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Der Traum der Wildnis

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Der Traum der Wildnis

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 21 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Jim Stanhoop, der Trapper.

In Goldy Lake City (klingt großartig, hatte damals aber nur sechzig Einwohner, vor einem Jahr sogar nur ein Dutzend) als der zu leben, der ich bin, wäre wenig ratsam gewesen. Es blieb also bei Oskar[1] Smith, einstigem Koch eines einstigen Walfängers, und da diejenigen, die mein Inkognito hätten lüften können, sämtlich bis auf den alten schlauen Fuchs Umiwark, Häuptling des berüchtigten Kupagniut-Eskimostammes, in ein Sonderabteil der Hölle abgerutscht waren, da ferner Umiwark nebst Familienanhang seit der ergebnislosen Jagd auf die Gondaloor-Erbschaft in die Wildnis gegangen war, erfreute ich mich in meiner Blockhütte am Gold Lake ziemlicher Sicherheit.

Edward Gondaloor und sein Sohn Ernest taten alles mögliche, mir den Aufenthalt so angenehm wie nur irgend angängig zu machen, trotzdem hatte ich insgeheim Vorsorge getroffen, mich niemals überrumpeln zu lassen. Ich traute Umiwark nicht, und ein einziges Schreiben an die kanadische Polizei in Fort Maupherson hätte genügt, die Beamten, so sehr sie mich auch als Oskar Smith schätzten, gegen mich auf die Beine zu bringen. Nun liegt Goldy Lake City so abseits an einem Nebenflüßchen des Riesenstromes Mackenzie, daß das Auftauchen der schneidigen berittenen Polizei wohl rechtzeitig uns gemeldet worden wäre, denn die benachbarten Fallensteller standen sämtlich mit mir auf du und du und ahnten sicherlich, weshalb ich sie gebeten hatte, vier Schüsse als Signal abzufeuern, falls irgendwo eine Uniform sichtbar werden sollte.

Mitte Juli, also im nordkanadischen Hochsommer, wo man hier wirklich nichts davon merkt, daß man sich jenseits des nördlichen Polarkreises befindet, hatte ich abends zehn Uhr im Gold Lake noch Angelschnüre ausgelegt und mein Fellboot gerade wieder wie stets in die Hütte gezogen, als ich von Westen her deutlich erst zwei und dann nochmals zwei Schüsse hörte, denen dasselbe Signal dann auch von Norden folgte.

Ich wußte Bescheid. Es war so weit.

Ich rief Bully herein, verriegelte die Tür, schloß die Innenläden der beiden Fenster und öffnete eine Tür in der Rückwand der Hütte, von deren Vorhandensein nur Gondaloor Vater und Sohn etwas ahnten. Scheinbar lehnte sich das Blockhaus hinten an eine steile Felswand, die mit jungen Tannen, Erlen und Weiden bewachsen war, – nicht nur scheinbar … Es war so, aber der Felsen hatte einen breiten Riß, der oben durch entwurzelte Stämme und totes Geäst völlig ausgefüllt war und der sich elf Meter weit nach Norden bis zur anderen Seite des Steinhügels hindurchzog, wo dichtester, alter Tannenwald sich zu dem blanken, rauschenden Bache erstreckte, der, eingeengt durch Urwald und das hier so üppige Weidengestrüpp, für mein kleines Boot gerade die nötige Tiefe hatte.

Meine zwei fertig gepackten Öltuchsäcke lagen jederzeit griffbereit, ich brauchte nur noch Kleinigkeiten zu verstauen, dann ein letzter Blick über dieses bescheidene Heim, – ich blies die Lampe aus und hinter mir und Bully schloß sich die versteckte Balkentür.

Im Dunkeln schleppte ich zunächst das Boot bis an den Bachrand, holte dann die Säcke und schwamm still und ohne Abschied von meinen Freunden davon. Ich kannte in dem Bache jeden Stein, und selbst die Finsternis unter diesen mächtigen Tannenwipfeln war mir nur günstig. Ich müßte lügen, wenn ich jemals in diesen ersten vier Stunden meiner Flucht auch nur das geringste Herzklopfen verspürt hätte. Der Bach mündete in den Nebenfluß des Mackenzie, und hier änderte ich die bisherige Richtung und ruderte stromauf bis zu Jim Stanhoops Residenz, die oberhalb eines Wasserfalles auf einer steinigen Insel lag.

Stanhoop, ein sehr unzugänglicher Mann, der seit zwanzig Jahren dort hauste und nur Edelfüchse fing, hatte mir noch vor acht Tagen bei einer zufälligen Begegnung in seiner wortkargen Art erklärt, falls ich mal verschwinden müßte – bei ihm fände ich jederzeit sicheres Quartier.

Jim Stanhoop schätzte mich als sicheren Schützen, aber seine Inselbehausung hatte selbst ich bisher nie betreten dürfen, – überhaupt durfte das niemand, und es war kaum ratsam, in Stanhoops Jagdrevier einzudringen, der alte Trapper konnte äußerst ungemütlich werden.

Im Baumschatten des Ostufers entlangrudernd näherte ich mich langsam, gegen die recht starke Strömung ankämpfend, der Insel. Gesehen hatte ich sie häufiger, ich kannte die Lage der beiden verwitterten Blockhütten sehr genau, und ich wunderte mich mit Recht, daß jetzt um halb drei morgens das eine Fenster der Wohnhütte wie ein geheimnisvolles grelles Auge über den blinkenden schäumenden Fluß schimmerte.

Ich wollte mit ein paar kräftigen Ruderschlägen hinüber, als Bully, dieser Musterhund an Häßlichkeit, Bissigkeit, Energie und Scharfsinn, hörbar schnupperte. Ich wurde sofort stutzig. Auch Bully kannte den alten Stanhoop sehr gut, Bully kannte die Witterung jedes Menschen, mit dem ich mal bei Jagdstreifen eine Weile geplaudert hatte, und Stanhoop rauchte dazu einen so entsetzlichen Rollentabak, daß ihn stets eine Dunstwolke wie nach gebranntem Seegras umgab.

Hier stimmte irgend etwas nicht.

Ich blieb im Baumschatten, vertäute mein Umiak an einer Luftwurzel und nahm für alle Fälle die Büchse auf die Knie und legte Bully die Hand auf den Kopf. Sein Nackenhaar stand wie eine Bürste hoch, und das gab mir noch mehr zu denken.

Gondaloor-Vater hatte da als neugebackener Millionär zwecks Anlage einer Renntierfarm aus dem Süden allerlei Leute angeworben, unter denen sich einige befanden, die mir durchaus nicht gefielen. Bully auch nicht.

Besonders war da ein Bursche, den Gondaloor auf Empfehlungen hin als Buchhalter angestellt hatte, – ein sehr zweifelhaftes Gewächs von fabelhafter Vielseitigkeit und größtem Arbeitseifer, aber der Kerl spielte, und Spieler, die von Edmonton kommen, sind sämtlich Galgenvögel, so hatte auch Stanhoop erklärt.

Fred Tucker hieß der patente Gentleman.

Und Bully hieß Bully und war ein Charakterriecher. Zweimal wäre er Mister Fred beinahe an die Kehle geflogen.

Die Beleuchtung der Szenerie erinnerte an sommerliche Spätdämmerung.

Trotzdem war der Tannen wegen von Stanhoops Hütten wenig zu sehen.

