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Unter dem Meeresboden

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Unter dem Meeresboden.

 

W. Belka.

 

An der Backbordreling des „Montreol“ stand weitübergebeugt Doktor Parker und hielt in der rechten Hand einen dünnen Eisendraht, der schräg nach rückwärts ins Wasser hinablief. Neben ihm lehnte der Steuermann dieses mittelgroßen Schraubendampfers, der auf Kosten des amerikanischen Milliardärs Astor ausgerüstet worden war, um für das New-Yorker Aquarium womöglich einige Riesentintenschnecken lebend zu fangen. Bisher war noch niemals ein solcher Versuch gemacht worden, da die Kosten einer derartigen Jagdexpedition zur See zu erheblich waren, dann aber auch, weil es kein Fanggerät gab, womit man diese seltsamen Bewohner der Tiefsee aus ihrem Element herausholen konnte. Erst als Doktor Parker, seines Zeichens Naturforscher und Erster Assistent am Aquarium in New York, in einer Fachzeitschrift einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem er eine von ihm erfundene Tintenfischangel genau beschrieb, war jener bekannte Milliardär auf diese Fangmethode aufmerksam geworden und hatte sofort die nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt, damit die Vorschläge Parkers praktisch erprobt werden konnten und das New-Yorker Aquarium sich als erstes vielleicht rühmen durfte, einige Exemplare dieser schon in den ältesten Sagen erwähnten Riesengeschöpfe zu besitzen.

Der „Montreol“ hatte am 2. April 1905 New York verlassen, war zunächst an den Küsten Neufundlands, wo im Laufe der letzten Jahre einige zwanzig Riesentintenschnecken tot an den Strand geworfen waren und daher mit dem häufigeren Auftreten dieser Tiefseetiere gerechnet werden konnte, entlanggefahren, war dann nach der Bai von San Franzisko und schließlich nach Norden zu nach Alaska (nordwestliches Territorium der Vereinigten Staaten) gedampft, um auch hier seine merkwürdigen Angeln auszuwerfen, nachdem bisher keines dieser Ungeheuer den Köder angenommen hatte.

Der Dampfer kreuzte jetzt seit Tagen auf gut Glück zwischen einigen kahlen Felseilanden im Süden der Halbinsel Alaska. Aber ein Erfolg wollte sich auch hier nicht einstellen, obwohl Doktor Parker bekannt war, daß Seefahrer unlängst noch in dieser Gegend Riesentintenfische auf der Oberfläche des Meeres hatten treiben sehen.

Der Steuermann, ein jungem Deutscher namens Melcher, bezeigte für diesen ungewöhnlichen Angelsport eine sehr lebhafte Teilnahme und hielt stets, wenn seine freie Zeit es ihm erlaubte, einen der dünnen Eisendrähte in der Hand, die durch ihr Anrucken bemerkbar machen sollten, wenn eines der Tiere angebissen hatte, was, wie gesagt, in diesen drei Monaten leider noch nicht ein einziges Mal geschehen war. Auch jetzt unterhielt er sich mit dem Doktor über die bisherigen Fehlschläge, die Parker darauf zurückführte, daß die Angel doch noch gewisse Mängel aufzuweisen gehabt hätte, die nun allerdings – und dies war am Tage vorher geschehen – behoben waren.

Die Angel bestand aus einer luftdicht verschlossenen Tonne, an der eine Stahltrosse hing, die in einem starken Eisenhaken endigte, der mit Fleischstücken als Köder umwickelt war. In diesen Fleischstücken befand sich eine elektrische Glühbirne von dickem Glas, deren Leitungsdraht um die Trosse geschlungen war, die die Tonne mit dem Schiffe verband. Von dem Haken führte jener dünne Draht bis zum Dampfer hinauf, den der Doktor auch jetzt wieder in der Hand hatte.

Dieses an sich so einfache Angelgerät war doch in seiner ganzen Ausführung sehr fein durchdacht. Die tief unter Wasser schwimmende Tonne, deren Auftriebskraft sich beliebig verändern ließ, hielt den Haken mit dem Köder stets etwa zwei Meter über dem Meeresboden und verhinderte, daß die Fleischstücke an dem Haken bzw. die Glühbirne durch Anstoßen an irgend welche Hindernisse beschädigt wurden. Die Glühbirne wieder gab dem Köder das Aussehen jener leuchtenden Tiefseetiere, die die Nahrung der großen Tintenschnecken bilden. Der dünne Draht schließlich mußte demjenigen, der ihn in Händen hielt, sofort verraten, wenn irgend ein Lebewesen an dem Köder zerrte, so daß die lange Stahltrosse, die mit der Dampfwinde des Schiffes in Verbindung stand, augenblicklich auf ein Zeichen hin scharf angezogen werden konnte. (Mit Hilfe dieser Angel sind tatsächlich drei Tintenschnecken gefangen worden, von denen jedoch zwei später eingingen.)

Zur Zeit schleppte der „Montreol“ zwei dieser Angeln hinter sich her, die eine auf Back-, die andere auf Steuerbordseite. Auf den zweiten Draht gab der Kapitän selbst acht, der mit demselben Eifer bei der Sache war wie der Doktor und der Steuermann.

Doch auch dieser Tag verging, ohne daß das Glück diesem einzigartigen Unternehmen lächeln wollte. Schon hatte Parker den Befehl zum Einziehen der beiden Angeln gegeben, als der Schiffsjunge Fritz Kersten, dem der Kapitän den Draht einen Augenblick überlassen hatte, jubelnd ausrief:

„Bei mir beißt etwas, Herr Doktor, – wirklich und wahrhaftig! Es ruckt an dem Draht wie toll!“

Sofort eilte Parker auf die Steuerbordseite und überzeugte sich, ob der Junge sich nicht etwa getäuscht habe. Kein Zweifel – es zog und zerrte ganz gehörig an dem dünnen Draht, so daß dieser dem[1] Doktor beinahe in die Haut der Hand einschnitt. Da gab Parker schnell das Zeichen zum Aufrollen der Angeltrosse, und schnurrend begann die Trommel der Dampfwinde sich zu drehen, und holte Meter auf Meter des Stahltaues aus der Tiefe empor.

Neugierig stand fast die ganze aus vierzehn Köpfen bestehende Besatzung des „Montreol“ an der Reling zusammengedrängt. Die Maschine war gestoppt worden, und kaum merklich schaukelte jetzt das Schiff vor dem ausgeworfenen Buganker auf der spiegelglatten See, die eine bereits tagelang anhaltende Windstille in einen harmlosen Teich verwandelt hatte. – Im Westen, dort wo das Festland des Nachbarkontinentes Asien lag, tauchte gerade die Sonne in flammender Röte in das Meer, als Fritz Kersten, der Sohn wohlhabender, in New York ansässiger Deutschamerikaner, mit seiner durchdringenden Knabenstimme ankündigte:

„Die Tonne ist schon zu sehen … Da kommt sie hoch …! Und – Herr Doktor, sehen Sie doch nur!! – das gräßliche Ungetüm hat sich mit seinen Fangarmen fest um die Tonne gelegt! Hurra – wir haben einen Tintenfisch geangelt – endlich – endlich!“

Der Junge hatte nicht unrecht, wenn er die gefangene Tintenschnecke als gräßliches Ungeheuer bezeichnete. Der Körper des Tieres, das zur Gattung Architonthis gehörte, war gut dreieinhalb Meter groß und strahlte ein deutlich wahrnehmbares Licht aus, das von den in der schlüpfrigen Haut liegenden Leuchtorganen herrührte. Der nur wenig abgesetzte Kopf mit dem hornigen Munde in Gestalt eines Papageischnabels und den großen, weit vorquellenden Augen wirkte besonders abschreckend. Nicht weniger als zehn Fangarme, die aus dem Körper herauswuchsen, hielten bei ihrer Länge von neun Meter die Tonne mit Riesenkräften umklammert und hatten sich mit ihren Saugnäpfen, die gut zehn Zentimeter Durchmesser besaßen, fest an die Außenwände angesogen.

Dieses war eines jener Ungeheuer, die man auch Kraken nennt und die nach den sagenhaften Berichten des nordischen Bischofs Pontoppidan die Größe einer Insel erreichen und Schiffen zum Ankerplatz dienen sollten. Nun, wenn diese Größenangaben auch weit übertrieben sind, so ist doch einmal bei Neufundland ein totes Tier von einer Körperlänge von fünf Meter mit zwölf langen Fangarmen an den Strand geworfen worden. Daß diese unheimlichen Bewohner der Tiefsee, die sehr behend schwimmen und kriechen und in den Fangarmen große Kraft haben, selbst in der Ostsee vorkommen, ist wissenschaftlich längst festgestellt. So wurde noch 1882 ein Ungetüm von drei Meter Körperlange an der schwedischen Küste verendet aufgefunden, und 1873 griff eine an die Oberfläche aufgetauchte Riesentintenschnecke bei der Insel Bornholm zwei Fischer in einem Boot an und hätte sie mit den Armen sicher erdrückt, wenn nicht andere Fahrzeuge zur Hilfe herbeigeeilt wären und deren Insassen nicht mit Messern die knorpeligen Fangarme durchschnitten haben würden.

Jetzt schwebte die Tonne mit dem Tintenfisch frei in der Luft. Inzwischen hatte der Doktor bereits von dem großen, mit Seewasser gefüllten Behälter, der auf dem Vorderdeck neben der Dampfwinde stand, den Deckel entfernen lassen. Da hinein wurde nun die an dem beweglichen Kranbalken hängende Tonne langsam hinabgelassen. Doch das Ungeheuer, dem der Angelhaken den aus einer hornartigen Masse bestehenden Oberkiefer durchbohrt hatte, ließ die Tonne nicht los. Stangen wurden herbeigebracht, mit denen man nun die Saugnäpfe von der Wandung der Tonne zu entfernen suchte. Umsonst waren alle Anstrengungen der Matrosen, die oben auf dem Rande des Behälters standen und ihre ganze Geschicklichkeit aufboten, um das Riesengeschöpf von der Angel freizumachen. Nur den Haken vermochte man nach vielen mißglückten Versuchen aus dem Schnabel herauszustoßen.

Dann geschah etwas, woran niemand gedacht, das niemand befürchtet hatte. Urplötzlich ließen die Fangarme des offenbar durch die Stöße der Stangen schwer gereizten Tieres die Tonne fahren, schnellten wie Schlangen durch die Luft und ringelten sich um den rothaarigen Heizer Konnell, einen Irländer von gewaltiger Gestalt, der bei dieser Arbeit einer der eifrigsten und verwegensten war. Im Nu hatte die Meeresbestie den Unglücklichen in das Bassin gezogen und unter Wasser gedrückt. Gleichzeitig ließ sie aus ihrem Tintenbeutel eine dunkle Flüssigkeit (Diese tintenartige Flüssigkeit hat dieser Klasse von Weichtieren den Namen gegeben. Die „Gemeine Sepia“ liefert aus ihrem Tintenbeutel eine braune Masse, die zur Herstellung der bekannten Sepiafarbe benutzt wird.) hervorquellen, die das Wasser derart trübte, daß der Todeskampf des Heizers, der nicht mehr zu retten war, den Augen seiner entsetzten Kameraden vollständig entzogen wurde.

