen ihrer harten Arme in diese gräßliche Riesenschüssel von allerfeinsten, wasservermengten Körnchen hineinschoben, einen kleinen Kerl mit einer überlangen Flinte, ein Geschöpf der Gnomenwelt, ein Scheusal wie ein verkörperter Albdruck, im matten Lichtschimmer eines rasch sich schließenden Wolkenloches vorgebeugt zu mir hinüberspähen und neben ihm ein Tier, – welcher Art, das war nicht mehr zu unterscheiden …
Der Gnom dort, die Flinte im Anschlag, schien gelassen auf mein Ende zu warten.
Er sah mich …
Ich hörte sein rauhes, höhnisches Lachen …
Noch hatte ich die Hände frei, noch konnte ich, ein Versinkender, zum Ledergurt tasten … Was machte es, daß ich diese Fahrt in die Tiefe beschleunigte?!
Ich hatte die Pistole in der nassen, sandigen Hand …
Der Schurke dort, der mir so leicht ein Tau hätte zuwerfen können, rührte sich nicht.
Lachte …
Ich drückte ab …
Ich … Narr!
Natürlich versagte die Waffe, natürlich war der feine Sand längst in den Mechanismus eingedrungen!
Am Halse schon der Brei …
Am Kinn …
Ein allerletztes Strampeln, Arbeiten mit Händen und Füßen, – ein sinnloses allerletztes Wehren, Trotzen gegen den Tod, und dann auf den Lippen den Brei, kalt-kühl, ohne Erbarmen …
Noch einmal das wilde Sichaufbäumen gegen diesen niederträchtigen Henker …
Wie eine Lassoschlinge würgt es mir die Kehle, die Schlagadern …
Ein flüchtiger Gedanke an meine blonde Grita, an den Hund Taito …, und wie eine Vision, ein fernes Inselgestade, das nur bei Ebbe noch sichtbar wird … Malmotta, … Jane … drei Gräber, drei Kreuze …
Dann die friedvolle Finsternis und Bewußtlosigkeit des Endes aller Dinge für den, der nun seit Jahren die Einsamkeit weltferner Erdenwinkel als ewig gleichbleibende, wundervolle Heimat betrachtet hatte.
Triebsand … auch Schwimmsand, in schlesischen Gegenden Kurpawka genannt, – in Braunkohlenflözen, Salzlagern und Steinkohlenadern oft an den tiefsten Endstellen in das Gestein mit eingebettet, häufig Ursache des „Ersaufens“ ganzer Bergwerke, nur zu bändigen in seinen heimtückischen Verstecken durch das Einspritzen von Zement in diese gefährlichen Hohlräume, wodurch der Triebsand zur festen Masse wird, – an der Erdoberfläche in großen Flächen vielerlei Orts anzutreffen, so besonders am Kurischen Haff[6] südlich des Badeortes Schwarzort, wo schon Roß und Reiter, Pferde und Wagen für immer verschwanden, – dieser grauenvolle, scheinheilige Mörder hatte mich hier auf der Insel wieder hergeben müssen.
In einer Hütte aus rohen Brettern, in die eine Petroleumlampe mit Spiegelschirm fast zu grelles Licht für die Dürftigkeit der Einrichtung verbreitete, hockte der Gnom Guß Trebber mir gegenüber auf wackligem Klappstuhl und beobachtete finster und mißmutig, wie ich allmählich in diese Welt mich zurückfand, die ich bereits als endgültig Scheidender verlassen zu haben glaubte.
Ich lag auf Guß Trebbers Bretterverschlag, anmaßend Bett genannt, und neben mir stand auf dem dicken Bettpfosten eine verlockende Flasche.
„Bedauerlich, Sir, daß Sie noch leben“, sagte dieser zwergenhafte Rübezahl mit unnatürlichem Baß – unnatürlich für seine Winzigkeit und seine kindliche Stupsnase, aus deren Löchern sich die roten Haarpinsel mit dem verwaschenen Rot eines wilden Schnurrbartes friedvoll vereinigten. Auch der Rest des Gesichts war nur Haarwald, und der Schädel desgleichen. Man merkte wohl die Arbeit einer Schere in diesem Überfluß von Borsten, aber der Haarkünstler konnte nur ein Lehrling im ersten Anfangsstadium gewesen sein, da man nicht von Treppenschnitt, sondern mehr von Terrassenschnitt bei dieser Pfuscherei reden konnte.
„Sehr liebenswürdig“, meinte ich und setzte mich halb aufrecht und befühlte meinen Hals, in dem entschieden so mancherlei nicht in Ordnung war. Meine Stimme klang mir selbst wie ein fremdes Reibeisen.
Guß Trebber streichelte die lange Sniderbüchse, die ihm zärtlich im Schoße lag. Er hätte tagelang mit Putzlappen streicheln können, vielleicht wäre dann der Rost teilweise entfernt worden.
„Ja, was fange ich nun eigentlich mit Ihnen an, Sir?!“, grunzte er gereizt. „Das Dümmste in der Menschenseele ist Mitleid. Glauben Sie, daß da drüben in Dollarika, meiner fluchwürdigen Heimat, die Millionäre, die Milliardäre und ähnliche Gurgelabschneider je zu was gekommen wären, wenn sie Mitgefühl mit den ungezählten vernichteten Existenzen gehabt hätten, die ihren Aufstieg ermöglichten?! Vielleicht wäre auch ich heute so ein Selfmademan, der nach der zehnten Million fünfzigtausend Dollar für ein Waisenhaus der Kinder seiner Opfer stiftet oder gar hunderttausend für medizinische Forschungen über die Eigenart der Hirne der Aussauger und der Ausgesogenen, – vielleicht, kann sein, – ich war stets zu schlapp, Sir. Und mit der größte Blödsinn, den ich mir je geleistet, war der Lassowurf, der Sie aus der hübschen nassen Sandtunke herausholte. – Ja, was tue ich nun mit Ihnen?! Geben Sie mir einen Rat. Ich heiße übrigens Trebber, zuletzt Koch auf einem größeren Ozeankahn, jetzt … – aber das gehört nicht hierher … Genau so wenig, wie Sie hierher gehören oder sonst ein Fremder. Gelandet ist hier mancher Bursche von einem Robbenfänger, zurückgekehrt ist keiner, und wenn der Triebsand mal austrocknen sollte, werden Sie so Stücker zwanzig Skelette finden … Das hat sich herumgesprochen bis Melbourne, Sydney und Hobart auf Tasmanien, das hat die Insel in Verruf gebracht, und seit einem Jahr ist kein einziges Schiff mehr der Royal-Insel nahe gekommen, – nicht zu verwechseln mit der Royal Company-Insel, die noch näher der Treibeisgrenze liegt – – dort etwa … – Also – was zum Henker führt Sie hierher?! Von welchem Transtänker stammen Sie?! Ich habe doch nirgends eine Rauchfahne oder einen Mast gesehen, und meine Augen sind verdammt scharf, Sir …“
„Geschwommen“, erwiderte ich vorsichtig und griff nach der Flasche, die einen vorzüglichen Brandy enthielt, der freilich zur Zeit meiner Kehle wenig bekam.
„Schiffbrüchiger also?“ Und Guß Trebbers Bartgehege legte sich in milde Falten. „Hm, da haben Sie Schwein und Pech gehabt, mein Lieber, beides gleichzeitig, Schwein, weil Sie dem Ozean entfleuchten, Pech, weil Sie ausgerechnet hier an Land krabbelten, wo Sie nichts zu suchen haben …“
Er musterte mich immer wohlwollender.
„… Ja, das ist eben das verdammte Mitleid“, schnauzte er. „Befehlsmäßig müßte ich Ihnen nun eine Kugel durch die Skalplocke ins Hirn blasen und Sie dann als einundzwanzigsten feierlich ohne Sang und Klang dort bestatten, wo ich Sie vorhin rauszog. Das geht gegen meine zarteren Empfindungen, Sir, und – – nun sitze ich im Essig, Ihretwegen, denn das sage ich Ihnen: Mit denen ist nicht zu spaßen, ach nein, – die sind wie die Steine, Sir, ohne Gefühl … beneidenswert also.“
„Wer denn, wer sind die?“, – und ich hätte das nicht fragen sollen, erst recht nicht hinzufügen: „Meinen Sie die drei Tänzerinnen?“
Trebber lief blau an vor Wut … Seine Gichtknollenpfoten umkrallten die Büchse fester. Seine Schweinsäuglein wurden zu Tellern …
„Ah, – gesehen haben Sie Gespenster, Sie … Sie trauriger Dummkopf!! Redet der Mensch von Tänzerinnen, – denken Sie, die Insel hier ist das Staatstheater in Stockholm, Sie … Sie …“
„Wie kommen Sie auf Stockholm?“, warf ich überrascht ein. „Ich hielt Sie für einen Yankee, und anscheinend sind Sie …“
„Schwede Sie … Kamel, Schwede!!“, grobste er mich an. „Wo die Schwedischen Zündhölzer und die strohblonden, frischen Mädels herkommen, Sie!! Keinen Dunst haben Sie von Schweden, das merke ich, – sind wohl so ein echter Brite, Sie …?! Blond auch, – nur die Kaninchenzähne fehlen Ihnen, Sie … Sie … Einundzwanzigster!!“
„Danke“, sagte ich sehr übermütig in meiner Heimatsprache. „Ich weiß zwar in Göteborg besser Bescheid, noch besser in der Kungsgatan Nr. 12, wo mein Vater mir verschiedentlich die Hosen strammzog, aber das ist lange her, ich trage es ihm nicht nach, er hätte vielleicht noch häufiger …“
Guß Trebber grinste mit einem Male, – dann ging sein Grinsen in ein sehr wehmütiges Lächeln über, und dann … streckte er mir beide Hände hin …
„Landsmann, Landsmann, – – Mitleid und Rührung wachsen auf demselben Boden … Blicken Sie zur Seite, – – ich schäme mich der feuchten Augen …!“ Seine Gichtfinger hielten die meinen mit erstaunlicher Kraft umspannt. „Landsmann, Unglückswurm, – wie soll ich Sie jetzt totschießen, Sie?! Das ist doch unmöglich, glatt unmöglich …! Und tue ich es nicht, holt mich statt Ihrer der Teufel!! So was nennt man Zwickmühle, Sie! Verstehen Sie: Zwickmühle! Herr im Himmel – die Sache eilt … Jeden Moment kann hier seine Erlaucht der Graf von Monte Christo erscheinen“, – er sprang auf, – „Landsmann, reißen Sie Ihre Knochen zusammen, kommen Sie, kommen Sie … schnell, – taumeln Sie nicht, Sie Pechvogel … Nur immer Mut, – Sie müssen verduften, ich gebe Ihnen einiges mit, dann können Sie drüben am Ostrand hinter den Dünen hausen … Nur schnell, – besser als Einsiedler leben, als mit der Nummer 21 im Triebsand faulen …“
Er lief hin und her, er packte mir ein Bündel, dann zerrte er mich durch die Brettertür ins Freie …
Er war aufgeregter als ich, – ich hatte in der Tat kaum noch Angst, ich hatte lediglich Halsschmerzen und empfand eine unersättliche Neugier. Und diese „Angst“ bezog sich auch keineswegs auf meine Person, sie galt mehr den drei Gefährten, deren Anwesenheit unbedingt verborgen bleiben mußte, denn Gustav Trebbers friedfertige Stimmung konnte in demselben Augenblick, wo er meine fromme Lüge von dem Schiffbruch durchschaute, wieder umschlagen, und aus Furcht vor dem Grafen von Monte Christo (wer mochte das wohl sein?!) dieselbe halb komische, halb ernst gemeinte Blutrünstigkeit annehmen wie vorhin. Es stand ja außer Zweifel, daß meine Freunde nach mir suchen würden, falls ich nicht spätestens nach drei Stunden wieder an Bord des Kutters erschien. Gewiß, sie würden ihre Suche nach mir mit äußerster Vorsicht durchführen, gewarnt durch mein Ausbleiben. Dennoch lag für sie die Gefahr zu nahe, daß sie genau wie ich in die Triebsandwüste gerieten und elend umkamen.
Auch Guß Trebbers Erregung und Furcht vor denen, die ihn hier fraglos als Wächter, als Wachtposten in den Randhügeln des gefährlichen Landstreifens unpassierbaren, lockeren, nassen Bodens aufgestellt hatten, war von besonderer Art. Während er so großmütig allerlei gute Dinge in eine Decke packte, erging er sich fortgesetzt in halblauten Selbstgesprächen, die an das unzusammenhängende konfuse Gestammel eines Irren erinnerten. Aber der Gnom Guß war durchaus nicht geistesgestört. Ich merkte sehr bald, daß seine größte Sorge die war, es könnte etwa einer der anderen Bewohner der Royal-Insel plötzlich hier in der Hütte erscheinen und ihm einen Strich durch seine Rettungsaktion und sonstige böse Scherereien machen. Er nahm wohl an, daß ich auf sein Gemurmel nicht weiter achtete, er überschätzte meine Hilflosigkeit und Mattigkeit, er hatte mir ein Stück Büchsenfleisch in die Hände gedrückt, er hielt mich „Schiffbrüchigen“ für gänzlich ausgepumpt, halb verhungert und geistig vollkommen gleichgültig gegenüber seinen abgerissenen, zuweilen geradezu wütend hervorgestoßenen Sätzen, deren Inhalt mir, ohne daß er es ahnte, immerhin einige Aufschlüsse über die Inselbewohner gab. Es stimmte schon, es befanden sich Frauen hier, auch Männer, wie viele, das blieb leider unklar. Und diese Leute hier mußten auf „Royal“ bereits längere Zeit hausen, Trebbers Hütte war erst neuerdings errichtet worden, man hielt ihn offenbar auch von der Hauptkolonie fern, seine Wächtertätigkeit beschränkte sich auf die Nacht, am Tage durfte er schlafen, dann beobachteten wohl die anderen den Ozean und die Insel.
Sollte nicht unter diesen Umständen, wie es wirklich der Fall war, meine Neugier bis zum äußersten angestachelt werden?! Sollte nicht gerade das gänzlich Zusammenhanglose des brummigen Geschwätzes dieses dürren Zwerges der ergänzenden Phantasie weitesten Spielraum lassen?!
Mit einem Wort: Die Schrecken der Triebsandwüste waren vergessen, – ich war hier so recht in meinem Element, das Ungeklärte, Geheimnisvolle drängte auch die körperlichen Beschwerden zurück, – wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mich Guß Trebber rückhaltlos anvertraut und wäre dem merkwürdigen Grafen allzu gern Auge in Auge gegenübergetreten. Aber da waren die Gefährten, der Kutter, da war noch manches andere, das mich warnte, und so folgte ich denn dem eilfertigen Gnom in die finstere Regennacht hinaus und prallte ehrlich erschrocken zurück, als ich fast gegen ein aufrecht sitzendes Tier taumelte, in dem ich alter Australläufer zu spät ein harmloses, zweifellos ganz junges Riesenkänguruh erkannte.
Das also war das „Tier“, das ich bereits in meiner höchsten Todesnot neben Guß Trebber bemerkt hatte! Ein Känguruh also, das nun langsam hinter uns her hüpfte, als wir durch die Täler der Felsenwildnis dem Südstrand zustrebten.
Wir eilten durch Waldstücke und Gebüsch, es war bitterkalt, obwohl diese Gebiete jetzt Sommerzeit hatten, und ohne Trebbers freundliche Gabe eines Umhangs aus Robbenfellen, der vielleicht den Neid mancher extravaganten großen Dame erregt hätte, wäre ein Schnupfen, wenn nicht noch Schlimmeres, unausbleiblich gewesen.
Im Dunkeln tappen wir dahin, stolpern über Steine, Baumwurzeln, – der Regen trommelt mit großen Tropfen auf mein kahles Haupt, hinter mir hüpft das Känguruh „Moritz“ – ausgerechnet Moritz hat Guß sein Hündchen getauft, der Himmel mag wissen, weshalb.
… Und weiter eilen wir gen Süden, erreichen schließlich das Tanzplateau der drei Feen, – am steilen Rande stehen wir, und der Felshang fällt senkrecht wohl zwanzig Meter tief ins düstere Meer.
Guß Trebber lacht knurrend. Es klingt wie das dumpfe Grollen eines Schäferhundes mit mächtigem Brustkasten.
„Landsmann Abelsen, lassen Sie es sich gesagt sein: Versuchen Sie nie, Ihre Dünen drüben zu verlassen! Halten Sie sich verborgen, warten Sie, bis wieder mal ein Transtänker in Sicht kommt, dann winken Sie und kehren Sie heim. Aber hier in meine gichtige, schwielige Hand geloben Sie mir, daß niemals ein Sterbenswörtchen über Ihre Lippen gleitet von dem, was Sie hier mit mir erlebten! Keinem Fremden eine Silbe davon, Abelsen, – her mit Ihrer Hand! – Lassen Sie es sich weiter gesagt sein, daß dieser Westteil der Insel absolut unzugänglich ist, es sei denn, man käme mit Leitern von zwanzig Meter Höhe oder mit einer Vorrichtung, die nasse Wüste zu überqueren, und auch dann, Abelsen, würde es Kugeln regnen und Tote geben … – Also keinem Fremden eine Silbe, – diese Insel ist eine Insel des Unheils, glauben Sie mir … Voller Gespenster …!“ Er preßte meine Finger. „Gespenster, Abelsen, das trifft das Richtige!!“
„Keinem Fremden!“, versprach ich mit leichtfertigen Hintergedanken an meine Gefährten, denn es waren keine Fremden.
Guß bückte sich dann, befestigte seinen Lasso an einer Steinnase und meinte:
„Los also – hinab mit Ihnen … dort unten ist eine Riffreihe, die bei Ebbe freiliegt und die Sie um die Ecke der Felswand an sandiges Ufer bringt … Das Bündel lasse ich nachher hinab. – Leben Sie wohl, Landsmann, und streichen Sie die Gondaloors aus Ihrem Gedächtnis!“
Noch einen Händedruck, – – und ich kletterte abwärts … Ich erreichte auch das Sandufer, der Regen war Sintflut geworden, ich eilte eine Strecke gen Osten, verbarg das Bündel unter einem überhängenden Stein und vertraute mich aufs neue dem Wasser an. Seit meinem Abschied von Grita, Taito und den Gefährten konnten etwa zwei Stunden verstrichen sein. Wieder packte mich die starke Strömung, es gab abermals einen harten Kampf, und das schlimmste war, daß ich dann innerhalb der ausgedehnten Riffreihen das Versteck des Kutters nicht fand. Ich suchte verzweifelt mit zerschundenen Gliedern, mit bösen Ahnungen im Herzen, – unbarmherzig lastete die Finsternis mit ihren peitschenden eisigen Regenschnüren über den triefenden, zackigen Felsen, – zu rufen wagte ich nicht, bis endlich, endlich ein heiseres Blaffen mein Ohr erreichte und ich emporkletterte zu einer Klippe mit flacher Vertiefung.
Das war die Steinkulisse des Kutters, und das da war Taito – allein, ganz allein, matt, ganz matt, – sein dicker Pelz blutig, – ich fühlte den Streifschuß in seinem Nacken, fühlte seine Trauer, hörte sein Winseln, das mir irgendeine Trauerbotschaft melden wollte.
Ganz fest drückte ich den warmen, trockenen Tierkörper an meine keuchende Brust … Ich zitterte vor Kälte, meine Nerven versagten, meine Zähne klapperten …
„Taito, wo ist der Kutter?! Wo ist Frauchen?!“
Er … winselte …
Es war so dunkel in diesem Steinwinkel, daß ich seine Augen rötlich glühen sah.
„Taito, wo sind sie?!“
Ich tastete den Boden ab … Meine Finger berührten einen Stoffetzen … Meine Nase spürte den schwachen Parfümduft: Von Gritas Kleid!!
Was war geschehen?! Was?!
Monte Christo, unzugängliche Westhälfte der Insel, Gondaloors, Guß Trebber, Sandwüste, – all das tollte durch mein erschöpftes Hirn wie Spukgestalten.
Gespenster!!, hatte Guß gebrummt. Und sollten – diese Gespenster unabhängig von Trebber gegen meine Gefährten vorgegangen sein, befanden sich Grita, Bert Beng und Mita in Gefangenschaft?!
Wie weggeblasen war da die Qual der Müdigkeit, der schmerzenden Risse, der zerschundenen Hände!
War ich denn so irgend wer, irgend so ein Stubenhocker aus den stinkenden Ziegelsteinmassen einer Großstadt?! War ich nicht El Gento einst gewesen, Pampasreiter, Seefahrer, Dromedarreiter, Abenteurer eines Schlages ganz besonderen Formats!
Meine Gedanken zwang ich zur Ruhe.
Was tun?!
… Nichts übereilen, überlegen, prüfen, dann handeln!
Hier durfte ich nicht bleiben. Vor Morgengrauen mußte ich in den Sandhügeln im Osten einen Unterschlupf gefunden haben. Holen mußte ich das Bündel, den Fellumhang, – gepriesen sei Guß Trebber, der Landsmann! Gepriesen sei es, daß ich noch die eine Pistole besaß, die andere ruhte unten bei den zwanzig Toten der Triebsandwüste!
Also – neue Kräfte aufspeichern, dann mit Taito hinüber zur Insel! Abwarten dort, schlafen – schlafen, und nachts hinaus zu vorsichtigem Spähergang …! Gesegnet der Fellumhang, – der ließ sich in Streifen schneiden, der ließ sich zum Lasso flechten, und ein Lasso ließ sich nachts emporschleudern an der Steilwand … Ich würde auch den Westteil betreten, diese Gespenster dort mußte ich kennenlernen …!
Ich drückte den Stoffetzen an die Nase, – es war, als ob ich Grita durch den zarten Duft riefe …
„Ich komme, Grita – – ich komme!!“
Taito winselt, Taito leckt mir die Hände, – „Taito, alter Kamerad von Formosa her, wir werden die befreien, die wir lieben, wir haben eine Pistole, neun Schuß, wir werden sie säubern, wir haben das lange Jagdmesser und Guß Trebbers Bündel mit Wolldecke, Zwieback, Dörrfleisch, einen kleinen Tiegel, Feuerzeug und … Zigarren, Taito, Zigarren und Schnaps, Taito! Wir werden wie die Füchse über Tag im Bau leben und nachts den Gespenstern auf den Leib rücken …! Alter Taito, weißt du noch, als wir vor Wochen dort auf der Eisbrücke über dem Gletscherabhang hingen!! War das nicht alles weit schlimmer! Zerfraß uns dort nicht die Kälte das Gebein, bis wir vor dem Isishaupt standen! Alter Freund, wir sind doch wir, und alle Gespenster von Royal-Insel können uns gestohlen bleiben!“
… Taitos Wärme teilte sich mir mit, Taito winselte nicht mehr, die Blutung hatte aufgehört, er schlief – als mein Wärmekissen, und draußen dort klatschte und trommelte und träufelte der Regen.
Taito schnarcht fast, und auch mich beschleicht die Entspannung wohliger Müdigkeit. Hartes Gestein ist mein Bett, Taito mein Zudeck, und die Gedanken verlieren sich in das schrankenlose Reich der Träume.
Dann fahre ich hoch …
Draußen erstes Morgengrauen …
Und … Regen …
Es eilt – – Aufbruch! Schwimmen, – – wird Taito es schaffen?! Ich gewiß!! Denn hinter mir steht die eiserne Notwendigkeit, das eherne „Muß“ …! Und – – das Selbstvertrauen ohne Selbstüberschätzung, die Ruhe des erprobten Verstandes, das volle Maß der Kühnheit, das nie überfließt!
Aufbruch!!
Taito rekelt sich faul.
„Alter Fettwanst, es hilft nichts, du wirst ein längeres Bad nehmen müssen, und wenn du deine Beine nicht sehr kräftig bewegst, wirst du Wasser schlucken und dein Herr wird alle Mühe haben, dich durch die Strömung ans Land zu bringen! Also richte dich danach, und jetzt – – hinab ins Wasser, – strampele nicht, du warst schon immer wasserscheu!“
Strömung?! Ja – aber der Strom war „gekentert“, wie der Fachmann sagt, es war Flutzeit, und die tausend feinen Fäden zogen gen Osten mit uns davon, schneller als uns lieb, führten uns an den Riffen vorüber und zu meinem Erstaunen in eine breite Bucht hinein, die genau von Südost nach Nordwest tief in den Sandteil von Royal-Insel einschnitt und dicht bewaldete Ufer hatte – fast ein Paradies inmitten gelblicher Sandberge und Sandebenen, – zu meinem noch größeren Erstaunen belebt von … Tieren!
Als wir landeten – und wie landeten! –, hatte der Regen aufgehört, die Morgenbrise jagte das Gewölk auseinander, die Sonne kam, und wir beide standen nicht auf Land, sondern auf den Planken eines versunkenen, versandeten Wracks.
Das war vielleicht die größte Überraschung, als ich mit den Füßen gegen das rostige Dach eines Deckaufbaus stieß und als wir hier auf diesem Dach unweit des Ostufers Atem schöpfen konnten. Das Wasser reichte mir nur bis an die Fußknöchel, Taito kaum bis zu den Bauchhaaren, und Taito schüttelte sich die Tropfen aus dem Pelz, setzte sich nieder und wollte offenbar ein Begrüßungskonzert anstimmen. Ich packte zu, – und aus dem Konzert wurde ein Quietschton, der schrill und kurz wie ein drohendes Signal drüben in den Büschen eine kleine Herde Känguruhs aufscheuchte.
Seltsam – hier Känguruhs, so weit südlich, wo bereits die kalte Jahreszeit gelegentlichen Schneefall bringen mußte!
Die Royal-Insel war offenbar eine sehr geheimnisvolle Insel, – das wurde mir immer klarer …
Nun, auch die „Gespenster“ und die Gondaloors würden mit sich reden lassen! – – Hm – wer sind die Gondaloors …?! Guß Trebber weiß es, ich weiß es nicht.
… Ich habe da soeben in dem sehr vielseitigen, lehrreichen Buche des australischen Professors Codler gelesen … Gewiß, das Werk stammt aus dem Jahre 1914, aber sein Inhalt dürfte in den wenigen Jahren seit der Erstauflage kaum durch allerneueste Forschungen überholt sein, obwohl die Zeit seit 1914 sozusagen galoppiert.
Codlers Buch heißt „Von Australien bis zur Antarktis“, und mehrere Kapitel befassen sich nur mit dem interessanten Nachweis, in welchem Umfang Fauna und Flora Australiens nach Süden zu bis zu den vergletscherten Gestaden des Südpols immer mehr abnehmen. – Während Viktoria, der gebirgige, fruchtbare Südteil des kleinsten Kontinents, noch all die vielfachen, für Australien so kennzeichnenden Baumarten, Büsche, Gräser, Blumen und Tiere aufweist, kann man in dem südlichen Anhängsel, der großen Insel Tasmanien, die etwa an Flächeninhalt der Schweiz gleicht, bereits eine starke Abnahme dieser Fauna und Flora feststellen. (Daß die Engländer einst die Ureinwohner Tasmaniens, die mit zu den Australnegern zu rechnen waren, völlig ausgerottet haben und daß die letzte Tasmanierin, Trucanini mit Namen, 1876 in London starb, erwähnt Codler gleichfalls.) – Als nächste Abstufung nennt der Gelehrte dann die unbewohnten, bereits in der Treibeisgrenze liegenden Macquarie-Inseln, die natürlich von der Natur noch spärlicher bedacht sind. Dann zählt er die Emerald-Insel auf, über deren Existenz einst viel gestritten wurde. Weiterhin hat er sich mit der 1903 von Scott entdeckten Scott-Insel (schon im eigentlichen Südpolargebiet) beschäftigt, die lediglich im Sommer schneefrei wird und eine sehr armselige Vegetation besitzt und keinerlei Vierfüßler mehr.
Etwa auf einer Höhe mit den Macquarie-Inseln liegt die Royal-Insel, zu der man fälschlich die weit dürftigere Royal-Compagnie-Insel rechnet.
Was mich an Codlers Buch hauptsächlich interessierte, waren die bemerkenswerten Sätze (nebst Skizze) über die Royal-Insel:
Die ganze westliche Hälfte sowie der Nordostzipfel sind nur den Vögeln zugänglich, da steile Gestade und im Innern weite Strecken Triebsand diesen Inselteil vollständig abschließen. Es dürfte dort auch kaum etwas Besonderes zu finden sein. Als wir den sandigen Ostteil gründlich durchforschten, wobei uns die hohen Buttongrasbüschel, Farnbäume, Krüppelkiefern, stattliche Eukalyptuswaldungen und zum Teil völlig verfilzte Dornbüsche, durchzogen von Schmarotzergewächsen, auffielen, stießen wir lediglich auf Känguruh-Ratten und verwilderte europäische Katzen (wohl von einem Schiff ausgesetzt), sowie auf Ameisenigel. Größere Tierformen fehlten ganz, auch die Menge der Robben und sonstiger Wassersäugetiere war im Verhältnis zu der günstigen östlichen Küstenform, Sandstrand und Riffe, genau so spärlich vertreten wie die Vogelwelt. Besonders der Mangel an Pinguinen, die doch gerade die Vorzone der Antarktis bevorzugen, sowie das Fehlen ausgedehnterer Nistplätze bedarf noch der Klärung. Zur Besiedlung eignet sich die Insel trotz des milden Klimas, hervorgerufen durch eine starke warme Strömung, schon deshalb nicht, weil anbaufähiger Boden kaum vorhanden ist und weil die Entfernung bis Tasmanien zu groß ist, anderseits, weil die kleineren Stellen Triebsandes, zum Teil unter dünner, fester Sandschicht verborgen, mit heimtückischen Gefahren drohen. Spuren eines Besuchs von früheren Seefahrern waren nur insofern vorhanden, als in der Nähe des Ostufers der jetzt „Codler-Bucht“ getauften lagunenartigen Bai ein noch frisches, gut erhaltenes Wrack und am Ufer selbst Überreste losgebrochener Deckaufbauten und einige Tonnen und Kisten bemerkt wurden. –
– Wie ich zu diesem Buch gekommen bin, wie ich überhaupt wieder hier auf Royal-Insel zur Feder greifen konnte, obwohl wir weder den Kutter noch unsere drei Gefährten in den seit unserer Landung verflossenen achtundvierzig Stunden aufgefunden haben, das ist auch ein Kapitel für sich, sogar mehrere, aber nicht von Professor Charles Emmery Codler, sondern von mir und Taito erlebt, durchkämpft, und nun erst reif für die Feder, nachdem Gussara[7] ben Gotari, reinblütiger Inder, Präsident einer besonders vornehmen Yogi-Kaste aus Benares, sich so weit wieder erholt hat, daß ich mich ihm nicht mehr ausschließlich zu widmen brauche.
Er schläft drüben im zweiten Gemach der Flechtwerkhütte, die ich hier am Ostufer der Codler-Bucht in einer Sandschlucht mitten in mannshohe Dornen und Farnbäume hineingebaut habe, keine große Arbeit übrigens, wenn man die „Wände“ nur mit dem Messer aus den zähen riesigen Moospolstern der nördlichen Abhänge herauszuschneiden braucht und für das Dach eine doppelte Lage desselben Materials verwenden kann.
Er schläft, Taito schläft, und ringsum in den Büschen und im Gestrüpp tappt es leise hin und her, zuweilen erklingt der nächtliche Jagdruf irgend eines Tieres, noch häufiger erklingt das Jaulen und Fauchen der Wildkatzen, die hier auf Royal längst wieder die wenigen Tugenden und die äußeren Merkmale der Haustiere abgestreift haben und fast einfarbig rostbraun sind. Würde Codler heute diese Insel betreten, müßte er ihr in seinem Werke einen Anhang von gut hundert Seiten widmen, – falls das ausreichen würde.