Über den alten Mann waren vielerlei Gerüchte im Umlauf. Man behauptete, er sei so altmodisch, für seine prächtigen Fuchsfelle nur Zahlung in Gold anzunehmen und dieses nicht etwa bei der Bankfiliale im Fort zu deponieren, sondern daheim zu verstecken. Man erzählte auch, daß noch vor vier Jahren wieder einmal ein paar Banditen aus dem Süden bei Stanhoop hatten ernten wollen, wo sie nie gesät hatten, und daß diese Strolche nie wieder aufgetaucht wären.

Ich saß auf der mittleren Bank des Fellbootes und überlegte. Bullys Verhalten verriet mir, daß drüben auf der kleinen Insel, hinter der die Wasserfälle wie weiße Streifen glänzten, sich jemand befand, den mein treuer Kamerad sehr wenig gut beurteilte. Ich dachte sofort an diesen überhöflichen Fred Tucker, dem ich allerdings erstklassiges Falschspielen, aber niemals ein Unternehmen zutraute, bei dem es Blei regnen könnte.

Offen über den Flußarm zu steuern, war nicht gut möglich. Ich wäre gesehen worden. Ich knotete Bully also an der Bank fest, nahm meine Schußwaffen in die Linke und watete am Ufer stromauf, bis ich mit der Strömung an die Nordspitze der Insel mich treiben lassen konnte.

Meiner Lederkluft schadete das kalte Wasser nichts, mir erst recht nicht. Es waren mindestens achtzehn Grad Wärme.

Der Wind kam von Norden, die Hunde Stanhoops hätten mich also wittern müssen, aber sie blieben auffälligerweise stumm, und gerade dies mahnte mich noch mehr zur Vorsicht.

Ich kroch auf die Vorratshütte zu, neben der die große Hundebox lag. In der Box sah ich Stanhoops prachtvolle Schlittenhunde scheinbar schlafend umherliegen.

Bisher hatte ich immer noch geglaubt, Bullys Warnung könnte übertrieben gewesen sein. Jetzt wußte ich, daß hier irgend ein Schurkenstreich im Gange war.

Ich kroch weiter, um die Wohnhütte herum, die sehr geräumig war, und gelangte bis unter das Fenster rechts von der schweren Balkentür. Auch dieses Fenster, sah ich jetzt erst, war schwach erleuchtet, der geblümte Vorhang war zugezogen, und … in den unteren Scheiben bemerkte ich je zwei kleine Löcher mit leicht zersplittertem Rand: Kugellöcher!

Je zwei!

Nun wußte ich, wer geschossen hatte.

Stanhoop!!

Und das Signal war von anderen Fallenstellern weitergegeben worden. Dieses Signal galt mir, den der alte Mann zu seiner Hilfe herbeirufen wollte, – nicht mir, der fliehen sollte.

Ich horchte.

Es regte sich nichts …

Der Wind säuselte in den Tannen, die Wasserfälle drüben rauschten, und vom Flusse aus den Binsen und Weiden kam das Geschnatter der Wildenten und der verschlafene Schrei der Wildgänse friedvoll herüber.

Trügerischer Frieden …

Ich hob mich bis zum Fenster, blickte hinein.

Fuhr zurück.

Ein einziger Blick hatte genügt.

Drinnen an einem Balken der Decke hing der grauhaarige Stanhoop in einem Traggestell aus Riemen. Hände und Füße waren gefesselt, aus dem Munde ragte ein Stück Lappen hervor, an den Karibumokassins waren andere Lappen befestigt, die verdächtig tropften, – – nein, der ganze Mann tropfte, und unter ihm stand eine brennende große Küchenlampe.

Ich[2] schlug das Fenster ein, zwängte mich in die Stube, roch sofort das Petroleum und schob die Lampe zur Seite.

Stanhoop ließ seine eng an den Leib gezogenen Füße herabgleiten, seine wilden Augen starrten mich dankbar an, und als ich ihn aus seiner unbequemen Lage, die ihn zum Flammentode verurteilt hätte, sobald er die Füße hätte sinken lassen, befreit hatte, taumelte er auf die Ofenbank und strich sich mit der zitternden Hand über den nassen, öligen Kopf hin.

Der Mann war über und über mit Petroleum begossen worden, und zusammen mit ihm wäre auch seine große Blockhütte in Flammen aufgegangen.

Jim Stanhoop war ein hagerer Mensch mit einem faltenzerfurchten, tief gebräunten Gesicht, einer kühnen Habichtsnase und dünnen, grausamen Lippen. Seine Augen waren klar und hell wie die eines Dreißigjährigen, sein Haupthaar voll und leicht gelockt und mehr grau als weiß. Er sollte siebzig zählen, sagte man.

„Was ist hier vorgegangen, Stanhoop?“

Er lachte grimmig.

„Da fragen Sie noch?!“

Er erhob sich, warf die Lederkluft ab, das Unterzeug und schritt splitternackt hinaus. Ich hörte ihn in den Fluß springen, – nach fünf Minuten war er zurück und legte in aller Seelenruhe andere Kleider an.

„Hatten Sie wirklich Ihr Gold hier, Stanhoop?“

Ich hatte mir eine Zigarre genommen, – auf dem Tisch stand eine halbe Kiste, und es lagen auch Zigaretten darin.

„Ja – ich Esel!“, erwiderte er kurz und zeigte auf den Ofen, aus dem vorn ein paar der in Lehm gebetteten Feldsteine herausgewuchtet waren.

„Ja, dort – – ich Esel!!“ Er stellte mir ein Glas Brandy hin. „Trinken Sie, Smith, oder wie Sie sonst heißen mögen … Sie waren meine letzte Hoffnung. Die Schufte hatten die Sache sehr fein befingert. War auch nötig, – bisher haben neun daran glauben müssen, und die drei werden auch in die Hölle fahren, so wahr sie mir mein Erspartes und mein …“ – er hustete …, – „jedenfalls waren es zwei von Gondaloors neuen Siedlern und ein ganz verflucht gerissenes Weibsbild … Prosit, Smith …“

Das „Prosit“ veranlaßte mich zu fragen: „Sind Sie etwa Deutscher, Stanhoop?“

„Steinhaupt hieß ich mal, – hier in Kanada machte ich Stanhoop daraus. – Sind meine Hunde tot?“

„Nein, nur betäubt, denke ich …“

„Dann hat das Frauenzimmer nicht gelogen. Aus Edmonton hat sie das Betäubungsmittel mitgebracht, sagte sie“. Er setzte sich mir gegenüber. „Eine höllische Katze war das …!!“ Er stierte in sein Glas … „Erst hat sie die Hunde gefüttert, und als ich heimkam, hat sie mir die Pistole vor die Stirn gehalten, und Gondaloors Buchhalter und …“

„Fred Tucker …?“

„Ja, Fred Tucker und ein zweiter Lump hielten ihre Schießprügel ebenfalls bereit. War ein Reinfall, Smith … der erste Reinfall!“

Sein Mund wurde noch härter.

„Und dann fesselten sie mich und – na, Sie sahen ja die Bescherung …“

„Und wer feuerte die Schüsse ab?“

Er kaute an der Unterlippe und wühlte mit der Hand im Haar.

„Ich!“

„Das kann wohl kaum stimmen, Stanhoop“, erlaubte ich mir zu bemerken. „Die vier Kugeln hätten Sie wohl kaum dicht vor den Fensterscheiben abgefeuert, sondern vielmehr …“

Er knurrte ohne aufzublicken: „Lassen Sie die Fragerei!! Ich schieße auf kein Frauenzimmer – selbst auf solche Hexe nicht …“

„War es eine aus Goldy Lake City?“

„Nein. – Da, trinken Sie, und ich werde nach den Hunden sehen, hole auch Ihr Umiak her, danke, bleiben Sie!!“ Das war Befehl, kurz und herrisch.