Furchtbare Minuten folgten. Immer wieder wurde das trübe Wasser des Behälters von dem Ringen zwischen Mensch und Tintenfisch in wilde Bewegung gebracht. Doktor Parker hatte, als die übrigen Matrosen sich jetzt ängstlich abseits hielten, selbst eine Stange ergriffen und stieß mit aller Kraft das Ungeheuer in den Rücken. Doch blitzschnell wanden sich drei der Fangarme um die Stange und zogen diese mit einem so plötzlichen Ruck nach unten, daß der Doktor auf dem Bassinrand das Gleichgewicht verlor und kopfüber auf den Kraken herabstürzte.

Da war es der Steuermann Melcher, der dem jungen Gelehrten zu Hilfe kam. Der Dampfer war auch mit Harpunen zum gelegentlichen Fang von Walfischen ausgerüstet. Eine dieser scharfen Harpunen holte Melcher in höchster Eile herbei und zerfetzte damit den knorpeligen Leib des Ungetüms sehr bald derart, daß das Tier den bereits von zwei Armen umschlungenen Doktor freigab, den man nun halb ohnmächtig aus dem Behälter herauszog.

* * *

In all dieser Aufregung hatte niemand auf das Aussehen des Himmels geachtet. Trotz der Abenddämmerung zeichnete sich am nördlichen Horizont deutlich eine große, dunkle Wolke ab, die mit unheimlicher Geschwindigkeit sich ausbreitete und in knappen fünf Minuten das halbe Firmament bedeckte.

Jetzt kräuselte der erste Windstoß die See und ließ langsam den „Montreol“ an seinem einen Anker nach Süden herumschwenken. Dann kam’s wie ein Heulen durch die Luft, und ein Wasserberg von beängstigender Höhe wälzte sich auf den Dampfer zu, dessen Besatzung diesem neuen Unheil halb gelähmt vor Schreck entgegenstierte.

Des Kapitäns Stimme, die gellend diese ersten Trompetenstöße des Orkans übertönte, weckte die Leute aus ihrer Erstarrung. Doch bevor noch der erste der Befehle ausgeführt werden konnte, war die Riesenwoge bereits über das Schiff hinweggestürmt, hatte die Ankerkette zerrissen, den Behälter mit dem halb zerfetzten Kraken und ebenso fünf der Matrosen über Bord gespült, die drei Rettungsboote zertrümmert und den vorderen Mast wie einen Strohhalm umgeknickt.

Dann begann die Maschine zu arbeiten, die Schrauben trieben den „Montreol“ vorwärts und gaben ihm seine Steuerfähigkeit wieder. Gegen den Sturm anzukämpfen wagte der Kapitän nicht. Erst mußte er aus der Nähe der gefährlichen Felseilande heraus, die mit ihren weitvorgeschobenen Riffen jetzt bedrohlicher erschienen als die offene See. Mit südlichem Kurse durchschnitt der Dampfer das tückische Meer, das in einer halben Stunde sein Aussehen völlig verwandelt hatte und Woge auf Woge in stets wachsender Höhe ihm nachschickte.

Die Nacht kam. Kein Stern am Himmel. Ringsum die kochende, tobende See mit ihren in dieser Dunkelheit scheinbar leuchtenden Schaumkämmen, die immer wieder das Deck des „Montreol“ überfluteten und alles mit sich fortnahmen, was nicht niet- und nagelfest war. Dann einige Stunden später ein Krach, der das Schiff urplötzlich an dieselbe Stelle bannte; die Maschine hörte auf zu arbeiten; auch der hintere Mast brach dicht über dem Deck ab und stürzte auf die Kommandobrücke, erschlug den Kapitän und zertrümmerte das Steuerrad.

Schreckensbleich hatte die Mannschaft sich im Schutz des Kajütaufbaues zusammengedrängt. Wilde Rufe, ohnmächtige Schreie der Verzweiflung mischten sich in das Toben der Elemente.

„Wir sind auf ein Riff geraten – der Dampfer sinkt – keine Boote mehr –“, so tönte es durcheinander.

Der „Montreol“ neigte sich stark nach Steuerbord über. Unaufhörlich gingen jetzt die Wogen über ihn weg, hoben ihn ein Stück empor und drückten ihn wieder hinein in den harten Fels, der wie ein Rammsporn sich in seinen Boden festgekeilt hatte.

Eine neue Welle, rauschend, gurgelnd und zischend, schoß herbei, nahm den Dampfer wie ein armselig Stückchen Kork mit und schleuderte ihn auf die nächsten Klippen, brach ihn mitten auseinander und begrub die Wrackteile unter ihren Wassermassen.

Als dies geschah, hatte Fritz Kersten gerade, dem Beispiel des Steuermanns folgend, eine der dicken, korkgefüllten Schwimmwesten übergestreift gehabt. Die Woge faßte ihn, trug ihn davon. Ganz mechanisch machte er mit den Armen einige Schwimmbewegungen, bis er plötzlich das Bewußtsein verlor. Er war mit dem Kopf gegen eine Klippe gestoßen. Und die tödliche Wucht dieses Anpralls wurde nur dadurch gemildert, daß ein anderer menschlicher Körper ihn halb auffing. – – –

* * *

Die ganze Nacht über tobte der Sturm. Erst die Morgendämmerung ließ das dunkle Gewölk verschwinden, brachte zugleich mit dem Tageslicht das schnelle Abflauen des Orkanes.

Ein langgestrecktes Eiland, traurig anzusehen mit seiner steilen Felsenküste und den kahlen, zerklüfteten Gesteinsmassen seines Innern, ragte kaum zweihundert Meter südlich der Stelle, wo der „Montreol“ zerschmettert worden war, aus der noch immer wildbewegten See wie ein schwarzgrauer, häßlicher Fleck hervor. Vor der schmalen Nordseite, wo einige Landzungen wie die Finger einer Hand sich dem Klippengürtel entgegenreckten, der den Untergang des Dampfers verschuldet hatte, stand noch am Vormittag eine haushohe Brandung, deren Donnern und Wüten wie die unausgesetzten Entladungen eines schweren Gewitters klangen. Aber zwischen diesen ausgespreizten Felsenfingern des trostlosen Eilandes war das Wasser bereits etwas zur Ruhe gekommen. Wie spielend netzten nur hin und wieder kleine Wellen die Füße eines regungslos daliegenden Menschen, den ein gütiges Geschick auf das Ufer einer dieser Landzungen gerade an einer flachen Stelle bewußtlos angeschwemmt hatte.

Es war Fritz Kersten, der Schiffsjunge des „Montreol“.

Und höher und höher stieg die Sonne. Ihre warmen Strahlen, ihr helles Licht weckten endlich den Ohnmächtigen. Er richtete sich etwas auf, schaute um sich. Der Kopf war ihm schwer wie Blei, und jede Stelle seines Körpers schien in einen Herd peinigender Schmerzen verwandelt zu sein. Doch zu seinem Glück waren alle seine Glieder heil. Die Klippen hatten es gnädig mit ihm gemeint und ihn mit harten Püffen davonkommen lassen, anstatt ihn zu zerfetzen, wie es dem Rest der Besatzung des „Montreol“ ergangen zu sein schien. So genau der Junge sich nachher auch umschaute und mit den Augen die Ufer gerade dieser eigenartigen Felsenfinger der dahinter liegenden Insel absuchte – nirgends mehr ein Mensch, nirgends …! Ganz allein befand er sich hier im nördlichen Teile des Großen Ozeans.

Mühsam schlich er mit schmerzenden Gliedern auf der Landzunge weiter dem Eilande zu. Hunger und Durst stellten sich ein. Mit fünfzehn Jahren ist unsere Stimmung, der Grad unserer Zuversicht und unseres Mutes, noch allzusehr von einem gefüllten Magen abhängig. Fritz Kersten hatte nur einen Gedanken: etwas Genießbares und Trinkwasser zu finden!

Über der Insel und über der See in der Nähe der Küste schwebten überall wie weiße Punkte zahlreiche Seevögel, – Albatrosse und Möwen der verschiedensten Arten. Wo Vögel sind, müssen auch Eier vorhanden sein, sagte sich der Junge und schritt rüstiger aus. Vor ihm in einer Spalte eines hohen Gesteinblockes glänzte es weiß auf. In einem kunstlosen Nest lagen da drei leicht gesprenkelte Eier. Und weiterhin reihte sich Nest an Nest, zu hunderten wohl. Auf diesem breitesten Teil der Landzunge hatte er glücklich die erste Vogelkolonie entdeckt, und sehr bald war er völlig gesättigt durch die nahrhaften, unangebrüteten Eier, die er sich vorsichtig aus den anderen herausgesucht hatte. Für kurze Zeit war jetzt auch der Durst beseitigt.

Nun hatte er das Südende dieser schmalen Halbinsel, die gerade die mittelste der fünf vorhandenen war, erreicht. Schon wollte er das Eiland selbst betreten und von einer flachen, allmählich ansteigenden Stelle des Strandes aus die steinige Hochebene aufsuchen, die das Innere zu bilden schien, als seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt der östlichsten der Landzungen gelenkt wurde, über dem kreischend und zankend eine Schar jener kleinen Raubmöwenart schwebte, von der die Seeleute behaupten, daß sie in ihrer Gefräßigkeit nicht einmal vor menschlichen Leichen zurückschrecken.

Die Vögel mußten dort auf irgend eine leichte Beute warten. Möglich, daß der Körper eines Matrosen auf den Strand geworfen war, den die Möwen gierig umkreisten. – Zehn Minuten später hatte Fritz Kersten sich Gewißheit verschafft.

Heinrich Melcher, der Steuermann, lag da, noch halb im Wasser, das zerschundene Gesicht aufwärts gekehrt. Scheu und zaghaft war der Junge nähergekommen. Als er dann aber fühlte, daß der Puls des Mannes, der ihn stets mit besonderer Freundlichkeit behandelt und mit dem er sich nur zu gern in der Sprache der deutschen Heimat unterhalten hatte, noch leise schlug, stellte er sofort mit Eifer und Ausdauer Wiederbelebungsversuche an. Und eine Viertelstunde nachher schlug der Steuermann zu seines Retters unaussprechlicher Freude wirklich die Augen auf.

Dieses Wiedersehen zwischen den beiden einzigen Überlebenden des gescheiterten Dampfers, – denn sie waren wirklich allein gerettet worden, hatte etwas Rührendes an sich. Immer wieder drückte Fritz dem Steuermann die Hand. Die Gewißheit, nicht als einziger den Kampf mit der ungewissen Zukunft aufnehmen zu müssen, erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl, dem er den beredtesten Ausdruck gab.