… Köstliche Nacht, so recht geschaffen für dieses neu angelegte Tagebuch, – – wo mag mein bisheriges schwimmen, wo mag der alte treue flache Zinkkasten mit den Gummileisten sein, der so brav meine Niederschrift vor tropischer Feuchtigkeit und vor der grauenvollen Kälte der Antarktis und deren Schneestürmen[8] schützte …?!
Köstliche Nacht, wo da draußen überall im Mondenschein geheimnisvoll das unsichtbare Getier der geheimnisvollen Insel sich regt und lauert und … mordet und gemordet wird, wie das nun einmal Bestimmung im Weltgeschehen ist, – wo dort an der Küste die Brandung tobt und der Sturm über die Ränder der Schlucht hinwegfegt und den Sand in feinen Kaskaden herabstäubt und die Schöpfe der seltsamen Baumarten schüttelt und rüttelt und hier und dort knarrend und knallend ein Riesenschachtelhalm, unten von Ameisen zernagt, sterbend zu Boden sinkt.
Das alles ist Leben, Erleben, das heißt trunkenen Hirns die Wundermilch der Urmutter Natur einsaugen … das ist wie eine Wanderung über Gletscher und Zacken der Hochgebirge mit Ausblicken in grüne Täler, auf weidendes Vieh und Almhütten gleich Spielzeugsächelchen. Das ist noch weit mehr, das ist der Gipfelpunkt der Sehnsucht all derer, die nicht kranken Hirnes den Daseinszweck im straffreien Zusammenstehlen von Reichtümern erblicken, das ist … Mensch sein, sich Mensch fühlen, sich fühlen als Kind dieses allgewaltigen Schöpfungswunders, das niemals erstirbt, das immer wieder sich ergänzt.
Nicht meine Worte, nein, Worte des überschlanken, flachbrüstigen Gussara ben Gotari, der zwei Jahre im Steingrab schlummerte. Also Worte meines neuen Gefährten, eines Mannes von tiefstem Intellekt und zugleich von der feurigen Tatenlust seiner kriegserprobten Ahnen, – eben eine ganz besondere Spezies Mensch, in keine Schablone einzufügen, Philosoph, Theosoph, Mystiker und Abenteurer in eins.
– Meine Gedanken jagen wie die Füllen, sollen aber jagen wie gezähmte Rosse, sonst werde ich hier stundenlang sitzen und nichts vollbringen von dem, was ich noch nachzuholen habe. Ich begann mit:
Der dichte Nebel war bei Sonnenuntergang wieder gewichen.
So begann ich „die Nacht der Gondaloors“.
Ich fahre fort mit:
Taito und ich standen auf dem verrosteten Dach des Wracks, ruhten uns aus, schwammen dann weiter, fanden die Schlucht mit den blühenden Dornenbüschen, eine bezaubernde Wildnis, und suchten ein Versteck für einen ausgiebigen Schlaf.
Aber der Hund Taito, langes gelbes Sofa mit Bulldoggenkopf und nur einem Ohr, also Riesenteckelformat, hob da schnüffelnd den Schädel und stieß jenes Winseln aus, das mich noch stets veranlaßt hat, die Pistole zu lockern.
„Was hast du, Freund Taito?! Laß die Wildkatzen Wildkatzen sein, – wir haben noch Guß Trebbers Bündel und den Seehundsumhang zu holen, du durch eine Wringmaschine gedrehter Boxer!“
Ich war bei Laune …
Es wurde immer heller, und die zarte Schönheit dieser tiefen bunten Sonnenschlucht entzückte mich.
Taitos Nase zog sich kraus, seine Augen warfen mir eine Art Blick zu, die ich auch kenne, und dann trabte er nach links in ein Gestrüpp von langblätterigen blaugrünen Eukalyptusjünglingen hinein, zwang mich so, ihm zu folgen, und stand erst still, als der einzige Felsen dieses Sandkanons erreicht war, – ein Felsen wie ein richtiger Widderkopf, und zwischen den mächtigen Felsenhörnern war da im Gestein eine mit toten Zweigen, totem Laub, Sand und Riesenpilzen halb bedeckte Steinplatte.
Seltsam, das sah fast wie ein Grab aus, – noch seltsamer, daß Taito wie toll am Rande der Platte zu scharren begann und wiederum winselte, winselte.
„Hallo, old Boy, – ich helfe dir!“
Ich packte zu …
Grab oder nicht Grab, – ich wollte sehen, was unter der Platte des sicherlich hohlen Widderschädels steckte.
Was steckte da?!
Ich starrte hinab …
Eine ovale Vertiefung, und in dieser Schüssel liegt da ein Mensch, die Hände über der Brust gekreuzt, die Augen geschlossen, gekleidet in einen einwandfreien derben Sportanzug, Hemd und weichen Kragen, ein braunes, bartloses Skelettgesicht, fast wie das Bert Bengs, – – aber dieser Tote duftete nicht, war auch nicht Mumie, war nur Schläfer kraft eigenen Willens auf lange Sicht.
Das Kopfhaar schwarz, lang wie Weiberhaar, die Fingernägel endlose Krallen, – – aber bartlos, keine Stoppeln, glatte Wangen, dünne Nase, kühne hohe Stirn, harter Mund, flaches Kinn …
So sah ich ihn im Morgengrauen.
Rätsel …!!
In meinem Hirn flackern Erinnerungen auf an Geschichten von Wunderleuten des Wunderlandes Indien, an Bücher, die ich einst mißtrauisch verschlang, an neuere Werke der Mystiker, die den Körper als bloße Hülle der Seele schmähen und die Seele als Kern des Leibes bezeichnen, nicht das Herz, wie die Mediziner so gern jedem vorschwatzen.
Die Steinplatte dieses Grabes hat mir bewiesen, daß dieser Schläfer hier zahllose Monate unverweslich bereits überdauert hat. Nicht allein. Er hat Gefährten, tote Dinge, in den Ecken verstaut, vielerlei Dinge, auch das Buch von Codler, übrigens nicht das einzige in dieser tiefen Felsschüssel. Da sind außerdem eine kurze Büchse, eingefettet bis zum Übermaß, da sind zwei Selbstlader, Kisten, Bündel, ein Fernglas …
Fabelhaft, was dieser braune Gentleman sich mit ins Grab legen ließ, noch fabelhafter, daß Taito einfach hinabspringt und den Mann beschnüffelt und dann … knurrt.
Hallo – er knurrt!
Er knurrt niemals Leichen an. Auch das weiß ich.
„Platz, Taito …!“
Ich bücke mich über den Schläfer und befühle seine schmalen Hände, fühle nach dem Puls, – – leises Grauen läuft mir über den Rücken, ich spüre das innerliche Wallen des Blutes: der Mann lebt!
Sinnend betrachte ich ihn.
Lasse ich ihn ruhen in seinem Mausoleum hier auf Royal-Insel, wo doch ein Inder wahrlich nichts zu suchen hat?
Aber die Sachen da, die kann ich brauchen …
Stehlen, bestehlen einen unheimlichen Mann wie diesen?!
Ich greife nach einem Paket, öffne es in der Grube stehend, und obenauf liegt das Werk von Charles Emmery Codler.
… Schlage die Titelseite auf …
Widmung da – mit Tinte:
Ernest Gondaloor seinem verehrten Gast
Gussara ben Gotari.
Kalkutta, 21. März 1919.
Ernest Gondaloor!!
Und da tauchte der Gnom und Landsmann Guß Trebber in meiner Erinnerung auf und sein wirres Geschwätz: Erlaucht Graf von Monte Christo, Gondaloors – – und so weiter!
Hier also derselbe Name:
Gondaloor!
Das entschied alles. Ich hebe den Inder heraus, lege ihn in den Sand und beginne künstliche Atmung einzuleiten, pumpe ihm die Lungen voll Luft, bewege seine Arme ganz taktmäßig – wie bei einem Ertrunkenen.
Kniee dabei, arbeite so wohl zehn Minuten lang, und Taito spielt den erhabenen Zuschauer und zwinkert mich an …
„Übergeschnappt, Herrchen?!“
„Ach nein, Taito, – – sieh nur, er atmet schon von selbst … Seine Wangen färben sich lebhafter und …“
Dann – ein neuer Gedanke, auch Erinnerung an mystische Geschichten und Märchen.
Ich zwänge dem Herrn Gussara ben Gotari die Messerklinge zwischen die krampfhaft fest verschlossenen, untadeligen Zähne, und der Unterkiefer gibt nach, – ich sehe, daß die Zunge zurückgeklappt ist, ich fasse ihm mit den Zeigefingern in den Mund, biege die Zunge nach vorn, und im selben Augenblick öffnet er die Augen und schaut mich verwirrt an.
Nach zwei Stunden, nach zwei vorsichtigen Mahlzeiten (ich habe schnell noch Trebbers Gaben geholt), kann der Inder bereits ein paar Worte lallen.
Und die lauten in gutem Englisch, – für mich trotzdem hebräisch, unverständlich:
„Das Schicksal führte Sie her, o Fremder, – und die Strafe zerrinnt in hellem Sonnenschein.“
Allerdings, Sonnenschein hatten wir, – und das andere?!
Strafe?!
Ich gestatte mir, einiges zu fragen.
Bisher hat mein Gefährte nicht eine dieser Fragen beantwortet, obwohl er nun längst vortrefflich auf dem Posten ist und sogar schon vor die Hütte geht und sich niederkauert und brütend vor sich hinstarrt.
Aber mich hat er ausgefragt, und in seiner Art zu fragen liegt etwas ungemein Zwingendes. Ich wollte mich wie er in Schweigen hüllen. Er war stärker. Sein Wille siegte.
Jetzt hat Gotari auch seine Finger- und Zehennägel wieder in Ordnung, hat sein Haar gekürzt, und heute abend haben wir angenehm geplaudert und beratschlagt, wie wir den Gondaloors wohl einen Besuch abstatten könnten, ohne im Triebsand zu versinken, ohne eine Kugel in den Schädel zu riskieren.
Gotari hat eine großartige Manier, mich zu bevormunden.
„Abelsen, erst muß ich völlig gesund sein“, meinte er ablenkend, als ich wiederum bohrte und bohrte, was es mit den Gondaloors auf sich hätte.
Er läßt sich nicht anbohren. Er ist Patentstahl, ist ein lebender Stahltresor, den ich nicht sprengen kann.
Ich verlor heute abend auch mal die Geduld.
„Gotari, so geht es nicht weiter …! Raus mit der Sprache! Du kennst diese Gondaloors, diese Tänzerinnen, diesen Grafen von Monte Christo, auch meinen Landsmann Gustav – Guß Trebber. Raus mit der Katze aus dem Sack!!“
Das war so der Ton eines Mannes, der die Katze auch mit der Pistole aus dem Sack jagen will. Ich hatte inzwischen meinen Spucker fein gesäubert, mit Beutelrattenfett geölt, und die Ratte, die das Fett geliefert, war tot, aber Gotari lebte und blickte mir starr in die Augen und lächelte sanft – auch so wie Bert Beng lächelte, als er seine Wolfsmeute den Schuften auf die Fersen hetzte – – scheinbar.
In Gotaris Lächeln liegt eine Welt von Hochmut und Anmaßung.
„Rede, zum Teufel!! Ich habe dieses Spiel satt!“ fauchte ich ihn an …
Er lächelte weiter, und da schämte ich mich, denn Gotari ist ein Genesender, und ich falle zuweilen aus der Rolle, wenn ich mal allzu mächtig die Brunst körperlicher Kräfte spüre.
„Meinetwegen behalte auch deinen Kram für dich!“, – und dann ging ich in mein Hüttengemach und setzte mich an den Steintisch, eigenes Fabrikat, und probierte Gotaris Tinte, Feder und Papier.
Nun schläft er da drüben in seinem Hüttenraum, und ich bin mit alledem, was Royal-Insel mir bot bisher, so ziemlich im reinen.
So ziemlich … –
Das stimmt schon: Gotari muß mit den Gondaloors hierher gekommen sein, und das Wrack in der Buchtmündung ist das einer Jacht, – auch das weiß ich.
Tolle Geschichte, – eigentlich weiß ich gar nichts; – Jacht, zweifellos! Aber die Beziehungen Gotaris zu den Gondaloors sind dunkel wie eine Regennacht.
Will ich ehrlich sein: Ich habe Angst vor der eigenen Kourage und vor diesem durch nichts zu erschütternden Inder, der in allem ein Mann in den besten Jahren von tadellosem Äußeren ist, mit einem Benehmen wie ein englischer Herzog, – noch abgeklärter vielleicht …
…Wie die Wildkater heute nacht balzen!! Das ist ein Gejaule und ein Konzert wie in einer Baldrianplantage, die sämtliche Katzenviecher anlockt und toll macht!
Nervös werde ich …
Raus muß ich, – – irgend etwas unternehmen! – Wo ist der Kutter, wo ist Grita, deren Lippen so betörend weich waren!
Seltsam das: Grita, Kutter, Bert Beng, Mita Mac Barny, – all das ist so verschwommen in meinem Hirn wie verblaßte Traumeindrücke.
Wenn ich zu Gotari von Grita sprach und mich in Feuer redete, dann blieb er stumm, immer stumm …
Frauen scheinen ihm nichts zu bedeuten, und doch hat er, keineswegs nur weltabgewandter Oberfakir aus Benares, oft genug in seiner Heimat den Tiger gejagt und Kobraschlangen mit dem Schlitzstecken gefangen und weite Ritte unternommen – erzählte er, und er log nicht, er lügt nie. Das sieht man ihm auf den ersten Blick an. Er wäre viel zu stolz dazu.
Ich übertreibe nicht: Er ist vielleicht die fesselndste Persönlichkeit, die je meine Pfade kreuzte, ihm haftet dennoch etwas an, und auch hierin will ich ehrlich sein, das mich abstößt. Den Grund für diese Abneigung habe ich noch nicht feststellen können. Ist es sein Hochmut, seine Anmaßung, – steckt anderes dahinter, das mehr im Unterbewußtsein liegt?! – Ich würde, falls Gotari deutsche Schrift lesen könnte, niemals diese Sätze hier niedergeschrieben haben. Ich habe mich überzeugt, daß er es bestimmt nicht kann. Wie sollte er auch – als Inder?! Hätte ich nicht eine deutsche Mutter gehabt, würde ich als gebürtiger Nordländer, als Schwede, auch nur lateinische Typen kennen. Ich stellte Gotari in dieser Hinsicht verschiedentlich auf die Probe. Auch ich bin schlau. Ich tat es bei scheinbar harmlosen Anlässen, die dennoch unbedingt seine Neugier reizen mußten.
Also – hinaus muß ich! Die Mondnacht lockt. Ich kann auch nicht länger warten. Es gibt Pflichten, die über gewissen Rücksichten stehen. Gotari kann hier nichts zustoßen. Aber meine lieben alten Gefährten, der brave Kutter dazu, die haben ein Anrecht auf Hilfe. Freilich, ich sagte es schon: die Erinnerungen an sie sind merkwürdig rasch verblaßt, und wenn ich nicht hier mit der Feder in der Hand diesen Erinnerungen wieder frisches Leben eingehaucht hätte, wer weiß, ob dieses gesteigerte Pflicht- und Kameradschaftsgefühl sich gemeldet hätte. – –
Ich packe leise die großen Briefbogen weg, – sie stammen aus Gotaris Vorräten. Überhaupt: der Inder hatte sich gut eingedeckt mit allerlei Kulturerzeugnissen. Sein Mausoleum war ein kleines Warenlager.
Ich löschte die Laterne aus, und da erst sah ich, daß der Mond mit schrägen Strahlen durch die Fensteröffnung vor mir auf eine Ecke des Steintisches fällt – derselben Steinplatte, die noch vor kurzem Gotaris Felsenschüssel bedeckte.
Eine Weile blieb ich noch sitzen auf dem Rohrsessel, eigenes Fabrikat, und genieße den Rest der Zigarre und die Aussicht in das bläulich überhauchte Tal mit seinen Gestrüppstreifen, seinen Dornenverhauen, seinen stangenartigen Riesenschachtelhalmen und den grünen jungen Eukalyptusbäumchen. Hebe ich den Blick aufwärts, so sehe ich drüben am Südrand der Schlucht eine wellenförmige helle Sandlinie, unterbrochen von Grün und Weiß, Büschen und Blüten. Zwischen den Büschen da oben sitzt ein Känguruh und äst friedlich. Diese Riesenbeuteltiere, die hier nur eingeführt, ausgesetzt worden sein können, haben sich nach Codlers Besuch auf Royal rasch vermehrt, – er traf hier noch kein einziges an, jetzt mögen es an die fünfzig sein, und sie sind wenig scheu. Die Vermutung liegt nahe, daß die Gondaloors sie mitbrachten, mindestens zwei, drei Pärchen, daß sie auch noch anderes Getier an Bord hatten. Ich weiß es nicht. Es ist noch so Vieles gänzlich ungeklärt.
… Die Wildkatzen jaulen, fremde Laute beleben die Dickungen, – aber Taito schläft gelassen zu meinen Füßen und schert sich um nichts. Diese nächtliche Musik stört ihn nicht mehr, und seitdem ihm, dem Jagdwütigen, einmal ein rostroter Wildkater auf den Nacken flog und ihm die kaum vernarbte Streifschußwunde wieder aufriß, hat seine Katzenfeindschaft einen wohltuenden Dämpfer erhalten. Es hätte ja auch gerade noch gefehlt, daß Freund Taito uns, die wir nur nachts uns von der Hütte zu entfernen wagen, verriete und die vom Westteil von Royal herüberlockte!
Und in dieses stille Genießen der durch das Mondlicht fein abgetönten Naturschönheiten platzt da wie eine Bombe etwas gänzlich Unerwartetes hinein. – Bombe?! – Nein, weder mit übermäßigem Krach noch mit der rundlichen Fülle, die man nun mal Bomben zugesteht. Also der Vergleich paßt nicht. Aber einen Mordsschreck bekam ich doch, als gänzlich unerwartet über dem unteren Fensterrand (Fenster gleich viereckiges Loch) zunächst ein blonder Haarwust und dann ein mit tief gebräunter Haut überspannter Schädel mit freilich sehr blanken, scharfen Augen erschien.
Bert Beng!
Nun – an Überfluß an Fett litt er nie, dieser Melbourner Hafenpolizeiinspektor a. D., dieses geschmeidige Gerüst aus Knochen und Sehnen! Die schier unglaubliche Magerkeit beeinträchtigte auch niemals sein schneidiges, gefälliges Aussehen, – wie hätte sich sonst wohl Mita Mac Barny damals so auf den ersten Blick in ihn verlieben können?!
Hm – Berts Bartstoppeln von rund drei Tagen würden der zärtlichen Mita gründlich mißfallen haben.
Dieser Bert hob den Zeigefinger warnend an die Lippen und flüsterte dann – und das war so echt er selbst:
„Rasierzeug mitbringen, – wir treffen uns am Widderkopf!“
Und weg war er – wie ein Gespenst.
Rasierzeug?! – Unsere Schabmaschine nebst Seife und Pinsel und Klingen befanden sich irgendwo auf dem Kutter. Aber in Gotaris reichhaltiger Grabausstattung hatte ich Ersatz entdeckt und auch benutzt.
Meine Gedanken irrten weiter …
Bert war in Freiheit, – wo waren die Frauen?! Irgend etwas stimmte hier nicht …
Ich erhob mich lautlos, bedeutete Taito, sich ruhig zu verhalten, und horchte an der Matte, die Gotaris Raum von dem meinen trennte. Der Inder hatte gestern früh diese Scheidewand verlangt und sie mit seinen Gebetübungen begründet, hatte als strenggläubiger Hindu und Brahmanenverehrer sich auch so eine Art Altar errichtet.
Ich hörte seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge und schlich auf meinen Bastsandalen ins Freie. Die Tür lag nach Westen zu, und bis zum steinernen Riesenwidder waren es nur fünfzig Meter, ein schmaler Pfad, den ich selbst freigelegt hatte.
Taito trottete hinterdrein, – plötzlich witterte er Beng, schoß vorwärts, und ich fand ihn auf Bengs Schoße wieder.
Bert saß auf dem Rande der Felsschüssel zwischen den beiden Hörnern im Mondlicht und blinzelte mich melancholisch an.
„Olaf, das war eine grenzenlose Schweinerei damals … damals nachts, als du die Schwimmtour riskiertest. – Gib das Rasierzeug … Wasser habe ich …“ Er klopfte an eine Feldflasche von beneidenswerter Schönheit. Die Hand reichte er mir nicht, so etwas lag ihm nicht, er tat ganz so, als ob wir uns niemals aus den Augen verloren hätten.
Mit erstaunlicher Sorgfalt seifte er seine Stoppeln ein und sprach in Pausen weiter.
„… Schweinerei, – denn ich Esel mußte dir natürlich folgen, als zwei Stunden verstrichen waren. Feine Rasierseife hat der Kerl!!“
„Wie, du kennst Gotari?!“
Ein ironisches Flackern in seinen Augen …
„Ob ich ihn kenne? Ich umschleiche euer Palais seit gestern abend … Also Gotari heißt er. Müßte anders heißen, der braune Knabe! – Wie gesagt, auch die beiden Mädels quälten und drängelten, besonders Grita. Und natürlich riß mich die Strömung nach Westen ins Meer, und daß ich noch lebe, verdanke ich wohl nur meinen Muskeln. Nach stundenlangem Schwimmen erreichte ich einen Punkt der Nordostküste, wo unten am Steilufer ein paar Riffe mich gnädig aufnahmen. Ich war so etwa neun zehntel mausetot, schlief ein, erwachte wieder, da war es wieder dunkel geworden, schwamm abermals jetzt nach Norden zu mit der warmen Strömung, sehr warm war sie, und erreichte glücklich die Riffe und fand … nichts mehr von unseren Lieben und von dem Kutter – alles futsch … – Tadellose Klinge dies, – nun werde ich bald wieder menschlich dreinschauen. – Na – und dann, dieweil ich Unrat witterte, krabbelte ich auf dem Ostteil der Insel umher und entdeckte dein Versteck nur infolge Taitos etwas geräuschvollem Boxmatch mit dem Wildkater … – Halte mir mal den Spiegel, – so … danke …“
„Und weshalb kamst du nicht sofort zu uns, Bert?!“
Wieder das Flackern seiner Augen und ein bedeutsames Hochziehen der Augenbrauen.
„Dja – weshalb?! – Sagen wir, ich hatte so meine Gründe.“
„Welche zum Teufel?! Rede vernünftig.“
„Das tue ich stets, alter Olaf … – Gründe also … darüber möchte ich vorläufig die Schleier der Verschwiegenheit breiten. – Sehr nett, daß du auch an Kamm und Bürste gedacht hast … Ohne Scheitel komme ich mir wie ein Botokude vor. Ich weiß zwar nicht, wo diese Botokuden leben, aber es scheinen ziemliche Hottentotten zu sein – Mistfinken.“
Bert Bengs Eigenart verlangt Geduld.
„Wo sind Mita und Grita?“, fuhr ich dazwischen.
„Doch wohl drüben im Westteil bei den Gondaloors, Olaf … Ich habe dich und Gotari verschiedentlich bruchstückweise belauscht und kenne so ziemlich alles, was hier passiert ist, sogar noch etwas mehr … – Wie findest du mich nun? Schick! Richtiges Kostüm für Royal-Insel: Zerfetzte Hosen, Sandalen aus Seehundsfell, Jacke aus Seehundsfell … rasiert, Scheitel, zwei Pistolen, Messer, – jeder Zirkus würde mich als Cowboy engagieren. Aber die Insel hier ist mir lieber. Sie steckt bis an den Hals voller Geheimnisse und Gefahren … – Taito, Lump, laß das Knurren! Es ist ja doch nur ein großer Kater, der mausen möchte …“
Er hielt Taito das Maul zu und starrte in das Gestrüpp. Ganz unvermittelt sagte er dann:
„Olaf, ich habe drüben am Rande Seehundsfallen aufgestellt … Bleibe nur hier oder geh besser sofort in die Hütte zurück, ich bin in einer Stunde etwa wieder bei dir und werde mich dann sehr freuen, Mr. Gotaris Bekanntschaft zu machen. Gehe aber wirklich sofort, Olaf, – es lohnt schon. Wiedersehen.“
Im Nu war er rückwärts im Gebüsch verschwunden, – verblüffter als ich konnte kaum jemand sein. Berts Verhalten blieb mir unbegreiflich, nur eins merkte ich: Hinter diesem fluchtartigen Aufbruch verbarg sich ein ganz bestimmter Zweck!
Ich zögerte nicht, seine eindringliche Mahnung zu befolgen, und ich lief gebückt den Pfad hinab, hinter mir der sanft knurrende Taito, der entschieden wieder Katermordgelüste hatte. Vor der Hüttentür machte ich Halt. Wir hatten hier eine Art Bank errichtet, ich setzte mich, spähte mißtrauisch in die Runde und nahm die Pistole für alle Fälle in den Schoß. Ein solches entsichertes schwarzes Stahlschoßhündchen ist ein wunderbares Nervenpulver, konzentrierter Baldrian, von dem sehr oft ein Bleitröpfchen genügt, eine peinliche Situation zu klären.
Ich horchte mit gespannten Sinnen auf die vielfachen Geräusche der Nacht. Ich kann sehr wohl Verdächtiges von Unverdächtigem unterscheiden …
Irgend etwas war hier nicht in Ordnung.
Taito wurde noch quecksilbriger, – jählings flog ich hoch …
Bei Gott: Berts Stimme in der Hütte, dazu sein harmloses jungenhaftes Lachen …
„Donnerwetter, ich denke, Sie schlafen, Mr. Tagore, Lahore, Misora oder wie Sie sonst heißen mögen! Und nun kriechen Sie hier durch das Fenster herein?! Wo waren Sie denn?!“
Ich war jedenfalls im Moment drinnen … Ich sah, daß dieser prächtige Bert eine Laterne in der Linken hielt, in der Rechten aber auch so ein Schoßhündchen aus Stahl, und daß Gussara ben Gotari halb im Fensterloch seines Gemaches hing und zweifellos in dieser Situation zum ersten Male sein anmaßendes Gesicht etwas stark zu verlegener Bescheidenheit herabgeschraubt hatte – wie eine grelle Karbidlaterne, die am Erlöschen ist.
„Was heißt das?!“, mischte ich mich ebenso unwillig wie mißtrauisch ein. „Wo warst du, Gotari?!“
Er rutschte vollends durch das Fensterloch, richtete sich kerzengerade auf und erwiderte leise, indem er Bert Beng mit hochmütiger Neugier musterte:
„Ich erwachte vorhin, und eine innere Stimme sagte mir, daß draußen fremde Leute umherschleichen, – ich trat ans Fenster und gewahrte einen davonhuschenden Schatten … Dorthin entfloh er …“ Er deutete nach Süden. (Der Widderkopf lag im Westen.)
„Aha“, meinte Bert gemütlich, „also einen Schatten …! Und dann?“
„Lief ich hinterdrein … fand nichts und kehrte zurück … Das ist alles.“ Gotari erlaubte sich eine abschließende Geste, die wohl besagen sollte, daß das Thema für ihn erledigt sei.
„Hm …!“, machte Bert sehr gedehnt. „Kennen Sie die Geschichte von dem Manne ohne Schatten, Mr. Gotari? – Nein? Genau besinne ich mich auch nicht auf den Inhalt. Jedenfalls sahen Sie einen Schatten und keinen Mann, – ich habe Sie doch richtig verstanden?! Also einen Geist – ohne Geist, ein dummes Gespenst, daß Sie vielleicht in Ihrer Totengruft besuchen wollte, befangen in dem Irrtum, Sie wären noch mausetot.“
Gotari lächelte überlegen. „Sie sind sehr leichtsinnig, Mr. Beng, – ich nehme an, daß Sie dieser Freund Olafs sind. Vergessen Sie nicht, daß drüben auf der Westhälfte der Insel Leute hausen, die niemanden hier auf Royal dulden und die …“
„Weiß ich alles, weiß sogar fast zu viel“, verulkte der gute Bert den Yogi aus Benares. „Würde ich Ihnen erzählen, was alles ich weiß, dann dürften Sie wochenlang Schlafpulver nehmen müssen. Ich will Sie schonen. Aber Abelsen und ich schonen uns nicht, wir werden diesen Gondaloors nun sofort eine Antrittsvisite abstatten und höflichst bitten, mir einiges zu erklären, falls Sie nicht so liebenswürdig sind. Ich habe die unangenehme Angewohnheit, meine höflichen Bitten sehr unhöflich durch dies Ding hier zu unterstützen … Selbstlader nennt man das, neun Schuß sind darin, also?!“
Mir war es inzwischen längst klar geworden, daß Gotari uns beide belauscht hatte. Er hatte auch Berts Erscheinen vor meinem Fenster bemerkt, – er log also, und ich war durchaus damit einverstanden, ihm nun endlich ein Geständnis abzuzwingen. Bisher hatte er mir nichts erklärt, keine Frage beantwortet. Jetzt erkannte ich seine Hinterhältigkeit, und als Beng kaltblütig die Waffe hob und nochmals beteuerte, er würde unbedingt abdrücken, falls Mr. Gussara ben Gotari nicht endlich mit der Wahrheit herausrückte, mengte ich mich nicht ein, sondern blieb Zuschauer.
Die aufgeblasene, hoheitsvolle Hohlheit dieses fragwürdigen Inders schrumpfte unter Bert Bengs beißender Ironie und unter seinem Spiel mit Wortanklängen immer mehr zusammen. Es gab da mal, ich war noch ein echter Lausbub – so einen Gummiartikel, der „sterbendes Schweinchen“ hieß, eben ein Schweinchen, das kläglich jammernd verröchelte und zum Schluß nur ein Häuflein zerknitterte Gummiblase war. An diese Spielerei erinnerte mich Herr Gotari, als der frisch rasierte Beng nochmals unterstrich:
„Ich drücke ab – oder Sie rücken heraus!“ und zum Überfluß noch hinzufügte:
„Wahrscheinlich sind Sie da vorhin über Ihren eigenen Schatten gesprungen, Sie Schlafkünstler!“ – eine feinsinnige Äußerung, die Herrn Gotari sicherlich starkes Mißbehagen bereitete, da er sich plötzlich auf seinen Schemel niederließ und so das erste Stadium eines absterbenden, aufgepusteten Spanferkels älteren Datums andeutete.
Mich amüsierte das Ganze, mochten die Umstände auch noch so bitter sein.
„Was wissen Sie von den Gondaloors?“, heischte Bert nunmehr bündige Auskunft. „Wann kamen die Leute hierher? Wann sank die Jacht?“
Der Inder erwiderte leise:
„Im Dezember 1919, genau am 15. Dezember, und die Jacht lief in derselben Nacht um elf Uhr auf das Riff auf.“
Beng warf mir einen ungläubigen kurzen Blick zu.