Er betrat die zweite Stube, warf die Tür hinter sich zu und überließ mich meinen Gedanken.

Stanhoop hatte hier nicht allein gehaust. Das war klar. Wer hatte bei ihm gewohnt, wen hatte er so sorgfältig hier versteckt gehabt?

Mein Blick durchwanderte prüfend die Stube. Ich sah die zierlichen selbstgefertigten Möbel, sah aber auch an der Wand eine Mandoline hängen mit langen bunten Seidenbändern.

Als Stanhoop wieder eintrat, lag die Mandoline neben der Zigarrenkiste.

„Stanhoop, Sie hatten ein Weib hier bei sich“, sagte ich ihm offen ins Gesicht.

Er krauste die Stirn so stark, daß die Augen ganz klein wurden.

„Sie … sind verrückt!“, – und er griff nach der Mandoline, und wollte sie gegen den Ofen schleudern.

Seine Hand sank, und ein hilfloses Lächeln verzerrte seine Züge.

Dann schluckte er, als ob er sich das Weinen verbisse, hängte das Instrument wieder an die Wand und sagte schroff:

„Kommen Sie, wir werden die Hunde begießen, damit sie munter werden … Wasser hilft am besten … Und nachher – ja, wollen Sie die Hatz mitmachen? Die Schufte stahlen mir achttausend Pfund in Gold, Smith, und … – – wollen Sie mit?“

„Das ist selbstverständlich …“

 

2. Kapitel.

Wie Sergeant Malcolm starb.

Stanhoops Hundebox wurde zum Teich. Die Tiere schwammen in den Pfützen, einzeln nahmen wir sie vor, schrubbten sie gründlich ab und flößten ihnen nachher starken Kaffee ein. Stanhoop sprach nur das Allernötigste, mein Bully saß als Sachverständiger für Hundewäsche dabei und wunderte sich wohl nur, daß nicht auch grüne Schmierseife wie bei ihm verwendet wurde, damit seine Flöhe nicht allzu übermütig würden. Die Hunde erholten sich, und der Alte trieb sie in den trockenen Stall, da sie sonst über Bully hergefallen wären, wobei es ohne Leichen kaum abgegangen sein würde.

Inzwischen hatte sich die Wolkendecke zerteilt, die Sonne erschien, und Stanhoop erklärte, er würde sich nun mal nach den Spuren der Banditen umtun. „Sie sind dabei wertlos, Smith, Sie mögen je leidlich schießen, aber von Fährtensuchen verstehen Sie nichts.“

Ich nickte und dachte mir meinen Teil.

„… Angeln Sie inzwischen“, riet er bärbeißig. „Ich werde wohl einen halben Tag wegbleiben. Die Küche lasse ich Ihnen offen. Füttern Sie auch die Hunde.“

Ein sehr angenehmer Kamerad war Stanhoop gerade nicht. Und doch steckte hinter dieser rauhen, fast brutalen Außenhaut sicherlich ein sehr weicher Kern. Sein halb unterdrücktes Schluchzen lag mir noch im Ohr.

Er nahm zwei seiner Hunde mit, kletterte in sein Kanoe und zog es am Westufer an Land. Als er mit seiner langläufigen Flinte im Arm zwischen den Tannen verschwand, war ich auf eine solche Entwicklung der Dinge, wie sie uns bevorstand, in keiner Weise vorbereitet.

Jetzt bei Sonnenlicht sah ich mir Stanhoops Insel genauer an. Viel war da nicht zu sehen, – hinter dem Stalle standen die Riesentannen und das Gestrüpp noch dichter, und dort war ein ungeheurer Bienenkorb Brennholz sauber aufgeschichtet. Das Holz war sorgfältig gepackt, aber in einem Lande, wo eine Überfülle von Holz vorhanden wie hier südöstlich vom Fort, dachte keine Seele daran, etwa für den Winter Vorrat zu zerkleinern.

Der frische Brennholzbienenkorb mußte auch ein harmloses Gemüt zu gewissen Gedanken anregen.

Bully beschnüffelte den Holzstoß und wackelte mit den unvorschriftsmäßigen Eselsohren.

Wir unterhalten uns auf unsere Weise.

„Na, wie gefällt dir das Kleinholz, Bully?“

Er drehte den Schädel zur Seite, schielte mich aus seinen gefährlichen, blutunterlaufenen Augen an und kratzte mit der rechten Pfote den Boden.

„Schönen Dank, Bully …“, sagte ich. „Daß Stanhoop hier alle Späne und Borkenstücke ausgeschüttet hat, ist an sich ganz klug, denn dadurch werden Fährten vermieden. Nur wir beide sind für solche Späße zu schlau.“

Bully grunzte, trat zur Seite, setzte sich auf seinen Stummelschwanz (die größere Hälfte verlor er bei dem ersten Gefecht mit Stanhoops Kötern) und schaute zu, wie ich hier auf der Rückseite des gut vier Meter hohen Bienenkorbes die Tür suchte. Ich fand sie auch.

Stanhoop hatte sich viel Arbeit mit dem Versteck gemacht. Mitten in den Holzstoß war ein Blockhaus eingebaut, oder vielmehr durch das Kleinholz maskiert, ein sehr mollig eingerichtetes Stübchen mit einem Oberlichtfenster, zierlichen Möbeln, einem Bett und … einer Handnähmaschine, die auf einem Tische stand.

Gedankenvoll hob ich vom Nähtisch ein winziges Kinderhemd mit feinen Spitzen empor. Ein zweites war auch noch nicht ganz fertig.

Es bedurfte keiner weiteren Beweise. Hier hatte eine Frau mit einem Säugling heimlich gewohnt, und die Frau war von den Räubern mit verschleppt worden.

Eine Verwandte des alten Mannes?!

Es widerstrebte mir, das Gemach genauer zu durchsuchen. Ich dränge mich nicht in fremde Geheimnisse ein. Die Zeit, wo Stanhoop von selbst sprechen würde, mußte kommen.

Ich schloß die Tür und wandte mich dem Wohnhause zu.

Sinnend stand ich vor den vier Kugellöchern in den Fensterscheiben.

Alter Olaf, du wirst blind, diese vier Schüsse sind von außen nach innen abgegeben worden, und natürlich hat die unbekannte junge Mutter sie abgefeuert, die mithin wußte, daß dies Signal vereinbart war, und daß ich bei Stanhoop daraufhin erscheinen würde.

Ich reimte mir die Vorgänge unschwer zusammen. Die alte Hexe, Tucker und Jan Grosch – sicher war Grosch der dritte gewesen – hatten erst Stanhoops Hunde betäubt, dann den Trapper überwältigt. Bis dahin war die junge Mutter in ihrem Versteck geblieben. Schließlich hatte sie sich hervorgewagt und hatte die Alarmschüsse abgefeuert, vielleicht auch einen der Schufte zu erschießen gesucht, die sie dann ebenfalls erwischten und mitnahmen. –

Vormittags drehte der Wind nach Süden, und ich mußte das Angeln aufgeben. Wenn man von Moskitoschwärmen wie durch Nebel umklammert wird, helfen weder Gesichtsschleier noch Handschuhe noch ein qualmendes Feuer. Die großen Stechmücken sind für dieses Nordland die allergrößte Plage.