Nachdem Melcher, ein stattlicher, blonder Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, sich leidlich erholt hatte, wozu eine gleichfalls aus Möweneiern bestehende, von dem Jungen herbeigeschaffte Mahlzeit nicht wenig beitrug, strebten sie nun gemeinsam dem Eiland zu, wobei der Steuermann sich schwer auf seinen kleinen Gefährten stützen mußte, da ihm das eine Bein am Kniegelenk stark geschwollen war, ebenso wie er auch sonst allerlei andere, jedoch ungefährliche Verletzungen in der Brandung davongetragen hatte.

Während dieses langsamen, beschwerlichen Marsches sprachen die beiden von dem, was jetzt ihre Hauptsorge bildete: von den Aussichten, auf der Felseninsel ihr Leben fristen zu können, bis ein Schiff sie wieder in bewohnte Gegenden zurückführte.

Daß das Eiland bewohnt sei, hielt Melcher für ganz ausgeschlossen. Er wußte, daß in dieser Gegend des Stillen Ozeans nur unwirtliche, einzelne Inseln vorkamen, die weitab von den wenigen nach Alaska führenden Dampferlinien lagen. Nur Robben- und Walfischfänger konnte ein Zufall einmal hierher bringen, ein Zufall, auf den insofern kaum zu rechnen war, als diese Jagdgebiete von den Fahrzeugen, die es auf den Tran der Säugetiere des Meeres abgesehen hatten, längst gründlich ausgeplündert waren.

„Vielleicht werden wir hier also längere Zeit als Robinsons hausen müssen, Fritz“, meinte Melcher ernst. „Dieser Gedanke darf uns jedoch nicht entmutigen. An uns wird es liegen, von unserer eigenen Umsicht und Schaffenskraft abhängen, wie wir uns unser Leben hier gestalten. Nur eine Sorge quält mich: ob wir Trinkwasser finden werden! Doch das wird sich ja bald ausweisen.“ – –

* * *

Leider bereitete das geschwollene Knie dem Steuermann schon nach dem ersten Teil ihres Weges bis zur Insel hin so starke Schmerzen, daß sie vorläufig unter einem überhängenden Felsen am Strande haltmachen mußten, wo Fritz bis zum Nachmittag andauernd durch kalte Umschläge die Kniegeschwulst seines Leidensgenossen zurückzubringen suchte. Dann aber wurde beider Durst immer quälender. So brachen sie denn wieder auf, um das Innere ihres öden Zufluchtsortes zu durchforschen. Gestützt auf einen starken Ast, den der Junge zwischen angeschwemmtem Treibholz gefunden und mit dem Taschenmesser sauber beschnitten hatte, hinkte Melcher, die Schmerzen verbeißend, neben seinem Gefährten her, der oft genug ein Stück vorauseilte, um den bequemsten Weg auszusuchen.

Endlich waren sie auf der Hochebene angelangt. Nachdem sie nun noch einen Hügel erstiegen hatten, konnten sie das ganze Eiland, das sich der Länge nach von Norden nach Süden erstreckte, überblicken.

Melcher schätzte dessen Breite auf eine halbe Meile, die Länge auf anderthalb Meilen. Der südliche Teil schien weniger zerklüftet zu sein, zeigte aber ebenfalls keine Spur von Vegetation, wenn man von den Moosen und Flechten absah, die auf dem harten Gestein ein kümmerliches Dasein fristeten. Von einem Wasserlauf, einem kleinen See oder dergleichen war nichts zu bemerken. Nackt und düster, nur hier und da von einigen Moosflecken grün gesprenkelt, lag die hügelige, steinige Hochfläche da, deren Steilküste zuweilen bis zu fünfzehn Meter jäh aus dem Meere herauswuchs. Unendlich trostlos war dieses Bild, und selbst die warme Sonne mit ihren freundlichen Strahlen brachte kein Leben in diese tote Steinwüste.

„Sehen wir zu, ob wir nicht irgendwo in einer Spalte angesammeltes Regenwasser, eine natürliche Zisterne, entdecken“, sagte Melcher mit einer Stimme, der er nur mit Mühe einen zuversichtlichen Klang zu geben suchte.

Weiter schritten sie zwischen Steinblöcken dahin, die häufig zu phantastischen Bauten übereinander getürmt waren. Der Steuermann vermochte sich kaum noch vorwärtszuschleppen. Das Knie brannte wie Feuer. Jede Biegung des Beines bereitete ihm die wütendsten Schmerzen. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Oft zuckten vor seinen Augen bunte Sterne auf, die ersten Anwandlungen einer nahenden Ohnmacht. Aber er durfte nicht schwach werden – durfte nicht! Bleich, mit großen Schweißperlen auf der unbedeckten Stirn bezwang er seine Mattigkeit.

Die Sonne näherte sich dem westlichen Horizont. Den ganzen Tag über hatten leichte Nebelschleier das Meer verhüllt. Jetzt gegen Abend wichen sie und zeigten den beiden Gefährten eine zweite Insel als dunklen Fleck im Nordwesten in einer Entfernung, die Melcher auf zwei bis drei Meilen schätzte.

Dann ließ der Steuermann sich plötzlich schwer auf eine niedrige Steinplatte sinken. Er konnte nicht weiter. Seine Augen schimmerten schon im Glanz eines schweren Fiebers, sein Atem ging stoßweise und hin und wieder drang zwischen seinen Lippen ein qualvolles Stöhnen hervor. Und neben ihm saß Fritz Kersten, stützte ihn und sprach ihm Trost zu, redete allerlei, woran er selbst nicht glaubte, – daß er schon für sie beide sorgen, daß er dem Steuermann ein bequemes Lager herrichten und sicherlich dann morgen auch Wasser finden würde.

Melcher hörte nichts mehr. Schwer lag er dem kräftigen Jungen in den Armen. Er war ohnmächtig geworden. – – –

Erst vier Tage später erwachte er wieder, fand sich in einer kleinen Felsengrotte auf weichem Moose liegen, sah neben sich eine ganze Menge Eierschalen stehen, deren Spitzen entfernt waren und die klares, kühles Wasser enthielten, das er sofort gierig zu trinken begann. Durch den schmalen Eingang der vielleicht zehn Quadratmeter großen, unregelmäßig fünfeckigen Höhle drang ein Streifen leuchtenden Sonnenscheines herein. Immer wieder schaute Melcher sich staunend um, richtete sich jetzt zu sitzender Stellung auf und suchte die Ereignisse der letzten Zeit in seinem wirren Kopf zu ordnen. Dann kehrte ihm die klare Erinnerung zurück: der Schiffbruch, seine Rettung, das Wiedersehen mit Fritz Kersten und ihr gemeinsamer Marsch über die öde Hochfläche.

Doch – wo war der brave Junge jetzt? Wo war sein mitleidiger Pfleger, der ihm den kühlenden Umschlag um das Knie gelegt hatte, den er jetzt erst bemerkte, der ihm das Lager zurechtgemacht und ihm das erquickende Naß hingestellt hatte …?

Ein leichter Sehwindelanfall zwang ihn, sich wieder lang auszustrecken. Aber das Gefühl des Geborgenseins, die freudige Gewißheit, unter der Obhut eines fürsorglichen Gefährten zu stehen, ließ die Schwäche schnell in einen gesunden Schlaf übergehen.

Als er nach drei Stunden wieder munter wurde, saß Fritz Kersten neben ihm. Der Junge wehrte alle Dankesworte fast ärgerlich ab. Was er getan habe, sei einfach selbstverständlich, meinte er. Und dann erzählte er ganz eingehend, was er inzwischen erlebt hatte.

Damals vor vier Tagen, als der Steuermann ohnmächtig umgesunken und trotz aller Versuche Kestens nicht wieder zum Bewußtsein zu bringen war, hatte den Jungen zunächst eine tiefe Verzweiflung gepackt. Doch der Gedanke, daß er den Schwerkranken, der bald im Fieber wirre Worte vor sich hinsprach und sehr unruhig war, die Nacht über nicht im Freien lassen konnte, verscheuchte schnell diese Anwandlung von Kleinmut. Und so begann er denn, während die Sonne schon im Meer versank, die Umgebung nach einem geeigneten Unterschlupf zu durchforschen. Ein glücklicher Zufall ließ ihn bereits nach kurzer Zeit die Grotte entdecken, die sich noch tiefer in das Innere der Erde hineinzog und die er erst in ihrem vordersten Teile kennen gelernt hatte. Hierhin schleppte er den Kranken, sammelte Moos zu einem Lager, bettete den Fieberkranken, deckte ihn mit seiner Jacke zu und eilte zum Strande, wo er, seine Strümpfe als Tragnetz benutzend, einen Vorrat von Eiern sammelte. Nach einer schlaflosen Nacht, in der Melcher fortwährend nach Wasser rief und in seinen Fieberträumen mehr wie einmal sein Lager verlassen wollte, nach all diesen endlosen Stunden, die durch die Dunkelheit ringsum noch furchtbarer wurden, dämmerte endlich der Morgen herauf. Da hatte es den Jungen auf gut Glück tiefer in die Höhle hineingetrieben, weil er darin ein Rauschen wie von strömenden Wassermassen vernahm. Aus der Grotte lief ein schmaler Gang nach abwärts. Den hatte Fritz Kersten sich weiter entlanggetastet, vorsichtig jeden Fußbreit des Bodens vorher sorgsam prüfend. Tiefe Finsternis umgab ihn bald. Aber das Rauschen wurde stärker und lockte den Wagemutigen, dessen Kehle ebenfalls schon völlig ausgedörrt war. Und dann benetzte seinen Fuß etwas Kühles, Nasses – Wasser – Wasser!! Er bückte sich, schöpfte ein wenig mit der flachen Hand und schlürfte es über die trockenen Lippen. Es war trinkbar, mehr noch, es schmeckte angenehm und erfrischend. Eine halbe Stunde später hatte er dann aus Eierschalen zahlreiche Trinkbecher gefertigt. Der Weg in die Höhle war ihm bald trotz der Dunkelheit so bekannt, daß er ihn ohne Furcht immer wieder zurücklegte. Nun war das Schlimmste überstanden. Aus seinem Hemde stellte er ein paar Tücher her, die er dem Fiebernden, sie stets feucht haltend, auf die Stirn und das verletzte Knie legte. Langsam wich das Fieber, und die Besserung machte sichtlich Fortschritte, obwohl Melcher zunächst stets nur für kurze Zeit zum Bewußtsein kam und die ihm gereichten rohen Eier ganz mechanisch hinunterschluckte. Die Umstände brachten es mit sich, daß Fritz Kersten in diesen Tagen, wo er ständig für den Kranken sorgen mußte, nicht die Zeit fand, die anderen Teile der Insel zu besuchen. Trotzdem hatte er eine Entdeckung gemacht, die von einer gewissen Bedeutung war und die der Steuermann sich ganz eingehend schildern ließ. Der Schiffsjunge war nämlich näher nach dem Nordufer zu auf eine zweite Grotte gestoßen, die ebenfalls mit einer Höhle, in der sehr vernehmlich ein unterirdisches Wasser rauschte, in Verbindung stand. In dieser Grotte hatte er einen einfachen Herd bemerkt, der aus Steinen errichtet war und auf dem angebrannte Holzstücke lagen, die noch ziemlich frisch nach Rauch rochen. Ferner konnte er auch aus anderen Anzeichen mit Bestimmtheit darauf schließen, daß sich auf der Insel vor kurzem Leute aufgehalten haben mußten oder sogar noch aufhielten. – –

* * *

Melcher, der den frischen Jungen schon immer gern gemocht hatte, konnte ihm gar nicht genug für die treue Pflege danken, der er einzig und allein seine Genesung zuschrieb. Er erholte sich dann im Verlauf weiterer acht Tage so gut, daß er bereits längere Ausflüge in Begleitung seines Gefährten unternahm, um das kranke Knie langsam wieder an Anstrengungen zu gewöhnen.