Aber zu weiteren Fragen kam es nicht, da Gotari mit völlig veränderter Stimme, die nur mehr ein heiseres Raunen war, von selbst fortfuhr:
„Das Unglück meiner Freunde griff hart an meine Seele. Ich glaubte die mißgünstigen Götter dadurch versöhnen zu können, daß ich mich freiwillig in den Schlaf der Ewigkeit versetzte …“
Er stand langsam auf, seine Augen öffneten sich unnatürlich weit, verdrehten sich …
„… Eine letzte Bitte richte ich an euch … Begrabt mich wieder so, wie Abelsen mich fand, und gönnt mir die Ruhe des Vergessens. Es ist … vor … über … es ist vorüber … Brahma geleite mich …“
Seine Lider schlossen sich, die Blutwärme schien aus seinen Wangen zu weichen, die Züge versteinerten, und wie ein Automat kreuzte er ruckweise die Arme über der Brust und fiel plötzlich wir ein Klotz nach hinten auf seine Lagerstatt von Moos und Seehundsfellen.
Als wir ihm beisprangen, war der Körper bereits starr und steif und der Puls kaum mehr spürbar.
Beng sagte nur – fast zu gefühllos:
„Gut, – also wieder hinein mit ihm in seine Gruft! Auch das, was wir von seiner Gruftausstattung entbehren können, soll er mitbekommen. Deine Tischplatte wirst Du ebenfalls wieder hergeben müssen, Olaf … War die Steinplatte eigentlich sehr festgekeilt?“
Ich nickte nur …
Was ich hier soeben mit erlebt hatte, war mir wie ein unauslöschliches grauenvolles Geschehnis. Und Beng … Beng pfiff leise irgendeinen Marsch!
„Höre auf!“
Er lachte vergnügt. „Keine künstliche Aufregung, Kamerad …! Im Grunde habe ich eine Patrone gespart … Der Kerl hätte ja doch nie die Wahrheit bekannt.“
Bert war schwer etwas übelzunehmen. Ich hatte ihn pfeifen gehört, als vier Schufte vor seiner Wolfsmeute entflohen – in einer Todesangst, die ihr Hirn auflodern ließ in gegenseitigem Haß.
Beng war kein brutaler Wicht, nur … Mann!
Ich half ihm schweigend.
Der Inder, steif wie ein Brett, wurde in das Felsloch getragen, wir gaben ihm auch die letzten Liebesgaben mit, nicht alle, deckten die Platte über die Gruft und wälzten Steine darauf und streuten Zweige, Gras und Blätter darüber.
„So – der wäre aufgehoben!“ sagte Kamerad Beng ungewohnt feierlich. „Und nun kommen die Gondaloors an die Reihe …! Das wird ein härteres Stück Arbeit werden.“
„Wie ein Watteau …“, sagte derselbe Bert zehn Minuten später, als wir oben am Südrande der Schlucht standen und nun vor uns die welligen, baumbedeckten, buschreichen Täler sich weithin bis zu den Gestaden der Bucht und bis zum Meere hinzogen, – – ein einziges Gedicht von Mondschein und Stimmung.
„Antoine Watteau[9] malte zumeist nur galante Schäferszenen, umflossen von duftigen, goldenen, weichen Lichttönen einer von Baumkronen gemilderten Sonne“, wagte ich einzuwerfen. „Diese Landschaft, denke ich, gebührt mehr dem halb träumerischen, halb dämonischen Pinsel eines Arnold Böcklin[10], der … die „Toteninsel“ schuf und dem man fälschlich immer auch das düster-melancholische „Gestade der Vergessenheit“[11] zuschreibt …“
Bert wiederholte sinnend: „Toteninsel – Gestade der Vergessenheit … – beides trifft hier wohl zu, beides … fürchte ich.“ Dann lachte er leise. „Ein Treppenwitz der sogenannten Bildung, daß sich hier auf Royal zwei zerlumpte Kerle wie wir über Malerei unterhalten und dabei sehr stark damit rechnen müssen, daß ihnen nach einer halben Stunde der Sensenmann so oder so in ein besseres oder schlechteres Dasein verhilft …! Komische Käuze sind wir doch, Olaf, – es fehlt nur noch, daß wir einen Streit über die andere Frage beginnen, ob ein indischer Yogi jahrelang im Starrkrampf in einer Gruft liegen kann und nachher wieder von einem gewissen Abelsen auferweckt wird und ißt und trinkt und spioniert wie ein gewöhnlicher Sterblicher, – was dieser Kerl niemals ist, mein guter Olaf, im Gegenteil: Ein Schuft ganz großen Formats, sage ich dir, der lediglich die eine Gabe besitzt, sich selbst in kataleptische Starre zu versetzen, was weiter kein Kunststück ist.“
Ob Taito für dieses Gespräch Interesse hatte, bezweifele ich. Er saß neben uns im Sande und starrte mit vorquellenden Augen auf das Schlupfloch einer Beutelratte, aus deren Bau das verführerische Quieken von Jungen wie Geisterstimmen heraufschallte.
Bert Beng fügte in seiner sprunghaft-kraftvollen Art hinzu: „Immerhin, sowohl „Toteninsel“ als auch „Gestade der Vergessenheit“ sind Schlagwörter, die wir hier beherzigen sollten. Das eine ist ja sicher: diese Gondaloors, von denen wir bisher nur drei tanzende Damen sowie als dienendes Anhängsel den kleinen Gustav Trebber zu Gesicht bekamen …“
„… Du sahst Guß ebenfalls?“, – und ich war ehrlich erstaunt über Berts Bemerkung.
„Ich sah ihn – und ob! Ich sah noch mehr!“ Er pfiff leise ein paar Takte aus dem Fliegenden Holländer. „Also – diese Gondaloors sind, um in der Sprache eines Literaturbonzen zu reden, Wesen von ungeahnten Möglichkeiten innerer und äußerer Entfaltung, – ich glaube, ich las das mal irgendwo so ähnlich … Wir absolut nüchternen, sachlichen Banditen besseren Schlages würden schlichter sagen: Es sind Leute, die allerhand zu verbergen haben, denen wie uns die Polizei und das Gesetz im Nacken hockt und die dennoch höchst anständige Ladys und Gentlemen sein können … können! Geld müssen sie gehabt haben, ihre Jacht war ein Luxusschiff, – – und wenn reiche Leute sich in der Nähe des Treibeises des Südpols verkriechen, stimmt etwas nicht. – Stimmt es?“
„Antwort überflüssig“, meinte ich nur. „Wo sahst du Guß?“
Er pfiff abermals Fliegenden Holländer.
„Oben am Nordkap der Insel, mein guter Olaf … Es ist noch steiler, noch höher als die übrigen Küstenmauern der Westhälfte, und Guß beschäftigte sich dort mit einem Zahnstocher …“
„Womit?!“
„Komme nur, – ich war damals bekanntlich so etwa neun Zehntel tot und ließ mich von der Strömung treiben. Trotzdem – der Zahnstocher gefiel mir …“
Er schritt voran. Es war eine Wanderung gen Norden immer in guter Deckung, immer im Vertrauen auf Taitos Patentnase. Es geschah auch nichts, und etwa nach einer halben Stunde flotten Marsches erreichten wir die äußerste Spitze einer teils sandigen, teils felsigen Halbinsel, der gegenüber, nur durch einen schmalen Wasserstreifen getrennt, im Wasser sich die schwarzen schroffen Granitwände des unbekannten Inselteiles erhoben.
Wohl zehn Minuten kauerten wir hinter einem Felsen, der in einer sumpfigen Wasserlache stand, – an seinem Fuße wuchsen helle gelbe Riesenpilze, dicke Moospolster umgaben seine rissigen Flächen, und faulender Seetang am nahen Strande verstärkte noch den scheußlichen Geruch der Verwesung, der hier die Luft verpestete.
„Aaspilze“, sagte Bert sehr wurstig und beobachtete weiter die vom Mondlicht umspielten zackigen Ränder der Steilwand drüben. „Seltsame Gegend, guter Olaf …! Wo ein Seehund krepiert, ein Walroß verendet, wo dieser Naturdünger den Boden befruchtet, schießen diese stinkenden Pilze hoch … Auch Schwämme findest du an solchen Stellen, – keine Schwämme zum Waschen, die man hauptsächlich im Mittelmeer fischt und denen kein Nichtfachmann später noch ansieht, daß es mal Kolonien von Lebewesen waren, – nein, die hiesigen Schwämme der Übergangszone von Tropenflora und antarktischer Flora sind zum Teil äußerst kunstvolle Gebilde, ähnlich den Korallen, nur weit künstlerischer entworfen, könnte man sagen, dabei genügsamer als die Korallentierchen, denn es genügt ihnen zeitweilige Überflutung durch Wasser und ein günstiger Nährboden. – Ich fühle deinen erstaunten Blick, weil ich so gelehrt dahinschwatze. Hat schon seinen Grund, Olaf, hängt mit dem Zahnstocher zusammen … – Los denn, – die Luft drüben ist rein, dein Landsmann hat kein sehniges Fleisch gegessen und braucht seinen Zahnstocher nicht, ist wohl anderswo auf Posten, – waten wir hinüber, es ist Ebbe, und du erkennst dort deutlich die flachen Stellen … – Trage Taito, – – und nun fix …!“
Bert Beng verließ das Versteck, und in wenigen Minuten hatten wir die schmale Bucht, die sich nach Süden zu erweitern schien, glücklich passiert und drückten uns etwas außer Atem an das Gestein, über uns die Granitmauer, vor und unter uns aber eine Riesenkolonie brauner seltsamer Säulen: Schwämme!!
Was Mutter Natur mit ihrer nie ermüdenden, nie alltäglichen Meisterhand zu erzeugen vermag, sah ich hier dicht vor mir: Einen dreifachen, vierfachen Zaun bräunlich heller Kalk- und Kieselgebilde, – Säule an Säule, außen mit sternförmigen Reliefs verziert, innen hohl, Durchmesser bis zu einem halben Meter, alle ganz fein durchlöchert wie Siebe, alles Lebewesen oder doch deren Skelettformen! – Andere Arten sah ich später: Wie köstliche Kannen der Antike, oder wie Vasen, andere wieder wie die Kolben von Schilf, – unheimlich vergrößert, manche auch wie flache Schüsseln, viele wie spitze Nadelkissen, alles exotische Wunder, die man anstarrt, anstarrt und niemals als Lebewesen, als Tiere anerkennen möchte.
Bert begann die Granitwand zu betasten.
„Hier irgendwo muß es sein, Olaf … Hilf suchen!“
„Was denn?“
„Das Drahtseil natürlich …! – Hallo, habe es schon …! Fein versteckt, – schlaue Bande, die Gondaloors … So, nun mal ziehen … ziehen! Setze deinen Taito dort auf den einen Säulenheiligen, verbinde ihm aber das Maul … – ziehen, ziehen, sage ich dir! – Siehst du, da taucht der Zahnstocher schon empor …!“
Zwischen den Schwammsäulen oder Säulenschwämmen erhob sich aus dem plätschernden Wasser links von uns die Spitze eines … Schiffsmastes!
„Donnerwetter, – wohl die Treppe der Gondaloors, Bert?!“
„Ja … Man hat die beiden gekappten Masten der Jacht vereinigt, hat so einen Zahnstocher von etwa dreiundzwanzig Meter Länge erhalten … – Ziehen … ziehen, mein Junge, – hoppla, es geht, nun haben wir es geschafft … Die Stahltrosse hält das Ding oben fest, und die angenagelten Brettstückchen stellen die Stufen dar: Treppe der Gondaloors, Olaf!!“
Wir ruhten uns aus. Wir waren erschöpft, die Handflächen brannten, aber der „Zahnstocher“ lehnte nun fest und sicher mit dem oberen Ende an dem Rande der Steilküste.
„Warten!“, mahnte Beng. „Warten, old Boy!! Nichts übereilen. Vielleicht schmeißt uns dein Freund Gnom doch noch ein paar Zentnerklöße auf den Schädel! Und – laß mich zuerst emporklettern, ich bin leichter als du, ich nehme Taito mit … Wird schon werden.“
Und er pfiff Beethovens Trauermarsch, – dieser Melbourner Expolizeiinspektor war von verblüffender Vielseitigkeit.
Trauermarsch …!
Wenn ich an dem „Zahnstocher“ emporblickte, packte mich ein gelindes Gruseln. Möglich, daß das Ding den kleinen Guß mit seinen vielleicht neunzig Pfund Gewicht trug, – mich niemals!
Aber Freund Bert scherte sich den Teufel was um meine Bedenken.
„Rauf müssen wir!!“
Und er band seine Seehundsjacke, Fasson Bauernschnitt, als Rucksack auf den Rücken, und ich stopfte Taito hinein, der melancholisch knurrte und wohl ahnungsvoll Abschied vom Leben nahm. Wenigstens von unserem bisherigen friedlichen Dasein der letzten Wochen.
Angstvoll beobachtete ich dann Berts Turnerkunststücke …
Der Mast drehte sich …
Aber Bert klammerte sich fest …
Der Mast rutschte etwas zur Seite, aber oben das Drahtseil hielt.
Der Mond ertrug dieses Spiel mit dem Tode nicht und verkroch sich hinter Wolken.
Ich stierte in die Höhe, – der Mast bog sich durch wie ein Flitzbogen, – – und dann – sie hatten es geschafft, Bert hatte die Festung der Gondaloors betreten.
Nun ich …! – Mir war nicht gerade wohl zumute … Qualvolle Erinnerungen kamen mir: Als ich einst auf zwei Drähten balancierte[12], Starkstromleitung, unter mir der Hof eines Zuchthauses, über mir der finstere Himmel …
Und da – so war es noch immer – da rann mir plötzlich das Blut jugendfrischer durch die Adern, da strafften sich von selbst die Muskeln …
Ich mußte empor!
Und ich ward zum geschickten Vierhänder – ich klammerte mich an den Mast wie Kitt, wenn er sich drehte, – ich erreichte auch die Mitte, ich fühlte, wie die Riesenstange unter den hundertsechzig Pfund sich krümmte … Ein bedrohliches Knarren, Knacken, – – dann ein Krach, ein Splittern, und die Verbindungsstelle beider Masten zerbrach wie ein Streichholz, ich bekam noch den einen Holzklotz des oberen Endes zwischen die Finger, die letzte Stufe des nun gegen die Granitwand prallenden, pendelnden Stückes, ich biß die Zähne zusammen, – – nur nicht loslassen …, ein entsetzlicher Ruck drohte mir die Glieder zu sprengen und die Finger zu lösen …
Dann hing ich über der Tiefe im Finstern, ein zerschundenes, blutiges, halb besinnungsloses Häufchen Unglück.
Aber ein Kerl mit Eisensehnen, mit Eisennerven, die noch nie im entscheidenden Augenblick versagt hatten.
Ich ließ die rechte Hand allein das volle Körpergewicht tragen, tastete höher, zog mich höher, – die Linke umkrallt die nächste Stange, – ein Schwung und ich saß angepreßt gegen den hängenden Mast auf dem kurzen Brett der Stufe, ruhte mich aus …
Wenn je ein Wunder geschehen: daß ich den Anprall gegen das Gestein ausgehalten hatte, – das war ein Wunder!
Und da … kam der Rückschlag nach diesen Sekunden unerhörter Anstrengung und grausamer Zweifel.
Ich spürte in der Magengegend das verdächtige Übelkeitsgefühl, das doch nur dem Gehirn entspringt, – im Nu wand ich den Lederriemen um Brust und Mast, – – zwei schnelle Knoten, – und ich wußte nichts mehr.
Nichts …
In mir war die große erhabene Ruhe des blutleeren Hirns, der völligen Bewußtlosigkeit.
Wie lange ich so, ein Bündel am pendelnden Mast, in der Finsternis gehangen haben mochte, – erst nachher stellte ichs fest: Genau eine halbe Stunde!
Das Erwachen war ärger als das Versinken in das Nichts des Nichtsmehrwissens …
Ein wütender Schmerz schien meine linke Hüfte in Feuer zu tauchen … Dort mußte ich mich verletzt haben …
Ein jämmerliches Versagen der Energie dauerte nur Sekunden, denn die Folter des Schmerzes peitschte mich hoch …
Ich durfte nicht hoffen, daß meine Kräfte sich zurückfinden würden, ich durfte nicht auf Bert hoffen, der mich sicherlich tot wähnte, abgestürzt, zerschmettert … War doch der untere Mast mit tollem Poltern und Krachen und Splittern unten auf die Säulenschwämme gefallen – – nein, Bert mußte mich für erledigt halten … Sehen konnte er mich nicht. Ein paar Buckel der Steilwand versperrten ihm den Ausblick in die Tiefe, mir den Blick nach oben.
Nach oben …!
Letzte Rettung …
Schnell, ohne Besinnen, – mochte die Hüfte wie die Hölle mich peinigen, mochten Hände, Füße, Beine, Ellbogen bluten …
Nach oben!!
Und ich griff zu, klammerte mich fest, griff wieder zu, kämpfte gegen den frechen Tod, der schon höhnisch seine Narrenschellen mir vor den Ohren rührte … Ich hörte sie klingen … Es war mein jagendes Blut.
Und dann – – Wahrheit – – ?!
Und dann nichts mehr über mir als Himmel, Mondschein, vor mir flacher Felsen, – ich krieche, stoße mich ab, rolle meterweit zwischen Steine, und abermals versinke ich in die starre[13] Stille der Bewußtlosigkeit.
Als ich erwache, scheint die Sonne …
Aber ich bin nun in der Festung der Gondaloors – ein Sieger über die Tücke des Schicksals.
Und – ein Gefangener vielleicht …
Ich sitze aufrecht da … Dort ist der Rand der Granitmauer …
Kein Maststück überragt sie, kein Drahtseil irgendwo, – – nichts – nichts …
Nur um mich her der blutige kahle Felsen, mein Blut, mein eigenes, und ich selbst nur ein kläglich zugerichtetes Häuflein Knochen, Muskeln, Sehnen, Fleisch und Hirn … Aber – ich lebe ja, die Sonne scheint, der Morgenwind säuselt in den Felszacken ringsum, und … langsam kommt da etwas auf mich zugehüpft, – Känguruh, Beuteltier, – – vielleicht Guß Trebbers zahmer Moritz.
„Moritz – hallo, – Moritz …!“
Die braunen klugen Augen des kleinen Kopfes mustern mich mißtrauisch.
Ich habe noch immer Glück bei Tieren gehabt …
„Moritz … guter Moritz!“
Das zahme Geschöpf tut noch einen Satz, bückt sich zu mir herab …
Schnuppert …
Schnuppert …
Und läßt sich streicheln.
Von da an waren wir Freunde, – ein Känguruh und ich, – – wir zwei, – allein in der Festung der Gondaloors …
Allein!
Ganz allein, wir beide … Ein Tier, ein Mensch, aufeinander angewiesen in diesem zerklüfteten Hochland hoch über Meer und Ostteil von Royal-Insel.
Gestade der Vergessenheit … Stimmte schon, was Bert gesagt hatte, als er meine Bemerkungen über die beiden bekannten Gemälde, von denen freilich die „Toteninsel“ als gedruckter Massenartikel leider den Vorrang genießt (man sollte die unkünstlerische Vervielfältigung wahrer Kunst einfach gesetzlich verbieten), in raschem Erfassen der Sachlage auf dieses unheimliche Royal bezog.
Damals … Mit Recht: Damals! Denn drei Tage waren seit jener ereignisreichen Nacht verflossen, als wir den Inder wieder in seinem Widderkopf-Mausoleum bestatteten und als der Zahnstocher Guß Trebbers unter meinem Gewicht zusammenknickte und ich, ein halber Mensch nur noch, die Festung der Gondaloors eroberte, bewußtlos zwischen Felstrümmern lag und später erwachte und im Sonnenlicht neue Freundschaft schloß mit einem Geschöpf der seltsamen Familie australischer Beuteltiere, die ihre Jungen in einer Bauchfalte mit sich herumtragen wie Negerweiber ihre Säuglinge bei der Feldarbeit auf dem Rücken.
Drei Tage also des vorsichtigen Suchens, des Umherirrens, des Kampfes mit der nackten Not des Hungers und des Schmerzes um die, die mir nun endgültig wohl verloren gingen, – ein Hund, drei Menschen, alle verschwunden von der bunt bemalten Schiefertafel des Lebens, auf der das Schicksal mit feuchter Fingerspitze Figuren, Menschen, Glück und Sehnsucht wegwischt, als wäre es nur ein blasser Hauch.
Drei Tage nur, dennoch erfüllt von Eindrücken, die man so leicht nicht vergißt, die wie Brandnarben der Seele sind und über Jahre hinaus schmerzen werden. –
Ausgehungert, dürstend nach einem Schluck Wasser, die Glieder wund, die Hände fast ohne Haut, nur blutige Hautfetzen, die linke Hüfte ein Vulkan von Schmerzen, die Kehle wie gedörrtes Leder, die Augen matt und umgaukelt von gespenstischen Gestalten kurzer Fieberanfälle, – – so lag ich, versuchte mich aufzuraffen, mein Hirn schrie nach einem kühlen Trunk, meine Zunge lechzte danach, meine Wunden forderten gebieterisch irgend eine einfache Behandlung, und wenn ich mich aufrichtete, fiel ich zurück, – alle Energie nützte nichts, diesmal war der morsche Leib stärker als die Seele, diesmal versagte ich vollkommen, – ein niederdrückendes, dennoch krankhaft-ruhevolles Gefühl unendlicher Gleichgültigkeit war der Abschluß dieses erbitterten Ringens gegen die Unzulänglichkeit des schmerzenden Leibes.
Als die Sonne stieg und heißer brannte, wie man es in dieser Grenzzone des Treibeises, das im Winter mit weißen Schollen das weite Meer betupft, annehmen könnte, schleppte ich mich auf allen Vieren wie ein waidwundes Tier tiefer in die Felsen hinein, um Schatten zu finden, und fand – ein grünes, stilles Tal, in dem zwischen Nadelbäumen, Dornen, Brombeerstauden und hohen Grasflächen, aus dem Nordwinkel eines zerrissenen bröckeligen Felsen entspringend, ein dünnes Rinnsal sich weiterschlängelte, eingefaßt von rötlicher Schlammerde, also eine eisenhaltige Quelle.
Das Wasser glitzerte im Sonnenglast, der harzige Duft der verkrüppelten Bäume, das schwarze, überreiche Fruchtheer der Brombeeren lockte, und weiter, weiter schob ich mich diesem einsamen, stillen Talgrunde zu, trank, wusch die Wunden, bereitete mir ein Lager aus kühlem Moos, pflückte die Früchte wie im Schlaraffenland und wurde doch das beklemmende Gefühl nicht los, daß die Totenstille ringsum mit ärgeren Gefahren drohte als die verflossene Nacht.
Mühselig säuberte ich die unbeschädigten, nur verschmutzten Pistolen und legte sie neben mich. Mit dem Messer hieb ich liegend Tannenzweige ab, Ranken und Dornen, und liegend schuf ich mir einen Unterschlupf, der mich verbarg und der mir nachts die Kälte fernhalten würde.
Ich schlief ein.
Die Sonne stand tief, als ich erwachte, aber hoch und kühn war mein gestärkter Wille, – der Geist war Herr des Leibes, und nach einer zweiten Mahlzeit von Früchten überschaute ich meine Lage mit der kalten unbarmherzigen Kritik eines Menschen, der sich selbst nie belog.
Was besaß ich?
Eine zerfetzte Hose, ein Paar Sandalen, eine Art Seehundsjacke, zwei Pistolen, zwei Rahmen Ersatzpatronen, ein Messer, ein Feuerzeug …
Wenig, doch genügend, wenn ich das Wertvollste hinzutat: Die Erfahrungen langer Wanderjahre und das Vertrauen auf einen gestählten Leib! –
Was konnte ich tun, den Freunden zu helfen?!
Suchen … suchen, und vorsichtig sein, vorsichtiger als der schleichende Beutelmarder, auch ein Geschöpf dieser Erdzone, auch hier vertreten auf Royal-Insel.
Mehr konnte ich zunächst nicht tun.
Die Sonne näherte sich bereits im Westen dem endlosen, dunstigen Horizont, wo Meer und Himmel zusammenflossen, als ich nach bedächtigem Marsch unter Höllenqualen steifer Gelenke die Steilküste erreichte und hinabblickte auf die Stelle, wo zwischen den Säulenschwämmen die zersplitterten Teile des abgebrochenen Mastes gelegen hatten, – hatten, denn inzwischen war die Flut gekommen und der emporquellende Ozean hatte hinweggeschwemmt, was dort in Splitter zerschellte.
Nirgends eine Spur von dem Drahttau, von dem hängenden Maststück, von einer Vorrichtung, die gestern noch den Zahnstocher Guß Trebbers durch die Kraft einer Trommelwinde emporgehißt hatte, – wie es unsere Hände von unten taten.
Nichts.
Kahles Gestein. Keine Spuren. Nur die Flecken meines Blutes, schwarz verfärbt, nur mir sichtbar, der ich das Sehen und Finden anderswo gelernt hatte.
Die Gondaloors hatten über Nacht alles beseitigt, was darauf hinwies, daß sie stete Verbindung mit dem Meere unten gehabt, daß sie vielleicht gefischt hatten, vielleicht auf den Fischfang angewiesen waren, – – noch jetzt?!
Sie mußten ein Fahrzeug besitzen außer dem Kutter, den sie uns geraubt. Vielleicht waren sie auf und davon für immer, vielleicht behagte ihnen dieses Versteck nicht länger, vielleicht hatten sie meine Lieben mit sich genommen in unbekannte Fernen. Es gab hier genug Inseln am Rande der Antarktis, übergenug, unbewohnte, nie besuchte Eilande, auf denen die drei Mädchen wie Elfen im Märchen im Dunkeln tanzen und schweben konnten.
Jede Bewegung, jeder Schritt verringerten die Pein meiner Wunden. Nur eines blieb: die Gier nach Fleischnahrung, die Gier nach kräftiger Kost.
Ich hütete mich, auch nur für Minuten in meiner Wachsamkeit nachzulassen. Wahrscheinlich hätte Bert hier in meiner Lage irgend ein passendes Lied gepfiffen und sein frohes, junges Lachen gelacht und das Leben wie immer leichter und dennoch bitterernst genommen. Ihm war die Gabe des köstlichen freien Schwunges einer starken Seele verliehen, mir nicht, vielleicht besaß ich allzu viel Verantwortungsgefühl.
Ich schlich gen Süden auf gut Glück, ich wollte erst einmal dieses Inselhochland voll überschauen, und dort vor mir winkte eine Kuppe, die mehr ein Berg war, kahl, zerklüftet, mit grünen Buschstreifen.
Als ich oben anlangte und hinter Gestrüpp kauerte, versank gerade der Sonnenball im milchigen Dunst, streute noch rötliche Pfeile über das schäumende Meer und färbte das Hochland in sanfte Töne rostbrauner Farbe.
Ausblick, Rundblick …
Alles sah ich.
Dort den sandigen Ostteil, dort die nasse Wüste des Triebsandes, dort die Riffe, wo Grita mich zum letzten Male geküßt hatte.
Nirgends in dieser Dämmerstunde, wo in meinen heimatlichen Städten und Dörfern die Kamine zum Nachtmahl rauchen, auch nur eine feine Spirale von Qualm.
Nirgends Anzeichen von Leben, Menschen, Schaffen, nirgends – und das begriff ich nicht – die hellen Wände der rohen Bretterhütte Guß Trebbers.
Dort mußten sie stehen, dort unten, wo er mich aus dem saugenden Sande herausgerissen hatte und dann gesprochen hatte von der Schwäche des Mitleids, von dem Phantom des Grafen von Monte Christo und von den Gondaloors.
Ich müßte doch die Hütte sehen, sagte ich mir soundso oft …
Sie war nicht mehr da.
Hatte ich nur geträumt?!
Unsinn!
Guß Trebber verdanke ich diese Seehundsjacke, geschneidert aus dem feudalen Umhang, der jeder Filmdiva ein lockendes Lächeln um den getuschten Mund gezaubert hätte. Kein Traum, – auch der Inder lag da in seinem Grabe, steif wie ein Brett, auch er keine Traumfigur … –
Also – nutzen wir das letzte Tageslicht zum Eiersuchen der wenigen dort drüben kreisenden, kreischenden Möwen[14] und zum Abstieg zum Rande des unheimlichen Burggrabens der Gondaloors, in dem ich versank und aus dem mich eine Lassoschlinge rettete!
Eier …! – Wütende Angriffe der großen Vögel, – unter zehn Eiern ein frisches, genießbares, trotzdem den Magen gefüllt mit Nervenkost, – hinab zu den engen Schluchten der Grenze des nassen Sandstreifens.
Das Dunkel kommt, – – ich finde etwas, – hart am Ufer des Festungsgrabens dieser Einsiedler liegt Berts Seehundsjacke … blutbeschmiert, bluthart, ein Zeichen dessen, was der Triebsand verschlang: Den prächtigen Beng, den treuen Taito wohl auch!
Und dann quillt die Wut in mir hoch, daß diese feige Rotte Gondaloor hier Menschen auslöscht wie junge, überzählige Katzen im Wassereimer …
Wut kann berauschen, Wut kann wie prickelnder Sekt sein, – und meine Wut übersteigt nie die Grenzen abwägender Vernunft. Sie ist mir nur Antrieb, Aufpulverung.
Sind die Gondaloors noch hier, dann wehe ihnen! Und mögen es ein halbes Dutzend sein, ich weiß es nicht, – – Abelsen, El Gento, Pfadfinder am Rande der Kultur, wird sie aufstöbern und einige Fragen stellen – wie Bert Beng gegenüber dem anmaßenden Hochstapler Gussara ben Gotari, … mit dem stählernen Schoßhündchen als Drohung, wie Bert so hübsch sagte …
Ach, das soll einen Tanz geben, der mir behagen wird …! – –
Die heiße Empörung flaut ab, und ich schaue mich noch rasch nach der Bretterhütte um, natürlich ohne Erfolg, und im Finstern tappe ich wieder meinem stillen Tale zu, das dort im Norden des Hochlandes unweit der Nordbucht liegt …
Meine Hütte, mein Mooslager haben vor mir Gesellschaft erhalten: Das Känguruh hat sich wieder eingefunden, es liegt faul und friedlich in einer Ecke des kleinen Unterstandes aus Zweigen und Ranken und hat die endlos langen, so gefährlichen Beine ins Freie gestreckt, – ein Schlag von diesen Zehen da zermürbt den dicksten Niggerschädel.
„Moritz, du?!“ – Ich freue mich, ich bin nicht allein, Moritz sucht fraglos Anschluß an den neuen Herrn, nachdem Guß Trebber vielleicht mit den Gondaloors die Insel verließ oder aber – auch das wäre möglich – gleichfalls sein Grab im Triebsande fand.
Moritz bleibt bei mir. Ich habe Berts Jacke mitgebracht, und wir schlafen, schlafen, – – morgen früh werde ich zum ersten Male das Hochland so sorgfältig absuchen, wie es ein so alter Weltentramp versteht.
In dieser Nacht träumte ich Romane, Novellen, – in dieser Nacht träumte ich von rauschenden Festen mit zarter Walzermusik … Erwachte, glaubte die Musik noch zu hören, schlief wieder ein. Wurde abermals munter, vernahm schlaftrunken verwehte Klänge, lächelte über wirre Gaukeleien eins überhitzten Hirns und war mit Sonnenaufgang auf den Beinen.
Moritz hatte sich schon davongemacht, ich sah ihn drüben die Büsche beknabbern und war froh, ohne ihn die Suche beginnen zu können.