Ich hatte etwa dreißig Lachsforellen gefangen, darunter Kerle von fünf Pfund. Kein Kunststück in diesen Flüssen, wo keine Fabrik die Wässer verseucht und der Fisch Ruhe hat. Ich nahm die Fische aus und räucherte sie über Tannenqualm stark an. – Der Nachmittag kam, aber Stanhoop erschien nicht. Es wurde drückend heiß, und ich schlief ein paar Stunden in der Küche. Bully weckte mich. Vom Ostufer rief jemand. Es war Ernest Gondaloor, das Halbblut, Sohn des Millionärs Edward und einer Indianerin von den großen Seen im Südwesten, – mein bester Freund neben Bully.

Ich ruderte hinüber.

„Olaf, uns sind vier Pferde gestohlen, Tucker ist mit Jan Grosch und einer Masse Geld aus dem neuen Geldschrank verschwunden. Wir suchen nach ihnen, und ich kam hier von ungefähr vorbei und sah Bully und dein Umiak.“

Eine innere Stimme warnte mich, Ernest einzuweihen. Die Geheimnisse Stanhoops schienen mir wichtiger als die geringen Fingerzeige, die ich Ernest über die Richtung, die Tucker eingeschlagen haben dürfte, geben konnte. Ich hatte hierüber meine besonderen Vermutungen.

„Stanhoop und ich wollten mal zusammen für ein paar Wochen weiter nach Norden“, erwiderte ich nur. „Der Alte ist unterwegs, und er hatte mir schon früher gestattet, seine Insel zu besuchen. – Habt ihr Fährten gefunden?“

Das Halbblut, ein überschlanker Mann mit scharfen Zügen, bejahte wortkarg. „Wenn sie alte Waldläufer sind, wissen sie genau, daß sie nur droben in der Prärie verschwinden können. Sie werden an der Küste wohl einen Walfänger finden, der sie aufnimmt. – Du gibst dann Nachricht, Olaf …“ Er nickte mir zu, pfiff seinen Hunden und glitt im Trab in das Dunkel der Tannen zurück.

Ich fütterte die Hunde, bläute sie gehörig durch, da sie mich anfallen wollten, und nahm mir vor, noch bis zehn Uhr abends auf Stanhoop zu warten. Kam er bis dahin nicht, war ihm etwas zugestoßen.

Ich besichtigte Stanhoops Schlitten und wählte zwei davon aus, die ich mit dicken Rädern (Holzscheiben) versah. – Droben am Mackenzie verlernt man den Begriff Lebenstempo. Ich ließ mir zu allem Zeit. Ich hatte schon so eine gewisse Ahnung, wo ich Pferdespuren antreffen würde. Im Nordwesten von Goldy Lake City gab es einen steinigen Bach, der nur im Frühjahr zum Flusse wurde, und der zog sich weit in die Wälder hinein bis zu den südlichen sogenannten Eskimoseen. In solchem Bachbett ist keine Fährte zu finden. – Es mochte schon stimmen, daß Tucker und Grosch die Wildnis weit besser kannten, als sie je zugegeben hatten.

Die Fahrschlitten waren fertig. Reserveräder wollte ich ebenfalls mitnehmen, ebenso Bandeisen, Nägel und die große Säge. Während ich alles einzeln nach dem Westufer schaffte und mindestens dreißig Mal hin und her ruderte, erblickte ich drunten an der Flußbiegung zwei Reiter in der praktischen Uniform der kanadischen Polizei. Ich hielt es für ratsam zu verschwinden. Ich kroch unter die Tannen, und beobachtete sie. Es waren Sergeant Malcolm aus dem Fort und ein jüngerer Beamter. Sie kamen das Ostufer herab, machten gegenüber der Insel halt, und brüllten wiederholt nach Stanhoop. Als sich niemand meldete, ritten sie davon. Ihre Anwesenheit hier in der Gegend behagte mir wenig. Ich wartete noch eine Stunde, – es war elf Uhr nachts geworden, aber von Nacht war nichts zu merken. Die Sonne blieb am Himmel, und ich erkannte daher den alten Gondaloor schon von weitem, der auf schweißtriefendem Klepper von Südwest durch ein kahles Tal heranpreschte. Er hielt, blieb unter den Bäumen, winkte mir und steckte an einen Tannenast einen Zettel und jagte zurück.

Ich brauchte die Warnung gar nicht erst zu lesen. – Tucker hatte uns, die Gondaloors und mich, belauscht und durch einen schuftigen Cree-Indianer einen Brief zum Fort geschickt. Meine Rolle als Smith war ausgespielt, und es war höchste Zeit, dem Wenigen, was man hier Kultur nannte, schleunigst und für immer den Rücken zu kehren.

Ohne Bully wäre mein Unterfangen, mich mit zwei Sommerschlitten in die Wildnis zu wagen und zu riskieren, daß der wenig angenehme Befehl „Hände hoch!“ mir aus jedem Gebüsch, hinter jedem Felsen hervor in die Ohren gellen könnte, ein Wahnwitz gewesen. Die Beamten aus dem Fort sind bei einer Razzia großzügig und unheimlich geduldig, und gerade Sergeant Malcolm hatte jetzt doppelte Ursache, seine Leute ausschwärmen zu lassen, da Gondaloor auch den Fall Tucker, den Pferdediebstahl und den Geldschrankeingriff gemeldet hatte.

Nein – ohne Bullys hervorragende Nase und Klugheit hätte ich mich besser in den Holzstoß verkriechen und vielleicht Kinderhemden nähen können.

Bully mußte die Karawane sichern. Er konnte und kannte das. Es war nach Mitternacht, als wir aufbrachen. Und – die Sonne stand am Himmel, als ob sie sich nicht trennen könnte von dieser Unendlichkeit des Nordlandes mit seinen sommerlichen Wäldern und rauschenden Flüssen und blumenreichen Steppen und steinigen Ebenen. Krokusse, Glockenblumen, Wildstiefmütterlein, Lebensblümchen, – von der Glockenblume im zarten Blau oder Rosa gab es ganze Felder, – und all das neben den stämmigen, harzreichen Tannen, den Buchen, den Erlen und undurchdringlichen Weidendickichten, die aus Schlammteichen mit geborstener Kruste sich keck in die Sonne hinauswagen und nachher noch kecker den vierzig Grad Kälte der übrigen acht Monate trotzen, – ein wunderbares Land, in seiner Natur so voller Gegensätze, daß sie unüberbrückbar erscheinen.

Leise kreischend und knarrend zogen meine Hundeschlitten auf plumpen Rädern gen Südwest, sorgsam alle die Plätze meidend, wo allzu tiefe Räderspuren mich hätten verraten können. Bully immer achtzig, hundert Meter voraus, immer kreuz und quer dahintrabend, immer windend, sichernd, lauschend, – ein plumper, grobschlächtiger Gesell im Äußeren, aber in Wahrheit ein Tier von unheimlicher Stärke und unheimlicher Gewandtheit, blitzschnell im Angriff, dabei klug berechnend, zum Tiere der Wildnis geworden in diesem einen Jahr, das ich dem Nordland freudig geschenkt hatte.

Immer wieder die lästige Arbeit, die Radachsen, doch nur zugespitzte Balken, mit Fett zu tränken, um überlautes Quietschen zu verhindern. Denn diese Wildnis ist still wie die mannigfache Pracht von Museumssälen, in dieser Wildnis, in dieser dünnen Luft pflanzen sich ungewohnte Geräusche unliebsam fort.

Drei Stunden, davon die Hälfte in eiligem Trab durch lehmharte, glatte Täler, – – und Bully saust plötzlich auf mich zu, – – im Nu sind Schlitten und Hunde im Tannendickicht verborgen, ich liege mit der entsicherten Büchse im Arm auf einer Kuppe, vor mir ein kahler Hügel, und über diesen Hügel kommt im Schritt ein Reiter auf einem starkknochigen Braunen: Sergeant Malcolm!