Von irgend einem lebenden Wesen, das auf dem unwirtlichen Eiland hauste, hatten sie bisher mit Ausnahme der Vögel noch nichts bemerkt. Wenn also wirklich einmal Menschen hier gelandet waren und die Grotte am Nordrande als Schlupfwinkel benutzt hatten, so mußten sie sicherlich für immer wieder von dannen gezogen sein.

Nach einer zweiten Woche glaubte Melcher es wagen zu dürfen, auch einmal bis zum südlichen Teil der Insel vordringen zu können. Inzwischen hatte er trotz der wenig abwechslungsreichen Kost, die lediglich aus eßbaren Muscheln und rohen Eiern bestand, seine früheren Körperkräfte fast ganz wiedererlangt. An einen klaren Morgen traten die beiden Robinsons den Weg nach der Südspitze ihres Eilandes an.

Ihre Wohngrotte lag etwa vier Kilometer vom Nordstrande entfernt in der Mitte der Insel in einem Tale mit ziemlich schroffen Wänden, und es war nicht leicht für sie, an der südlichen Seite einen Aufstieg nach der Hochfläche zu finden, zumal der Steuermann steilere Stellen in Rücksicht auf sein noch immer etwas steifes Kniegelenk nicht betreten durfte. Zunächst glich das landschaftliche Bild hier jenseits des Tales genau dem unwirtlichen, zerklüfteten Plateau, das sie bisher kennen gelernt hatten. Dann änderte sich die Bodengestaltung. Das Land wurde ebener, war dafür aber wieder von tiefen Spalten zerrissen, die Melcher, ein vielseitig gebildeter Mann, auf vulkanische Einwirkungen zurückführte.

Plötzlich trug ihnen der leichte Südwestwind einen eigenartig scharfen Geruch zu. Melcher blieb stehen und sog prüfend die Luft ein.

„Das duftet wie Petroleum, Fritz, nicht wahr?“ fragte er nachdenklich.

„Gewiß, Steuermann, und sogar recht durchdringend“, bestätigte der Junge eifrig. „Merkwürdig, – wo soll hier Petroleum herkommen …?!“ fügte er hinzu.

Melcher schritt schon in beschleunigter Gangart weiter. Dabei erklärte er mit einer gewissen Erregung:

„Du vergißt, daß Petroleum eigentlich überall da zu finden ist, wo stärkere Sandsteinschichten in den obersten Teilen der Erdkruste vorkommen. Unsere Insel ist nun nichts anderes als ein riesiger Sandsteinblock, und daher erscheint es mir gar nicht ausgeschlossen, daß es hier vielleicht eine Petroleumquelle gibt. In Amerika hat man unzählige solche Erdölquellen entdeckt, die ganze Täler schließlich mit dem wertvollen Naphtha ausfüllten, so daß man nicht zu Unrecht von Petroleumseen spricht. Die Entstehung dieser Erdölseen kann eine verschiedene sein: einmal auf natürliche Weise dadurch, daß das in den Hohlräumen der Gesteinsmassen aufgespeicherte Petroleum durch Erdbeben gewaltsam durch Spalten und Klüfte in höhere Schichten, ja bis an die Oberfläche, gedrückt wird; dann aber auch eine künstliche, indem bei Bohrversuchen nach Erdöl der Bohrer gerade in einer Erdsenkung auf ein reiches Naphthalager trifft, das unter hohem Druck im Erdinnern eingeschlossen ist und nun seinen Inhalt oft wie eine Fontäne nach Herausziehen des Bohrers in die Luft schleudert und die Senkung bald mit Petroleum anfüllt. Ich habe gerade im verflossenen Sommer die reichsten Ölgebiete Nordamerikas, die in Pennsylvanien zu finden sind, besucht. Dort erlebte ich es, daß eine solche frisch erbohrte Erdölquelle stündlich 30 000 Kilogramm Petroleum lieferte.“ (Am ergiebigsten sind die Petroleumbrunnen zu Baku am Kaspischen Meer. Dort lieferte z. B. 1883 die Druschbaquelle täglich 8 Millionen Kilogramm. In Deutschland gibt es in Braunschweig besonders ertragreiche Quellen, so in Wietze und Steinförde, wo 1903 etwa 40 000 Tonnen gewonnen wurden.)

Die beiden Robinsons hatten inzwischen den Kamm eines niedrigen Höhenzuges erreicht, von wo aus sich ihnen nun ein genauer Überblick über die letzten vier Kilometer des Südteiles der Insel bot. Jetzt sahen sie auch etwas wie einen von flachen Ufern umgebenen See vor sich liegen, dessen Oberfläche im Sonnenschein eine ins Blaugrüne spielende Färbung zeigte. Schon hatte der Steuermann den Mund geöffnet, um laut auszurufen: „Ein Petroleumsee!!“ als der Schiffsjunge mit hartem Griff seinen Arm packte und auf die Gestalten dreier Männer deutete, die links von ihnen in eiligem Lauf soeben eine breite, ebene Fläche passierten. Die Leute waren in Felle gekleidet, hatten lange verwilderte Bärte und in jeder Hand mehrere Gefäße, die wie große Blechkannen aussahen. Der letzte von ihnen, der einige Schritte zurückgeblieben war, trug auch über dem Rücken eine Flinte.

Aus dem Benehmen der Männer ging deutlich hervor, daß sie möglichst schnell aus der Nähe der beiden neuen Bewohner des Eilandes fortzukommen trachteten. Als Melcher ihnen jetzt ein lautes „Hallo!“ zurief, kümmerten sie sich nicht im geringsten darum, rannten vielmehr nur noch schneller davon.

Der Steuermann besann sich nicht lange.

„Schneiden wir ihnen den Weg ab! Vorwärts – da nach links hinüber! Wir müssen wissen, wer außer uns noch auf der Insel haust!“

Mittlerweile waren die drei zwischen den Hügeln verschwunden. Melcher und Kersten hatten dann etwa 150 Meter in raschen Trab zurückgelegt, als ihnen eine befehlende Stimme ein lautes „Halt, bleibt stehen, oder ich schieße!“ auf Englisch entgegenbrüllte.

Doch der Steuermann lachte nur übermütig auf und schlug die Richtung auf den Felsblock ein, hinter dem ein Büchsenlauf drohend hervorragte. Melcher glaubte nicht daran, daß der Fremde wirklich abdrücken würde, hatte sich aber getäuscht. Plötzlich blitzte ein Schuß auf, und eine Anzahl Schrote pfiffen dicht über dem Steuermann hinweg, der jetzt mit einer ärgerlichen Verwünschung stehen blieb.

„Ihr rührt Euch vorläufig nicht vom Fleck!“ befahl der Unsichtbare wieder. „Mein zweiter Schuß ist keine Warnung mehr!“

„Zum Henker – wir wollen Euch nur auf ganz höfliche Weise begrüßen!“ rief Melcher. „Nehmt doch Vernunft an, alter Freund! Wir sind harmlose Schiffbrüchige, die keiner Fliege was zu Leide tun – mein Wort darauf!“

Aber eine Antwort blieb aus, selbst der drohende Gewehrlauf zeigte sich nicht mehr.

Melcher wurde die Geschichte bald langweilig.

„Sagen Sie mal, Verehrtester“, fragte er wieder in englischer Sprache, „sind Sie eigentlich noch da? Wie lange sollen wir denn hier noch als Scheiben für Sie stehen bleiben?“

Nichts regte sich. Da sagte der Steuermann leise zu seinem Gefährten: „Ich wette, der Kerl ist längst ausgerissen! Es kam ihm nur darauf an, einen Vorsprung zu gewinnen! Ich wage es und werde mal hinter den Felsblock schaun!“

Ehe der Junge ihn noch zurückhalten konnte, war er schon weitergeeilt, und gleich darauf erklang seine Stimme hinter dem mächtigen Steine hervor, der halb den Eingang zu einer engen, nach Norden zu hinlaufenden Schlucht verdeckte.

„Was habe ich gesagt, Fritz: natürlich sind die drei auf und davon! – Komm einmal her. – So – wofür hältst Du wohl diesen dunklen Fleck hier auf dem grauen Sandstein? Beuge Dich tiefer – rieche mal! Na …?“

„Petroleum!“ meinte der Junge verwundert.

„Allerdings – ein Petroleumfleck! Und hier – wieder ein verlaufener Tropfen – dort abermals! – Weißt Du, Fritz, was die Kerle in den merkwürdigen Gefäßen mit sich fortschleppten? – Erdöl, Naphtha, Petroleum, oder wie wir dieses Naturprodukt sonst nennen wollen! Dort, wo der große Fleck sich so deutlich abzeichnet, hat der Schütze seine Kannen, von denen eine nicht ganz dicht sein muß, hingestellt, um uns liebenswürdig mit der Schrotladung begrüßen zu können.“

Der Steuermann war inzwischen tiefer in die Schlucht eingedrungen, gefolgt von Fritz Kersten, der jetzt unzählige Fragen an seinen Gefährten richtete, die dieser leider sämtlich nicht beantworten konnte. Tief gebückt weiterschreitend, suchte Melcher mit seinen scharfen Seemannsaugen nach neuen Petroleumtropfen, die ihn vielleicht zu dem Schlupfwinkel der drei hinführen würden. Tatsächlich fand er hier und da einen dieser so bezeichnend riechenden Flecke, und auch der Schiffsjunge lag bald wie ein guter Spürhund auf dieser seltsamen Fährte.

Freilich – bei dieser Art von Verfolgung kamen sie nur äußerst langsam vorwärts. Der Petroleumsee, der Südteil der Insel – alles war vergessen. Melcher beherrschte nur ein Gedanke: festzustellen, wer diese in Felle gekleideten Männer waren, die ohne Frage gleichfalls die Insel bewohnten und ein recht schlechtes Gewissen haben mußten, da sie sogar vor den beiden unbewaffneten Schiffbrüchigen so hastig und ängstlich das Weite gesucht hatten.