In den Gräsern blinkte der Tau, in den Schluchten hing feinstes Nebelgespinst, mir sehr willkommen … –
Auch der Tag ging hin. Er brachte mir nichts als eine genaue Kenntnis der Örtlichkeit und gab mir die Überzeugung, daß ich hier auf dem Westteil, dem Hochland, der einzige Mensch sei und daß die Festung der Gondaloors nicht eine einzige für mich gangbare Ausfallpforte besaß. Steile Uferhänge, dann das gefährliche, harmlos-trügerische Bild der nassen Wüste sperrten diese Inselhälfte vollkommen ab. Ohne ein Tau von zwanzig, dreißig Meter Länge blieb ich ein Gefangener.
… An einer Ufertreppe drängen sich Menschen, recken die Hälse. Elegante Autos stoppen, zarte Dämchen und Herren mit schwammigen Gesichtern, Sensationslust im verlegen-fahlen Auge, trippeln dem neugierigen Haufen näher und vergessen den Ekel vor dem Pöbel, der sie erst soeben aus der Schandgilde der Kriegsschieber hoch emporhob in die Kaste der Salonfähigen, fragen, ernten gehässige Blicke. – Was gibt es? – Ein Kahnschiffer hat eine Wasserleiche geborgen. Man erhascht einen Blick von dem Häuflein Tod dort auf den Stufen, man fröstelt, und ein angenehmer Schauer folgt als Reaktion … Man lebt ja – und wie!! Man flüstert befriedigt: „Oh – nun kenne ich das Grauen – entsetzlich!“, und dann rollt das Auto weiter zu irgend einer Schlemmerstätte, und Kaviar und Burgunder spülen und beizen den letzten Rest des bitteren Geschmacks hinweg. – Das erlebte ich mit, als ich kurz nach dem Kriege zum letzten Mal eine der Hauptstädte Europas besuchte.
„Oh – nun kenne ich das Grauen – – entsetzlich!!“, – – ich sehe das geschminkte, feiste Weib noch vor mir …
Das Grauen kannte sie!! Und der noch immer emsig schiebende Gatte kannte es nun wohl auch, bildete es sich ein. Er hatte nie die trostlosen zerfetzten Drahtverhaue mit zerfetzten Leibern gesehen, die gegen Himmel stanken in all ihrer Armseligkeit des endgültigen Ausgelöschtseins … Aber – er kannte das … Grauen!
Schamlose Starrheit schamloser Seelen, sich so an das Grauen heranzuschwänzeln, schnell wieder kehrt zu machen, noch schneller dieses Grauen zu vergessen.
Eingehämmert muß es werden durch den Zwang der Umstände in das menschliche Hirn mit ehernen Nägeln, die vielleicht die spitzen schrillen Schreie eines Sterbenden sind, dem du Hilfe bringen möchtest und doch nicht helfen kannst, – – und das ist dann das Grauenvolle, das dir die Seele zerreißt und dir das Herz flattern läßt.
Oder … oder … oder …, – ich könnte so vieles aufzählen, was echtes Grauen ist …
Denn es ist nicht nur Entsetzen, nicht nur selbstsüchtige Angst, dir könnte das gleiche geschehen, – es ist das wahnwitzige Gefühl der Ohnmacht gegenüber Geschehnissen, die aus gänzlich fremden, neuen Verhältnissen geboren werden, denen der Geruch von Blut, Todesdunst und Unerklärlichem anhaftet …
Grauen muß dich aufrühren bis ins Innerste, muß an den feinsten Nervensträngen zerren, muß dir deine eigene Nichtigkeit ins Ohr brüllen mit höhnenden Stimmen, mögen diese vielleicht noch so zart sein wie aus dem Reiche des Übersinnlichen.
Das ist Grauen. –
Abends fand sich Moritz wieder ein, – so recht mit der Selbstverständlichkeit des Hausgenossen, der bereits ein Anrecht auf sein Plätzchen hat, tat er sich nieder und beobachtete mit klugen Augen, wie ich ein Feuer vor dem Hüttchen entzündete und die jungen Möwen, mit Steinwürfen erlegt, am Spieße schmorte.
Ich esse und überlege …
Das Hochland ist leer, die Gondaloors sind verschwunden. Ich bin Robinson auf einer Insel, deren größter Durchmesser drei Meilen beträgt – etwa so viel.
Nun gut … Weshalb nicht Robinson?!
Freilich – drüben im sandigen Ostteil liegt der Inder, dieser superkluge Yogi, dieser feine Philosoph mit der hochmütigen Frechheit der Dummen. Er muß noch viel lernen, wenn er sich einfügen will in den Reigen der ganz Klugen, der wissenschaftlichen Leuchten mit jenem verfänglichen Gehabe der Scharlatane, die heute die Trumpfkarten in den manikürten Händen halten und im Herzen die blasse Angst, daß ein Klügerer, Schlichterer ihnen die dünne Maske vom angelernt beherrschten Gesicht reißen könnte.
Was sagt doch Bert, als wir Gussara ben Gotari „versorgt“ und die Felsplatte mit Steinen beschwert hatten, – er warf es nur so als selbstverständliche Bemerkung hin: „Bis wir zurückkommen, wird er wohl hübsch still liegen der faule Kopf!“ Echt Bert Beng das …!
Aber der Gedanke läßt mich nicht los, daß der Inder von selbst erwachen könnte und dann … verhungern müßte. Die Steinplatte lüften – unmöglich für ihn! – Ich wünsche daher nichts sehnlicher, als daß sein Schlafzustand noch so lange anhielte, bis ich das Rindenbasttau fertig habe, mit dem ich mich vom Plateau der Tänzerinnen auf den sandigen Strand hinablassen könnte. Morgen früh werde ich mit der Arbeit beginnen.
Mein Lagerfeuer erlischt. Der Nachthimmel ist wieder sternklar, sehr klar wird die Mondscheibe aus dem Meere auftauchen, und dann wird das Inselhochland von Royal ein bezauberndes Bild in den matten Farben einer fast unwirklichen Beleuchtung sein.
Ich liege noch lange, sehr lange wach, beobachte, wie die ersten sanften Strahlen des Nachtgestirns durch die Nadelbäume den Weg bis zu meinem Hütteneingang finden und den dunklen Boden mit blanken Flecken zieren, die wie Scherben einer Milchglasscheibe aussahen, aber ihre Form allmählich verändern und langsam weiterkriechen – vielleicht wie eine Anzahl Schildkröten mit hellen Rückenpanzern. Manche verschwinden, schrumpfen zusammen, andere erscheinen an anderen Stellen. – Es ist völlig windstill. Aber das Rauschen der Brandung bleibt stets das gleiche, der Ozean schläft nie, seine Strömungen, hervorgerufen durch unergründliche Vorgänge in den Tiefen der Weltmeere, umkreisen die Insel, wechseln mit Ebbe und Flut, die Hauptströmung ist warm wie der Golfstrom des Atlantik, der die Temperatur der Küstenstriche Amerikas und Skandinaviens reguliert.
Ich war eingeschlafen. Wohl nur ein Hindämmern, in dem die Sinne noch auf die Zeichen der Außenwelt reagieren.
Mit jähem Ruck sitze ich aufrecht, horche …
Was war das?!
… Stille … doch nur Stille ringsum, nur die feine Brandung und das ganz leise, feine Murmeln der Quelle …
Was war das?!
Traum?!
Und dann – ich kralle die Fingernägel in die Handflächen – weither von Osten ein schriller spitzer Schrei … lang gereckt wie das qualvolle Wimmern eines kranken Kindes, anschwellend, verebbend, – wieder emporschnellend zu grellem Diskant, – – und verstummend, … doch nicht verstummend, denn die Töne klingen im Ohr noch lange nach wie hundertfältiges Echo.
Selbst Moritz hat den Kopf gehoben …
Stille wieder …
Nun abermals der Schrei …
Ich schnelle hoch, jage das Tal entlang zur Ostwand, klimme empor …
Da – der Schrei hält an …
Von Osten her kommt er durch die Nacht, wie eine verzweifelte Mahnung: Hilf mir!
Kälte sickert mir über den Rücken, … Grauen packt mich …
Das Grauen vor einem Bilde, das sich so leicht ausmalen läßt: Der Inder in seiner Grabkammer, – erwacht, hungernd und dürstend, den Mund an eine der Ritzen zwischen Felswand und Platte pressend und brüllend … brüllend wie durch einen Schalltrichter …!
Gussara ben Gotari mag gehofft haben, daß wir sehr bald wiederkehrten, mag sehr bald wieder erwacht sein, mag erst bescheiden gerufen haben, bis er merkte, daß wir die nahe Hütte verlassen hatten. Und dann fiel der Rest von Hochmut, Anmaßung, Hochstaplerfrechheit von ihm ab, und die Todesangst vor qualvollem Verhungern, vor den Schrecken des Lebendigbegrabenseins preßt ihm diese Schreie aus der Kehle …
Diese Schreie …
Ich sehe ihn: Er wird wie ein Unsinniger versucht haben, die Steinplatte zu heben, er wird vor Schweiß triefend sich abgemüht haben, er wird vor Erschöpfung zusammengebrochen sein …, wieder emporgefahren – – und nun brüllt er, brüllt um Hilfe, Gnade, Erbarmen, und das kalte Gestein, an das er den Mund drückt, wirft die Schallwellen in die schweigende Nacht und verstärkt sie …
Meine Augen bohren sich in die bläuliche Landschaft dort unten … Ich sehe die Sanddünen, die Büsche, Bäume, – – weiß genau: Dort liegt die grüne Schlucht mit den blühenden Bäumen und dem Widderkopf, in dessen steinerner Schädelhöhle ein Mensch mit dem Wahnsinn der Verzweiflung ringt.
Ich weiß: Es ist so!
Ich höre die Schreie abflauen … die Lungenkraft versagt dem da drüben, – auch ein Mensch wie ich, trotzdem, – wahrscheinlich ein Schwindler, ein gewesener Freund jenes Ernest Gondaloor, den ich nicht kenne, der aber die Widmung in das Buch schrieb:
… seinem verehrten Gast …
Kalkutta, 21. März 1919.
Und die Gondaloors hausten seit Jahren hier auf Royal, – die Versandung des Wracks ihrer Jacht beweist die Länge der Zeit, die seit dem Schiffbruch verstrichen, – nicht ein Jahr, mehrere müssen darüber hingegangen sein. Sollte etwa der Inder all diese Jahre in seinem Grabe gelegen haben, bis ich ihn erweckte?! – wie oft grübelte ich hierüber nach, wie oft auch über des Inders noch rätselvollere Worte über „die Strafe, die nun im Sonnenschein zerronnen sei …“ – Was sollte das?! Gotari gab nie Aufschluß über all diese Dinge, nur Bert spöttelte und lachte und hielt dem Wundermann die Pistole unter die Nase – auch ohne Erfolg …
So fliegen meine Gedanken rückwärts, während mir die kalten Tropfen von der Stirn rinnen und Eisesschauer mir die Haut mit hellen Pünktchen bedecken: Gänsehaut, sagt der Volksmund …
Wie eine Lähmung liegt es mir in den Gliedern … Nur das Hirn rebelliert, – und die Ohren bemühen sich, nochmals einen jener Schreie aufzufangen.
Das ist Grauen …! – Ein Mensch verzehrt sich dort in Todesnot, ein anderer Mensch möchte helfen, weiß, daß er hier Gefangener ist … Daß es unzählige Stunden dauern wird, ein Tau zu flechten, das die Abgründe der Steilküste überwindet.
Und diese erdrückende Stille ringsum, – da vor mir der teuflische Triebsand, hinter und neben mir die abschüssigen Granitmauern, ins Meer sich verlierend wie Festungsmauern …
Das Tau?! Was zögere ich! Ich habe ja ein Messer, ich habe zwar wunde, erst verheilende Hände und einen zerschundenen Leib, aber – – ein Mensch hofft auf Hilfe! –
Ein Tau?! Rindenbast als Material?! – Unheimlich die Erkenntnis, daß ich nur ein Messer habe, daß nur der Bast starker Bäume in langen Streifen sich verwenden ließe.
Ein Tau?!
Und meine Handflächen?! Stellen darin, die fast die Knochen durchschimmern lassen! Welche Arbeit mute ich mir zu! Wahnwitz das!! Niemals werde ich ein Seil flechten können – vielleicht nach einer Woche …
Und mein Blick frißt sich fest auf der glatten Fläche der nassen Wüste.
Wenn ich einen Pfad aus Baumzweigen baute über diese trügerischen Sandschichten, wenn ich Zweig auf Zweig würfe und als Unterlage trockene Äste, die vielleicht schwimmen! Müßte das nicht gelingen?!
Angefeuert von diesem Plan, der die einzige Möglichkeit bietet, taste ich in meinem Gedächtnis suchend nach jenem Tale hier in der Nähe, wo ich einen Windbruch antraf, gestürzte Stämme … halb verdorrt, bestes Baumaterial …
Ja – dort war es, nach Norden zu …
Nun weiß ich es, eile weiter, höre hinter mir das Aufschlagen der Läufe des Känguruh, – es folgt mir, vielleicht kann ich Moritz gut brauchen, Moritz mag mir helfen, wenn er nicht gar zu unintelligent ist, wird er große Äste schleppen, ziehen – – vielleicht.
Ich erreiche das Tal, bin außer Atem, stehe vor den vom Sturm entwurzelten Kiefern und Eukalyptusbäumen, deren Wurzelballen mit ihren erdentblößten langen Wurzelarmen wie hilflos daliegen …
Jacke herunter, – – das Messer zertrennt das Fell zu Streifen, ich knote einen Gurt zusammen, ziehe einen zersplitterten Ast von Schenkeldicke gen Osten, keuche, raste, ziehe, raste, – dann vor mir die flache Böschung, die im Sandmeer verschwindet.
Ich richte den Ast empor, werfe ihn über den Triebsand, und warte …
Warte …
Wird er versinken?!
Der Mond lächelt klar, – der Mond scheint höhnisch zu lächeln …
Der Ast, ein kleiner Baum beinahe, wehrt sich gegen die nassen Körnchen …
Er wehrt sich. –
Aber er sinkt … langsam … langsam …
Und da wieder der spitze schrille Schrei von drüben …
Der Mahnruf: Rette mich!
Aber der Ast versinkt, das linke Ende der Bruchstelle ist bereits halb verschwunden.
Gräßlich das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit …
Verzweifelt stiere ich auf diesen teuflischen Brei von Sandmehl und Wasser, der nichts verschont – nichts …
Stiere, beobachte … warte …
Meine Augen tränen …
Plötzlich dann wie ein Blitz die Erkenntnis:
Nein – – er sinkt nicht weiter in die Tiefe, er … liegt still … das schenkeldicke Ende dort vor mir schwimmt … schwimmt!!
Schreien möchte ich, jubeln!
… Ein Tier drängt mich zur Seite, – Moritz – Moritz springt, hüpft … in elegantem Bogen dicht neben das Astende, schnellt sich weiter vorwärts, der nasse Sand platscht in dicken Spritzern empor, – Moritz tut schon den sechsten Satz, – – und der Triebsand verschlingt ihn nicht, – – er verschwindet drüben … er erreicht festen Boden …
Ich bin allein. –
Menschendünkel …!! Lächerlicher Hochmut von uns zweibeinigen, degenerierten Affensprößlingen, die wir den Geist ausbildeten und den feinen Instinkt der „Nur Tiere“ verloren!
Was die Gondaloors nie fanden, was niemand ahnen konnte: Hier vor mir zieht sich durch die nasse Wüste ein Felsrücken hindurch, kaum bedeckt mit dem flüssigen hellen Schlamm!
Das ist es, so ist es, – und ein Känguruh mußte kommen und diese Brücke nach drüben finden!
Ich renne zurück zu meinem Unterschlupf, hole mir die Pistolen, Berts Jacke, schneide mir einen langen Stecken, laufe hinab zum Strande des Sandmeeres …
Das Blut singt und klingt mir in den Ohren, – ich glaube wieder Musik zu hören wie gestern nacht …
Glaube …
Feine, zarte Musik …
Aber der Felsenpfad lockt, und ich wage mich hinein in die Todesnot des heuchlerischen Sandes, fühle mit dem Stab vorsichtig hinab in den lockeren, feuchten Teig, stoße auf harten Boden, wandere so Meter um Meter weiter, wate oft bis zu den Knien im gierigen Gebräu, das hier in schmaler Linie machtlos ist, – – und finde festen, trockenen Sand, – vor mir erhebt sich eine Düne, – gesiegt habe ich, und wie ein Eroberer, der seine Flagge in die Erde stößt, stoße ich den Stecken an dieser Stelle in einen freundlichen Grasbüschel …
Gotari sprach wie ein Professor vom Katheder.
Er saß sehr steif und würdevoll vor mir und tat zuweilen einen Zug aus der Zigarre. Die Lampe der Hütte brannte über unseren Häuptern, und diese Lampe ärgerte mich am meisten, denn sie zeigte mir nur zu deutlich des Inders schmales Asketengesicht, den grenzenlosen Hochmut seines Blickes und seiner Züge und die erlesene Niedertracht seines von schwülstigen Phrasen überfließenden Mundes.
Ich kam mir bei alledem wir ein Narr vor.
Seine Vorlesung über Brahmanismus, Buddhismus und die Schöpfungsgeschichte, wie er sie auffaßte, war ein einziger Haßgesang gegen die weiße Rasse. Er verhüllte diesen Haß durch wissenschaftlich klingende Redensarten und theatralische Gesten, er dämpfte die Stimme immer mehr, je glühender dieser Vulkan in ihm brannte.
Wie falsch hatte ich doch anfänglich diesen Menschen beurteilt! Ich – gerade ich, der eine solche Blütenlese von Lumpenpack aller Art kennengelernt hatte.
„… Es tut mir ja außerordentlich leid, Mr. Abelsen“, erklärte er nach längerem Nachsinnen von neuem, „– sehr leid sogar, daß meine ganze Einstellung gegenüber den Europäern mich zwingt, mit Ihnen in gleicher Weise zu verfahren …“
Er lächelte sehr sanft …
Ich hätte ihm schon für dieses Lächeln kaltblütig eine Kugel gewidmet, aber die Umstände verhinderten dies.
„… Die Gondaloors – ich könnte Ihnen so manches über diese reiche Familie erzählen – sind mit Ihrem Kutter auf und davon. Ich selbst wünsche mein Leben hier in stiller Beschaulichkeit als Einsiedler zu beschließen. – Was ziehen Sie vor: Sofort den Tod oder ein Verhungern in meinem Grabe?“
Ich glaubte zunächst, mich verhört zu haben.
„Sie sind verrückt!“, sagte ich verächtlich. „Sie haben sich wie ein …“
„Bitte – keine Beleidigungen, Mr. Abelsen.“ Er fingerte an der Pistole herum. „Es ist mir vollkommen Ernst … Tod oder Verhungern – Sie haben die Wahl.“
Seine schwarzen Fanatikeraugen leuchteten in freundlicher Milde …
„Ein Schuß würde Ihnen so manche unangenehme Stunde ersparen … Also entscheiden Sie sich“
Hatte ich einen Irrsinnigen vor mir?!
Nein – nur eine von Haß zerfressene Bestie, die sich an meiner Verblüffung weidete und harmlos wie ein armseliges Kaninchen tat.
Nun, den Triumph sollte er nicht erleben, daß ich hier etwa um mein Leben bettelte. Zeit gewinnen – –, – genau wie er mich heimtückisch niedergeschlagen hatte, genau so konnte auch ich vielleicht …
… Er lachte da. „Ich lese Ihnen die Gedanken von der Stirn ab“, meinte er salbungsvoll. „Sie hoffen … Aber Sie werden sich täuschen. Sie sind mir in die Falle gegangen, – ich bin klüger. Sie sitzen da so fest gebunden, daß nur ein Messer, von fremder Hand geführt, Sie befreien könnte. – Bitte …!“
„Ich ziehe das Grab vor“, erkläre ich schroff.
„Ah – – also doch Angst vor der Kugel, mit der Ihr Freund mich bedachte, – Beng hieß er, denke ich … Bert Beng. Schade, daß die nasse Wüste ihn verschlang. Zu zweien hätte es sich angenehmer unter der Steinplatte gelegen … Nun gut, wie Sie wünschen … Ich bin bereit.“
Er legte die Zigarre weg, er lockerte die Seehundsriemen, die mich auf dem Stuhl festhielten, – ich war nur ein eng umschnürtes Bündel, ich hatte den Inder auch darin unterschätzt: Er besaß Riesenkräfte, er warf mich wie einen Sack über die Schulter und trug mich durch den schmalen Dornenpfad bis zum steinernen Widderkopf, die Felsplatte, die ich hochgekippt hatte – für ihn, stand noch aufrecht, er ließ mich in das Felsloch gleiten, und die Steinplatte krachte herab …
Ich hörte ihn über mir arbeiten, – Steine wälzen, Geröll, – Zweige, Laub, Sand packte er über die Ritzen, er verschwendete kein Wort mehr, er begrub mich lebend, sein Haß entlockte ihm trotzdem keinen Laut, er hatte sich vortrefflich in der Gewalt.
Ich auch.
Es mochte jetzt vier Uhr morgens sein. Sehr bald würde die Sonne auftauchen, sehr bald würde es hell werden …
Sollte ich diese Sonne, die ich so sehr liebte, nie mehr sehen?!
Undenkbar!
Mochte ich auch hier auf dem Rücken liegen in tiefer Finsternis, mochten auch die Riemen meine Gelenke peinigen: Ich lebte und ich hoffte!
Ich hatte auch keine Zeit zu vergeuden, noch war ich körperlich und geistig frisch genug, an meiner Befreiung zu arbeiten, nicht eine Sekunde durfte ich verlieren, zumal der Inder sich insofern täuschte, als er mich infolge des heimtückischen Schlages für matt und hinfällig hielt und in diesem Glauben noch bestärkt worden sein mußte, da ich so gar keine Versuche gemacht hatte, mich irgendwie zu widersetzen.
Keine Zeit vergeuden!!
Und wieviel Zeit hatte ich nachher, als mir von Stunde zu Stunde klarer wurde, daß alle meine ruhig erwogenen und nachher mit äußerster Energie betriebenen Bemühungen, diese durch Rauch und durch Tran zu geschmeidigen, aber unzerreißbaren Riemen gefertigten Fesseln abzustreifen, zu zermürben, durchzuscheuern, oder doch wenigstens eine geringe Bewegungsfähigkeit der eng umschnürten Glieder zu erzielen, zwecklos bleiben mußten, – als der Abend kam, mit ihm Wind und Regen und Gewitter, – als ich die ersten Anzeichen der Verzagtheit abwehren wollte und doch nicht mehr den Mut fand, mich selbst zu belügen, – als ein förmlicher Sturzbach, der oben durch die Hörner des Widderkopfes über die Steinplatte hinweg seinen Lauf nahm, und dünne Rinnsale mich durchnäßten, – als ich schließlich förmlich im Wasser schwamm und die neue Gefahr, hier elend zu ertrinken, immer drohender wurde …!
Ich hatte den ganzen Tag über nichts mehr von Gotari vernommen, überhaupt nichts gehört, und jetzt meldeten sich die Batterien des Himmels mit einem ungeheuren Getöse krachender Salven, daß der Boden zitterte, daß ein tropisches Gewitter im Vergleich zu diesen Regenmassen nur Spielerei bedeutete.
Was des Inders Haß da oben an Zweigen, Sand und Moos aufgehäuft hatte, um mich vielleicht zu ersticken, war längst weggefegt, weggeschwommen, – breite Spalten klafften zwischen Platte und Gruftrand, ich sah die Feuersäule vom Himmel fahren im blendenden, rasenden Zickzackkurs, ich hörte in den kurzen Atempausen des Donners das Rieseln der Bächlein, die mir ein eisiges Bad bereiteten, ein erfrischendes Bad, und gerade in diesem Aufruhr der Elemente fühlte ich mich wieder Herr meiner Nerven, fühlte die Spannkraft der Muskeln zurückkehren und entschied mich für das Letzte, was mich überhaupt retten konnte, – für den Versuch, mich aufzurichten und durch den Druck der Schulter die Steinplatte beiseite zu schieben.
Bisher hatte ich dies als zwecklos unterlassen. Sand, Geröll hatten dem Deckel meiner Gruft ein Gewicht gegeben, das ich niemals hätte bewältigen können. Jetzt war all dieses hämische, feindselige Kleinzeug hinweggeschwemmt und nur die großen Steine, die der Inder auf den Felsdeckel gewälzt hatte, erschwerten noch immer mein Vorhaben.
Sich aufrichten …! Schon das eine Qual! – Und dann mit kühlem Verstande gerade die Stelle der Steinplatte suchen, wo sie am ehesten sich anheben ließe, damit die anderen Felsbrocken, Zentnergewichte, ins Gleiten kämen.
Ich kannte ja die Form der Gruft, eine längliche Schüssel, vielleicht etwas über ein Meter tief, in der Mitte am tiefsten, an den Seitenwänden unregelmäßig hoher Boden, – und ich rutschte jener Ecke zu, immerfort gebückt, krumm, immerfort die Füße drehend, oft mit dem Kopf gegen den Deckel prallend, – dann ein langer tiefer Atemzug, ein vorsichtiges Heben des Nackens, ein Anspannen aller Kräfte, ein Drücken mit gebeugten Knien, daß die Waden mir hart wurden.
Ich fühlte: die Platte hob sich …
Das Blut schoß mir zu Kopfe, in den Ohren brauste es wie eine lärmende Brandung, vor den hervorquellenden Augen zuckten Feuerräder auf, – noch eine allerletzte Anstrengung, das Herz jagt, pocht bis in den Hals hinein, dann … die Platte gleitet, noch ein Ruck, und links von mir ein Loch nun, durch das der Regen ungehindert hineinpeitscht, – neue Blitze draußen, – ich weiß, die Öffnung genügt mir, ich werde mich wie ein Wurm den Pfad zur nahen Hütte in meinen Fesseln entlangwinden, werde schon die Gelegenheit abpassen, den Inder mit dem Kopf niederzuboxen und wenn ich ihm den Brustkasten einrennen sollte …
Ich schöpfe Atem … Ein Schwindel packt mich, ich taumele zur Seite, – was tut es! Ich werde mich wieder erholen, bei diesem Unwetter wird der Inder sich hüten, das schützende Dach zu verlassen – ich habe Zeit.
Glücktrunken sitze ich auf einer Erhebung des Gruftbodens und habe nur Augen für das Loch dort zwischen Steinplatte und Grabrand …
Nur …
Und ich merke nicht, daß das Wasser in dieser Todesschüssel, das mir soeben noch bis zu den Knien stand, sich gegen alle Gesetze der Natur verläuft, obwohl doch die Rinnsale unverändert hineinströmen …
Ich merke nicht, daß da hinter mir in den rissigen, buckeligen Wänden der Gruft ein mattes Licht aufblinkt …
Der Lichtschein trifft mich, aber meine Augen sind geblendet von den Feuerbrücken, die da oben von Wolke zur Erde gleiten, verschwinden … wieder aufleuchten …
Bis als zartes Finale einer neuen grandiosen Sinfonie des Donners hinter mir jemand ein Lied pfeift, durchaus nicht piano, aber mit schmelzenden Tönen …
Ein Lied …
Weiß Gott, woher Bert Beng sogar den Refrain des so oft zu schmalzigen Trompetensoli mißbrauchten, urdeutschen Liedes aus dem „Trompeter von Säckingen“[15] kennt:
… Es wär’ so schön … gewesen …
… Es hat nicht sollen sein!
Ich wende den Kopf wie ein Habicht, der in seinem Baumhorst den Flügelschlag der längst vermißten Gefährtin vernimmt.
„Beng, du?!“
Da ist keine Felswand mehr, da ist die Öffnung eines engen Tunnels dicht über dem Boden, – da liegt dieser unverwüstliche Bert und stellt seine Laterne neben sich, reckt den Arm vor und meint nur: „Ich liebe solche Scherze, Olaf. Das Leben ist nur als Operette erträglich …“
Ein Messer gleitet über die Riemen, und dieser Prachtkerl, der wie ein Strauchdieb aussieht, pfeift abermals:
… Es hat nicht sollen sein!
„… Dja, dein Intimus, Mr. Lahore oder Bischore oder sonstwie hatte sich die Sache anders gedacht … Ich auch. Du auch. Es kommt immer erstens anders, und zweitens als man denkt, und drittens als Gott Brahma lenkt, – der alte Herr Brahma muß erst noch ein Zweigespann lenken lernen … – So, Olaf, nun bist du diese Bandagen los … Tu mir aber einen Gefallen und bedanke dich nicht, – es ist pure Selbstsucht von mir, daß ich dich nicht mehr schlafenden Fakir spielen lasse. – Eine ganz nette Nacht heute, nur unserem Freunde Gotari – richtig, so heißt der Kerl! – wird sie nicht gefallen, der Mann befindet sich in einer peinlichen Lage, seine Krawatte ist ihm nach oben gerutscht …“
Vielleicht hätte Beng noch einige weitere Sätze Geistesfunken zweifelhafter Art von sich gegeben, – bei ihm muß man mit Gewalt den Redefluß abstoppen, und am leichtesten erreicht man dies durch einen Hinweis auf körperliche Mängel … Mängel der äußeren Erscheinung.
„Stoppelbart, sieben Zentimeter, schätze ich, lieber Bert … Nicht sehr imponierend!“ – das half sofort.
„Hm …“ Er befühlte die Stoppeln. „Olaf, ich bin entschuldigt … Ich habe die ganze Zeit bewußtlos in einem Granitloch gelegen … an der Nordbucht …“
„Wo ist Taito?“ – und die Sorge und Angst in meiner Stimme ändern sofort Berts burschikosen Ton.
„Ja – – Taito …, – ich möchte dir keinen überflüssigen Hoffnungsschimmer vorzaubern …“ Er setzte sich neben mich. „Ich habe keine Ahnung, wo er steckt … der arme brave Taito … Diese Leute hatten es so unerhört eilig damals, als du da unten an dem zerbrochenen Zahnstocher hingst. Ich kam gar nicht recht zur Besinnung, – im Ausreißen leiste ich im allgemeinen wenig, aber wenn man es mit vier Weibern, zwei Kerlen und deinem Landsmann Guß Trebber zu tun hat, – – na, ich riß eben aus, Taito aber wählte offenbar den verkehrten Teil der Tapferkeit … er kämpfte, biß – – und ich rollte bei dem blinden Rennen einen Abhang hinab, nachdem ich zur Irreführung der Damen meine Jacke weggeworfen hatte … daß nicht meine sämtlichen Knochen zu Bruch gingen, verdanke ich lediglich meiner Fertigkeit als Kater: Ich falle immer auf die Füße! – So ist es, so war es! – Amen, Friede seiner Asche, Olaf … Gräme dich nicht, es kann uns morgen vielleicht genau so ergehen … genau so!! Nun wollen wir aber etwas trocknere Gefilde aufsuchen, dein Inder-Intimus wird sich auch nach dir bangen … Der Dummkopf glaubte, ich kenne diesen Tunnel nicht!! Das wäre gelacht!! Der Kerl war ja rasiert, nur die Kopfhaare und die Nägel ließ er sich wachsen, und auf diese Weise mimte er Hungerkünstler. Spaß, wenn ich so einen Tunnel habe und jederzeit ins Freie schlüpfen kann, dann ist der Schwindel höchst einfach …“
Ich vergaß Grita, Mita, Taito … Alles. Denn soeben hatte hier Bert Beng in seiner unnachahmlichen Manier den Vorhang einer dunklen Frage gelüftet, die sich nunmehr als ein frecher Schwindel entpuppte.