Malcolm Davis, der berühmteste Greifer vom Delta des Mackenzie bis weit nach Westen und Osten, der unermüdliche, unbestechliche Beamte, mein Partner bei so manchem frohen Kartenspiel im Hause Gondaloor. – Jetzt mein Feind.

Feind?!

Malcolm hängt im Sattel wie ein Toter … Totenbleich ist dieses ledergegerbte Gesicht, das fünfzehnmal[3] die Mitternachtssonne leuchten sah.

Seine Linke ist gegen den Leib gepreßt, und was da an seinen Stiefeln hervortropft, ist Blut, ist der edle, verrinnende Lebenssaft.

Langsam schreitet der Braune, als ob er wüßte, daß sein Herr oben im Sattel mit dem Tode ringt.

Selbsterhaltungstrieb läßt mich zunächst noch in meinem Versteck. Aber Malcolm ist allein, ganz allein, und als ich ihn dann aus dem Sattel hebe, haucht er nur mit bläulichen Lippen:

„Aus – – aus mit mir! Bauchschuß – – und Brustschuß.“

Ich tue, was ich kann. Aber ihm würde keine Klinik mehr helfen. Er weiß es, und mit letzter Kraft schreibt er auf ein Dienstformular seines Notizbuches:

Wer Abelsen festnimmt, ist ein Lump.
Er half mir selbstlos wie ein Gentleman!

Malcolm Davis.

Solch eine knorrige Kiefer wie er ist nicht so leicht zu fällen. Zwei Stunden Todeskampf,– – und dann begrub ich ihn vorläufig, damit das Getier der Wildnis nicht an ihn herankönnte, steckte in die Steine des Hügels seinen Karabiner und band sein Halstuch oben fest.

Seinem Pferde, das sich bis zu einem Fallensteller oder Polizeiposten allein durchfinden würde, gab ich einen Zettel mit in die Satteltasche und bezeichnete ohne Unterschrift genau die Stelle, wo der Tote zu finden:

„Sergeant Malcolm Davis wurde von Fred Tucker aus dem Hinterhalt angeschossen und starb in meinen Armen am 16. Juli morgens sechs Uhr.“

Ein Braver war dahingegangen, ein Braver hatte mir bestätigt, was ich vermutet hatte: die beiden Kerle und ein Weib und ein zweites Mädchen hatten jenes Bachbett benutzt!

Ich konnte mich genau danach richten. Ich bog mehr nach Westen ab, um ihnen womöglich den Weg abzuschneiden.

Ein schwarzer Gedanke war mein Begleiter: Wo mochte Jim Stanhoop die Kugel niedergeworfen haben?!

 

3. Kapitel.

Das Blockhaus am Bibersee.

„… Sie wären ein famoser Kerl, wenn Sie nicht diese verdammte Schrulle hätten!“

Lärmend wie immer war er eingetreten, hatte die Tür weit offen gelassen und gewährte so den auch hier reichlich vertretenen Moskitos ungehinderten Zugang zu unserem frisch gezimmerten Heim.

Ich mußte notgedrungen die Feder weglegen.

„Stanhoop“, sagte ich etwas gereizt, „Ihre Stimmung wechselt wie die Laune einer schönen Frau, aber eins bleibt sich gleich: Sie haben barbarische Manieren! – Zum Teufel, schließen Sie doch die Tür!“

Er lachte dröhnend. „Junger Mann, der Wind hat gedreht, das haben Sie Federfuchser natürlich garnicht bemerkt! Seit wann sitzen Sie eigentlich da und beschmieren das Papier aus des armen Malcolms Notizbuch mit Krähenfüßen?! Hat das Zweck?! Sehen Sie mich an: Zwei Karibus, zwei prachtvolle Bullen, – – das hat Sinn! Nun können wir wieder in Fleisch schwelgen, und …“

Ich deutete nur auf die Ecke der roh zurechtgesägten Tischplatte.

„Wofür halten Sie das, Stanhoop?“

Sein Gesicht bekam etwas Fuchsähnliches.

„Donnerwetter – – ein Taschentuch!!“, platzte er heraus. „Sogar ein Ding mit Spitzen und so winzig, daß ein ehrlicher Mensch damit nie die Nase putzen könnte!“

Mein Blick verwirrte den Alten.

„Was … was stieren Sie mich so an, Abelsen?!“

„Sie sind undankbar, Stanhoop! Sie belügen mich seit vierzehn Tagen unausgesetzt. Ich habe bisher dazu geschwiegen, weil Sie eine ganze Hand voll Jahre älter sind als ich und weil ich hoffte, Sie würden endlich einmal von selbst den Schleier lüften, der sowohl Ihre Insel da am Mackenzie als auch dieses unser Quartier hier in der Wildnis umgibt. – Sie waren seit frühmorgens auf der Jagd, ich war auch nicht müßig, ich habe ausgerechnet, wie viel Biber die Kolonie unten am Flußtal wohl bergen mag, und da … kam ein Windstoß und ein Vöglein flatterte herab, ich griff es, da liegt es: Das Tüchlein!“

Er kaute verdrießlich die Unterlippe. Sein Schnurrbart sträubte sich, aus den jungen Falkenaugen schoß ein förmlicher Blitzstrahl in meine nicht minder gebräunten Züge.

Dann zuckte er die Achseln, wandte sich weg, stellte die Büchse in die Ecke und brummte: „Wenn es Ihnen hier nicht paßt, können Sie ja gehen, Abelsen …! Das heißt – nein, – das war soeben eine Dummheit, – nein, – ich wollte Sie nicht verletzen, – – Hand her, Abelsen …!“

Eine seltene Weichheit ging über das verwitterte Gesicht hin wie milde Abendröte. Er drückte meine Hand, legte noch seine Linke auf unsere ineinandergefügten Hände und meinte mit jener fast kindlich wirkenden Verlegenheit, die diesen Riesen aus Muskeln und Sehnen zuweilen überkam und dann gleichsam den Kern seiner Seele bloßlegte.

„Abelsen, ich wäre ein Schuft, wenn ich es Ihnen vergäße, daß Sie so ehrlich und treu mir gefolgt sind und mir geholfen haben, uns diesen Schlupfwinkel zu bauen, der ja …“

Das war ein Vers, den ich schon so oft gehört hatte. Ich kannte auch die Schlußzeile ganz genau. Sie lautete: „Fragen Sie nicht, quälen Sie mich nicht, – ich habe weiß Gott mein Päcklein zu tragen!“

Heute war ich nicht in der Stimmung, abermals mich so mager abspeisen zu lassen.

Ich entzog ihm meine Hand, wollte es tun, – und da traf mich wieder dieser verlegene, flehende Blick, und – – wieder war ich besiegt.

„Gut – – erzählen Sie von der Jagd, Stanhoop … Da steht der Tee, dort liegt die Zuckerbüchse, – – setzen Sie sich!“

Er nickte zufrieden. „Brav von Ihnen, Abelsen, – – sehr brav!“ Seine Hände quetschten die meine noch mehr. „Es gibt Dinge, Abelsen, über die ein ehrlicher Kerl nicht redet, und wenn ihm die Zunge ausgebrannt wird, – und auf das Brennen verstand sich der Hund, der Tucker, den nun hoffentlich schon die Wölfe gefressen haben …“ Seine Augen ruhten auf der zerbeulten Zuckerbüchse. „Hm, was ich noch sagen wollte“, sprang er jäh auf ein anderes Thema über, „Zucker und Mehl wollen wir schonen … sparen … Wir wissen nie, wie lange wir hier in diesem Bergwald hausen müssen, und …“

Er gab meine Hand frei und schritt zum Herd. „… und Zucker und Mehl, – das ist noch eine sehr, sehr dürftige Angelegenheit hier zwischen Mackenzie und dem Großen[4] Bärensee[5] …“

Er schenkte den Becher voll und trank.