Die Petroleumtropfen führten auf allerlei kleinen Umwegen, aber stets über recht bequem zu überschreitenden Boden nach Norden zu. Einige Male verloren Melcher und der Junge die Spur, suchten dann aber stets unermüdlich weiter, bis sie den nächsten Fleck entdeckt hatten. So gelangten sie allmählich bis in die Nähe der Nordküste, wo Fritz Kersten bereits recht gut Bescheid wußte.

Mit einem Mal blieb er dann vor einem engen, von zwei Felsblöcken gebildeten Durchgang, der in ein kleines Tal hineinlief, stehen und sagte leise:

„Steuermann, ich glaube, ich weiß wo die Kerle stecken: in der zweiten Grotte, wo ich die Überreste des Feuers fand! – Dort an der linken Seite der Talwand geht von einer schmalen Terrasse ein breites Loch in den Abhang hinein. Und dieses Loch ist der Eingang jener Höhle!“

„Wenn Du nur recht hättest“, meinte Melcher. „Schleichen wir weiter. Unnötigen Lärm können wir ja vermeiden. Der Mann mit dem Gewehr behagt mir doch nicht so ganz.“

Die vereinzelten Petroleumtropfen endigten wirklich vor der Grotte, in die der Steuermann dann, da drinnen sich nichts rührte, als erster und für alle Fälle mit einem Stein bewaffnet eindrang.

Sie war leer. Und doch mußten die drei Männer noch vor kurzem hier gewesen sein. Das bewies ein ähnlicher Petroleumfleck von derselben Größe wie der, den Melcher im Süden der Insel hinter dem Felsblock zuerst wahrgenommen hatte. Dieser Fleck befand sich auf dem Boden neben dem einfachen Herde, auf dem noch die Reste eines Holzfeuers glimmten.

Es hätte nicht viel gefehlt, und Fritz Kersten würde seinen Gefühlen beim Anblick der glühenden Aststücke durch einen lauten Jubelruf Ausdruck gegeben haben. Aber er bezwang sich, obwohl Grund genug vorhanden war. Alle möglichen Versuche hatten ja die beiden Robinsons bereits angestellt, um sich Feuer zu beschaffen, hatten Hölzer aneinander gerieben, mit Steinen Funken geschlagen und trockenes Moos daran gehalten, die Gläser ihrer Uhren zu einem Brennglas zu vereinigen gesucht, – alles vergeblich! Sie mußten weiter sich von rohen Eiern und Schnecken und Muscheln nähren, die sie nur noch mit Widerwillen hinunter bekamen. – Und jetzt endlich –: glühende Holzstücke, und neben dem Herde gleich ein Haufen Treibholz, von dem man nur einige Splitter abzuschneiden und auf die Glut zu werfen brauchte …!!

Und das war denn auch das Nächste, was der Junge auf Geheiß des älteren Gefährten tat, während dieser eifrig nach der Fortsetzung der Petroleumspur suchte.

Gerade als die ersten stärkeren Zweige auf dem Herde lodernd aufflammten, tauchte der Steuermann eilig aus dem Hintergrunde der Grotte von dort wieder auf, wo diese sich plötzlich zu einem ziemlich steil abfallenden Schlunde verengerte, aus dem fernes, leises Rauschen heraustönte. Er war sichtlich erregt, und auch in dem Klang seiner Stimme machte sich diese Erregung deutlich bemerkbar.

„Fritz, ich habe soeben etwas beobachtet, wofür ich vorläufig keine Erklärung finde“, wandte er sich an seinen treuen Geführtem „Während Du hier das Feuer neu entfachtest, bin ich ein Stück in dem Schlund abwärts gestiegen, bis ich plötzlich tief unter mir drei rotglühende Punkte bemerkte, die sich bei näherem Hinsehen als in ziemlicher Entfernung brennende Fackeln entpuppten, die von unseren drei Ausreißern gehalten wurden. Langsam gewöhnten meine Augen sich immer mehr an das in der Ferne flackernde Licht, bei dessen Schein ich schließlich erkannte, daß die Männer am Ufer eines die riesige Höhle durchfließenden Wasserlaufes standen und ihre Gefäße in ein … kleines Boot verluden, welches sie gleich darauf bestiegen, um wenige Minuten später mit ihrem Fahrzeug in einem weiten Felsentor zu verschwinden, in das der unterirdische Fluß einbog. Ich glaubte zu träumen, als ich dies alles von weitem mitansehen durfte, und doch war es Wirklichkeit! Bedenke, daß jener Wasserlauf die Fremden nach Nordwesten zu entführte, also nach dorthin, wo unsere Insel sehr bald nur noch ihre steinernen Finger und ihren Klippengürtel in die See hinausschickt, wo das endlose Meer beginnt, unter dem jener Nachen jetzt vielleicht in den Tiefen der Erde dahinschwimmt – vielleicht – vielleicht!! Dieser Gedanke ist ja so phantastisch, so kühn, daß man sich nicht vorzustellen vermag, er könnte wahr sein.“

Fritz Kersten hatte, tatsächlich ganz starr vor Staunen, zugehört. Jetzt warf er eine Hand voll frischer Äste auf das Feuer und sagte freudestrahlend:

„Steuermann, das ist heute ein Tag! Jetzt beginnt mir unsere Insel erst Spaß zu machen! Bisher fehlte ihr so alles Geheimnisvolle, Merkwürdige! – Was meinen Sie dazu, wenn wir uns sogleich aus dem Rest dieses Brennmaterials ein paar Fackeln herstellen würden und die Riesenhöhle mal untersuchten. Ich habe beinahe die feste Überzeugung, daß der Fluß da unten derselbe ist, aus dem wir unser Trinkwasser schöpfen.“

Doch Melcher war für diesen Plan nicht zu haben, wenn er ihn auch nur für einige Stunden hinausschieben wollte.

„Zunächst haben wir Wichtigeres zu tun“, erklärte er. „Den drei Männern und ihrer geheimnisvollen Flußfahrt können wir auch nachher noch nachspüren, sobald wir in unserer Felsenwohnung ein gehöriges Feuer angezündet haben, welches uns die Sicherheit gibt, daß es in unserer Abwesenheit nicht erlischt. Außerdem brauchen wir für diese Expedition eine ganze Menge Fackeln, und – die Hauptsache! – mein Magen verlangt bereits sehr dringend nach einer Stärkung. Aus all diesen Gründen mußt Du Deinem Tatendrang noch etwas die Zügel anlegen, lieber Fritz. Am Nachmittag dürften wir dann mit unseren Vorbereitungen fertig sein und können den Abstieg in das Innere der Erde beginnen.“ –

Eine Stunde später hatten der Steuermann und der Schiffsjunge in ihrer Grotte ebenfalls einen Herd errichtet, auf dem dann ein lustiges Feuer flackerte, für das sie das nötige Brennmaterial am Nordstrande sammelten. Bei dieser Gelegenheit, als sie die weit in die See vorspringenden Landzungen nacheinander absuchten, um angeschwemmtes Holz zu bergen und in Haufen aufzuschichten, fanden sie auch einige Wracktrümmer des „Montreol“, – Planken, den Hintermast mit vielen für sie sehr wertvollen Tauen und eisernen Haken und Bändern, und schließlich eine der Tonnen, die zu der Krakenangel gehört hatte und an der noch einige achtzig Meter der starken Stahltrosse hingen. Die aus verzinktem Eisenblech bestehende, drei Meter hohe und einen Meter breite Tonne war freilich in der Brandung übel zugerichtet worden, hatte viele Beulen, war aber im übrigen noch völlig wasserdicht. Auch sie wurde noch an demselben Tage nach der Felsenwohnung der beiden Robinsons geschafft, die mit dem Transport all dieser Dinge so reichliche Arbeit bekommen hatten, daß sie die Forschungsreise nach der Riesenhöhle auf den nächsten Morgen verschoben.

* * *

Nicht geringes Kopfzerbrechen bereitete dem Steuermann die Frage nach der Beschaffung eines Geschirrs, um darin Möweneier und eine Art von Krabben, die am Strande zu Tausenden vorkamen, kochen zu können. Das Verlangen, endlich einmal wieder etwas Warmes zu genießen, war bei den beiden Gefährten so stark, daß die Kochtopfangelegenheit beinahe ihren einzigen Gesprächsstoff bildete, während sie mit vereinten Kräften die an den Strand getriebenen Gegenstände nach ihrem Schlupfwinkel trugen. An das Nächstliegende, die Tonne, dachten sie erst ganz zuletzt, und zwar war es Fritz Kersten, der den Vorschlag machte, man solle aus dem Zinkblech der Tonne so etwas wie eine flache Schüssel herstellen, was wohl trotz des mangelnden Handwerkszeuges gehen würde.

Der Steuermann brach dann mit Hilfe eines Steines, den er als Hammer benutzte, den fest angeschweißten Deckel der Tonne los, und bog ihn über einem anderen Stein, der ziemlich rund war, zu einem plumpen Blechbeutel zusammen, dessen Verwendbarkeit als Kochgeschirr sie sofort erprobten. Der merkwürdige Blechtopf genügte allen Ansprüchen, und bald konnten sie eine Mahlzeit weicher Eier und dazu eine kräftige Krabbensuppe zu sich nehmen.

Nach Eintritt der Dunkelheit saßen sie dann neben ihrem lustig flackernden Feuer und berieten, wie sie nunmehr mit Hilfe der heute geborgenen Wrackteile ihre Wohnung sich behaglicher einrichten wollten. Unwillkürlich aber lenkte die Unterhaltung doch immer wieder auf die rätselhaften Fremden über, die in ihrem kleinen, mit den gefüllten Petroleumbehältern beladenen Boot sich ohne Scheu dem unterirdischen Flusse anvertraut und die diesen dunklen Weg in den Tiefen der Erde offenbar nicht zum ersten Mal zurückgelegt hatten. – –

* * *

Am nächsten Morgen traten sie dann wie verabredet den Ausflug nach der Riesenhöhle an. Versehen mit einem Dutzend von Fackeln, die sie aus Zweigen und trockenem Moos herstellten und von denen sie nur immer eine brennend erhielten, stiegen sie zunächst aus ihrer Grotte durch den Gang abwärts bis zu jener Stelle, wo Fritz Kersten bisher stets in tiefster Dunkelheit das Trinkwasser geholt hatte.

Jetzt sahen sie beim Scheine ihrer Fackel, daß ein Fluß von recht unregelmäßiger Breite ihnen das ersehnte Naß gespendet hatte. Dieser durchströmte eine Höhle von gewaltiger Ausdehnung, entsprang einer im Süden gelegenen Felswand in Gestalt eines breiten, stark rauschenden Wasserfalles und floß mit wechselndem Gefälle, oft kleine Stromschnellen bildend, bald wieder gemächlich dahingleitend, nach Norden zu. Der Boden der Riesenhöhle war zumeist eben und nur hier und da von Gerölltrümmern bedeckt. Ungleichmäßig hoch war auch die Felswölbung, die diesen mächtigen Hohlraum überspannte.