„… Du kannst ja persönlich mit ihm hierüber debattieren“, schloß Bert diese seltsame Erklärung. „Herr Gotari wird inzwischen hoffentlich nicht seine Krawatte anders gebunden haben, – sollte mir ja nicht weiter leid tun, aber … tot ist tot, dagegen läßt sich dann nichts mehr machen.“
Er kroch wieder in den engen Tunnel hinein und nahm die Laterne mit. Ich mußte ihm folgen, – der Tunnel senkte sich, endete sehr bald in einem Dornendickicht, dessen Mitte sauber freigeschnitten war. Beim kurzen Lichte der Blitze und bei der miserablen Beleuchtung durch die Laterne sah ich hier eine Anzahl Holzkisten, Fässer und anderes aufgestapelt liegen …
„Des Hungerkünstlers Speisekammer, Olaf“, – und Bert Beng lachte fidel und kroch unter einer grünen Kulisse von harmlosen Büschen hinweg.
Es goß noch immer in Strömen … Als wir die Hütte betraten, und zwar meinen Raum, blieb ich stehen.
Das Bild da wirkte unweigerlich wie eine Szene aus einem Indianerschmöker ältesten Datums.
Gotari, von der Lampe hell beschienen, stand auf meinem Patentsessel, um den Hals eine Schlinge, deren Riemen oben an dem Hauptbalken der Hüttendecke festgeknotet war. Hände und Füße trugen Armbänder von gleichem Seehundsmaterial, und da die Krawatte mit ihrem freien Ende sehr straff angezogen war, mußte der Inder auf den Zehenspitzen schweben …
Bert Beng baute sich dicht vor ihm auf, lächelte liebenswürdig … „Na, wir haben Sie doch nicht zu lange warten lassen, Mr. Gussara ben Gotari. Sie leben noch. Beinahe schade. Sollte sich in diesen Sätzen ein Widerspruch finden, so müssen Sie mir das nicht verargen, Mr. Fakir. Schaue ich Sie an, so verwirren sich meine Gedanken. – Olaf, hebe ihn mal hoch, ich will ihm den Schlips abnehmen … So, danke … Nun dürfen Sie sich wieder setzen, – nein, nicht auf den Sessel, auf den fein ausgelegten Moosboden …“
Gotari stand steif da … zu steif …
Beng zog plötzlich sein Messer. „Jungchen, falls du wieder deinen Trick mit dem Starrkrampf anwenden willst, fährt dir dieser Metallkitzler in die Rippen, – so wahr ich mal Polizeiinspektor in Melbourne war und jetzt auf der Liste der schwarzen Buben stehe, weil ich einigen reichen Gaunern das Handwerk legte! Merke dir das! Also nicht wieder diese abgenutzten Tricks, die jedes hysterische Frauenzimmer dir nachmachen kann! Hübsch vernünftig sein, Jungchen, denn hier geht es um Leben oder Sterben, noch nie war dir der Tod so nahe, glaube mir schon … – Setze dich.“
Gotari hatte zweifellos die Absicht gehabt, uns erneut irgendwie zu bluffen, er hatte aber auch gezeigt, daß er Angst hatte, – als Bert ihm die Messerspitze in das braune Fell drückte, hatte er sich verfärbt, und – – dennoch dieses aufreizende, hochmütige kaum merkliche Lächeln blieb, und in den Augen blieb auch der matte Glanz höhnischer Überlegenheit.
Er gehorchte nicht, er stand mit leicht zurückgebeugtem Kopfe da und schloß langsam die Lider – nicht ganz, dann schaute er über Beng hinweg durch das Fenster in die Gewitternacht hinaus … Eine seltsame Veränderung ging in seinem Gesicht vor sich, auch ganz allmählich, seine Züge verloren die Schärfe, ein fast frohes Lächeln umfloß die etwas gespitzten Lippen …
„Mr. Beng“, sagte er ungewohnt lebhaft, „Sie können mir nichts mehr anhaben … Keiner der Gondaloors lebt mehr, sie alle sind in Ihrem Kutter in diesem Orkan umgekommen – – alle! Und es ist so am besten für sie, es waren Unglückliche, denen die Welt und das Leben nichts mehr bieten konnte. – Gut, ich werde mich setzen, ich habe nun kein Geheimnis mehr zu hüten, ich breche kein Versprechen, wenn ich Ihnen beiden die Geschichte der Gondaloors mitteile.“
„Vorlüge!!“ nickte Beng gemütlich. „Nicht mitteilen – – vorlügen, Jungchen, – dir traue ich nicht über den Weg. Na, trotzdem – nur immer zu …! Auf eine Hand voll Noten kommt es nicht an.“
Bert war jetzt ein schlechter Komödiant. Des Inders düstere Prophezeiung hatte doch auf ihn Eindruck gemacht – wie auf mich, unsere Blicke begegneten sich flüchtig, und wir lasen einer in den Augen des anderen die verzehrende Angst um das Leben derer, die uns hier auf Royal-Insel geraubt worden waren und die nun vielleicht wirklich im Wellengraus des Ozeans dahintrieben wie armseliges Nichts – und wir hatten sie doch geliebt und sie an unser Geschick gekettet durch die Fesseln gemeinsamen Erlebens, gemeinsamer Gefahren und froher, sorgloser, seliger Stunden.
Beng griff rasch nach dem Kasten mit den Zigarren, biß einer dunklen Brasil die Spitze ab und … legte sie wieder weg.
„Ich … werde mich erst mal rasieren“, sagte er schroff und hart. „Fange nur an, Gotari …“
Die Blitze waren draußen seltener geworden, das Unwetter verzog sich gen Süden, und nur zuweilen noch erklang das ferne Grollen wie das Rumpeln eines schwer beladenen Wagens über schlechtes Pflaster.
Ich hatte mich auf einen Baumstumpf gesetzt, dem ich die längsten Wurzeln weggeschlagen hatte – mein Hocker. Der Inder kauerte am Boden, Beng seifte sich das Gesicht ein, und Gotari sprach in seinem flüssigen Englisch mit bemerkenswerter Offenheit:
„Mr. Abelsen, ich hätte Sie nicht in der Grube sterben lassen, sondern nur gewartet, bis ich Gewißheit über das Schicksal meiner Freunde erlangt hatte. Ich war drüben auf dem Westteil der Insel, ich fand den Weg durch den Triebsand, und ich habe stundenlang gesucht … Die Felsen dort verbergen niemand mehr, und es hätte der Vision vorher kaum bedurft, mir auch die allerletzte traurige Bestätigung zu geben, – – sie sind tot, auch“ – er zögerte – „auch ihre beiden Frauen, Mr. Abelsen … Ich mag Sie nicht belügen, durch diesen beklagenswerten Ausgang des Schicksals der Gondaloors hat sich alles geändert.“
Bert schraubte an dem Rasierapparat herum, er behielt den Kopf gesenkt, er fühlte wohl denselben schmerzenden Stich im Herzen wie ich …
Arme Grita – – arme Mita Mac Barny! Hatten wir euch nur deshalb aus der Eiswüste der Antarktis befreit, damit hier an diesem Gestade euer junges Dasein zerschellen sollte?!
… Gotari sagte leise:
„Es gibt kein Sterben für die, die ohne Sünde hinüberschritten in das andere neue Reich … Sterben ist nur Verwandlung, Sterben ist Vorstufe zur Treppe der Seligkeit … – Ihr beide belächelt vielleicht unseren Glauben der Seelenwanderung, ich will euch nicht zu bekehren suchen, aber ist dieser Glaube, in dem das ganze Mysterium des Brahmanismus gipfelt, nicht weit reifer, geläuterter als …“
„… Höre auf!“, rief Bert ungeduldig. „Ich warte auf deine Geschichte, Gotari … Mit unserem Schmerz werden wir allein fertig werden … Und du Olaf, – bitte keine Zwischenfrage, keine Zwischenbemerkung …!“ –
… Im Ozean irgendwo versank ein Kutter … irgendwo …
Menschen kämpften um ihr Leben, – das Meer zog sie hinab, gab sie wieder her, und auf den Wogen trieben blonde lange seidige Haare wie ein Gespinst von allerfeinstem Seetang, den die Sonne bleichte …
Grita …!
Und dort irgendwo unten am Boden des Triebsandes ruhte vielleicht Taito, mein Hund.
Immer wieder nimmt mir das Geschick in grausamer Willkür das, was es soeben mir erst schenkte: Liebe, Treue, Hingabe, – – immer … wieder, immer wieder! –
Gotari sprach …
„Ich bin in Benares als Sohn eines sehr reichen indischen Kaufmanns geboren, der zur Brahmanenkaste gehörte. Erzogen wurde ich von den Priestern des Dsche Dagon-Tempels, und da ich von Jugend an Neigung für ein weltabgeschiedenes Leben zeigte, beschäftigte ich mich auch mit den Geheimlehren der Prawasa-Yogin, bekanntlich die oberste Stufe der Fakir-Kaste. Ich wurde dennoch wie mein Vater Kaufmann und ging nach Kalkutta, wo Ernest Gondaloor ein großes Exportgeschäft besaß. Ich fand in seinem weitverzweigten Unternehmen eine mir zusagende selbständige Stellung, war häufiger Gast bei den Gondaloors und fühlte mich in diesem Kreise feinsinniger Menschen – das Ehepaar hatte drei Töchter – wie zur Familie gehörig. – 1920 im Herbst unternahm Ernest Gondaloor mit seiner Privatjacht „Godawari“ eine längere Reise, um seine überseeischen Niederlassungen auf Java, Sumatra, Neuseeland und in Australien, die durch den Krieg sehr gelitten hatten, zu besichtigen. In Sydney hörten wir – er hatte mich mitgenommen – von einem alten Matrosen eines Robbenfängers ungewisse Gerüchte von dem Vorhandensein großer Kupferlager auf der Royal-Insel. Gondaloor wollte diesen vagen Gerüchten auf den Grund gehen. In aller Stille wurde die Jacht reichlich verproviantiert, und Ende November bekamen wir dann Royal in Sicht. An jenem Tage erhob sich urplötzlich ein Orkan, vor dem wir entgegen meinen Warnungen in der Südwestbucht Schutz suchten. Beim Passieren der vorgelagerten Riffe rannte die Jacht auf einem Felsen auf und beschädigte sich den Schiffsboden so schwer, daß die „Godawari“ in kurzem wegsackte. Der Orkan, dazu ein schweres Gewitter, mehrere Blitzschläge in die beiden Masten, ferner eine Flutwelle von ungewöhnlicher Höhe brachten der Besatzung bis auf den Koch Gustav Trebber den Tod. Es war eine entsetzliche Nacht, Regengüsse, Blitz, Donner vernichteten leider auch noch kostbare Werte …“
Der Inder starrte eine Weile trübe vor sich hin.
Diese Pause benutzte Bert sofort zu einer Zwischenfrage, die ich sonst gestellt hätte, und die für die Beurteilung dieser an sich nicht gerade unglaubwürdigen Schilderung von großer Bedeutung war.
„Sagen Sie mal, Gotari“ – Beng behandelte den Inder plötzlich wieder als anständigere Nummer, … „Blitzschläge in Schiffsmasten sind nicht selten … Hatten die Masten Blitzableiter?“
Gotari verneinte. „Beide Masten zersplitterten und die Reste gingen in Flammen auf. Die herabfallenden Stücke erschlugen fünf Leute.“
„Pech!“ nickte Beng … „Großes Pech. Und weiter …?“
„Ich erwähnte kostbare Werte“, meinte Gotari leise. „Ein vernichtetes Menschenleben ist nicht so erschütternd für den Überlebenden einer Katastrophe als … geistige Umnachtung.“
Bert hatte mir verstohlen einen bedeutsamen Blick zugeworfen, der sich erübrigte, da der Inder sich bereits – Pech!! – gründlich festgefahren hatte.
Es sollte noch besser kommen.
„Ich betone, es war eine grauenvolle Nacht, und die Flutwelle überraschte uns auf der sinkenden Jacht so plötzlich, daß wir alle über Bord gerissen wurden. Ich selbst fand mich am Morgen am sandigen Ufer der Bucht wieder, neben mir kniete Gustav Trebber, der kleine Koch, und als wir dann auch die Gondaloors in einer kleinen Erdhöhle entdeckten, machten wir die trostlose …“
„Halt – es waren also fünf Gondaloors an Bord gewesen?“, fragte Bert scheinbar voller Mitgefühl.
„Sechs, Mr. Beng … Einen Neffen Ernest Gondaloors vergaß ich zu erwähnen, Charly Gondaloor, einen sympathischen Engländer …“
„Danke – also sechs … Und was stellten Sie da fest?“
Gotari blickte Beng lange an. Sein Mund zuckte, eine ungewöhnliche Erregung straffte seine Züge.
„Sie waren vor Grauen und Todesangst irrsinnig geworden“, sagte er noch leiser. „Kein Irrsinn, der sich durch Wutausbrüche bemerkbar machte, nein, – eine noch schlimmere Vernichtung des gesunden Geistes: Lachend und freudestrahlend behauptete Ernest Gondaloor, er hätte nun hier auf Royal die sagenhaften Schätze des Grafen Monte Christo gefunden, und die Seinen benahmen sich genau so … trostlos närrisch. Der einzige Gesunde war der Koch Trebber. – Ich will hier nicht weiter auf Einzelheiten eingehen … Ich war so tief erschüttert, daß ich eine einsame Dünenstelle aufsuchte und dort vor Erschöpfung einschlief. Als ich erwachte, war es später Nachmittag, ich suchte nach den Gondaloors, und ich sah sie schließlich droben auf dem felsigen Hochland der Westhälfte. Wie sie dorthin gelangten, weiß ich nicht. Vielleicht fanden sie den schmalen Pfad durch den Triebsand, Mr. Abelsen, den Sie durch den Stab gekennzeichnet haben. Ich wollte zu ihnen, sie wiesen mir nicht den einzig gangbaren Weg, bewarfen mich mit Steinen, und spät abends sah ich die drei armen Mädchen auf einem Plateau im Süden … tanzen – tanzen …!!“
„… Und nun zu mir“, fuhr er zögernd fort. „Ich will nicht verhehlen, daß ich es war, der in Sydney Mr. Ernest zuredete, die Royal-Insel gründlich zu erforschen. Mein Gewissen regte sich, und nach drei weiteren Tagen sah ich ein, daß ich mit schuld daran war, daß die Gondaloors so schwer heimgesucht worden waren. Mögen Sie nun über die Fähigkeiten der Fakire, willkürlich die Lebensfunktionen des Körpers auszuschalten und jahrelang im Tiefschlaf daliegen zu können, denken wie Sie wollen: Ich, ein Brahmane und Yogi – ich, ein Einsiedler in diesen Dünen hier, beschloß, mir selbst eine Strafe aufzuerlegen und wählte jene Felsgruft als Ruhestätte – vielleicht für immer. Ich trug das, was Sie dort an toten Dingen fanden, in das Felsloch, schichtete Geröll auf, wälzte die Steinplatte an den Rand des freiwilligen Grabes und richtete alles so ein, daß ich die Platte von innen umkippen und daß das Geröll und die Steine darüber rollen mußten. Ich versperrte mir selbst den Ausgang ins Freie, und mein Gedanke dabei war, daß ich es dem Zufall überlassen wollte, mich wieder durch einen fremden Seemann vielleicht dem Leben zurückzugeben, und – der waren Sie, Mr. Abelsen!“
Beng sagte schnell, um jeder ironischen Bemerkung meinerseits zuvorzukommen:
„Sie besitzen ein allzu feines Gewissen, Gotari! – Wir glauben Ihnen ohne weiteres alles, obwohl es da einige Punkte gibt, die noch geklärt werden müßten.“
Einige Punkte!!
Dieser Schwindler Gotari ahnte nicht, daß wir sein trügerisches Spiel durchschaut hatten, daß die Masten der Jacht anderswo einen „Zahnstocher“, besser eine Leiter gebildet hatten und daß wir auch den engen Tunnel und sein Proviantlager im Dickicht kannten. Für mich stand es außer Zweifel, daß die Gondaloors oder doch Guß Trebber den Schurken in das Felsenloch eingesperrt hatten, daß der Inder dort zufällig den rettenden Tunnel entdeckte und nachher heimlich durch Tauchen den Proviant heraufgeholt hatte, – falls die Jacht damals wirklich schon gesunken war. Auch das war zweifelhaft.
Es stimmte schon, daß Bert soeben gesagt hatte: Einige dunkle Punkte! – Aber gerade die Hauptpunkte der Tragödie kannten wir nicht, nur das eine war gewiß: Die Gondaloors waren geisteskrank gewesen! Und nun – – hatte der Ozean sie verschlungen, sie und unsere Lieben, – – wie sollten wir da die Wahrheit ergründen?!
Berts Taktik gegenüber Gotari war richtig. Mit Gewalt hätte der Inder sich kein Geständnis abringen lassen. Nur List konnte zum Ziele führen. Daß hier wahrscheinlich ein ungeheuerliches Verbrechen vorlag, für das der Inder allein verantwortlich war, davon war ich überzeugt. Sein kalter Haß hatte dabei eine Rolle gespielt – welche?!
Beng packte das Rasierzeug weg und nahm dann schweigend dem Inder die Fesseln ab.
„Mag Ihr Verhalten uns gegenüber noch so widerspruchsvoll erscheinen, Gotari“, sagte er ernst, „– Ihre Gedanken sind eben anders geartet.“
Gotari erhob sich. „Ich wollte nur die Tragödie dieser armen Wahnsinnigen, die meine Freunde waren, verschleiern. Nichts mehr.“ Er sprach bescheiden und bekümmert, schnell setzte er sich auf meine Lagerstatt und beobachtete Beng, der nun zur Zigarre griff. „Darf ich mir eine Frage erlauben, Mr. Beng?“
„Lassen wir das alles begraben sein“, erwiderte Beng achselzuckend. „Weder Abelsen noch ich sind Männer, die zwecklos reden … – Ich habe Hunger. Ich werde uns Fleisch verschaffen … Wartet hier. Der Himmel ist wieder klar, der Mond scheint, und ein Robbensäugling ist mir zur Zeit die Hauptsache.“
Er griff nach der Büchse, warf sich eine Wolldecke um die bloßen Schultern und ging hinaus.
Es gehörte nicht viel Witz dazu, seine wahre Absicht zu durchschauen: Er wollte zwischen den Widderhörnern in dem Felsloch den Tunneleingang wieder verbauen und all unsere Fährten, die nach Gotaris Proviantlager führten, gründlich verwischen, damit der Inder keinerlei Verdacht schöpfte, sein Lügengespinst sei längst durchlöchert.
Gotari benahm sich jetzt durchaus zwanglos. Er half mir auf dem primitiven Steinherd ein Feuer anzuzünden, er ging mir auch sonst zur Hand, wir besserten das beschädigte Hüttendach aus, sprachen über das Unwetter, – – aber ich ließ den Inder keine Sekunde aus den Augen! Es war ein aufregendes, heimliches Katz- und Maus-Spiel, – wie es enden würde, war nicht vorauszusehen.
Dann saßen wir am Feuer, und Gotaris Hinterhältigkeit glaubte mit mir leichter fertig zu werden als mit dem prächtigen Beng, hinter dessen heiterer Unbesorgtheit doch die unheimliche Rücksichtslosigkeit eines zielbewußten Charakters sich verbarg.
Die feuchten Äste knallten, qualmten auf dem Herde. Der noch immer recht lebhafte Wind drückte den Rauch zum Dachloch empor, draußen meldeten sich die Wildkatzen …
Das nächtliche Leben der Osthälfte von Royal erwachte wieder.
Gotari redete von den Gondaloors …
Heuchler – – widerlich in seiner Virtuosität, tiefere Gefühle vorzutäuschen.
Und dann – ich ahnte es:
„Wie haben Sie eigentlich damals nachts mit Beng und Taito das Hochland drüben erreicht?“ Er warf die Frage gleichgültig ein … arglos scheinbar.
Nun, ich bin kein Gimpel, der einem Schwindler auf den Leim geht.
„Lassen Sie das doch, Gotari …! Das ist ja ohne Belang. Begreifen Sie bitte: Beng und ich büßten hier alles ein, woran unser Herz hing. Ich werde ja darüber hinwegkommen, gewiß, aber – – verschonen Sie mich mit Dingen, die meinen Schmerz vergrößern.“
„Verzeihen Sie …“, und wir blieben eine geraume Weile still, bis ich, neue Äste in die Glut werfend, ebenso nebenher fragte:
„Hatte denn die Jacht Tiere an Bord, Gotari?“
„Ja, gewiß. Gondaloor kaufte in Sydney allerlei Getier auf …“
„Känguruhs?“
„Auch die …“
„Ein Teil davon ist dem Schiffbruch entgangen, die Osthälfte hier ist doch verhältnismäßig tierreich …“ Auch das nur ein paar nebensächliche Bemerkungen von mir – scheinbar.
Der Inder fiel darauf prompt herein. „Ja, ich war erstaunt, nach all den Jahren, die ich verschlief, diese Täler so belebt zu finden.“
Nach all den Jahren?!
Ich hätte ihm ins Gesicht lachen mögen.
Der Tunnel – – der Proviant, – – Gotari hatte offenbar nur dann „schlafender Fakir“ oder „Toter in der Gruft“ gespielt, wenn Trebber, der brave kleine Guß Trebber, oder die Gondaloors sich einmal hierher verirrten – mit Hilfe der beiden Masten!
Und – eigenartig genug, – gerade jetzt vor dem Türvorhang der Hütte ein Stampfen, Schnauben …
Gerade jetzt tauchte Moritz auf, schob die grob geflochtene Decke einfach mit dem Kopf bei Seite und kam hereingehüpft.
Moritz, das Känguruh, der Pfadfinder durch den Festungsgraben der Gondaloors!
Gotari prallte leicht zurück …
Noch seltsamer: Moritz, nur ein halbzahmer Wildling, blieb stehen, schnupperte, drehte sich plötzlich um, lüftete das Hinterteil und – – der Inder flog, von einem der Hufe vor die Brust getroffen, wie ein Ball gegen die Hüttenwand und wand sich dort vor Schmerzen wie ein Wurm.
All das hatte sich so rasch abgespielt, daß ich erst zuspringen konnte, als Moritz Miene machte, den Inder noch weiter zu bearbeiten.
Mit Mühe und Not rettete ich Gotari vor den gefährlichen Hieben der Hinterbeine dieses heute von toller Wut gepackten, fast zwei Meter hohen „Freundes“ … Diese Hinterfüße haben vier Zehen, von denen die eine sehr lang und kräftig ist und furchtbare Wunden reißt. Daß ein Känguruh mit dem harten, langen Schwanz, der stets als Sitzstütze dient, sich verteidigt oder angreift, ist eins der vielen Märchen, die immer wieder aufleben, genau so, wie man sich über den Nachwuchs dieser gewiß seltsamen Tiere eine völlig falsche Vorstellung macht. Die Känguruhmutter bringt stets nur ein Junges von 4 Zentimetern Länge zur Welt, und dieses winzige Geschöpf verbleibt dann noch acht Monate in der Bauchfalte der Mutter und säugt hier an einer Zitze, die dem Kleinen gleichzeitig als Halt dient. Erst nach diesen acht Monaten kriecht dieses Jungtier ins Freie, kehrt jedoch noch immer in den warmen Unterschlupf zurück, bis es selbständig äsen kann. Daß es auch in Neuguinea eine Abart der Känguruhs, die sogenannten Bärenkänguruhs gibt, erfuhr ich erst aus dem Buche Professor Codlers. – Ein Paradies für die australischen Känguruhs war einst, auch ganz interessant, die Känguruhinsel an der Südküste Australiens, auf der der Forscher Flinders 1881 (er entdeckte sie) ungezählte Herden dieser Tiere antraf, die dann jedoch durch die Kolonisten später unbarmherzig ausgerottet wurden. Die Felle dieser merkwürdigen hüpfenden Geschöpfe (Sprünge von 6–9 Meter!!) werden in Europa als „Wallaby“ in den Handel gebracht – und zu Iltis, Skunks und Zobel verfälscht.
Unser Moritz hier, echtes Riesenkänguruh, war noch nicht zu Wallaby verarbeitet, sondern bemühte sich nur, dem Inder Gotari schleunigst den Rest zu geben. Hätte Moritz mit mir nicht bereits so ehrliche Freundschaft geschlossen, würde es mir kaum gelungen sein, Gotari vor der Wut des wie wild dreinschlagenden Beutelriesen zu schützen. Auch ich erhielt dabei einige Püffe ab, auch ich hatte nachher eine blutige Schramme am Oberarm, aber Gotari – – viel war von ihm nicht mehr übrig, als ich ihn auf mein Lager trug und ihm Whisky einflößte und seine Knochen befühlte. Er war bewußtlos, ich konnte die zum Teil sehr tiefen Wunden nur flüchtig säubern, und dann schnell verbinden, sonst wäre der Inder an Blutverlust verschieden.
Dabei machte ich nun eine Entdeckung, die ein neues Licht auf diese mehr als geheimnisvolle Gondaloor-Geschichte warf.
Der Inder trug um den Hals unter dem jetzt blutgetränkten Hemd an einem dünnen Goldkettchen eine ovale flache Kapsel. Ich öffnete sie. Sie enthielt das Miniaturbild eines jungen blonden Mädchens mit frischem, heiterem Gesicht, keine Schönheit gerade, aber ein Antlitz voller Liebreiz und Güte. Der Kapseldeckel war innen durch eine dicke blonde Haarsträhne ausgefüllt, über die als Schutz ein durchsichtiges Zelluloidplättchen gedrückt war.
Mich mit diesem Funde eingehender zu beschäftigen, fehlte mir die Zeit. Ich war mit dem Verbinden der Wunden noch nicht fertig, als Bert erschien.
Moritz, der Übeltäter lag schlafend in einer Ecke.
Beng trug als Beute eine Känguruhratte von Hasengröße (Fleisch sehr wohlschmeckend) und ein Kaninchen über dem Rücken. Da ich keine Schüsse gehört hatte, mußte Bert als tadelloser Steinschleuderer wohl durch geschickte Würfe die Tiere erlegt haben.
Er schaute sich wortlos um, lächelte etwas und ging zu Moritz in die Ecke und streichelte ihn.
Moritz schnupperte und lag still, ließ sich diese Liebkosung von bisher fremder Hand ruhig gefallen.
Um so merkwürdiger mußte hiernach Moritz’ grimmer Angriff auf den Inder erscheinen, den er doch fraglos als Feind betrachtete und ebenso zweifellos bitter haßte, natürlich von früher her.
„Moritz’ Werk!“, erklärte ich Beng.
„Dja“ – und er begann am Hütteneingang seine Jagdbeute abzuhäuten und auszuweiden, „– dja, ich kenne die Känguruhs als Jäger sehr gut …“ Er hatte seine Jagdstreifzüge schon häufig erwähnt. „Sie sind sehr scheu, werden aber bei richtiger Behandlung sehr schnell zahm, fast wie Hunde, Olaf … Mit dem Hunde haben sie auch die Eigentümlichkeit gemein, daß sie „Charaktere wittern“ und Brutalitäten nie vergessen. Ich gehe jede Wette ein, daß Gotari unseren Moritz, der uns übrigens hier einen guten Dienst erwiesen hat durch des Inders gründliche Verbläuung, einmal geprügelt oder mißhandelt oder sich sonstwie unbeliebt gemacht hat. Im Tierpark in Melbourne trampelte einst ein Riesenkänguruh einen Wärter zu Tode, weil der Kerl das Tier stets mit dem Besen in die Weichen stieß. – Bemühe dich nicht allzu sehr um den braunen Schuft, dessen Schuldkonto sicherlich recht lang ist … Diese armen Gondaloors dürfte er auf dem Gewissen haben – irgendwie, und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht Guß Trebber den Schurken in das Felsloch als Vergeltung einsargte, – na, wir werden schon noch dahinterkommen, denn …“ – er wurde sehr ernst – „jetzt weiß ich, daß wir unsere Lieben nicht zu betrauern brauchen, Olaf … der Kutter ist noch da …“
Sein hageres, kühnes Brigantengesicht, in das die blonde Haarlocke der linken Scheitelhälfte heute wieder so schwungvoll-nachlässig hineinhing, seine frohen Jungensaugen, die vielleicht das Schönste an ihm waren, – dieses ganze schnittige, rassige Antlitz mit den herben Linien eines verwitterten Bronzekopfes strahlte wie von innen her beleuchtet. – Seine Seele schimmerte in diesen Zügen, die doch so erstaunlich beherrscht sein konnten, und diese Seele, zart gebaut wie ein kunstvolles Gebilde der bescheidenen Schwämme, von denen ich bereits sprach, robust trotzdem und ohne jede Sentimentalität, die da mit Phrasen und schwierigen Satzspielereien den Menschen den steinharten vererbten Sinn der Urahnen rauben möchte, schwang mit der meinen im Gleichklang der hohen Freude über die Gnade des Geschicks: Der Kutter war da!
Und war der Kutter noch da, unser Kutter, die Antarktis, dann mußten auch Grita und Mita mit dem wehenden Kupferhelm und vielleicht auch noch Taito, der Wringmaschinenteckel, irgendwo drüben mit den Gondaloors in deren Festung stecken! Irgendwo …!
„Bert, und du fandest ihn?“
„Ja …!“ Sein klingendes jugendliches Lachen erfüllte die Nacht wie mit Sonnenschein. „Ja – durch einen Zufall, du! Ich lag doch bewußtlos drüben in der gnädigen Mulde des Steilhangs der Nordbucht – viele Stunden. Ich sprang dann in die Bucht hinab wie ein Tauchervogel und schwamm hinüber, weil ich deinen Stecken da im Sande südwärts bemerkte, – und die Stange hatte früher dort nicht gestanden, du! Und ich finde hier den Obergauner aus Benares und fand dich als schlafenden, badenden Fakir, – na, du weißt ja, – heute trieb es mich wieder zur Nordbucht … Halb der Kaninchen wegen, die dort im Gestrüpp herumflitzen, halb in dem Gedanken, daß dort vielleicht eine Spur von der Abfahrt der Gondaloors und von dem bisherigen Versteck des Kutters zu finden sein müßte. Man hat so seine Ahnungen, Olaf … Zur Zeit ahne ich, daß diese beiden feisten Tiere am Spieße sofort geröstet werden … Also los! Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Junger Seehund bleibt immer nur junger Seehund und schmeckt wie Kalbfleisch mit zarter Trantunke … Da, spieße die Würmchen auf … Ich wasche mir nur die Hände … Eigentlich sehr feudale Hände, schmal, zart, aber aus Gußstahl … Guß … stahl, und dein Freund Gnom nennt sich Guß, manche Damen nennen sich Gussy, manche Gustava, Gusti oder Gustel, – du siehst, ich bin auf jedem Gebiet bewandert, auch mit Kosenamen … Los doch! Schüre das Feuer, flackere, Glut, denn ein Getreuer sucht meine Hut … – Kommt irgendwo vor – Oper oder so …“ Und er pfiff etwas, das aus der Walküre sein konnte …
„Wenn der Bert Beng sucht, mein Jungchen, dann sucht er so wie du … Dein Lehrmeister war ein stolzer, freier Araukaner, der meine war ein alter bissiger Polizeioberbonze, der von der Pieke an gedient hatte und mehr von dem Kram verstand als die ganz obersten Chefs, oder sagt man Chefe in der Mehrzahl?, – das klingt wie Schafe, trifft meist zu, schadet nichts, je dümmer die erste Garnitur im Gehalt – gleich Geld – nicht Innengehalt, Du, desto weiteren Spielraum haben die bescheidener Besoldeten … – Und so schritt ich denn am Buchtufer hin, fein langsam, Augen, Ohren offen, und immer gut in Deckung … Sah da mit einem Male drüben, wo die Felswand zurückweicht und einen finsteren Winkel bildet, so was ganz Kleines krabbeln … der Mond war vernünftig genug, gedämpften Scheinwerfer zu spielen, und das Kleine da, na – es war dein Guß mit den schönen Prinzipien, und der alte Knabe zog gerade mit einer sanft quietschenden Winde den Kutter eine flache Stelle auf einem Fahrgestell aufwärts, bis Kutter, Mann und Bootswagen in Nichts zerrann, da ein letzter Wolkenfetzen des flüchtenden Unwetters die Mondscheibe verdeckte … Und als sie wieder vorlugte, bemerkte ich nichts mehr – still lag der Buchtwinkel da, harmlos wie ein keusches Jüngferlein, das züchtig nachts das Bettlein hoch bis zum Kinn zieht … so etwa, – wenn der Vergleich hinken sollte, es schadet nichts!“
Ich drehte schon den Spieß, und die Hitze ließ das Fett der Braten zischend in die Glut fallen. Ich lachte Bert an, und er lachte mich an …
„Ja – Grita, Mita, Taito – werden schon leben, alle drei, mein Jungchen … Und wir werden nachher nach Tisch und gesundem Schlaf hinüber und suchen … anderswo, du, denn die Leute stecken nicht oben, sondern unten! Narren waren wir, du, – längst hätten wir ahnen müssen, daß die Gondaloors irgendwo in dem Felsen hausen, nicht auf dem Felsen …!“
Er kam und trocknete sich die Hände an einem ganz echten Handtuch. Herr Gotari war eben glänzend versorgt mit allem. Kein Wunder: Wer so eine Luxusjacht ausplündern kann!!