Mein Lächeln sah er nicht.

Wir spielten ja gegenseitig so etwas Komödie voreinander.

Dann ging er hinaus, als wäre gar nichts geschehen, und fütterte die Hunde und schaute in die Fenz hinein, wo wir das Karibumuttertier[6] mit dem winzigen Jungtier untergebracht hatten.

Ich beobachtete ihn. Auch ich war vor die Tür getreten, und zu meinen Füßen lag die nordische, noch immer sommerliche Wildnis wie ein köstliches Panorama – endlos weit, endlos zart in den Farbentönen.

Ein besseres Plätzchen für ein Sommerheim hätte der alte Stanhoop kaum finden können.

Zehn Meter vor mir senkte sich die recht steile, bewachsene Talwand in das Bett des durch die Biber aufgestauten Sees hinab, – dreißig Meter hinter mir erhoben sich Tannen von wuchtiger Größe, und jenseits dieses Waldstreifens über den sanft im Winde wehenden Wipfeln trat die Bergkuppe als nacktes, nur spärlich bemoostes Gestein hervor.

Die weite Ferne ringsum aber sang das Lied der weiten, unbegrenzten, nie gänzlich erforschten kanadischen Wildnis mit den bunten Noten einer verschwenderischen Natur: Seen glänzten wie eingestreute Spiegel, Bergzacken mahnten an die Hochlandgefilde meiner schwedischen Heimat, und die grüne Farbe war in allen Schattierungen vertreten. Düster die fernen Forsten der Tannen, ganz hell die an Bäche und Tümpel sich anschmiegenden Weidendickichte, ganz weiß kleine Gehölze von Birken, dann Erlen, Buchen – – und Blumenbeete, – – drüben jenseits des Bibersees auf dem dünnen bewaldeten Hang hing Glöckchen an Glöckchen an dünnen Stielen – zu vielen Tausenden, – ein Garten Eden inmitten eines Landes, das nie, nie auftaut, in dem der Boden vielleicht ein Meter tief von der kurzen Sommerfreude durchwärmt wird, – was darunter liegt, bleibt in Eis, Kälte erstarrt. Und trotzdem haben Baum und Strauch, die doch ihr Wurzelwerk weit tiefer hineinzwingen in die erstarrten Schichten, die ungeheure Lebensenergie, sich gegenüber der grimmen Kälte von fast acht Monaten siegreich zu behaupten.

Und da steht nun an die Fenz gelehnt der alte, fast greise und doch so junge Trapper und schaut still zu, wie das Karibumuttertier ihr Junges säugt. Schwer genug mag es damals vor acht Tagen Stanhoop geworden sein, das Tier zu fangen, ohne es ernstlich durch die schlau gelegte Schlinge zu verletzen. Aber – es gelang, und als er es hierher brachte und die nächsten Tage nur für Mutter und Jungtier sorgte, da hätte ich ihm getrost ins Gesicht sagen können: „Alter Freund, ich weiß, weshalb du ein Muttertier haben wolltest! Ich weiß, daß die Milch, die du heimlich in den kleinen Eimer melkst, nachdem du das Karibu an den Beinen angeseilt hast, für ein Kind bestimmt ist …!“

Ich habe geschwiegen.

Wie jetzt.

Bully räkelt sich da neben den anderen Hunden faul in der Sonne, in dieser nie ermüdenden, nie untertauchenden Sonne, – – vorläufig nicht untertauchenden …

Tag und Nacht sind eins.

Wie lange noch?

Wir haben heute den letzten Juli, und sehr bald wird die ewige Nacht beginnen …

Winternacht von Nordkanada, – doch nicht Nacht, nur Dämmerung im Schneelicht.

… Ich sitze nun wieder hier an dem rohen Holztisch, und die Öllampe blakt und stinkt, und in seiner Ecke schnarcht der alte Mann, der von mir verlangt hat, abends die Tür und Fensterläden zu schließen.

Fenster?

Ja – ohne Scheiben, aber mit feinen Darmhäuten bedeckt, wie die Eskimos weiter droben es tun – noch heute. Sie wandern ja, die Mackenzie-Eskimos, und Glasfenster sind zerbrechlich. Da ist dieser biegsame, dünne Glasersatz weit brauchbarer.

Es ist heiß in der Hütte, obwohl über dem Herde in dem schrägen Dach eine Öffnung auch nachts frei bleibt, und obwohl ich die Fenster aufklappe, damit die Luft durch die Ritzen der Läden streichen kann.

Und – ich schreibe …

Traum der Wildnis …

Es ist wie ein Traum, es ist etwas Unwirkliches an diesem unseren Leben, an dem die Geheimnisse wie Elfen umherhuschen oder wie … finstere Gespenster.

Nicht viel habe ich nachzuholen.

Malcolm war vorläufig bestattet, sein Pferd trabte von dannen, ich selbst zog davon mit meiner Hundekarawane – – zwei volle Tage, ohne je einer Menschenseele zu begegnen. Regen fiel, löschte hinter mir die Spuren, und die ganz einsame Wildnis nahm mich auf.

Dann langte ich dort an, wo ich den Ursprung des steinigen Baches vermutet hatte, und fand Fährten, Fußspuren.

Sie waren alt, aber ich habe einen Lehrmeister gehabt, für den ein verschobenes Steinchen eine ganze Geschichte erzählte.

Wieder tagelang mit derselben Vorsicht durch Wälder, jetzt meist nach Nordosten – dorthin, wo nur die große Stille unbewohnter Gegenden lauert, wo im Winter die Wolfsrudel heulen und im Sommer dieselben Wölfe sich zerstreuen und [in][7] ihrer Familie leben und dick und fett werden, damit sie nachher hungern können. Sie hungern oft … Ich habe ihr klägliches, heiseres Heulen vernommen, als droben an der Franklin-Bucht Umiwarks Verbündete uns hetzten, um die Gondaloor-Millionen zu erringen.

Und dann fand ich eine Stelle, an der Blut geflossen war …

Der Boden war zertreten, Patronenhülsen lagen umher, und ein blutiger Hemdfetzen deutete auf einen wieder losgerissenen Notverband.

Noch zwei Tage, – nicht mehr auf den Pferdespuren, die vom Kampfplatz sich zerstreuten, sondern auf einer einzelnen Pferdespur, und der Gaul hatte eine schwere Schleife, einen Schlitten, etwas Ähnliches gezogen.

So erklomm ich diesen Berg mit meiner Karawane, trat aus dem Walde hervor und erblickte eine frisch gezimmerte Blockhütte und Stanhoop, der gerade die Fenster einsetzte. Neben ihm stand griffbereit die lange Büchse.

Ich beobachtete ihn eine Weile. Dann hatten seine Hunde ihn jedoch gewittert, bellten und stürmten zu ihm hin.

Als er mich sah, wurde sein Gesicht finster, und seine Begrüßung klang nicht gerade freundlicher.

„Teufel auch, – wo kommen Sie her, Smith?“

Nachher schämte er sich.

Wir saßen hier an diesem Tisch und ich erzählte.