Die beiden Robinsons hielten sich dicht am rechten Ufer des Wasserlaufes und folgten diesem nach Norden zu. Die Wanderung durch diese schweigende Welt, in der nur das ferne Rauschen des Wasserfalles, das Plätschern der Stromschnellen und das Knistern der lodernden Fackel zu hören waren, übte besonders auf den Steuermann einen besonderen Reiz aus. Fritz Kersten dagegen empfand lediglich das Abenteuerliche dieses Marsches und drängte fortwährend zur Eile,[2] da er möglichst schnell an das Felsentor gelangen wollte, in das gestern das Boot mit den drei Männern untergetaucht war.

Daß diese Höhle und auch der Fluß dieselben waren, die man auch von der zweiten, am Nordstrande gelegenen Grotte aus erreichen konnte, unterlag jetzt keinem Zweifel mehr. Und nach einer guten halben Stunde fanden Melcher und Fritz dann auch den ziemlich steil abfallenden Felsschlund, der aus der zweiten Grotte in die Riesenhöhle hinabführte und von dessen oberem Ende aus der Steuermann die drei Leute unten an dem unterirdischen Fluß beobachtet hatte.

Dieser Felsschlund hatte eine Länge von achtzig Meter, wie Melcher später feststellte, und verlief schnurgerade. Sein Boden war rissig, bot den Füßen sicheren Halt und entbehrte doch vollständig tieferer, gefahrdrohender Spalten. Betrat man ihn und stieg darin ein Stück aufwärts, so ließ sich unschwer die Stelle bestimmen, wo das Fahrzeug der drei Männer am Ufer des Flüßchens, das hier eine Breite von gut vier Meter hatte, gelegen haben mußte. Fritz Kersten fand dort denn auch auf dem feinen, ausgewaschenen Geröll des Ufers den deutlichen Eindruck eines flach gewölbten Bootsbodens, außerdem halbverkohlte Teile einer Fackel, die aus Harz, Moos und den frischen Zweigen eines Nadelbaumes hergestellt war. Wenige Minuten später standen die beiden Robinsons vor dem etwa drei Meter hohen und fünf Meter breiten Tunnel, in dem der Fluß verschwand. Ein starkes Brausen drang draus hervor, so daß Melcher überzeugt war, der Wasserlauf müsse weiterhin entweder einen Fall oder doch zum mindesten ausgedehnte Stromschnellen bilden.

Da man noch fünf Fackeln besaß, beschloß der Steuermann, auch dem jenseitigen Ufer des Flüßchens einen Besuch abzustatten, um auch die Ausdehnung der Höhle nach dorthin zu erforschen. Hier nun stieß man auf eine Anzahl von kleineren Nebenhöhlen, in denen man verschiedene Überreste von jenen Riesengeschöpfen fand, die man Saurier nennt und die in den ältesten Zeiten der Erde gelebt haben. Die Skelette dieser Riesenreptilien, Ichthyosaurier, Dinosaurier, Enaliosaurier usw., die zum Teil eine Länge von 25 Meter besessen haben, waren leider nur noch in Bruchstücken erhalten. Als Melcher seinem jungen Freunde erklärte, daß diese Tiere als die Vorgänger unserer heutigen Eidechsen zu gelten haben, hob Kersten kopfschüttelnd den gut anderthalb Meter langen Schulterknochen eines Ichthyosaurus auf und meinte:

„Wenn Sie es sagen, Steuermann, wird es ja wohl stimmen, obwohl dieser Knochen mehr zu einem Elefanten als zu einer Eidechse zu passen scheint.“

Melcher nickte lächelnd. „Und doch sind es Eidechsen gewesen, wie die Wissenschaft längst festgestellt hat. Besonders in Amerika hat man viele Reste solcher Saurier gefunden. In einem New-Yorker Museum sind diese einzelnen Teile zu vollständigen Skeletten zusammengesetzt worden. Vergiß nicht, sie Dir später einmal anzusehen. Jedenfalls würden diese Höhlen hier für jeden Naturforscher ein Studienmaterial von großem Werte darstellen. Für uns bleiben es uralte Knochen, aus denen wir vielleicht durch Brennen und Zerstampfen eine Art von Mörtel gewinnen können, der uns die geplanten Arbeiten an unserer Behausung wesentlich erleichtern wird.“

Dann traten sie den Rückweg nach ihrer Grotte an. Beide waren von dem Erfolg dieses Ausfluges nicht ganz befriedigt. Ihre Hoffnung, dem Geheimnis, das die drei Männer umgab, näher auf die Spur zu kommen, hatte sich nicht erfüllt. Die Frage, wohin diese sich mit ihrem Boote gewandt hatten, blieb ungelöst wie vordem. Nur eine ungewisse Vermutung sprach Melcher über diesen Punkt aus. Er meinte, der Fluß würde vielleicht die Verbindung nach einer zweiten Höhle bilden, in der die Fremden hausten. – Freilich, diese Höhle hätte dann bereits unter dem Meeresboden liegen müssen! Und weiter – woher hatten die Leute das frische Harz und die frischen Äste des Nadelholzbaumes, aus denen ihre Fackeln bestanden …? – Dies waren wieder Einwendungen, durch die des Steuermanns Ansicht bedenklich ins Wanken kam. – –

* * *

In den nächsten zwei Monaten August und September ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Diese Zeit hatten die beiden Gefährten dazu benutzt, eine ganze Reihe von Arbeiten zu erledigen, die einmal ihre Wohnung zu längerem Aufenthalt geeigneter machten, dann aber auch ihnen verschiedene notwendige Werkzeuge verschafften.

So hatten sie den nach der Riesenhöhle führenden Gang bis auf eine kleine Pforte, die durch eine Tür aus Schiffsplanken verschlossen war, zugemauert, ebenso wie auch der Eingang zu der Grotte durch eine Mauer, in der man nur eine Türöffnung anbrachte, versperrt wurde. Das notwendige Bindemittel für die Felsstücke, die man zu einem festen Ganzen vereinigen wollte, lieferten die Saurierknochen, deren Kalkbestandteile auf diese Weise praktisch verwertet wurden, ganz wie Melcher dies schon vorausgesagt hatte.

Auch als Schmiede versuchten die beiden Leidensgefährten sich mit gutem Erfolg. Die Eisenteile des gefundenen Mastes des „Montreol“ reichten gerade dazu hin, um daraus allerdings erst nach vielem Probieren, zwei große Beile, zwei Meißel, einen Hammer, eine Anzahl Nägel und Lanzenspitzen zu fertigen.

So ungeschickt diese Werkzeuge auch aussahen, sie erfüllten doch ihren Zweck und machten es den Schiffbrüchigen möglich, auch allerlei Zimmermanns- und Tischlerarbeiten in Angriff zu nehmen, von denen die Anfertigung zweier Türen für die Maueröffnungen der Grotte sowie eines Tisches und zweier Schemel zuerst erledigt wurde.

Inzwischen versäumten Melcher und der Schiffsjunge es nicht, täglich nach den Landzungen zu wandern, um nach Wracktrümmern und Treibholz zu suchen und sich in der großen Höhle reichliche Vorräte von Brennmaterial aufzuschichten. Da eine ziemlich kräftige Meeresströmung am Nordteil der Insel vorüberging, war die Ausbeute dieser Strandwanderungen zumeist recht ergiebig. Sogar mehrere Baumstämme, die offenbar aus den Waldungen Alaskas stammten und von einem Fluß in die See getragen worden waren, wurden an die Ufer der Landzungen angeschwemmt, nachdem die Brandung sie über den Klippengürtel hinweggetragen hatte.

Soweit ging es den beiden Robinsons also ganz gut. Nur die Ernährungsfrage bereitete ihnen viele Schwierigkeiten, bis der Steuermann eines Tages auf den Gedanken kam, einen Räucherofen zu bauen, um mit dessen Hilfe genügende Fleischmengen haltbar zu machen und sich Vorräte für den Winter, der in diesen Gegenden recht streng sein mußte, zu besorgen.

Junge Möwen, die man durch Steinwürfe erlegte, und Fische, die mit der Angel gefangen wurden, lieferten das Fleisch, das zunächst einige Tage eingesalzen wurde und dann in den Räucherofen kam. Salz fand man in genügender Menge auf den Landzungen in Spalten und flachen Aushöhlungen des Gesteins, wo es nach Verdunsten des Wassers als Rückstand der salzhaltigen Meeresflut in weißlichen Schichten sich ablagerte. Die nötigen Bottiche zimmerten sich die Gefährten aus den angetriebenen Planken, indem sie die Fugen mit dem aus den Saurierknochen gewonnenen Mörtel, der schnell erhärtete, abdichteten.

Auch den Petroleumsee hatten sie einige Male besucht. Dieser besaß einen Durchmesser von etwa dreihundert Meter und schien ziemlich tief zu sein. Da an der Luft, besonders aber unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen, ständig eine Verdunstung des Erdöls stattfand, ohne daß der Inhalt des Beckens sich verringerte, mußte dieser notwendig durch eine aus dem Seeboden hervorsprudelnde Petroleumquelle stets wieder nachgefüllt werden. Neben dieser ungeheuren Naphthaansammlung weiter nach Süden zu drangen aus einigen Spalten des Gesteins mit pfeifendem Geräusch Erdgase hervor, die überall da vorkommen, wo Petroleum (Petroleum besteht [ebenso das Naturgas] aus einem Gemisch von Kohlenwasserstoffen. Über seine Entstehung ist die Wissenschaft nicht ganz einig. Zutreffend dürfte die Ansicht sein, daß es ein Zersetzungsprodukt tierischer Stoffe, besonders solcher von Fischen, Muscheln, Krebs- und Korallentieren ist, die, in ungeheuren Mengen in den Erdschichten eingeschlossen, durch Druck und Wärme ihre öligen Bestandteile ausgeschieden haben) anzutreffen ist.