Konnte Gotari das wirklich?!
Überlegte ich mir das, was wir wußten, recht genau, so zerfiel das Wenige, das da unter „Bestimmte Tatsachen“ zu buchen gewesen, wieder in die wunderlichen Plättchen eines schwierigen Zusammensetzspieles.
Aber Beng redete weiter …
Bert Bengs Herz sehnte sich nach dem wehenden Kupferhelm seiner Mita und nach ihrer starken Liebe, und ihm floß die Zunge in feurigem Schwärmen über wie einem Dachstubenpoeten, dessen einzige Stärke die Hoffnung auf Erfolg ist.
Dennoch wirft er zuweilen einen Blick auf den regungslosen Inder, der, aschgrau im Gesicht, mehr einem Toten glich.
Ich teilte Bengs Zuversicht nicht so schrankenlos, – nein, mir stand stets warnend die Fülle von Enttäuschungen vor Augen, die mich gelehrt hatte, auch im Hoffen Maß zu halten.
Beng sagte zum Schluß – so recht Bert Beng wieder, von einem Thema ins andere springend:
„Moritz bleibt hier!“
Ich verstand ihn zunächst nicht. Er kaute an seiner Zigarre und warf sie weg. „Keine Luft, der Stengel. Er bleibt hier als Wächter für den da!“ Er zeigte auf Gotari. „Ich werde Moritz festbinden, – Lasso und so, lang genug, daß er dem da das Entschlüpfen ausklopft, wenn wir beide … suchen …“
Er ging hinaus und pfiff draußen einen Marsch, die Töne entfernten sich, ein paar Wildkater jaulten, und ich wandte mich wieder meinem Festbraten zu, zog den Baumwurzelschemel näher heran und leistete mir eine Zigarre, träumte vor mich hin, dachte an die blonde Grita mit den schwellenden Lippen und der klassischen Nackenlinie, dem mutwilligen Näschen und der süßen Stimme, die so betörend flüstern konnte.
Ein süßes Dankesgefühl stieg da in mir hoch wie ein stilles, inbrünstiges Gebet. Grita lebte!! Und hier diese Insel, diese wunderbare, widerspruchsvolle, geheimnisvolle Insel, dieses ganze Leben, Ernten, Kämpfen, Ringen, Suchen, Finden und Spüren nach verschlungenen Zusammenhängen von Menschenschicksalen, – diese Nacht, so regenfrisch, dieses Dornental, so geläutert durch das Unwetter, so erquickt durch die rauschenden Spenden des Himmels, – – war das alles nicht echte, [unverdorbene Poesie, die den Menschen mit je]dem[16] erhabenen Gedanken der Weltschöpfung, des kosmischen Geschehens weit näher brachte als das feinsinnigste Buch eines wahren Poeten?! Einer fiel mir da ein, einer, der aus der Seele schöpfte und der seine Seele nicht anpaßte an Tagesmode und an Verirrungen phantasieloser, herzloser Geister voll erzwungenem Phrasenschwall und gekünstelter Eigenart, – einer, der über Indien schrieb und traumhaft schöne Bilder hervorzauberte und anderen in die Seele goß, was er empfand …
Jämmerliche Schreiblinge, Nichtskönner, aufgeblasene Konjunkturliteraten haben auch ihn mit dem frechen, falschen Hochmut all dieser Allermodernsten zu begeifern gewagt, – Eintagsfliegen nur, – und er wird weiterleben, er wird mit seiner „Indienfahrt“[17] späteren Geschlechtern den Beweis liefern, daß das wahrhaft Reine, wahrhaft tief Empfundene Allgemeingut einer Welt bleibt, die sich jetzt in verkrampften Zuckungen unter dem höhnischen Tritt des Molochs Geld windet.
Einer …
Und da – hinter mir vom Lager des lügnerischen Inders eine matte Stimme, nur ein Hauch, – aber der Inhalt des kurzen Satzes mir wie ein Treffer ins Hirn:
„Ich kenne ihn, sein Buch erschien in allen Sprachen.“
Gotari lag halb aufgestützt da. In seinen Augen, die der Flammenschein aufleuchten ließ, war schon wieder der kalte Glanz jenes Hochmuts, der diesen Menschen hinaushob über die Grenzen armseligen Verbrechertums.
Was mich erschreckte, war seine nicht mehr anzuzweifelnde Gabe, fremde Gedanken zu lesen.
Der Anfang eines Lächelns glitt um seine Lippen, dann sank er zurück und lag wieder regungslos da.
Mitleid – nein, nicht Mitleid trieb mich zu ihm. Er war immerhin Mensch wie ich, wenn uns auch Welten trennten. „Wollen Sie trinken, Gotari?“
Er antwortete nicht.
Ein Kerl von böser Zähigkeit, sagte ich mir. Und zerfressen von Haß … Einer jener farbigen Weisen, Wissenden, die in dem Europäer nur die Degeneration der Ursprungsmenschheit sehen. Er hatte mir seine Ideen über Weltwerden ja genügend vorgetragen, – eine Vorlesung, die vielleicht doch nicht von einem Scharlatan stammte.
Still war es wieder im Hüttengemach, draußen nicht still … Das Getier, scheu in seinen Schlupfwinkeln das Verebben des Unwetters abwartend, hatte sich hervorgewagt und erfüllte das Schweigen der Nacht mit der Sinfonie ihrer Laute, – und fernher die Brandung, hier die knisternden, knallenden Scheite, das helle Zischen der Fetttropfen, das leise Brozeln des sich bräunenden Fleisches, der Duft dieses unter der Hitze dunstenden, halb fertigen Mahles – zwei Tiere, vor Stunden noch lebensfroh, jetzt in dem unvermeidlichen Kampf aller gegen alle erniedrigt zur Sättigung stärkerer Feinde …
Und dann wieder Bert Bengs lustiges Marschkonzert – leise noch – – noch fern …
Und dann eine zischende, brutale Drohung:
„Arme nach hinten – – sofort!!“
Dicht, ganz dicht diese Stimme des Inders, unzweideutig mit Mord drohend …
Etwas Kaltes im Nacken – – kalter Ring aus Stahl …: Mündung!
„Arme nach hinten – keinen Ton!!“
Ja – Arme nach hinten …
Kläglicher Weiser aus Benares, – du und ich – – bei solcher Gelegenheit?!
Arme nach hinten – gewiß, – aber Fäuste wie Schmiedehämmer, noch wund und zerfetzt …
Und ein blitzschnelles Sichbücken …
Fäuste, die trafen, die den Kerl drüben in die Ecke schleuderten, – – Aufruhr hier, – Moritz emporfahrend …
Kläglicher Weiser aus Benares, diesmal hätte das Känguruh sehr rasch zur Seelenwanderung verholfen …
Wir ließen dich am Leben, verdient hattest du es nicht!
Bert lachte geringschätzig und blickte das gefesselte Häufchen Unglück kopfschüttelnd an. „Mensch, wo nimmst du nur die Dummheit und Frechheit gleich in solchen Riesenportionen her?! Da wundert sich selbst der größte Fachmann für Gehirnverblödung! Mir sind schon reichlich viel Kerle über den Weg gestolpert, die mir gern eins ausgewischt hätten, weil ich ihren Spatzenhirnen das Verständnis für den Pflichtenkreis eines Hafenpolizeiinspektors von Melbourne kein Platz vorhanden war. Aber eine Nummer von deiner Güte, brauner Knabe, nein, die gehört ins Museum, und da es hier leider tatsächlich ein sehr fatales Museum gibt – unten auf dem Grunde des Triebsandes, hege ich die allerernstesten Befürchtungen, daß die armen Burschen dort Gesellschaft erhalten, die ihnen wenig paßt, – na – das hat noch Zeit – Essen wir, Olaf, nachher …“
Er schwieg und schaute die offene, flache Kapsel an, die ich soeben erst wieder in meiner Hosentasche gefunden hatte und ihm hinhielt.
„Von ihm?“ fragte er nur.
„Ja.“
Bert kniff die Augen klein und spitzte die Lippen.
„Wer ist das junge Mädchen, Gotari?“
Er hob nicht einmal die Stimme, er sprach ohne besondere Betonung, aber trotzdem klang in dieser Frage etwas mit, das den Inder mit einem Ruck hochfahren ließ.
„Wer ist das junge Mädchen?“
Gotaris Lippen bewegten sich, aber es wurde nur ein bösartiges, raubtierhaftes Zähnefletschen.
„Hm, du willst nicht reden … – Olaf, kümmere dich um den Braten, ich habe hier mit diesem minderen Genie eine Kleinigkeit zu regeln … Reiche mir doch mal dort den dicken Ast, – nein, den, der da schon angebrannt ist … Keine Sorge, ich will nicht die Folter, sechsten Grad, anwenden … keineswegs … Ich will nur Herrn Gotari bitten, mir das bekannte Kunststück aller Zirkusfakire vorzumachen, die sich für unverwundbar ausgeben, glühende Kohlen, lebende Frösche und sonstige Delikatessen zu fressen und …, – gib nur her, Gotari wird sich doch nicht ein solches Armutszeugnis ausstellen und auf diese bescheidene Generalprobe verzichten!“
Ich reichte ihm den armdicken Ast, die brennende Spitze sprühte Funken, qualmte und erlosch, das Holz aber glühte weiter, tiefrot, drohend wie ein Zyklopenauge im Finstern …
„Na?!“
Beng setzte sich auf den Rand des Mooslagers, das im übrigen aus Ästen und Flechtwerk bestand.
Gemütlich knotete er mit der Linken dem wie erstarrt dasitzenden die Handschlingen auf.
„So – nun – bitte, Herr Gotari! Du hast die Pfoten frei … Da, friß Feuer, Gotari, beiße ein Stück von der roten Pfefferschote ab … Nur zu!“ – Und er brachte die glühende Spitze den Lippen des Inders immer näher.
„Wer ist das Mädchen …?!“ Und da war jetzt der explosionsartige Ausbruch finsterer Entschlossenheit. „Ich werde dir schon die Lippen öffnen, Halunke …!!“
Gotari stierte auf die offene Kapsel, die Beng sich um den Hals gehängt hatte – stierte wie hypnotisiert, seine Wangenmuskeln spannten sich, daß die Backenknochen als helle Kreise sich abzeichneten, seine Mundwinkel zogen sich herab, die Augen verdrehten sich plötzlich, daß nur noch das Weiße zu sehen war, – dann sank er wie tot zurück, die Arme über der Brust im letzten Moment kreuzend.
Starrkrampf …
„Schade, sagte Bert, „der Kerl ist jetzt leider gefeit gegen Schmerz, und bevor wir ihn wach bekommen, wird unser Braten kalt …“
Er warf den Ast auf den Herd und nahm das Medaillon von seinem Halse und betrachtete Bild und Locke …
„Ich wette deine Hose gegen meine, Olaf: Das ist eine der Gondaloortöchter …“
Er zog sein Messer und löste das Bild aus dem kleinen Rahmenring und drehte es um.
„Irgend eine indische Schrift, – schaue her, – es gibt, glaube ich, in Indien dreißig verschiedene Schriftarten, bedauerlich, daß ich nicht eine kenne … Natürlich hat das Gotari geschrieben, und wenn das Bild eine der drei Gondaloortöchter darstellte, wäre vieles erklärt, sehr vieles … – Zerbrechen wir uns nicht weiter die Köpfe … Essen wir.“
Nachher wurden Herrn Gotari wieder die Arme gefesselt, auch Moritz erhielt ein Halsband und Leine aus frischem Robbenfell, wehrte sich nicht weiter, schien sogar an derlei Zwang gewöhnt zu sein, – und wir legten uns schlafen, wir hatten es nötig, erst als ich mich auf dem frischen Moosbett ausstreckte, fühlte ich, wie erschöpft ich war.
Der neue Tag meldete sich bereits mit zartem Graublau der Dämmerung. Bert, der an der Fensterwand lag, hatte die Lampe neben sich gestellt, rauchte noch und blätterte in Professor Codlers dickem Buche, das Ernest Gondaloor seinem verehrten Gast geschenkt hatte …
Der verehrte Gast würde kaum noch etwas von Ernest Gondaloor als Präsent erhalten, höchstens eine Pistolenkugel.
… Und nun liegt all das, all das hinter mir wie ein toller Traum.
Die Nacht der Gondaloors ist vorüber, diese Nacht, die nichts mit dem Schwinden des Tageslichtes zu tun hatte …
Und die doch eine Nacht voller Finsternis und Spukgestalten war.
Ich sitze ganz allein in der Kajüte des Kutters über meinen lieben, alten Papierblättern und habe emsig die Feder fliegen lassen, deren schwarze Spuren mir das verewigen, was geschehen ist, was hätte geschehen können, was so anders endete, als es menschlicher Wille zu erzwingen trachtete.
Die helle Sonne liegt im schrägen Strich über dem Papier und teilt es in eine dunkle und eine grelle Hälfte, Licht und Schatten, – wie überall in den Welten der Menschen Lauf, wie überall in den kleinsten Schicksalen, – wie überall im Dasein der vergänglichen Sterblichen.
Dunklere, lichte Seite, – so auch hier … hier auf Royal-Insel, wo nichts mir geblieben als ein zahmes Känguruh … und die Insel mit ihrem Massengrab … Man könnte bitter werden, könnte sich innerlich aufbäumen, auflehnen gegen dieses erbarmungslose Zusammenwirken lächerlicher Zufälle …
Könnte …!
Aber Werden und Vergehen ist nun einmal unser Los. Weiß ich denn, wann mir die allerletzte Stunde schlägt?!
… Allein auf Royal-Insel …Mit einem zahmen Känguruh, anderen Tieren, Vögeln und den Robben und den bösartigen Schwertwalen … Vielleicht müßte ich all dieses Papier, Tinte, Feder in die Bucht schleudern, vielleicht brächte mir diese Vernichtung schneller das Vergessen und den Frieden des Herzens, – – also eine feige Tat, denn wer nicht aus eigener Kraft dieses Vergessen findet, wer sich vor den Erinnerungen verkriecht – – Feigheit!
… Menschen wandern zu Friedhöfen an die Gräber ihrer Lieben und finden dort Trost. Menschen lassen die Gräber derer gleichgültig zerfallen, die ihnen nur vor der Welt nahestanden, mit denen nichts Innerliches sie verband.
Frage: Wer sind die besseren?
Unnütze Frage …
Unser Hirn ist solch ein Riesenfriedhof, – was alles betten wir dahinein zur letzten Ruhe, – und wenn wir dann einmal ehrlich die Pfade zwischen diesen Gräbern entlangschreiten und ehrlich uns fragen: Hat nicht auch der kalte Frosthauch der Selbstsucht, die nur Sorgen um das eigene Wohlergehen kennt, auch die Stätten derer eingeebnet, die wir einst nie vergessen zu können glaubten? – Wenn wir uns das fragen, werden wir beschämt uns abwenden und hinausfliehen in das trügerisch tröstende, lügnerische Land der Gegenwart, das doch wieder so schnell Vergangenheit werden wird – zu schnell …
Licht, Schatten … –
Lichter und freudiger konnte die Sonne kaum scheinen als an diesem Morgen, an dem Bert und ich, heimkehrend zur Hütte im Dornental vom erfrischenden Bade am Strande des rauschenden Meeres, über die Sanddünen von Royal kletterten und die Herzen so voller Zuversicht hatten und die Kraft der Muskeln am leichten Spiel der Bewegungen des Körpers spürten.
Hochgemut, freudig eilten wir dahin, sehnsüchtig der großen Entdeckung harrend, die uns mit unseren Lieben wieder vereinigen sollte.
Wir würden die Gondaloors finden, wir würden in Frieden mit ihnen uns einigen, wir würden …
… Und immer dieses fundamentlose, heuchlerische „Wir würden …“ würden!! Als ob wir beide, die wir doch den Orkan des Lebens mit aller seiner Heimtücke und all seinen schrillen Tönen längst in Seele und Ohr wie warnendes Dröhnen des Schrittes des großen Vernichters „Zufall“ immerfort vernahmen, in die Jugendjahre blinder Hoffnungsseligkeit zurückgeglitten wären, – so vertrauten wir unserem Sterne, so bauten wir Luftschlösser, Hochzeitsgemächer, Friedenstempel … So übertrieben war unser Sicherheitsgefühl gewesen, daß wir leider von dem nicht geringen Waffen- und Munitionsvorrat, den Gotari doch im Dickicht gleichfalls beiseite geschafft hatte, lediglich jeder eine Pistole mitgenommen hatten – nicht einmal weitere Patronenrahmen – und unsere Messer.
Der sonnige Morgen hatte uns trunken gemacht, sogar Bert Beng schwang sich zu einem Übermaß von Nachsicht gegenüber dem Inder auf, versorgte seine Wunden, fütterte ihn, lockerte die Riemen und ließ sich durch Gotaris erheuchelte Hinfälligkeit täuschen.
Wir hatten ja Moritz als Wächter – Moritz, der an einem Haufen frischer saftiger Zweige und frischen Grases in seiner Ecke knabbern konnte. Wir würden uns ja mit dem Morgenbad beeilen, würden in einer Stunde wieder zurück sein …, würden, würden!
Und dieses Bad in der Brandung war auch herrlich gewesen … Die Wellen hatten uns die Haut zerpeitscht, krebsrot entstiegen wir dem Ozean, von weitem angestaunt von den scheuen Robben mit den runden erstaunten Puppenaugen, von diesen Wassersäugetieren, die hier auf Royal trotz der günstigen Uferverhältnisse auffallend spärlich vertreten waren, genau wie die Seevögel, eine Erscheinung, für die wir bisher keine rechte Erklärung gefunden hatten. Irgend etwas mußte die Hauptmengen dieser Tiere verscheucht haben.
Nach dem Bad der Rückweg – natürlich stets in genügender Deckung uns haltend, die Täler benutzend, denn die Gondaloors vorzeitig auf eine Visite unsererseits hinzuweisen, lag nicht in unserer Absicht. In Frieden wollten wir uns mit ihnen einigen, – es waren ja harmlose Geisteskranke, und daß Guß Trebber uns beistehen würde, bedurfte keiner Erörterung – – würde, würde …!!
Beng bog in ein neues Dünental ein. Neu – wir kannten es bisher nicht. Es war mit dünnem Gestrüpp bedeckt. Vögelguano hatte auch hier fruchtbare natürliche Aufforstungen geschaffen, aber die Vögel fehlten. Was hatte sie vertrieben?!
Kaninchenbau an Kaninchenbau gab es hier. In dem Gestrüpp huschten Jungtiere dahin wie flüchtige Schatten, Tierchen mit Riesenaugen, flink wie der Blitz, – ein Paradies für diese Nager, die man in Australien mit Feuer und Gift austilgen mußte, weil ihre Armeen jeden Ackerbau unmöglich machten, Bert hatte noch einige dieser Riesentreibjagden mitgemacht, – Mitleid und Grauen fühlte ich, wenn er von den endlosen Drahtnetzen sprach, vor denen die zierlichen Geschöpfe erbarmungslos mit den Knütteln erschlagen wurden, wo die toten Tiere sich zu Haufen vereinten, zu Bergen, wo das Blut die Erde düngte und Gottes vierbeinige Kreaturen, nur allzu fruchtbar, in großen Erdlöchern eingescharrt wurden – ohne Erbarmen, denn der Ackerbau verlangte solche Massenmorde. War es nicht seinerzeit auf der Känguruhinsel genau so gewesen?! Auch dort ein Paradies der hüpfenden Hasen (denn man zählt die Känguruhs zur Hasenfamilie), – dann kam der Mensch, baute Häuser, machte das Land urbar, säte Korn, – und die Känguruhs fraßen die Saaten. Da begann das Morden. Heute sind auf jener Insel diese Beutelhasen so selten wie in den besiedelten Strichen Australiens. Und – ist es nicht überall so? Hatte Europa nicht im Mittelalter noch in seinen Strömen zahllose Biberkolonien, waren nicht die Flüsse meiner nordischen Heimat und Deutschlands mit den waldreichen, zum Teil sumpfigen Ufern ebenfalls Paradiese der hüttenbauenden, ruderschwänzigen, pelzbegehrten Nager?!
„… Kaninchenkolonie“, lachte Bert vergnügt. „Falls Ernest Gondaloor auch diese Kaninchen mitbrachte, hat er nur bewiesen, wie schlecht er rechnen kann. Die Tiere werfen im Jahr in Australien durchschnittlich viermal je fünf Junge, das sind zwanzig pro Familie, die Jungen sind nach sieben Monaten geschlechtsreif, mithin vermehrt sich im Jahr eine Familie um rund hundert Stück!! Royal-Insel wird an den Kaninchen mit den Grünflächen zugrunde gehen.“
Ich hatte mir bisher nie recht klar gemacht, was bei dieser Fruchtbarkeit der Tiere allein in zwei Jahren entstehen mußte – ein Heer von hungrigen Geschöpfen!!
Hier sah ich es: Bau an Bau, der Boden bedeckt mit dem kugelförmigen Unrat, – noch grünte und blühte hier alles, – – aber nach weiteren drei, vier Jahren?!
In diesem Tale geschah dann das eine, das nie Befürchtete.
Hinter einigen hohen Büschen erschienen zwei lange hochgerichtete Ohren, – Moritz schielte uns scheinheilig an und kam bedächtig herbeigehüpft, – den Riemen schleppte er hinter sich her, und an dem Ende des Riemens hing noch ein dickes Aststück. – Moritz hatte es offenbar in der Hütte als Wächter Gotaris allzu langweilig gefunden und war mit einem Teil des Hüttenpfostens auf und davon gegangen.
„Lump, pflichtvergessener Lump!“, sagte Bert empört. „Nette Schweinerei hast du uns da eingebrockt!!“
Moritz freute sich des unverhofften Wiedersehens, legte die Ohren flach, beschnupperte uns und wollte mit den kurzen Vorderbeinen zärtlich werden.
Der Jagdhieb von Bert setzte ihn sichtlich in Erstaunen.
„Es ist kein Hund mit Dressur“, nahm ich ihn in Schutz und knotete ihm das Halsband ab.
„Aber Gotari hat Dressur“, meinte Beng ärgerlich und blickte sich mißtrauisch um. „Vergiß nicht, er hat drei Karabiner, eine Büchse, und …“
„… schießt sicherlich so miserabel wie ein Tintenhengst mit vieler Blässe und Intelligenzbrille!“, ergänzte ich achselzuckend.
Trotzdem war auch ich in Sorge.
Gotari als Feind in voller Bewegungsfreiheit – gerade keine angenehmen Aussichten waren das!
„Binde dem Vieh die Strippe wieder um“, meinte Beng energisch. „Nase und Ohr der Känguruhs sind nicht erstklassig, aber auf ihre Augen ist Verlaß, und falls Gotari seine Riemen losgeworden sein sollte und uns auflauern will, kann dieser hopsende Ausreißer immerhin von Wert sein. Ich befürchte auch sehr stark, daß der Inder etwas gegen uns unternehmen wird und daß er frei ist.“ Er entsicherte seine Pistole, seine Augen glitten hin und her, seine Unruhe wirkte ansteckend, im übrigen hatte er ja recht: Unsere Lage war mit einem Schlage sehr ungünstig geworden, wir waren nach jeder Seite hin behindert, der Kerl konnte uns abknallen wie Karnickel …
Aber – auch nur der Schimmer einer Gefahr hat noch stets bei mir Wunder gewirkt, wenn ich, wie an diesem Morgen, über leeren Erwartungen das Gebot der Stunde vergaß.
„Zielscheiben!“, meinte ich, und Bert verstand, wir warfen uns nieder, krochen die Anhöhe hinan, und Moritz hopste böser Laune vor uns her, immer wieder an dem Riemen mit solcher Kraft zerrend, daß er mich über den Sand schleifte und ich Mühe hatte, das Riesentier zu bändigen.
Dann der buschreiche Dünenkamm, – ein freier Ausblick gen Westen, – dort lag die Schlucht, – wo sie lag, ahnten wir nur. Hügel türmten sich vor uns auf, Bäume und Sträucher schoben ihre grünen Kulissen in das grelle sonnbestrahlte Gelb der welligen Landschaft.
Hier in dieser mißlichen Situation war ich der Überlegenere. Mochte Bert auch Prachtkerl in allem sein, heller Kopf und vielseitig wie selten ein Mann seiner Stellung, durch die kraftstrotzende Selbstverständlichkeit seiner schlichten Natur mich halb und halb bemuttert haben – aus tiefer Freundschaft und aus einem wohl übertriebenen Gefühl des Übergewichts heraus: Meine Erfahrungen waren geschöpft aus dem Brunnen aller Erdteile, aller Völker, ärgster Gefahren mannigfachster Art! Das wog hier schwerer als die burschikose Todesverachtung, als die stets sanft spöttelnde Zunge!
„Warte hier!“
Und ich gab ihm das Riemenende.
„Lasse Moritz nicht auskneifen, Bert …“
Er kannte den Ton an mir.
Er kannte ihn von den kritischen Minuten her, die wir in der Antarktis im warmen Tale, an der Fackel des Südpols und bei dem letzten Kampf gegen den damaligen Feind durchlebt hatten.
Ich schob mich weiter vor.
Da war ein Eukalyptusbaum, ein Gigant seiner Art, ein prächtiger Ausguck. Wie stets hatten sich um den Unterteil des mächtigen Stammes rotblühende Winden, australischer Efeu und Dornen emporgerankt, – Schmarotzer von tödlicher Selbstsucht, Luftwurzeln einbohrend in die rissige Rinde, dem Baum den Lebenssaft raubend, hier mehr als anderswo, da der Sand nicht überall mit Guano durchsetzt war und die fruchtbaren Schichten des Erdreichs, wahrscheinlich Lehm und Ton, weit tiefer zu suchen waren.
Wie eine Laube wucherte es um den Riesen, wie ein Ballon von Fremdlingen des Pflanzenreiches, die sich abmühten, den Giganten zu morden.
Und sie morden auch. Sie ersticken diese stolzen Riesen, – Fäulnis zermürbt den Stamm, und der nächste Sturm bringt den Recken zu Fall und schafft Nährboden für das gleißnerische Gezücht, das in kurzem an solchen Stellen jene Dickungen schafft, wie sie in unserer Schlucht zu finden waren.
Kampf aller gegen einen, eines gegen alle, wie stets im Leben, wie stets in der Natur. Licht und Schatten, Werden und Vergehen, – denn aus den Wurzelsprossen dieser faulenden, nahrhaften Riesen treiben neue Jungriesen hoch, besiegen das kriechende, buntblühende, heuchlerische Gezücht und schaffen eine neue Generation von Giganten, die auf den Gräbern der Ahnen dem Himmel zustrebt und die Kriecher und Schleicher tief unter sich läßt, wo sie nun zehren mögen an der ohnmächtigen Wut über kläglichen Scheinsieg.
Schmarotzer …! Dennoch Treppen des Aufstieges für andere, für mich, – Schutz gegen Sicht und Kletterstangen in eins, Hilfsmittel willkommener Art, den Wipfel rascher zu erreichen.
Dann hocke ich droben in einer Astgabel, sah unsere Schlucht, die Hütte, den Felsenwidder, sah drüben gen Westen die nasse Wüste, sah auch gen Norden die Steinwand der Nordbucht – steil nur die Granitmassen des Westufers, Sand nur die des Ostufers, überblickte die Felsenfeste der Gondaloors und spähte und suchte nach dem, den wir als Hindernis unserer Pläne fürchteten.
Leer die Landschaft, leer diese geheimnisvolle Insel, leer bis auf die wenigen Möwen und Tiere.
Meine Blicke suchten mit der Hartnäckigkeit dessen, der finden will …
Leute gibt es, die blind durch das Leben wandern im Dunst der Großstädte, im Gestank der lärmenden Straßen. Auch das Sehen will gelernt sein, und Sehen heißt blitzschnelles Erfassen von tausend Einzelheiten …
Der Morgenwind rüttelt die Bäume und Büsche und Gräser, biegt sie unter seinem Druck in seiner Richtung, – dann schnellen sie zurück, biegen sich wieder vor, verbeugen sich, richten sich auf.
Wenn aber wie dort drüben im Norden, wo der äußerste Südwinkel der Nordbucht wie Glas schillert und blinkt, ein Busch am Ufer, umgeben von hohem Gras, sich seitwärts neigt entgegen allen schlichten Gesetzen des Winddruckes, – wenn dieser hohe flammende Busch mit grellroten Blüten in dieser schiefen Stellung verharrt und irgend etwas Dunkles, nicht dazu Gehöriges schwärzlichen Schatten vortäuscht, dann weiß der, der sehen kann, daß dort ein Mensch an dem Busche kniend lehnt und hinübergiert mit frechen Haßaugen nach dem Felsenwinkel, von dem Bert Beng in der Nacht berichtete.
Der Kutter!!
Das Versteck des Kutters dort – so gewiß gerade die Stelle, wie ich hier oben den Feind entdeckt habe.
Hinab wieder …!
Nicht langsam, nicht vorsichtig …
Die Zeit drängt.
Ein letzter Sprung, – – ich stehe vor Bert und dem Känguruh …
„Bert, der Inder will mit dem Kutter flüchten, – der Inder war bei Besinnung, als du gestern nacht deine Beobachtungen mir mitteiltest … Ich sah ihn, er wird die Bucht überqueren, er wird in den Winkel der Steilküste eindringen und das Versteck des Kutters finden … – Mag das Tier bleiben wo es will“, – und ich knote Moritz das Halsband auf …
Wir traben, laufen springen, – wir kriechen, rutschen, kollern …
Immer möglichst in Deckung …
Es geht ja um den Kutter … Gotaris Absicht ist so leicht zu durchschauen, – er fürchtet uns, er fürchtet die Gondaloors, – nur der Kutter kann ihn hinwegtragen von diesen Gestaden, deren Fluch ihm auf den Fersen sitzt!