Er senkte den Kopf immer tiefer.

„Bin ein Grobian, Abelsen … Entschuldigen Sie …“

Von dem Gemach im Holzstoß hatte ich geschwiegen.

Er kaute an seiner Pfeife und berichtete in seiner Art seine Erlebnisse.

„… Haben ein Anrecht auf ein paar Worte, Abelsen … Sind ein kapitaler Kerl, Sie! Und ich hielt Sie für eine bessere Sorte Greenhorn!! Man irrt sich. – Also – ich wollte nach den Spuren der Banditen suchen, und entdeckte auch Fährten … Zu Fuß waren sie gekommen, zu Fuß waren sie mit meinem Golde davongeschlichen, – werden schön geschwitzt haben die drei … Ich ließ nicht locker, ich holte sie ein … Hm ja, – und überraschte die beiden Kerle und die Hexe: Hände hoch!! – Ein Schuß, noch einer, – auch sie feuerten, aber die Löcher hatten sie nachher in den Beinen, und da band ich jeden auf einen Gaul, legte dem Gaul Zunder unter den Schwanz, und die wilde Jagd preschte davon … Das beste Pferd behielt ich, packte den ganzen Kram der Halunken und mein Gold auf eine Schleife und zog hierher. Kenne die Gegend, wollte hier längst mal für den Winter Quartier beziehen, deshalb die Hütte …“

„Und der Gaul?“, fragte ich nur.

„Ah … der ist ausgerissen, Abelsen …“

Und das war die erste Lüge.

„War denn das Frauenzimmer mit verwundet? Wer war es überhaupt?!“

Er lachte hart. „War verwundet – Streifschuß … War ein altes Weibsbild wie des Satans Großmutter … – Fragen Sie nicht so viel. Laden wir Ihre Schlitten ab … Haben Sie frische Hemden dabei?“

„Ja – fünf neue feine Wollhemden … vier Unterhosen … – Sie können etwas davon abhaben, Stanhoop.“

Am anderen Tage war die Hälfte meiner Unterwäsche verschwunden.

Und an den folgenden Tagen war ich meist allein. Der Alte gab mir Arbeit, dies und das, – die Fenz mußte ich bauen, mußte die Fensterläden zimmern – allerlei anderes.

Ich lächelte dazu.

Daß die Frau mit dem Kinde, die Stanhoop bei sich auf der Insel gehabt, hier irgendwo in der Nähe von ihm abermals versteckt gehalten wurde, wußte ich sehr bald.

Und nun – nun bin ich mitten in der Gegenwart angelangt, und ich werde heimlich die Hütte mit Bully verlassen und suchen …

Stanhoop schläft wie ein Murmeltier. Die Hunde sind in ihrer überdachten Box, und sie schlagen nicht an, wenn ich ins Freie gehe. Sie kennen mich.

Ich lösche die Lampe …

Wir schlichen hinaus, Bully und ich.

Die Frau mit dem Kinde darf nicht länger zwischen Stanhoop und mir als trennende Wand stehen. Ich habe ein Recht, alles zu wissen, denn ich zog in die Wildnis, um diese Frau und ihr Kind zu befreien und Stanhoop zu rächen, den ich für tot hielt.

 

4. Kapitel.

Das Kind der Wildnis.

… Es sind nun über alledem acht Tage verflossen. Bisher fand ich keine Zeit, hier wieder an diesem Tische zu sitzen und auf Malcolms Papier ganz eng, ganz eng die Geschichte des Traumes der Wildnis fortzusetzen.

Bully ist bei mir … Draußen streifen die Hunde frei herum, denn die Gespenster sind da … irgendwo …

Sie werden wiederkommen.

Bully ist bei mir und noch jemand …

Traum der Wildnis: Ich … habe ein Kind und spiele Vater und Mutter, und ich habe auch das gelernt: einen Säugling zu pflegen.

Wenn ich mit meinem Kinde vor der Hütte im Sonnenschein sitze und die feinen Fingerchen meinen Bart zupfen und aus des winzigen Geschöpfes Kehle freudige Töne kommen, dann lächele ich und vergesse das Furchtbare, das mir dieses Kind bescherte, die Nacht des Grauens, und meine Schuld, das alles so kam … so!

– Es kam schlimmer als Blitzschläge aus heiterem Himmel. Ich war ausgezogen, pochend auf ein scheinbares Recht, um Klarheit zu schaffen zwischen dem alten Jim Stanhoop und mir. Ich verehrte den Greis gleichsam als die Verkörperung der kanadischen Wildnis, die ich lieben gelernt hatte. Auch hinter Stanhoops rauher Außenseite verbargen sich die Schönheiten eines primitiven Herzens, das ehrlicher und anständiger empfand, als salbungsvolle Volksbeglücker zweifelhafter Herkunft dies je vermögen. Er hatte da irgend ein Versprechen gegeben, was jene Frau betraf, und er verteidigte das Geheimnis seiner Schützlinge mit Grobheit und kindlicher Verlegenheit und wußten nicht mehr aus noch ein. Diese Last konnte ich von ihm nehmen, indem ich handelte. Bisher hatte ich nie den Versuch gemacht, das Versteck der Frau und des Kindes aufzufinden, Stanhoop hatte mir ja auch Arbeit genug aufgebürdet und mich dauernd in Atem gehalten.

Es war kurz vor elf Uhr, als Bully und ich die Suche begannen. Es war Nacht, aber die Sonne schien, freilich durch dünne Wolkenschleier hindurch und ohne Kraft. Die Landschaft gen Osten zu jenseits des Bibersees war in ein ungewisses milchiges Licht getaucht, alle Farbentöne waren verschwommen, ganz matt glänzten die fernen Seen, und der Horizont schwamm in Dunstschichten. Diese Beleuchtung glich der bei einer Sonnenfinsternis, – sie hatte etwas Bedrückendes an sich, und die Weichheit der Farbentöne der Wildnis wirkte gespenstisch.

Mochte ich nun auch zumeist in den verflossenen Tagen, seit ich Stanhoop lebend wiederfand, mich kaum je weiter als eine Meile von unseren Bergen entfernt haben (und was besagt eine Meile bei dieser Unendlichkeit unbewohnten Gebietes!), so war mir doch längst zur Überzeugung geworden, daß für ein Versteck nur der tote Wald jenseits des Berges in Betracht käme. Dort hatte vielleicht vor zwei Jahren ein Waldbrand gewütet, der, durch Nachlässigkeit eines Fallenstellers entfacht, meilenweit urältesten Tannenbestand vernichtet hatte.

Dieser tote Wald, nur noch kahle schwarze Masten mit Resten von Seitenzweigen, mußte wochenlang gebrannt haben. Es war kein Leben mehr in dieser traurigen düsteren Masse von schwarzen Stangen, die sich über Hügel und Ebenen gen Norden zogen, – ein finsterer Fleck im Landschaftsbilde, sobald man unseren Berg umrundet hatte und dorthin schaute, wo, nicht mehr sichtbar, das Reich der Eskimos lag, die Eismeerküste.

Es war schon möglich, daß inmitten dieses toten Waldes eine weite Lichtung vom Feuer verschont geblieben war, und daß diese Lichtung noch grünes Jungholz und Moose und Blumen barg.