Melcher hatte es nicht verabsäumt, bei der Entdeckung dieser Erdgase dem Schiffsjungen einiges Wissenswerte über dieses Naturprodukt mitzuteilen, das in Nordamerika ebenso wie das Petroleum erbohrt und dann zu Beleuchtungs- und Heizzwecken verwandt wird. Es gibt dort nicht weniger als 3800 Naturgasbrunnen, die sämtlich für die Industrie und für Privathaushaltungen Licht und Feuerung liefern. Einer dieser Gasbrunnen spendet täglich nicht weniger als 3 200 000[3] Kubikmeter Erdgas, dessen Leuchtkraft durchschnittlich zwar nur halb so groß wie die des künstlich hergestellten Steinkohlengases, dafür aber um ein Drittel billiger ist und um ebensoviel mehr Wärme ausstrahlt. Starke Erdgasquellen gibt es auch im Kaukasus, ebenso wie die asiatischen Feueranbeter brennende Erdgasquellen als „ewige Feuer“ schon im Altertum verehrt haben. – –

* * *

Der Gedanke, das so reichlich vorhandene Petroleum zur Beleuchtung ihrer Grotte zu verwenden, beschäftigte den Steuermann fast täglich, ohne daß es ihm gelingen wollte, eine brauchbare Lampe, deren Docht nicht allzu viel Ruß absonderte, anzufertigen. Die Aussicht, sich während des Winters lediglich mit dem Herdfeuer begnügen zu müssen, das jetzt in dem neuen, halb geschlossenen Ofen brannte und seinen Rauch durch einen Schornstein durch die vordere Mauer ins Freie abführte, stachelte den erfinderischen Geist Melchers zu stets neuen Versuchen an. Trotzdem mußte er die Sache schließlich aufgeben, da das ungereinigte Erdöl (das in den Handel kommende Petroleum wird vorher „destilliert“) einen so unangenehmen Geruch verbreitete und so stark qualmte, daß niemand es in der auf diese Weise erleuchteten Grotte ausgehalten haben würde. – –

Ende September sank die Temperatur bereits beträchtlich. Kalte Nebel stellten sich ein, und heftige Stürme tobten oft tagelang und machten den Aufenthalt am Strande oder auf den kahlen Felshöhen fast unmöglich.

Die ersten Oktobertage brachten dann wieder besseres Wetter. An einem windstillen, sonnenklaren Vormittag waren die beiden Robinsons nach den Landzungen gewandert, um ihre Holzvorräte wieder einmal zu ergänzen. Schon von weitem sahen sie, daß der letzte Orkan ihnen einen seltenen Fund beschert hatte, den riesigen Körper eines verendeten Walfisches, den die Brandung auf die westlichste der Landzungen gespült hatte.

Bei dem Anblick des mächtigen, schwarzgrauen Kadavers, um den bereits unzählige beutelüsterne Seevögel kreisten, stieß Melcher einen jubelnden Freudenruf aus.

„Dieses Tier wird uns durch seinen Tran Licht spenden und es uns durch seine Haut ermöglichen, ein Boot zu bauen, mit dem wir dem Laufe des unterirdischen Flusses folgen können“, sagte er zu dem Schiffsjungen. „Vorwärts denn! Beginnen wir sofort damit, aus dem Rücken des Tieres große Hautstücke mit den scharfen Spitzen unserer Lanzen herauszuschneiden. Nun haben wir wieder Arbeit in Hülle und Fülle! Ich beabsichtige nämlich, ein festes Gerippe für ein kleines Boot zusammenzuzimmern, über das wir dann die noch frische Haut spannen werden. Sehen wir zu, ob wir nicht sogar ein so großes Hautstück auf einmal loslösen können, daß es für das Überziehen des geplanten Fahrzeuges ausreicht.“

Die Hoffnung, baldigst auf einem eigenen Boot die abenteuerliche Reise auf dem unterirdischen Fluß antreten zu können, spornte auch Fritz Kerstens Eifer aufs äußerste an. Am Abend dieses Tages waren die beiden Gefährten daher im Besitz großer Mengen von Walfischspeck, der sich leicht zu Tran ausschmelzen ließ, und der ganzen Rückenhaut, die sie in drei fast gleichgroße Stücke zerschnitten hatten. Das größte von diesen besaß vier Meter Länge und drei Meter Breite, mußte also zum Überzug eines Bootes, das nur zwei Männer tragen sollte, genügen.

Am nächsten Tage wurde das Gerippe eines flachen Fahrzeuges ebenfalls fertig. Und wieder einen Tag später konnte man das Boot, das man aus den einzelnen Teilen in der Höhle beim Scheine zweier Feuer dicht am Flusse zusammengesetzt und dann mit der dicken, jetzt noch biegsamen Haut überzogen hatte, zu Wasser bringen. Eine kurze Probefahrt verlief zu Melchers vollster Zufriedenheit. Dieser Ledernachen war nicht nur äußerst widerstandsfähig und völlig wasserdicht, sondern auch so leicht, daß die beiden Gefährten ihn ohne Mühe tragen konnten. – –

* * *

Am Abend dieses selben Tages war der Schiffsjunge nach Einbruch der Dunkelheit nochmals durch den Gang in die Riesenhöhle hinabgestiegen, um Trinkwasser aus dem Flusse zu holen. Auch Melcher hatte die Grotte verlassen und war nach einem nahen Hügel gegangen, da man bei Sonnenuntergang einen Dampfer bemerkt hatte, der in weiter Ferne mit dem Kurse auf die im Nordwesten liegende Nachbarinsel dahinfuhr, und da der Steuermann feststellen wollte, ob das Schiff inzwischen vielleicht eine andere Richtung eingeschlagen habe und womöglich in der Nähe ihres Eilandes ankere. Doch nirgends waren auf See die Lichter eines Schiffes zu sehen. Dafür erblickte Melcher aber in der mondhellen, sternenklaren Nacht etwas anderes: drei Gestalten, die wie Gespenster etwa zweihundert Meter nach Osten zu soeben eine kleine Ebene eilig überschritten und dann verschwanden. Es waren die geheimnisvollen Fremden …! Ganz deutlich hatte der Steuermann trotz des ungewissen Lichtes erkannt, daß sie wieder die großen Gefäße in den Händen trugen.

Sofort eilte er nach der Grotte zurück und berichtete Fritz Kersten, was er soeben beobachtet hatte. Nach kurzer Beratung begaben beide sich dann in die Riesenhöhle und wanderten, ausgerüstet mit einer brennenden Fackel, am Ufer des Flusses entlang bis zu jener Stelle, wo damals das Boot der Fremden gelegen hatte. Diese waren offenbar noch vor ganz kurzer Zeit hier gewesen. Das bewies der noch glimmende Rest einer ihrer Harzfackeln und ein großer Petroleumfleck, den des Schiffsjungen scharfen Augen auf einer glatten Fläche des Bodens erspähten.

Dieses abermalige Auftauchen der rätselhaften Besucher, die mit ihrem Fahrzeug aus dem Innern der Erde zu kommen schienen, bestärkte Melcher nur noch mehr in seinem Entschluß, bereits morgen die Bootsfahrt in das dunkle Felsentor hinein zu wagen. Zeitraubende Vorbereitungen waren ja nicht weiter zu treffen. Nur eine genügende Anzahl von Fackeln mußte noch hergestellt werden. Und das war bald getan. Die Fackeln tränkte man mit Erdöl, um ihre Leuchtkraft zu erhöhen. Dann mußte man an einen genügenden Vorrat von geräuchertem Fleisch denken. Konnte man doch nicht wissen, wie lange man fortbleiben würde. – –

* * *

Am Morgen des 5. Oktober 1905 gegen sieben Uhr verschwand der kleine Ledernachen, in dem außer den Fackeln noch die Fleischvorräte und die Lanzen der beiden Robinsons lagen, in dem hochgewölbten Tunnel, und die Strömung entführte ihn bald tiefer in das Innere des Felsmassivs hinein. Zwei am Bootsrande befestigte Fackeln beleuchteten mit unsicherem Licht die zackige Felsdecke und das unheimlich gurgelnde Wasser. Mit Hilfe von Stoßstangen suchten die Gefährten ihr Fahrzeug möglichst in der Mitte des Flusses zu halten. Erst ging es wohl fünf Minuten lang ohne merkliche Biegungen geradeaus. Die Höhlung, die der Strom hier im Laufe von Jahrtausenden noch mehr erweitert hatte, wechselte ständig in ihren Abmessungen. Oft traten die Wände zu einer geräumigen Grotte zurück, oft verengerten sie sich bis auf zwei Meter. Häufig mußten die kühnen Schiffer sich flach in ihrem Nachen niederducken, da sie sich sonst an der Felsdecke die Köpfe eingestoßen hätten. Dann merkte Melcher, daß die Strömung stärker wurde. Gleichzeitig nahm das Rauschen in der Ferne ständig zu. Schneller und schneller schoß der Lederkahn dahin, oft an Zacken und Vorsprünge anprallend, ohne daß er eine Beschädigung erlitt. Die dicke, elastische Walfischhaut bewährte sich hier vorzüglich. Das Rauschen der irgendwo über einen Abhang hinwegstürzenden Wassermassen wurde bald zu einem wilden Brausen, zu einer wahren Todesmusik für die beiden Wagehälse, die sich den Fluten dieses scheinbar recht tückischen kleinen Stromes anvertraut hatten. Mit den Stoßstangen sich an die Wände des Tunnels stemmend, suchten sie die Schnelligkeit des Bootes zu mäßigen. Bald troff ihnen trotz der hier eisigkalten Luft der Schweiß über die heißen Gesichter. Doch die Hauptsache: sie blieben stärker als die Strömung. – – Das Brausen war jetzt zu einem donnernden Getöse angeschwollen. Da hielt es Melcher für ratsam, den Nachen festzulegen und zunächst einmal den Wassersturz, der vor ihnen liegen mußte, zu untersuchen. Eine der Stoßstangen wurde zwischen den Wänden eingeklemmt und das Boot daran festgebunden. Dann sprang der Steuermann in das kalte Wasser, das ihm bis zum Gürtel reichte. Die zweite Stoßstange als Stütze benutzend, tastete er sich, in der Linken eine Fackel tragend, Schritt für Schritt weiter. Fünfzig Meter drang er so vorwärts, bis sich die Felswände zu einer runden, großen Höhle öffneten, die einen See von gut achtzig Meter Durchmesser bildete. An der anderen Seite dieser Grotte stürmten die Wasser tosend und schäumend wohl dreißig Meter tief über einen zum Glück nicht allzu schroffen Abhang hinweg. Einen zweiten Ausgang besaß diese Höhle nicht. Mithin blieb den beiden Robinsons nichts anderes übrig, als das Boot über die kochenden, donnernden Stromschnellen hinwegzutragen, wie es sicherlich auch schon die drei Fremden des öfteren getan hatten. Dieser mühselige Marsch über die schlüpfrigen Steine, rings umtobt von der reißenden, schäumenden Strömung, behindert durch den Nachen, den sie tragen mußten, gelang wirklich, obwohl mehr wie einmal bald Melcher, bald der Schiffsjunge ausglitten und bis an den Hals im Wasser verschwanden. Das Schlimmste war, daß der feine, von den Stromschnellen erzeugte Sprühregen die Fackeln zu erlöschen drohte. Aus Vorsicht hatte man daher zwei weitere angezündet, was auch den Vorteil brachte, daß der unsichere Weg heller erleuchtet wurde.

Nach Überwindung dieses Hindernisses verlief der Rest der Wasserreise ohne jeden Zwischenfall. Die Strömung wurde bald wieder schwächer, und ruhig glitt der Nachen durch enge Tunnel und kleine Höhlen dahin, so daß die Gefährten die eben überstandenen Gefahren schnell vergaßen.