Dann der erste freie Blick auf den Südzipfel jener Bucht, deren jenseitige Felsenmauern zerkerbt, zerklüftet sind, – Bert deutet nach rechts.
„In dem Loche lag ich, Olaf, betäubt, ohne Freund Taito, – von dort sprang ich in die Bucht – du weißt …“
Ich weiß alles.
Noch eine Strecke durch hohes Gras, – jetzt uns gegenüber der Winkel der Felswand, ein kleiner Hafen, vielleicht vierzig Meter sich einfressend in das Gestein, ein richtiger Winkel, in dessen Spitze das Gestade leicht ansteigt, wie Bert es mir berichtete.
Flach ansteigend aus der blaugrünen schillernden Flut, ein wunderbarer Steinschlitten für einen Stapellauf …
Und über dieser sanft geneigten glatten Tenne – dort, wo die Felsmassen sich wieder kühn emporrecken, – wo nach allem, was diese Festungsmauern uns bisher zeigten, auch nur hartes festes Gestein trotzig jedem den Weg versperren sollte, – dort ein Felsentor – eine Öffnung, ein wagerechter Schlund …
Finsternis lauert in seinen Tiefen, aber dennoch schimmern matt in verschwommenen Konturen helle Bretter, plumpe Räder, aus Brettern gefügt, mit Bandeisen benagelt, und auf diesem Bootswagen das Heck des Kutters, die blanke Bronzeschraube, das Steuer …
Beng will sich in die Bucht werfen, hinüberschwimmen …
Ich packe ihn, drücke ihn ins Gras zurück …
„Gotari würde uns abschießen wie Robben!“
Wir liegen still …
Der Bootswagen rollt …
Rollt immer schneller …
Aus dem steinernen Bootsschuppen gleitet unser Kutter in sein wahres nasses Element, – das Wasser spritzt hoch auf, am Deck, am Heck kauert Gotari, – der Bootswagen hat seine Schuldigkeit getan, hängt an der Stahltrosse halb im Wasser, – unsere „Antarktis“, Schifflein der Liebe, der Abenteuer, schwimmt frei auf der Flut …
Des Inders Hand tastet nach dem Anlasser.
Ein blecherner Knall da – noch einer, unsere Kugeln scheuchen ihn hinter das Kabinendach, dann hören wir das Platschen im Wasser … Gotari taucht, taucht wie ein Schwertwal, – wir recken die Köpfe, beobachten das sanfte Quirlen der Oberfläche, – – das ist er, – nach Süden schwimmt er, zum Buchtwinkel, – wir laufen, – verdammte Dornen, die uns hindern …
Er erreicht den Sandstrand, taumelnd arbeitet er sich empor, taumelnd läuft er dicht am Rande der nassen Wüste dahin, blickt sich um, reißt sich zusammen, flieht, flieht weiter, denn Bengs lange Beine arbeiten wie die Kolben einer Maschine, – verdammte Dornen, durch meine zerfetzten Sandalen trat ich mir lange Stacheln in die Fußsohlen, muß rasten, herausziehen, schnell wieder empor, denn Bert ist besessen von Gier der Vergeltung, Bert hebt schon den Arm, will schießen …
„Bert, – – Bert, nicht feuern!! Lebend müssen wir ihn haben!“
Er senkt den Arm …
Der Inder rast in seiner Todesangst über den glatten Sand, der ihn am wenigsten hindert …
Gewinnt Vorsprung …
Beng strauchelt über einen lächerlichen Stein, kollert, überschlägt sich, – ich bin weit zurück, die Dornen mit ihren glasharten feinen Spitzen brechen so leicht im Fleische ab, brennen wie Feuer …
Gotari – ich sehe es – wird das Rennen landen, der Schurke muß Riesenkräfte haben, – Beng[18] hinkt leicht, – – und wenn der Inder in den Dünen verschwindet, wenn er die Schlucht, die Hütte erreicht, wenn er Waffen hervorsucht – – verlorenes Spiel für uns!
Ich sehe dort auch bereits die Stange, die den Pfad durch den Triebsand kennzeichnet, ich sehe, daß Gotari seinen Vorteil ausnutzt, daß er sich nach links wendet, wo die ersten Gräser und Büsche der Osthälfte von Royal freundlich herüberwinken.
Beng feuert …
Der Schuß ging fehl …
Aber anderes geschieht urplötzlich: Über jene Dünenkuppe kommt ein Tier in flüchtigen Sprüngen, – in Sprüngen, die kaum ein Rennpferd so elegant fertigbringt – mit spielender Leichtigkeit, denn des Riesenkänguruhs überlange Hinterläufe sind wie Metallfedern, sind aber auch furchtbare Waffen …
Moritz erkennt den Inder, stutzt …
Beide stutzen, – Gotari ahnt sein Schicksal voraus, wirft sich herum, jagt der Stange zu … dem Wege abseits des Alltags, dem schmalen Pfade der Rettung, – wie er glaubt …
Er weiß nicht, daß das Tier hinter ihm mit dem untrüglichen Instinkt all dieser wild eingefangenen Bewohner der australischen Steppen keinen Stecken braucht, jenen Pfad des Todes abzutasten.
Gotari reißt den schlanken Baumast aus dem Sande, eilt hinein in das trügerische Sandfeld, prüft flüchtig den Boden, – nicht zum ersten Male ging er diesen Weg …
„Bert!!“
Meine Stimme überschlägt sich …
Ich will warnen, denn Bert, besessen von der Tollheit der Menschenjagd, erreicht vor dem Känguruh den unsichtbaren Pfad, unter seinen Füßen platscht schon der flüssige Brei, – der Inder lacht höhnisch, sein Lachen bricht ab …
„Steh! – – ich knalle dich nieder!“
Beng feuert wieder …
Gotari knickt leicht zusammen, schleppt den linken Fuß nach …
Sein Tasten mit dem Stecken wird unsicherer. Bis zu den Knien reicht ihm der quirlende helle Schlamm … Er stolpert, – aber die Todesangst treibt ihn weiter …!
„Steh! – –“ und wieder das kurze blecherne Bellen der Pistole …
Gotari sinkt zur Seite, richtet sich langsam auf, wendet sich zurück und hebt die Arme …
Wir haben ihn …!!
Auch ich bin wie behext von der Wildheit dieser Jagd …
Ich sehe zwar, daß Moritz hüpfend hinter den beiden drein ist, – erkenne zu spät die neue Gefahr …
Bert steht vor dem Inder, nimmt ihm den Stock ab, packt ihn, schiebt ihn herum, – beide im Sandbrei, beide aber auf festem Boden …
Das Känguruh, doch nur ein Tier, – das die Folgen nicht abwägt, erblickt Gotaris verzerrte Fratze …
Springt, – ein Satz wie ein Panther, prallt gegen zwei Männer, schleudert sie hinab von dem schmalen Felsensteig – hinein in den grundlosen, gierigen feuchten feinen Sand, der nichts mehr hergibt, was er einmal umarmt.
Beide liegen, ineinander verkrallt, auf dem schwankenden, tückischen, gefräßigen Rachen des Triebsandes. Gotari hat Beng bei der Kehle, sie ringen, sinken, versinken, – stumm, Todfeinde bis zuletzt, – sinken rascher, Wasserpfützen bilden sich, Köpfe verschwinden, – – ein Arm greift noch in die leere Luft, – – eine schmale Hand, nur Muskeln und Sehnen, scheint mir letzten Gruß zuzuwinken, Freundesgruß …
Mein Herzschlag stockt … Finsternis umnebelt mich, – ich reiße mich hoch, stürme vorwärts …
Zwecklos! Ich kann nicht mehr helfen.
Und gemächlich, als sei so gar nichts geschehen, kommt Moritz mir entgegen, unberührt von diesem Drama des Triebsandes, offenbar noch sehr stolz, daß er Gotari in die Tiefe geboxt hat.
Ich sitze am Rande des heuchlerischen Wüstenstreifens, der wieder spiegelglatt geworden, der sich durch die ganze Mittellinie von Royal ausdehnt … Stumpfsinnig sitze ich, kann nicht begreifen, daß das Geschehene Wahrheit sein soll. Nicht einmal Luftblasen steigen dort empor, wo die beiden versinken, ich könnte nicht einmal mehr die genaue Stelle bezeichnen, wo das Unglück geschah – – alles glatte Fläche, heller Brei, dicker Brei, wahrscheinlich Meeressand, der hier zurückblieb, als einst diese Insel geboren wurde durch irgendwelche Erdumwälzungen, – durchnäßt von unterirdischen Quellen, Triebsand eben, genau so beschaffen, wie anderswo, wie am Kurischen Haff, wie am Seestrande südlich von San Franzisko, wie in den endlosen Steppen Innerasiens, wo kein Regen fällt, wo alles nach Feuchtigkeit schmachtet und nur diese Triebsandstrecken Feuchtigkeit enthalten und die Nomaden Tücher darüber breiten mit einem Holzrahmen und die Mitte der Tücher herabdrücken, damit das Naß sich sammelt – in Stunden vielleicht einen halben Eimer voll … –
Stumpfsinnig, niedergebrochen, seelisch und körperlich …
Ein Wunder?!
Pfiff Bert Beng heute vor Stunden beim Baden nicht so übermütig, so lebensfroh sein ganzes Programm an mannigfachen Liedern?!
Jetzt …?!
Tot!!
Ein entsetzlicher Tod dazu, unwürdig dieses Prachtmenschen, der einst mit seiner Wolfsmeute über die Schneefelder der Antarktis jagte und der zu lächeln verstand, wenn der Sensenmann bereits den Arm reckte!
Den … Arm … reckte …
Er, der Prachtkerl, als allerletzten Gruß – als allerletztes Winken.
Lebe wohl, – – grüße Mita!
… Vielleicht dachte er das.
Mita!!
Und der Name schlägt ein in mein wirres Hirn und mahnt mich an andere Pflichten.
Der Kutter!!
Der Kutter – treibend in der Bucht, vielleicht von einer Strömung ins offene Meer entführt …
Das hilft …
Das jagt mich hoch …
Ein Blick noch nach jenem Sandgrabe, – auch der Stecken versank – alles versank!
… Der Kutter …!!, – – und ein anderes Spiel begann.
Die Sonne war nun noch eine Strecke höher geklettert, es war drückend heiß hier zwischen den Felsenmauern, der nassen Wüste und den hohen Dünen, der Wind war sanft entschlafen, – ein Sommertag der Vorzone des Treibeises, wie er kaum herrlicher auszudenken war, unwahrscheinlich schön und romantisch und das ganze Landschaftsbild, schön in seiner Herbheit und Urwüchsigkeit, kraftvoll im Westteil wie all jene kahlen, spärlich bewaldeten Gebirgsgipfel, die das nackte Gestein so unverfälscht durch Menschenkünste dem Himmel entgegenrecken, – dann die grünbetupften Dünen im Osten, nicht minder reizvoll, weicher in den Konturen, schmiegsamer, zärtlicher fast, all das Kontraste, zwischen denen die platte endlose Triebsandfläche auch für das Auge eine ruhevolle Übergangsgrenze bildete.
Ich nahm diese Bilder als tröstendes Naturgeschenk in mich auf, ich dankte dieser wundersamen Insel für den Wechsel ihrer Gestaltung, und mein Herz pochte friedvoller, als ich ohne übermäßige Eile der Nordbucht wieder zustrebte und meine Sorge, der Kutter könnte verloren gehen, bei kühlerer Überlegung sich zerstreute.
Etwas ganz anderes vermutete ich jetzt, und dies lag den Umständen nach weit näher. Sollten die Gondaloors Gotaris Eindringen in das Felsenbootshaus, das doch nur die Vorhalle ihrer Wohngrotte sein konnte, so gar nicht bemerkt haben?! Würde nicht Landsmann Trebber inzwischen längst den Kutter wieder geborgen haben?! Sollten nicht – und der Gedanke wurde sehr schnell zur festen Überzeugung – die armen Kranken dort in ihrem Felsennest Zeugen des Todes der beiden Männer geworden sein?! War nicht anzunehmen, daß die Grottenbehausung gerade nach der Nordbucht und dem Sandmeer zu ihre versteckten Fensteröffnungen besaß?!
Andrerseits: Hätten die Gondaloors ohne Widerstand geduldet, daß der Inder das Felsentor des Bootsschuppens irgendwie gewaltsam aufstieß und den Kutter in die Flut rollen ließ?!
Viele Fragen – – wenige Antworten, die letzten Endes doch nur wieder Vermutungen blieben.
Nun erreichte ich die Bucht, überschaute den blanken schillernden Wasserspiegel, erstieg eine Dünenkuppe und konnte die Bucht bis zum Meere hin verfolgen, bemerkte nichts von dem Kutter, wandte den Kopf nur ein wenig nach links und sah in den hochumrandeten Winkel hinein, in den kleinen Hafen mit der sanft geneigten Ablaufbahn, hinter der vorhin das offene Granittor in Spitzbogenform gegähnt hatte wie der Schlund eines Zyklopen, der Schiffe verschluckte und wieder ausspie.
Die Steinpforte dort war geschlossen, und von meinem Beobachtungsplatze aus war auch nicht das geringste zu erkennen, das auf eine dort befindliche und nur geschickt verbaute Öffnung hinwies.
Ich lag im Grase, das hart und gelblich wie Strandhafer aussah, in der Nähe äste das Känguruh, ein Tier mit feinem Instinkt, trotzdem nur ein Tier, dem dasjenige fehlte, was den Menschen über die anderen Geschöpfe hinaushebt: Der Verstand, die Fähigkeit, logisch zu denken und jenes ererbte, nur instinktische Fühlen einzupassen in eine Reihe eng gegliederter Gedanken. – Das Känguruh hatte blindlings dem Triebe der Feindseligkeit gegen den Inder nachgegeben, hatte blindlings zwei Menschen getötet, – Verständnis dafür besaß es nicht. Niemand durfte sich deswegen zum Richter aufwerfen. Ich schon gewiß nicht, obwohl ich doch am meisten dabei verloren hatte, einen Freund, einen Kameraden, der mir monatelang treu, selbstlos und mit jener vornehmen, halb humorvollen Selbstverständlichkeit zur Seite gestanden hatte, die man stets nur bei ganz großangelegten Charakteren finden wird.
Bert Beng war tot. Mir aber hatte er ein Erbe hinterlassen, das ich als heiliges Vermächtnis betrachtete, – Mita Mac Barny war noch Gefangene der Gondaloors, genau wie das blonde, meinem Herzen so teure Mädchen … Diese beiden zu befreien, für sie zu sorgen, sie zurückzuführen in bewohnte Gegenden und ihnen dort eine Existenz zu schaffen, gleichzeitig aber auch die letzten Schleier zu lüften, die noch das Schicksal der Familie Gondaloor als ungewisses Rätsel erscheinen ließen, – das war meine Pflicht!
Pflicht hat ein Ziel, mein Ziel war jener kleine Felsenhafen dort, jene unbemerkbare Steinpforte, die in die Felsenbehausung der Gondaloors führen mußte.
Ein Spiel, vor dem vielleicht der Tod drohte – vielleicht! Die geringste Unvorsichtigkeit konnte mir eine Kugel als letzte Quittung eintragen! Am Tage dort drüben die Felsen betasten, – war das nicht Aberwitz gegenüber zwei Männern, die auch nach Guß Trebbers Andeutungen zu den Ärmsten der Armen, zu den geistig Toten gehörten?! Allzu grell schien jetzt die Sonne, – längst konnte man mich von drüben dauernd beobachtet haben, – mir war das Felshochland der Westhälfte von Royal verschlossen, verboten, Trebbers Warnungen waren eindringlich genug gewesen. Also – – sofort handeln?!
Ich überflog nochmals die Felsmauern da drüben, grauschwarzer, teilweise ins rötliche spielender Granit, senkrecht abfallend, aber voller Buckel, Risse, kleiner Spalten, in denen zum Teil sogar winzige Büsche, Gras und Blumen mit blendenden Blüten sich eingenistet hatten. An die Fensteröffnungen dachte ich, die ich dort irgendwo vermutete, – – und bei diesem suchenden Spüren nach Anzeichen von menschlichem Leben, von menschlichem Tun und Treiben dort hinter jener neidischen starren Wand glitt mir wie ein fernes Nebelbild einer Traummelodie die Erinnerung an meine drei Nächte in dem Reisigunterstand auf dem Hochland durch den Sinn: Ich hatte Töne vernommen, Klänge von Musik, und ich hatte zu träumen gewähnt und war doch wach gewesen, wie ich nun wußte, wie mir jetzt erst klar wurde …
Keine Träume das, – – die Gondaloors hatten musiziert, besaßen Musikinstrumente, waren vielleicht künstlerisch veranlagt, hatten in der Finsternis ihrer geistigen Umnachtung doch noch das eine vom Sonnenglanz glücklicherer Tage hinübergerettet: Die Liebe zur Musik! Und die Fähigkeit, sie auszuüben, sich selbst zum Troste, vielleicht unbewußt!
Ein erschütternder Gedanke: Arme Irre, verklärt durch den Zauber der Töne, hingerissen durch die Melodien irgend eines großen Meisters!
Erschütternd, … unausdenkbar fast das Bild, diese Kranken dort in irgendeinem Hohlraum des mir verbotenen Hochlandes beisammen sitzen zu sehen, alles um sich vergessend über dem frohen Eifer, Klänge hervorzuzaubern, die ihnen eine Welt des Scheins eröffneten, die Welt der Gesunden, der Starken, der Ungetrübten!
Tragödie auf weltferner Insel, Drama eines Phantasten, hier zur Wirklichkeit geworden, hier greifbar mir in die Nähe gerückt …
Menschenschicksale …! –
Und weiter: Wenn die Gondaloors aus ihrer Jacht diese Musikinstrumente noch gerettet hatten, – wie war dies mit des Inders verlogener Schilderung vom Untergang der Jacht in Einklang zu bringen?! Niemals konnte die Jacht so plötzlich gesunken sein, niemals war sie durch einen Orkan vernichtet worden! Selbst dies hatte Gotari lediglich erfunden, weil es in sein Lügengespinst hineinpaßte. – Wo lag die Wahrheit, wie lautete sie?!
Und abermals schweiften meine Augen über die schroffen Felsen, blieben am äußersten Südende auf jenem Plateau haften, wo wir damals die drei tanzenden Mädchen gesehen! Vielleicht hatten sie getanzt zu den für uns unhörbaren Klängen einer Geige, eines weich singenden Cellos … vielleicht …
Mein Blick kehrte bedächtig zurück, – dort drüben – dort war der Eingang zum Grottenhause der Gondaloors, – sollte ich hinüber …?!
Es zog mich mit tausend feinen Fäden, – – zart rosa Fädchen, von der Liebe gesponnen. Blonde Grita, – weiche Lippen, ein köstliches Geschenk der Natur …
Grita …!!
… Können sehnsüchtige Gedanken Mauern aus Granit durchdringen, – können sie wie Flüstern des Maienwindes das ferne Ohr umschmeicheln und Wünsche zur Wahrheit machen?!
Dort droben in der breitesten Spalte, die mir mit ihrem grünen Buschvorhang schon längst verdächtig vorgekommen war, regte es sich, ein Kopf erschien, ein blondes liebes Köpfchen mit halb zerzauster Frisur, dennoch reizend wie eine Elfenkönigin, – und eine kleine Hand dazu – – winkend, nickend …
Wieder verschwindend …
Ich würgte den Schrei hinab, der aus der trockenen Kehle sich jubelnd Bahn brechen wollte, zu ihr, zu Grita, zum Kinde der Antarktis, zur Tochter des stillen ernsten Gelehrten, der nun fern im stillen Grabe der Isis ruhte – für ewig, begraben unter Schnee und Eis.
Wieder regen sich die Büsche …
Flüchtig erkenne ich Guß Trebbers rot umwalltes Gesicht – wie einen Zwergenkönig … Und dann – – ein einfacher, mittelgroßer Weidenkorb gleitet langsam in die Tiefe – ganz langsam. In dem Korbe kauert Grita, eine helle Blume am dunklen Gestein, eine Nixe, die hinabschwebt … langsam, vorsichtig, gehalten an dem dünnen abrollenden Seil, das den Korb umspannt.
Wie ein Blitz bin ich hoch – hinüber in die Bucht – hinüber zu ihr …
Meine Muskeln arbeiten wie unter dem trügerischen Anreiz eines Rauschgiftes, – ich sehe nur sie, die dort herabkommt, – Venus aus Himmelshöhen zur Erde niedersteigend, landend auf schmalem Vorsprung gerade dort, wo die Wasser der Bucht auch den Sand der grausamen Wüste umspielen, wo kecke fremdartige Pflanzen sich wagemutig angesiedelt haben.
Dann bin ich bei ihr, zwei Arme umschlingen mich, ein Strom von Tränen netzt meine Wangen, ein hilfloses Schluchzen verstümmelt die ersten zärtlichen Worte, bis mein Mund den anderen findet, bis in diesem endlosen inbrünstigen Kuß auch Gritas Seele neue Kraft gebiert und aus dem hemmungslosen Schluchzen ein leises, klingendes, girrendes Lachen wird …
„Olaf …“ – und sie beugt den Kopf ein wenig zurück, … „Olaf, bitte … du zerdrückst mich ja! Olaf, Guß Trebber wartet … Du sollst ihm helfen! Es wird immer schlimmer mit den Gondaloors, – der Inder hat sie vergiftet, irgend ein Pflanzengift, das langsam das Hirn zerfrißt … Du sollst nach oben … in dem Korbe … Der Eingang ist verschlossen, Ernest Gondaloor hat den Schlüssel in die Bucht geworfen, … und die Eisenstangen sind zu dick … Trebber will die Ärmsten irgendwie betäuben, damit …“
Da – ein paar scharfe, mahnende Rucke an dem Seil …
„Olaf, – es eilt, … sie … musizieren gerade wieder … Schnell … steige ein, Olaf, – Trebber hat die Winde heimlich aufgestellt und …“
Ich bin schon im Korbe, stehe aufrecht, – – drei Rucke am Seil, es spannt sich, ich schwebe, der Korb pendelt leicht, scheuert kratzend gegen den Granit …
Meine Augen ruhen in Gritas Sternen.
Eine Frage entschlüpft mir, – – ich bin es dem toten Freunde schuldig:
„Und – Mita?! Weiß sie, daß Bert …“
Drunten die blauen Augen werden dunkel, feucht …
„Tot, Olaf … Mita … ertrank in jener Nacht, als …“
Mehr höre ich nicht, – eiliger zieht mich das Seil empor, ich muß acht geben, daß der Korb an keiner Zacke sich verfängt.
Mita … tot, – – und Bert Beng ahnte nichts, hoffte, – – wohl ihm, daß er tot ist, wohl ihm, daß er in der Sehnsucht des Herzens nach einer, die er am Leben glaubte, sich opferte …!
Wohl ihm!
Höher – – höher, – – und mein Denken, mein Hirn, meine Kräfte widmen sich nur dem brüchigen Korbe, in dem ich die Behausung der Gondaloors erreichen soll.
Und erreiche …
Guß Trebber hilft mir in die Spalte hinein, – ich glaube in Finsternis umhertappen zu müssen, und ich sehe in diesem Grottengang an der zackigen Decke Glühlampen leuchten, sehe die Drähte, die den elektrischen Strom leiten, sehe Trebbers angstzerwühlte Züge, höre sein hastiges Flüstern …
„Abelsen – sie musizieren … dann sind sie ungefährlich … Wundern Sie sich über nichts … Hier ist die Vorratskammer – – bitte, gehen Sie der Kiste da aus dem Wege … Sprengpatronen, Abelsen, – der alte Gondaloor hat hier den Felsen ausgehöhlt durch Dynamit, – oh, er war ein kluger Mann, bevor dieser Schurke … –, Vorsicht, leise. Wir müssen in Ernest Gondaloors Gemach hinein, – ich verstehe nichts von den Aufschriften der Fläschchen der Schiffsapotheke, – in den Tee müssen wir ihnen irgend etwas schütten, damit sie schlafen – schlafen und damit wir sie mit dem Kutter wegschaffen können … Es wird ja immer schlimmer mit ihnen, – der Alte will die Schätze des Grafen von Monte Christo finden, verflucht sei das Buch, das diesen Wahn in ihm wachrief, – er denkt, hier in den Felsen müssen irgendwo ungeheure Reichtümer liegen, und er hat bereits mit Charlys Hilfe drüben die Wand angebohrt und mit Patronen gespickt und – – leise, Abelsen, – – es geht um unser Leben … Wenn Sie bemerkt werden, – oh, er hält jeden für einen Dieb, der ihm das lächerliche Gold stehlen will, das gar nicht vorhanden ist, – leise, da ist die Tür …, wir müssen durch einen Winkel des Saales, hören Sie? Hören Sie? – – Das Klavier, Geigen, Cello, – – oh, sie spielen gut, diese Verrückten, besser noch als auf der Jacht, bevor der Inder sie versenkte, der Schuft, Miß Evelyns wegen – – der Narr, und Evelyn liebt Charly … – – leise, ich öffne jetzt die Tür und dann kriechen wir …!!“
Ich schob ihn zur Seite.
Ich wollte sehen … sehen …
Nicht nur hören!
Ich hörte ja …
Hier auf Royal-Insel Beethovens[19] Musik zu Goethes „Egmont“[20], gerade diese Musik der Traumszene im Kerker, geisterhafte Töne, zarteste Klänge, daherschwebend wie aus fernen Sphären …
Und – gespielt von den Gondaloors, von sechs Menschen, die in geistiger Umnachtung dort vor mir im Felsensaal unter den blinkenden Lampen sitzen, völlig hingegeben diesem Meisterwerk eines Genies, das uns eine Mondscheinsonate, eine Kreutzersonate und die Neunte Symphonie bescherte.
Jetzt sah ich diese sechs Gondaloors … Im Felsensaal von Royal-Insel, inmitten der Luxusmöbel der Jacht, – Ernest Gondaloor mit schlohweißem Haar und Bart, bleich wie der Tod, Patriarch am Cello, elegant den Bogen führend, – am Klavier den jungen blonden Charly, den Neffen, mit Künstlermähne, – auch totenbleich, überirdische Augen, überschlanke Hände, die zärtlich über die Tasten huschen … Drei Mädchen, – die eine unverkennbar Evelyn, – das Bild aus Gotaris Medaillon, – – und die Mutter, hager, grau, nicht minder hingerissen von dem Zauber dieser Musik …
Ein Orchester von Irrsinnigen, – ohne Sinne, Gedanken für die Umwelt, – – und das Grauen beschleicht mich da, ein neues Grauen inmitten dieser rauschenden, wehen Klänge, die wie ein Klagelied über das Schicksal derer sind, die dort eng vereint in diesem wunderbaren Saale eine Stätte feinfühligster Kultur vortäuschen …:
Und doch – – in ewiger Nacht leben, in geistiger Umnachtung …
Nacht der Gondaloors!!
Schauer des Grauens umfrösteln mich, aber Guß Trebbers Angst treibt mich vorwärts. Keuchend, zitternd fleht er:
„Kriechen … – dort links der Vorhang … Schnell … Nachher verlangen sie stets Tee, und wir müssen ihnen …“
Der schlotternde Gnom mahnt mich mit Recht an diese einzige Möglichkeit, diesen Ärmsten das Allerärgste zu ersparen: Den Ausbruch von Tobsuchtsanfällen, vielleicht ein gegenseitiges Abschlachten, vielleicht noch Schlimmeres!
Ich überschaue das weite Gewölbe, – man muß da aus den Salons der Jacht die Seidenbespannungen herabgerissen und hier die Wände bespannt haben, man hat einen Teil der kostbaren Möbel frei in den Raum auf bunte, seidige Teppiche gestellt, man hat so ein Gesamtbild eines eigenartigen Schloßsaales geschaffen, der hier auf Royal unwillkürlich an die Scheindekorationen eines Filmateliers erinnert. Dem Bilde haftet etwas Unwirkliches, Spukhaftes an, – Wandspiegel in allen Formen, ebenfalls aus den Räumen der Jacht kommend, werfen das strahlende künstliche Licht und Ausschnitte des Saales verdoppelt zurück, – – über alledem schweben wie Geisterstimmen die ans Herz greifenden Klänge von Beethovens Egmont-Musik …
Ich ducke mich zusammen, drücke die Tür weiter auf, – ein großes Klubsofa mit schweren Sesseln bietet genügend Deckung. Hinter dem Sofa auf breitem Sockel steht eine verkleinerte Wiedergabe des bekannten Beethoven-Denkmals von Max Klinger aus dem Leipziger Museum, – Marmor, genau dem Original gleichend. – Diese Gondaloors müssen sehr reich sein, gewesen sein, denn alle Schätze der Welt nützen den Ärmsten nichts mehr, ein Satan in Menschengestalt, dem Eifersucht und Haß das elende Hirn zernagten, hat diese kunstliebende Familie hinabgestoßen in eine Nacht des Grauens durch irgend eines jener indischen Pflanzengifte, die den europäischen Chemikern noch heute unbekannt, oder doch ihrem Ursprung nach ein Rätsel sind.
Ich schiebe mich vorwärts – hinter das Sofa. – Bis zu dem Vorhang, der den Eingang zu Ernest Gondaloors Gemach verdeckt, sind es kaum ein paar Meter. Aber der Vorhang dort ist schwerste indische Seide, und das Bedenkliche bleibt, daß diese Seide sich zweifellos bewegen wird, daß ihre Falten im Lichterglanz wie helle blanke Streifen schillern und nur zu leicht höchst gefährliche Aufmerksamkeit erregen könnten.
Trotzdem, bei einiger Achtsamkeit muß es uns gelingen, unbemerkt hineinzuschlüpfen. Noch immer umgaukelt mich die Sphärenmusik, ich hebe bereits die Hand, den Vorhang behutsam unten zu lüften, um erst einmal Guß Trebber hindurchzulassen.
Ich blicke nach Guß Trebber zurück, – dieser angstschlotternde, durch die ständige Gemeinschaft mit den armen Irren selbst bereits halb kranke kleine Kerl kriecht da nur allzu schnell an dem Podest der Marmorstatue vorüber, und das Unheil geschieht, er zieht den Fuß nach, stößt gegen den Sockel, der hier auf dem unebenen Grottenboden sehr unsicher steht, die Marmorbüste neigt sich, – ein dumpfer Krach übertönt die Musik, die jäh abbricht, eine schrille Stimme fegt gellend durch den Raum, schreit gellend einen sinnlosen Fluch, und ich schnelle empor, in jeder Hand eine Pistole, – vielleicht, hoffte ich, kann ich mir doch noch den Rückweg erzwingen, vielleicht werden Drohungen doch noch diese kranken Hirne zur Ruhe bringen.
Sechs Menschen da, steif wie Bildsäulen glotzen mich[21] an …
Nichts als ihre Instrumente haben sie in Händen, – nur Charly Gondaloor im blauen Bordanzug, eine schlanke vornehme Figur, greift nach dem Deckel des Klaviers …
Sekunden – nicht einmal das – fordern von mir Entschluß über Leben oder Töten …
Brutal klingt es: Töten!
Charlys Arm fährt hoch …
Der Knall des Pistolenschusses hallt dröhnend im Saale wieder …
Nochmals schießt er – ich will zurück in die Vorratskammer, Trebber ist verschwunden, die Tür versperrt …
Weitere Schüsse, kreischende Stimmen, – ich flüchte in langen Sätzen nach rechts, ich sage mir, daß dort vielleicht ein Tunnel zum Bootshafen führt, ich will nicht morden, denn diese Ärmsten, die wie die Furien hinter mir herstürmen, sind kein Ziel für eine sichere Hand, ich könnte mir den Rückzug decken, ich würde sie einzeln abschießen, aber – – ich kann nicht, alles in mir bäumt sich dagegen auf.