Volle fünf Stunden währte diese abenteuerliche Fahrt (der Weltreisende Bertrand beschreibt sogar eine achtstündige derartige Fahrt, die er in Ostasien zurücklegte), die stets nach Nordwesten hin den Nachen im Innern der Felsmassen entführte. Der Gedanke, daß man sich hier unter dem nördlichen, offenbar verhältnismäßig flachen Teil des Großen Ozeans befand, hatte für die wagemutigen Robinsons durchaus nichts Beängstigendes an sich.

Dann glitt das Fellboot plötzlich durch ein enges Felsentor in eine ungeheure Höhle hinein, in der der unterirdische Fluß sehr bald mit ohrbetäubendem Donnern in einem scheinbar grundlosen breiten Spalt verschwand. Melcher hatte diese Gefahr rechtzeitig erkannt, den Nachen ans Ufer gelenkt und war ausgestiegen, gefolgt von Fritz Kersten, der in seinen nassen Kleidern jämmerlich fror. Ohne Zweifel hatte ihre Forschungsreise hier ein Ende erreicht, denn wenige Schritte weiter sahen sie auch das Boot der Fremden auf dem Lande liegen. Mit großer Vorsicht begannen sie nun in dieser Riesenhöhle nach dorthin vorzudringen, wo sie sehr bald in der Ferne ein paar rote Lichtpünktchen bemerkt hatten, die sich beim Näherkommen ständig vergrößerten und sich schließlich als vier in die Felswand eingeklemmte Fackeln erwiesen, bei deren Schein die drei in Tierfelle gekleideten Männer sich um einen Herd herumbewegten, in dem ein schwaches Feuer loderte. Auf dem Herde aber standen ein paar Blechgefäße übereinander, aus denen ein leichter Dunst aufstieg, der die Umgebung weithin mit einem scharfen Petroleumgeruch erfüllte.

Die Fremden waren so in ihre Arbeit vertieft, daß sie das Nahen der beiden Robinsons gar nicht gewahr wurden, die klugerweise ihre Fackeln rechtzeitig verlöscht hatten. Behutsam schlichen Melcher und der Schiffsjunge, jede Unebenheit des Bodens als Deckung benutzend, heran. An die Felswand lehnte, vielleicht zwanzig Schritte von dem Herde entfernt, ein Gewehr. Dies war die einzige Schußwaffe, die der Steuermann entdeckte, und um sich ihrer zu versichern, eilte er nun mit einigen Sprüngen nach der Stelle hin, ergriff die Flinte, einen alten, doppelläufigen Vorderlader, und machte sie schußfertig.

Bei seinem Auftauchen stießen die Männer Rufe des Schreckens aus und suchten zu entfliehen. Doch Melchers Drohung, er würde sofort schießen, falls sie nicht stehen blieben, bannte sie an ihren Platz. Außerdem sahen sie auch den Weg in das Innere der Höhle durch Fritz Kersten versperrt, der ihnen warnend seine Lanze entgegenstreckte.

Dann änderte der Steuermann jedoch den Ton seiner Stimme, redete die Leute in englischer Sprache freundlich an und erklärte, sie hätten keinen Grund sich vor ihnen zu fürchten, da sie selbst nur arme Schiffbrüchige wären, die soeben auf einem Nachen den unterirdischen Fluß entlanggekommen seien. Seine Angaben, daß sie nach dem Scheitern des „Montreol“ auf der Naphthainsel gehaust hätten, daß er selbst Deutscher, sein Begleiter aber Deutschamerikaner wäre, schienen Glauben zu finden. Flüsternd berieten die Fremden sich jetzt miteinander, kehrten dann langsam zurück und einer von ihnen, ein würdig aussehender Mann mit grauweißem Bart und klugem Gesicht, stellte nun an Melcher auf Deutsch allerlei Fragen, das er fließend beherrschte, aber etwas hart und gebrochen sprach. Dieses halbe Verhör beseitigte auch das letzte Mißtrauen der Leute, und derselbe Alte sagte schließlich, indem er Melcher die Hand hinstreckte:

„Schlagen Sie ein und versprechen Sie mir durch diesen Handschlag zugleich im Namen Ihres Freundes, daß Sie beide treu zu uns halten wollen. Wir sind ehrliche, tief bedauernswerte Unglückliche, die infolge besonderer Umstände außerordentlich vorsichtig sein müssen. Das Nähere sollen Sie später erfahren.“

Ein fester Händedruck besiegelte dieses seltsame Bündnis.

Als der Steuermann nun leicht begreiflicherweise zunächst fragte, wo sie sich hier eigentlich befänden, lächelte der Alte fein und erwiderte, diese Höhle gehöre zu jener Insel, die man von dem Petroleumeiland aus im Nordwesten bemerken könne, eine Antwort, durch die den beiden Robinsons bereits vieles klar wurde.

Nachdem die drei Fremden dann die Blechgefäße vom Herde heruntergenommen hatten, geleiteten sie ihre Gäste zu einer nahen Felsspalte, die, in vielfachen Windungen mindestens achtzig Meter aufwärtssteigend, in einer kleinen wohnlich eingerichteten Höhle endigte, aus der wieder ein zweiter Spalt auf eine schroff abfallende Felsterrasse führte, die von den Kronen mächtiger Eichen und Nadelbäume beschattet wurde. Hier war es, wo unsere Abenteurer nach sechsstündigem Aufenthalt im Dunkeln endlich das Licht der Sonne wieder begrüßen konnten und die herbstlich klare, reine Luft eines warmen Oktobertages einatmeten.

Während sie dann in der Felsenwohnung ihrer neuen Bekannten an dem flackernden Herdfeuer ihre Kleider trockneten, erzählte der Alte sein und seiner Gefährten trauriges Schicksal.

„Wir sind russische Untertanen und zwar Kurländer, lebten bis vor zehn Jahren als friedliche Kaufleute in Dorpat und hatten es durch Fleiß und Ehrlichkeit zu großem Reichtum gebracht. Eines Tages wurden wir ganz plötzlich unter der Anschuldigung verhaftet, uns an einer politischen Verschwörung gegen den Zaren beteiligt zu haben. Bald merkten wir, daß es die Regierungsorgane nur auf unsere Besitztümer abgesehen hatten. Der Prozeß gegen uns war nichts als eine jämmerliche Komödie und endigte mit unserer Verurteilung zu lebenslänglicher Verbannung und mit der Beschlagnahme unseres gesamten Hab und Guts. Man brachte uns nach Sachalin, jener Verbrecherkolonie, wo nur Mörder und ähnliches Gelichter in den dortigen Bergwerken unter strengster Bewachung arbeiten müssen. Vor einem Jahr gelang es uns dann zu entfliehen. Wir erreichten glücklich einen kleinen Hafenort an der Ostküste der Insel, bemächtigten uns dort eines Motorbootes und kamen schließlich halb verhungert und verfolgt von einem russischen Dampfer des Gouverneurs von Sachalin hier an, wo wir das Motorboot, das auch eine kleine Jolle besaß, in einem Flusse so gut verbargen, daß unsere Häscher es nicht fanden. Wir selbst entdeckten diesen Schlupfwinkel, der unseren Verfolgern zum Glück ebenfalls entging, blieben hier so lange, bis der Dampfer nach tagelangem vergeblichen Suchen wieder davonfuhr und ruderten dann nach einer Woche bei ruhigem Wetter in der Jolle nach der Petroleum-Insel hinüber in der Annahme, eine vorspringende Spitze des Festlandes von Nordamerika vor uns zu haben. So entdeckten wir den Petroleumsee. Da unser Motorboot einen Petroleummotor besaß, wollten wir den uns ausgegangenen Brennstoff dem See entnehmen und nachher weiter nach Amerika flüchten. Doch eines Tages, als wir gerade wieder die Naphthainsel besucht hatten, erschien der russische Dampfer abermals, jagte hinter uns her und zwang uns, unsere Jolle, die wir nicht gern preisgeben wollten, über die Felsen bei einbrechender Dunkelheit nach jener Grotte zu schleppen, die in die große Höhle mündet. In höchster Not vertrauten wir uns dann dem unterirdischen Flusse an und tauchten in den Tunnel gerade in dem Augenblick unter, als unsere Häscher ebenfalls in der Riesenhöhle erschienen. Auf diese Weise lernten wir den unterirdischen Wasserweg zwischen den beiden Inseln kennen, den wir fortan zur Ergänzung unseres Petroleumvorrats ausschließlich benutzten, da der Dampfer recht häufig immer wieder zwischen den beiden Inseln kreuzte, um unser habhaft zu werden. Unsere Feinde wissen eben, daß wir uns noch hier befinden, und hoffen uns eines Tages zu überraschen. Auch gestern abend war das Schiff wieder erschienen, ist jedoch unverrichteter Sache auch dieses Mal davongedampft. Jetzt endlich sind wir mit den Vorbereitungen zur Fortsetzung der Flucht soweit fertig, daß wir demnächst bei günstigem Wetter abzufahren gedenken. Diese Vorbereitungen bestanden hauptsächlich darin, dem Erdöl, das in ungereinigtem Zustand für den Antrieb des Motors unseres Fahrzeuges nicht zu verwenden war, wie wir durch Versuche feststellten, durch Destillieren zu reinigen, was sehr lange Zeit in Anspruch nahm, da wir dies nur mit sehr primitiven Hilfsmitteln tun konnten. Vorhin, als wir um den Herd in der Höhle beschäftigt waren, reinigten wir den letzten Rest des in der vergangenen Nacht in unseren großen Blechkannen geholten Petroleums. Ich betrachte es nun als eine gnädige Fügung des Schicksals, daß Sie beide gerade Seeleute sind, die uns durch Ihre Kenntnisse bei der Überfahrt nach Amerika wesentlich nützen werden. Unser Motorboot ist ein ganz seetüchtiges, gedecktes Fahrzeug, in dem wir bei einigem Glück uns die Freiheit wohl erobern können.“

Bereits drei Tage später stach das flinke Motorboot, wohlversehen mit allerlei Proviant und dem nötigen Brennstoff für die Maschine, nach Osten zu in See und erreichte nach einer Woche ohne Unfall den Hafen von Sitka auf den zu den Vereinigten Staaten gehörigen Alexander-Inseln, von wo die fünf Flüchtlinge auf einem amerikanischen Frachtdampfer sehr bald ihre Reise nach San Franzisko fortsetzten. – –

Ein halbes Jahr darauf hatte Melcher mit Hilfe einiger vermögender Landsleute eine Gesellschaft gegründet, die die Erdölschätze der Naphthainsel sofort in großem Maßstabe auszubeuten begann. Durch Gesteinbohrer wurden fünf reiche Petroleumquellen erschlossen, die sowohl dem Steuermann als auch seinem jungen Freunde Fritz Kersten schnell zu großer Wohlhabenheit verhalfen.

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Die Perleninsel.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage sind die folgenden zwei Zeilen vertauscht.
  2. In der Vorlage sind die folgenden zwei Zeilen vertauscht.
  3. In der Vorlage steht: „320 0000“