Eine breite Brettertür, dunkel gestrichen, scheint mir der rechte Weg zu sein …
Das Kreischen wird zum Heulen, zu jenem infernalischem Heulen, das die Nerven lähmt, das den Schweiß aus den Poren treibt …
Auf die Tür – hindurch, – zugeschmettert …
Kugeln klatschen, Holzsplitter fliegen, – aber vor mir senkt sich eine schmale Grotte in die Tiefe, einzelne Lampen leuchten, ich sehe neben der Tür aufgestapelte Kisten, packe zu, verrammele die Tür, – neue Kugeln fahren durch das Holz, – die Ärmsten werfen sich in ihrer blinden Wut gegen die Tür, aber die Barrikade hält, Zentnerlast versperrt den Pfad zum Kutter …
Ernest Gondaloors höllisches Gelächter erreicht mein Ohr …:
„Ein Dieb, – – Charly, der Kontakt, – schalte den Strom ein …!!“
Und noch höllischer das Konzert frohlockender Stimmen, irrsinniges Kichern …
Ich fliege den Tunnel hinab. Guß Trebbers Andeutungen über die gespickte Wand geben mir Flügel …
Ich rase an einem Benzinmotor vorüber, an einer surrenden, knisternden Dynamomaschine, – Lichtbereiter der Gondaloors, – – nur hinab … hinab …
Wahnsinnige vergessen dort droben die eigene Gefahr …
Ausgeschaltene Kritik der Folgen einer Explosion droht allen hier mit sicherem Tode.
Dann vor mir die Trommelwinde, die Trosse, der Kutter, das Steinplattentor, zusammengefügt aus vielen Teilen, durch Eisenschienen verbunden, – das Spitzbogentor …
Eine tiefe Stufe, ein Sprung, – der Kutter ruht auf diesem plumpen Fahrgestell, und dieser Bootsschuppen im Granit liegt tiefer als der Tunnel …
Ich springe …
Falle …
Irgend etwas fegt über mich hinweg wie ein Schlag eines Riesenhammers: Luftstoß der Explosion …
Ungeheurer Knall, Schallwellen wie schlimmster Donner nach nahem Blitz folgen …
Das Spitzbogentor wird zerrissen wie Pappe, die Trümmer sausen in die Bucht, die Trosse des Kutters reißt, der Wagen rollt, – – fernher ein unheimliches Krachen, – das ganze Bergland von Royal bebt, Steine, Felsstücke poltern von den Wänden, von der Decke …
Der Kutter rollt unbeschädigt in sein nasses Element, – die Terrasse des Tunnels schützte ihn vor dem Luftstoß, schützte mich, und wie ein Trunkener taumele ich in den Sonnenschein hinaus, breche auf der Gleitbahn zusammen, die Nerven streiken … Die noch unheimlichere plötzliche Stille läßt mich das Sausen des Blutes in den Ohren als einziges Geräusch vernehmen.
Ich liege da, nur ein armseliges Menschlein, dem ein Zufall den sicheren Tod abwehrte.
Um Sekunden hatte es sich gehandelt. Eine Sekunde später, und der unsichtbare Hammerschlag hätte mich gegen das Steintor geschleudert … nichts wäre von mir übrig geblieben – nichts – blutige Masse – – nichts mehr.
Ein armseliges Menschlein lag damals im Sonnenschein, der wie greller Hohn wirkte nach dieser Katastrophe, deren Folgen ich mir nicht auszumalen wage.
Nacht und Finsternis und zuckende Blitze, Regengüsse und Orkan und tollster Aufruhr der Elemente hätten die Begleiterscheinungen dieses Unheils sein müssen …
Nicht Sonnenschein, nicht dieser herrliche Sommertag auf dieser weltfernen Insel.
Armseliges Menschlein ich …
Eingebildeter Tor, der da dachte, Nerven aus Stahl zu haben!
Dies war zu viel …
Und zu ungeheuer der Kontrast zwischen dem friedlichen Bilde vor mir und den Bildern, die dort droben der Saal der Gondaloors bieten mußte. –
Das Schlimmste ahnte ich nicht …
Ruhig schwamm der Kutter in der Bucht, das Wasser warf kleine Wellen, die spielerisch glänzten. Drüben in dem Grün der Dünen hob sich ein kleiner Kopf mit Riesenohren: Mein Känguruh, – blickte umher mit großen erstaunten Augen, hüpfte weiter …
Glückliches Tier! Spurlos wird auch dies alles an dir vorübergehen, wie Dinge, die nichts bedeuten. –
Meine Nerven streiken nicht mehr. Ich erhebe mich, denke an Grita, der wohl kaum etwas zugestoßen sein kann. Ich schwimme zum Kutter, vertäue ihn am Sandstrand an einem Baum, befestige eine zweite Trosse, werfe auch den Heckanker aus und lege die Laufplanke aus und schreite hinüber …
Dann erst … sehe ich …
Sehe, sehe, – – und das Grauen packt mich von neuem …
… Der Kutter „Antarktis“ liegt noch an derselben Stelle wie vor drei Wochen.
Drei Wochen sind es her, daß die Gondaloors sich selbst auslöschten. Es war für sie vielleicht die beste Lösung dieser Tragödie, schmerzlos starben sie, – was von ihnen blieb, deckt nun der Sand der Dünen, Holzkreuze stehen dort, sechs Kreuze, ich habe diesen Friedhof gepflegt, pflege ihn noch, und abseits an besonderer Stelle erheben sich zwei noch größere Kreuze, und der eine Grabhügel ist ein Blumenbeet, ist die Stätte meiner Abendstunden, und mein sinnender Blick gleitet dann über die von mir tief gekerbte Inschrift des einen Kreuzes … – –
Ich hatte die Feder ruhen lassen, war an Land gegangen, hatte mit meinem treuen hüpfenden Gefährten mir die notwendige Bewegung gemacht, – ich brauche körperliche Anstrengung, ich darf meine Glieder nicht einrosten lassen, – ich bin wieder einmal hinaufgestiegen durch den Tunnel in den verwüsteten Saal der Gondaloors, wo das Klavier, ein Trümmerhaufe, mit seinen weißen Elfenbeinzähnen mich höhnisch angrinst, wo die Seidenbespannungen nur noch Fetzen sind, die Möbel nur noch ein wirres Durcheinander von Bruchstücken, die Teppiche gleichfalls Fetzen …
Und dann kam das Abendrot und ich saß wie stets an dem einen Grabe, während Freund Moritz mißmutig über den Friedhofzaun blickt und sich ärgert, daß er niemals diesen Ort der Toten betreten darf.
Das Abendrot verblaßte, und die Inschrift auf Gritas Kreuz verschwamm – genau wie die Guß Trebbers, der sein Leben hingab und doch ein anderes Leben nicht retten konnte.
Es wurde dunkel, und das Getier der Insel kroch aus seinen Verstecken hervor und glitt über die einst nasse Wüste – einst, denn die Kräfte des Dynamits haben da irgendwo in den Tiefen die Quellen verstopft, und die nasse Wüste wurde trockenes, tiefes Tal … Sand, feinster Sand deckt Bert Bengs Leiche, und etwa an der Stelle, wo ich den Freund vermute, habe ich die große Steinplatte des Loches des Widderkopfes aufgerichtet und mühsam eingemeißelt nur einen Namen und ein Kreuz und darunter:
Er war ein Mann und
mein Freund.
Und wenn später einmal hier auf Royal Fremde erscheinen werden, vielleicht Forscher oder Robbenfänger, werden sie nicht ahnen, was der Friedhof und der Stein und droben der Saal bedeuten …
Wie sollten sie?!
Meine Tagebuchblätter flattern vielleicht einst irgendwo in eine Redaktionsstube – – vielleicht.
Und wer sie dann liest und vielleicht begreift, daß all meine Pfade abseits vom Alltag doch nur dasselbe Ziel zum wundervollen Gipfel meiner Freude an unverfälschter Natur haben, der wird das Bittere dieses meines Erlebens vergessen über dem erhabenen Gedanken, wie sehr nur die allgütige, launenhafte, mannigfache Mutter Natur uns Menschlein zu beglücken vermag, wie kläglich eitel all das Gehabe jener blinden Narren ist, die nichts anderes begehren als stumpfes Behagen in sattem Reichtum und Befriedigung ihrer heuchlerischen, selbstsüchtigen Eitelkeit.
Nun, da die Nachtmahlzeit vorüber, verfolge ich die dünnen Rauchfäden der Zigarre und zwinge mich, auch das Letzte zu berichten, das Schwerste …
Glück und Leid häufen sich in diesem Schwersten zu grellen Gegensätzen, – das Leid überwiegt, und das Grauen mischt sich hinein, – – zerfetzte Tote zusammenzulesen, war bitterste Arbeit.
Unschlüssig halte ich die Feder zwischen den braunen Fingern, friedvoll, aber kalt leuchtet die Karbidlaterne auf das Papier und dort in der Ecke des Känguruhs lange Gestalt. Moritz ruht, blinzelt mich an, – es hat sehr lange gedauert, bis Moritz die Scheu vor der Laufplanke überwand und mir folgte und sich an diesen Kutter als Heim gewöhnte. Nun ist er völlig treues Hündchen geworden, weicht mir kaum von der Seite, schrickt nicht mehr zusammen beim Knall der Büchse, der einer Robbe oder einem Wildkaninchen das Leben kostet.
Unschlüssig harre ich der Eingebung, dieses letzte Stück dieses Weges abseits vom Alltag so zu schildern, wie es sein müßte gegenüber dem Übermaß von letzten Schrecken, letztem Glück.
Nachdenklich sauge ich an der Zigarre, nehme einen Schluck Tee, – –
… Wie war das doch, was empfand ich, als ich von der Sandkuppe aus starr emporschaute zu dem geöffneten Saal der Gondaloors – geöffnet, denn die Explosion hatte die ganze Außenwand weggerissen, und in der Granitmauer klaffte ein riesiges Loch …
… In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen,
Und des Himmels Wolken schauen hoch hinein.[22]
… Wie bei einem Hause durch ein Erdbeben etwa die Vorderfront weggerissen wird, so daß man hineinblicken kann in die halb zerstörten Zimmer: So war es!
Es war nicht Entsetzen, das mir den Herzschlag zum Rasen brachte, es war weit mehr, es war die jäh aufblitzende, hirnverzehrende Angst um Grita, die ich geborgen glaubte und die dort – dort unter den Felstrümmern am Fuße der Granitwand, wo ich sie zurückgelassen hatte, begraben liegen mußte!
Minutenlang verharrte ich – selbst Stein gegenüber jenen Steinen, die das Verderben auch in die Tiefe getragen hatten.
Nichts von Grita zu bemerken …
Nichts mehr von den spärlichen Pflanzen dort, – – nur – seltsam! – der Korb ragte mit einer Ecke hervor, jener Korb, der Grita mir in die Arme geführt und mich nach oben gehißt hatte, damit ich Zeuge würde eines unbeschreiblichen Verhängnisses und stiller Zuhörer in einem festlich erleuchteten Musiksaal.
Beethovens Egmont-Musik … Sechs Menschen, arme Irre, völlig versunken in die Schönheiten der Töne …
Dann die niederkrachende Statue, – dann die Vernichtung, blitzartig …
Und jetzt:
… In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen,
Und des Himmels Wolken schauen hoch hinein.
Ich ließ mir nicht Zeit, die Bucht zu durchschwimmen, ich wählte den Umweg über den Rand der nassen Wüste, ich lief wie gehetzt, ich kniete neben dem Steinschutt, – ein Stiefel ragte hervor, – meine Hände wühlten, gruben, Schweiß troff mir in die Augen, – – ich legte Guß Trebbers Leiche frei, sie lag auf dem Gesicht, und unter ihr … lag Grita … atmend, bewußtlos, aber lebend, nur ein paar blutige Schrammen auf der Stirn.
Guß war tot.
Ich reimte mir leicht zusammen, was hier geschehen … Guß hatte sich im Korbe zu retten gesucht, war hinabgesaust am rollenden Seil, hatte den Knall der Explosion vernommen, sich über Grita geworfen, und dann war schon der Steinhagel da, zerschlug ihn, begrub ihn – ihn, der dort oben in sinnloser Angst die Tür versperrt hatte, der mich auf diese Weise zwang, den anderen Weg zu wählen.
Ich trug Grita behutsam zum Kutter, legte sie auf eins der Klappbetten, rieb ihr die Schläfe mit Alkohol, flößte ihr Alkohol ein, entkleidete sie, befühlte ihre weißen, warmen Glieder …
Ihr wundervoller Leib schien unverletzt. Nur über der knospenden Brust unter dem Halse befand sich eine rote, schräge Stelle – ein verfärbter Fleck, harmlos wohl, – dachte ich in meiner Trunkenheit der Hoffnung.
Grita erwachte nach Stunden. Ihre Wangen hatten ein wenig Farbe zurückgewonnen, ihr Blick war klar, aber sie war sehr matt und konnte gerade nur die Hand heben und mich streicheln.
„Schmerzen, Liebling?“
„Nein …“, hauchte sie. „Nur müde, so sehr müde.“
Nachher schlief sie ein.
Der Abend kam, die Nacht, sie schlief noch immer. Sie atmete hastig, stoßweise, dann wieder hob ihre Brust sich kaum ein wenig und ein Zucken wie Muskelkrampf erschütterte den stillen Leib, sogar das Gesicht.
Ich saß bei ihr, die Lampe hatte ich verhüllt, und allmählich schlich die Angst herbei auf lautlosen Sohlen, daß es doch um Grita schlechter stünde, als ich annahm.
Grita erwachte nach Mitternacht, als der Mond durch die schmalen Kabinenfenster lugte und draußen ganz Royal in träumerischem Lichte schwamm.
Mein Herz hämmerte, als sie mich anlächelte und sich ohne Mühe halb aufrichtete und ihre Hand die meine fand und …
Ein Aufatmen befreite mich.
„… Olaf, Liebster, – ich habe Hunger …“
Sie lachte dann, lächelte nicht mehr …
Hunger!
Wie ich damals so eilfertig war, mich rührte und hin und her lief und alles zusammentrug, was an Vorräten überreich vorhanden …
Küchendunst drang in die Kabine, der Spirituskocher zischte, die Suppe brozelte, – Grita aß wenig nachher, aber es genügte, und ich war froh, daß sie noch weniger fragte.
Sie ahnte den ganzen Umfang der Katastrophe, sie dankte Guß Trebber für sein heldenmütiges Opfer, sie sagte nur, daß sie gespürt habe, wie der sie schützende Leib des kleinen Mannes unter den Aufschlägen des Gesteins sich bäumte und dann ganz, ganz eisig ward, bis ihr selbst irgend etwas gegen die Brust schlug und auch ihr die Sinne schwanden.
Sie schlief dann wieder, um den Mund ein zärtliches, leises, keusches Lächeln.
Der Morgen kam.
Eingenickt war ich auf meinem Stuhl, – und die Sonne weckte mich, grell in mein stoppeliges Gesicht stechend, die Kajüte mit Wärme und Licht durchflutend. Da erst war ich mir bewußt, daß ich einem Strolche glich, daß ich halbnackt war.
Eitelkeiten, – verzeihliche Eitelkeiten, verstärkt durch den Wunsch, sich den Augen Gritas nicht mehr in solchem Aufzuge zu zeigen.
Wir hatten von Melbourne auch Wäsche, Anzüge mitgebracht, und ein wieder durchaus salonfähiger Olaf bereitete für seine Gefährtin das Frühstück.
Gritas frische Augen glänzten mir lebensfroh entgegen.
„Oh – – und ich?!“ fragte sie.
Sehr stolz war ich da. Ich hatte auch ihre Kleider gewaschen, und nichts konnte sie davon abhalten, das Bett zu verlassen.
„Ich bin ja gesund, Olaf …“
Wind und Sonne hatten Gritas Hüllen schon getrocknet, und nachher saßen wir an Deck und aßen, tranken, sprachen und tauschten Erlebnisse aus, – wir hatten einander genug zu berichten.
Grita schilderte, wie Ernest und Charly Gondaloor damals nachts sich des Kutters bemächtigt hatten, wie Mita Mac Barny in die dunkle See sprang und von der Strömung fortgerissen wurde.
„… Sie behandelten mich gut, die armen Irren, und besonders Evelyn, Charlys Verlobte, war sehr lieb zu mir. Evelyn hat mir auch mitgeteilt – denn sie hatte ihre Stunden klaren Geistes –, wie der Inder schon in Kalkutta sie stets still umwarb. Er war ihr unheimlich, er war ihr wie ein tückisches Reptil, und als sie sich mit Charly im Herzen ganz einig geworden und die weite Seereise bevorstand, warnte gerade sie immer wieder ihren Vater vor Gotaris Hinterhältigkeit. Sie war auch überzeugt, daß der Inder dann in Sydney den alten Matrosen bestochen hatte, damit dieser von den reichen Mineralschätzen der Royal-Insel berichtete. Ernest Gondaloor ließ sich blenden, und der Inder erreichte sein Ziel: Die Jacht lief hier in die Südbucht ein, ankerte dort, und eines Abends bei Tisch im Salon der Jacht vollendete Gotari sein teuflisches Werk: Er vergiftete den Wein, aber er konnte nicht verhindern, daß auch Evelyn davon trank. – Als Guß Trebber den Salon betrat, und dies hat er selbst mir erzählt, fand er die Gondaloors bewußtlos auf – genau wie er die ganze übrige Besatzung soeben erst tot im Vorschiff entdeckt hatte – auch vergiftet. Ihm hatte nur sein Mißtrauen gegen den Inder das gleiche Schicksal erspart, – er sprang Gotari an die Kehle, hätte ihn umgebracht, aber der Inder fiel starr und steif zu Boden, so daß Guß annehmen mußte, er sei einem Herzschlag erlegen. – Guß ahnte nicht, daß der Inder längst heimlich jene Lebensmittel und Vorräte und Waffen in der Schlucht verborgen hatte. Er trug den anscheinend Toten zu dem Felsloch des Widderkopfes, deckte die Platte darüber, wälzte Steine hinauf, eilte zu dem Massengrab der Jacht zurück, – aber die Gondaloors kamen wieder zu sich, – – wie, in welchem Zustand, das weißt du, Olaf …: Geisteskrank, befangen von dem Wahn, drüben unter den Felsen lägen die Reichtümer des Grafen von Monte Christo. Sie fanden das Felsloch in der Nordbucht, den Tunnel, sie schafften alles hinauf in die Grotten, die sie durch Sprengungen erweiterten, aber eines Tages war die Jacht gesunken … Wer sie versenkt hatte, wußte zunächst niemand.“
„Doch – einer wußte oder ahnte es – Trebber!“
„Mag sein, Olaf … Jedenfalls verbaute Ernest Gondaloor den Tunnelausgang durch eine Steinpforte, und Guß schuf dann die Leiter aus den beiden Masten …“
Sie schwieg, ihre Hand fuhr zum Herzen, ihr Gesicht zuckte …
„Oh – – das waren arge Stiche, Liebster … Es wird schon wieder nachlassen …“
Sie schlief dann im Liegestuhl, und ich ging und sammelte die Reste der Toten zusammen, – – genug davon! Der Friedhof ward mit Grauen und Mitleid geschaffen.
Mittags an jenem Tage ruhten wir auf einer Dünenkuppe, ein frischer Wind sang in den Gräsern und Büschen, Moritz lag faul im Sande, und Grita hielt mich umschlungen und küßte mich und neckte mich und war wie ein Sonnenkind.
Pläne schmiedete sie … „Wir bleiben hier auf der Insel, Olaf … Wir werden niemals mehr das Verlangen nach den großen Städten und seinen Menschen haben, wir sind uns genug, Olaf …“
Ich mußte sie dann in die Kajüte tragen. Sie hustete, abends fieberte sie, und dann kam der tagelange Kampf gegen den unerbittlichen Tod. – –
Nach drei Tagen begrub ich auch sie, schaufelte den Hügel, bepflanzte ihn, und versank dann nach diesen Tagen unerhörter Pein in einen bleiernen, endlosen Schlaf.
Als ich mitten in der Nacht munter wurde, sah ich im ungewissen Licht des Mondes vor mir eine sehr hagere Gestalt …
Einen Toten, dem Sandgrabe entstiegen, – einen noch Lebenden, der sich mühsam auf zwei Astkrücken stützte …
„Fürchten Sie nichts mehr von mir, Abelsen“, hörte ich eine verhaßte Stimme keuchen. „Ich komme nur, um von Ihnen einen letzten Dienst zu erbitten. Ich bin ein Sterbender, ein Reumütiger – fürchten Sie nichts!“
Er sank schwer auf den nächsten Schemel …
Gestank ging von ihm aus …
Gestank eiternder Wunden, die nur mit Fetzen verdeckt waren.
Es war Gussara ben Gotari, der Mörder, der vom Hochmut einst Besessene, der anmaßende Brahmane, der mit dem Tode und mit den billigen Künsten seiner heiligen Kaste gespielt hatte, – jetzt ein gebrochener, siecher, faulender Leib …
Ich erhob mich, zündete die Lampe an, – Gotari saß da – ein Gerippe nur noch, die Kleiderfetzen voll Unrat, das Gesicht verwüstet von Hunger und Schmerzen.
Er saß, und sein Atem röchelte, und seine nackten, fast nackten Glieder stanken.
Die Vorsehung ist gerecht: Ist gerecht! Und wenn tausend Mörder und hunderttausend Betrüger hohnlachend spotten, daß nichts, nichts ihr Gewissen beschwerte, daß das menschliche Gesetz eine blöde Farce für Dummköpfe sei: Auch diesen Übermütigen, Frechen, diesen Lästerern schlägt die Stunde, wo die Krallenhand des Todes nach ihnen greift und der kalte Angstschweiß der Todesstunde von ihrer verbrecherischen Stirne tropft und in ihrer Seele millionenfache Qualen sich melden und sie dann verrecken mit ihrer Last ungesühnter Schuld, die ihnen das Sterben zur höllischen Tortur machte. Wenige, die noch die Kraft haben, diese Marter hinauszuschreien als Warnung für ihresgleichen! Wenige …
Hier aber hockte einer von diesen Wenigen kraftlos, saftlos, innerlich verfault, äußerlich verfault in meiner Kajüte und mußte, falls er das Gefühl tiefster Beschämung wirklich kannte, es sich von mir gefallen lassen, daß ich ihm den Becher Tee an die rissigen Lippen führte und daß er aus meiner Hand eine Mahlzeit empfing, die ihn etwas stärkte und erfrischte.
Ich hatte ihm eins der Betten herabgeklappt, hatte eine Decke darüber gebreitet und ein Polster zurechtgeschoben. Ich stützte ihn, wie er auf das Lager taumelte, – ich ertrug den widerlichen Dunst seines eiternden, verkommenen Leibes, und … er?!
Er bedankte sich. Vielleicht entquollen diesem Munde zum ersten Male ungekünstelte, ehrliche Worte, denn sein Dank war ehrlich, und schon dies brachte ihn mir menschlich wieder näher. Ich begann seine Untaten zu vergessen, ich sah in ihm nur den bereits vom Tode Gezeichneten.
Wohl eine halbe Stunde lag er mit geschlossenen Augen da. Eine flüchtige Untersuchung der beiden Beinschüsse, die Bert ihm beigebracht, ergab ein trostloses Bild: Der Brand war hinzugetreten, die Wunden waren faustgroß, das Fleisch schwarz verfärbt. – Es gab hier keine Hilfe mehr.
Dann schaute er mich an, groß und glänzend die Augen, und in seinem Blick lagen doch klare Vernunft und stummes Flehen.
„Abelsen, ich habe Evelyn geliebt …“ – und diese leisen Worte waren wie ein restloses Geständnis.
„… Ich habe sie angebetet, Abelsen, ich hätte ein … guter Mensch werden können, ich war … ein schwacher Mensch … Eifersucht und Haß verzehrten mich … In jedem von uns Farbigen schlummert ja der angeborene Haß gegen die Europäer – in jedem, und selbst wenn nur ein Tropfen farbigen Blutes in unseren Adern ist, wenn Mütter oder Väter in unserer Ahnenreihe Weiße waren: Wir bleiben behaftet mit diesem Erbgut des Hasses, – alle … alle …“
„Du erzählst mir nichts Neues damit, Gotari. – Schone deine Kräfte. Wie entkamst du dem Triebsand?“
„Abelsen, – ich hatte bisher nie die Todesfurcht gekannt …“ Seine Stimme lebte auf … „Ich war einer jener Vermessenen, Aberwitzigen, die sich erhaben dünkten über dieses stärkste Gefühl: Todesangst – – und Selbsterhaltungstrieb, gesteigert bis zur Entfaltung bis dahin ungeahnter Kräfte … Als Bert und ich versanken, riß ich mich von ihm los, und ein Wunder geschah: Mein gesunder Fuß fand in der Tiefe festen Halt, ich wollte wieder nach oben, stieß mich mit aller Kraft von dem Stützpunkt ab, glitt durch den Sandbrei, fand neuen Halt, merkte, daß es ein großer versunkener Baum mit Aststümpfen war und schnellte mich weiter – besinnungslos halb, – nur gepeitscht von der gräßlichen Angst, – und fuhr plötzlich mit dem Kopf in einen Hohlraum hinein, – der Druck der Sandmassen war verschwunden, ich konnte atmen …“
„… Beng starb – ein Held, – ich lebte, ein Feigling“, flüsterte er bitter. „Ein Feigling, eingesperrt in Finsternis und Schmerzen, eingeklemmt in eine Felsspalte, die nur zusammengekrümmtes Sitzen erlaubte, die mir durch feine Ritzen wohl Luft, aber kein Licht spendete … Und die zu meinen Füßen wieder abfiel in die nasse Wüste, die so schräg war, daß ich fürchtete, abzurutschen und abermals zu versinken, falls die Schmerzen der Wunden mir die Besinnung raubten … In dem Loche, Abelsen, – mehr als Hölle war es, verbrachte ich Stunden der Pein, wie sie kein Teufel erfinden könnte. Verwundet, unter mir der Tod des Triebsandes, um mich her Finsternis, – Schmerzen, – die Gewißheit, hier verhungern zu müssen: Wie ein Rasender schlug ich mit den Fäusten gegen das Gestein, brüllte um Hilfe, zerriß meine Jacke, band mich fest an einer Felszacke, brüllte von neuem … – – stunden-, stundenlang … Und dann – dann spürte ich die Erschütterung des Bodens, dann flogen über mir wie Scherben eines Topfes, den ein Stein zertrümmert, die Felsmassen auseinander und ich … sah Licht, Sonne … einen Augenblick nur, – ein Felsstück traf meinen Hinterkopf, und es wurde wieder Nacht um mich her. – Nacht war es auch, als ich hervorkroch, mich weiterschleppte, hinein in die Büsche eines Tales. Und dort lag ich – – bis heute, Abelsen, von Fieber und Schmerzen zermürbt, vom Hunger und Durst gefoltert … Und – ich sah Sie, Abelsen … Ich wagte nicht zu rufen … Ich sah alles, – ich sah das Mädchen in ihren Armen sterben, ich sah, wie Sie drüben die Gräber schmückten, aber – – ich war feige, und mein Gewissen war erwacht, nachdem mein Leib zu verfaulen begann. – In dieser Nacht spürte ich den Tod neben mir, – erst da zerbrach meine hochmütige Seele vollends, und ich schleppte mich hierher – – mit einer letzten Bitte, Abelsen, nachdem ich nun gebüßt habe … – Eine Bitte … Ich bin Hindu, ich fühle, daß ich innerlich geläutert bin, daß ich es wert bin, daß mein Leib nach den Bräuchen meines Volkes in Asche zerfällt, verbrannt wird. Sie kennen die Schlucht, wo der Widderkopf und die Hütte sich erheben, wo im äußersten Ostwinkel die Bäume gestürzt sind – ein natürlicher Scheiterhaufen. Tragen Sie mich dorthin, Abelsen, legen Sie mich dort auf das faulende Astgewirr – mich, den Verfaulenden, und wenn ich tot bin, zünden Sie den Holzstoß an, und … Gott Brahma wird es Ihnen lohnen! Mehr erbitte ich nicht – nur das … nur das, und sofort, Abelsen, denn der Tod naht, meine Beine sterben ab, mein Hirn wird so leicht, so klar … – Abelsen, – – sofort – – haben Sie Erbarmen, – – ich bin ein reuiger Mensch, und Reue kommt nie zu spät, – so heißt es in …“
Er verstummte …
Seine Augen schlossen sich, und mein Herz öffnete sich für jene wahre Menschengüte, die nichts mit jener verlogenen, weichlichen, weibischen falschen Milde zu tun hat.
Ich griff nach dem Feuerzeug, nach ein paar Holzstücken, schlug die Wolldecke um den Sterbenden und lief durch die schweigende feierliche Nacht über die Dünen zur Dornenschlucht, erkletterte den Windbruch mit seinem Gewirr von Stämmen und Ästen und bettete Gotari mitten zwischen die welken Zweige, schlug die Decke zurück, machte sein Gesicht frei und saß neben ihm, wartete …
Und in jener Nacht brannte der Scheiterhaufen stundenlang. – –
… Tage sind wieder dahingegangen.
Noch hält mich die Trauer um Grita auf dieser Insel fest, dann aber wird die Stunde kommen, wo die alte Unrast mich packt und ich den Kutter rüsten werde zur Fahrt ins Ungewisse …
Irgendwohin …
Irgendwohin – – abseits vom Alltagswege. –
… Ich will die Feder ruhen lassen … Es ist Zeit, wieder einmal den Saal droben zu besuchen … Den Saal ohne Vorderwand. Ich fand da letztens Ernest Gondaloors fast unversehrte Kassette. Ich müßte sie aufbrechen, denke ich, – ich hätte ja auch die Pflicht, die Behörden in Kalkutta von dem Ableben der Familie zu benachrichtigen. Sie waren ja reich, und sie werden fraglos erbberechtigte Verwandte haben … Und das können arme Teufel sein, – – weiß ich es?!
Aber die Kassette kommt jetzt bestimmt an die Reihe …! Arme Teufel – – schon möglich! Suchen wir sie … vielleicht suche ich dann abermals ganz, ganz abseits vom Alltag – – nach einem Erben, – und das könnte mich reizen … –
Moritz trampelt über die Laufplanke …
Meine Schreiberei ärgert ihn …
Am liebsten läuft er mit mir durch die grünen Dünen, noch lieber klettert er mit mir drüben in den Felsenhügeln umher, und wenn dann die Sonne sinkt und Meer und Himmel in sanftes Rot getaucht sind, trabt er mir voraus zum Friedhof unserer Lieben und schaut nachher über den Zaun und wundert sich wohl, weshalb ich so lange, so still vor Gritas Blumenhügel stehe …
„… Ich komme schon, alter Freund …!“, – – mein lauter Ruf weckt ein unerwartetes Echo …
„Und wir sind bereits zur Stelle!“, sagt eine harte, brutale Stimme …
In der Kajütentür steht ein Fremder …
… Vielleicht wird es etwas heiß hergehen um das Erbe der Gondaloors …
Band 20: Das Erbe des Gehenkten.
Anmerkungen:
„Behüt’ dich Gott, es wär zu schön gewesen,
Behüt’ dich Gott, es hat nicht sollen sein.“
„In den öden Fensterhöhlen
Wohnt das Grauen,
Und des Himmels Wolken schauen
Hoch hinein.“