Wir schritten dem Walde zu, dem toten Walde, und Bullys dicker Schädel hing tief auf dem Boden und suchte Witterung. Stanhoop würde das Versteck nur auf Umwegen von Nordost her betreten haben, denn im Nordosten lagen die Prärien der Karibuherden, der Elche und der Hirsche und der feisten schwarzen Bären, die niemandem etwas zuleide tun, wenn man sie ungestört läßt. Sie schauen einen aus kleinen blanken Knopfaugen an und trollen sich davon oder bäumen schleunigst auf und verschwinden in den Tannenwipfeln. Nur ihre Jungen soll man in Frieden lassen. Mutterliebe zeigt sich auch bei ihnen in Preisgabe des eigenen Lebens wie bei allen Raubtieren. Bei Menschen seltener.

Ich wollte den toten Wald nach Norden umrunden, Bully würde mir schon verraten, wo Stanhoop in die schwarze Wildnis eingedrungen war.

Nach einer Stunde in einem jetzt ausgetrockneten steinigen Bachbett gab Bully durch Grunzen und Schnarchtöne kund, daß hier nicht nur Wildfährten den Boden kreuzten. Ich hielt ihm wiederum eins von Stanhoops groben Halstüchern unter die Nase, und er schwenkte in das finstere Stangenholz ein.

Stamm um Stamm des toten Waldes war verkohlt. Unter den abgestorbenen Resten nicht ein Grashalm, nicht ein Moospolster, nur schwarzes herabgestürztes Geäst – halb Asche, halb Holzkohle. Unter meinen leichten Sommermokassins aus Karibuhaut knirscht dieser Boden leise, als ginge man über trockenes Salz hin. Bully zerrte an der Leine, er wußte, was er sollte, und er war dann voller Eifer und schien sich diesmal doppelt wichtig zu fühlen.

Noch eine halbe Stunde in dieser Totenstille zwischen Baumleichen, und dann fand ich meine Annahme bestätigt: Eine weite grüne Lichtung mit einem plätschernden Bach, der infolge besonderer Formation des meist steinigen oder felsigen Bodens die Lichtung im Halbkreis nach Osten umfloß und das damalige Feuer hier abgewehrt hatte.

Hohe bemooste Felsgruppen, gekrönt von kleinen schlanken Tannen, – Birken, Weidengestrüpp und Blumen – – Blumenteppiche, so üppig, als ob die Natur hier diese Lichtung als Ersatz für die Trostlosigkeit ihres schwarzen Rahmens besonders gütig behandelt hatte.

Hinter drei Felsgruppen eine neue Blockhütte, gut verborgen. Die Schnittfläche der dünnen Balken noch frisch, – – hier hauste also die unbekannte Frau mit ihrem Kinde.

Ich blieb stehen. Urplötzlich, als ich vor mir das erleuchtete Fenster, mit den dünnen, durchscheinenden Häuten bespannt, so friedvoll in all diese Mitternachtsschönheit hineinleuchten sah, kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich eindrängen wollte in Angelegenheiten, die vielleicht so zart und so wenig für Fremde, für fremde Augen bestimmt waren, daß mein scheinbares Anrecht auf Klarheit sich in Unrecht verwandelte.

Ich zögerte, und – seltsam – auch Bully hatte sich dicht neben mich gesetzt, die langen Ohren nach hinten gelegt und den Kopf in schiefer Haltung vorgestreckt. Das alles waren bei ihm Anzeichen gespanntester Aufmerksamkeit, der jedoch das Gefühl der Gefahr fehlte – also mehr Teilnahme und Neugier.

Er änderte sein Verhalten auch nicht, als aus der Hütte jetzt ein wimmerndes Stöhnen hervordrang, das eine mir unbekannte Erregung in mir hervorrief.

Die Frau mußte plötzlich erkrankt sein, sagte ich mir, und diese Überzeugung, noch verstärkt durch das Anschwellen der peinvollen Töne, gab mir erst in Wahrheit die Befugnis, hier sofort helfend einzugreifen.

Ich eilte bis zur Tür, pochte an, aber mein noch lauteres Klopfen wurde von einem lang anhaltenden heiseren Schmerzensschrei der Leidenden übertönt.

Zum Glück war die Tür nicht verriegelt. Ich trat ein, und mein erster Blick fiel auf ein Kastenbett, auf dem unter Wolldecken eine blonde, ganz junge Frau ruhte. Ihr Gesicht war erschreckend bleich, ihre Stirn bedeckten dicke Schweißperlen, – die Öllampe auf dem nahen Tische beleuchtete das Bild einer schwer Leidenden.

Ich hatte die Tür offen gelassen, und der nächtliche fahle Glanz der Nordlandsonne blendete die Frau so, daß sie zwinkernd die großen Augen schloß und stockend stammelte:

„Mein alter Freund, – – es … es … ist so weit …“

Sie verwechselte mich mit Stanhoop, und gerade dies machte mich wieder unschlüssig.

Ich ahnte, wie sehr sie angesichts eines Fremden erschrecken würde, – ich ahnte auch, daß sie mich dem Namen nach kannte, daß Stanhoop ihr von meiner Anwesenheit drüben am Berge berichtet haben müßte, aber all das änderte nichts daran, daß ich ihr ein unwillkommener Helfer sein würde.

Sie öffnete die Augen wieder, und jetzt sah sie mich, sah, daß es nicht Stanhoop war und daß ich der sein mußte, vor dem sie verborgen gehalten wurde.

Sie richtete sich halb auf … Sie erschrak nicht, – sie rief nur leise:

„Gott sei Dank, – – holen Sie Stanhoop, – – beeilen Sie sich …!“

Dann errötete sie bis zu den schweißfeuchten blonden Stirnhaaren, und was sie noch flüsterte, traf mich wie ein grausamer Hieb.

„Ich … hole … ihn!“

Mehr konnte ich nicht hervorquälen … Ich war wie von Sinnen, ich hatte mir eine Verantwortung aufgebürdet, die über meine Kräfte ging.

Und – ich blieb trotzdem – gerade dieser Verantwortung wegen. Ich hatte unter Naturkindern gelebt, deren menschliches Werden und Vergehen etwas so Natürliches war, daß der Eintritt eines neuen kleinen Wesens in diese Welt nicht Anlaß zu einem großen Aufgebot von Ärzten und Pflegerinnen bot. Am Gallegos[8] gab es keine Ärzte, und in Abessinien bei Freund Patumengi, dem Zwergenkönig, erst recht nicht.

„Darf – – ich Ihnen nicht beistehen?“, meinte ich möglichst väterlich-gütig. „Bevor ich Stanhoop hole, vergehen Stunden, und Sie können doch unmöglich hier allein dieser … Stunde entgegengehen … Bitte, haben Sie Vertrauen zu mir … Meine Wanderjahre haben mir so manche ärztliche Kunst vermittelt, und …“

„Sie … sind … zu jung!“, – Scham und Schmerz gaben dem Aufschrei eine besonders qualvolle Bedeutung.

Ich zögerte nicht länger, ich rannte wie gehetzt davon, jetzt den kürzesten Weg wählend, Bully aber wollte diesmal nicht wie sein Herr, denn schon nach wenigen Schritten zerrte er an der Leine und wollte nach rechts hinüber gen Westen, und unser Berg und der Bibersee lagen im Norden. Ich riß ihn mit, ich schalt ihn leise eine unvernünftige Kreatur, ich war wütend, als er sich wie ein bockender Gaul mir widersetzte und mit gesträubtem Haar und mit nach vorn gerichteten Ohren jenes dumpfe Grollen ausstieß, das aus einem tiefen Keller hervorzudringen scheint.

Hätte ich sein Benehmen damals sorgfältiger beobachtet, wäre mir vieles erspart geblieben. Ich kannte Bully immer noch nicht genügend.

Er gehorchte nun, er lief mit, aber sein Kopf blieb nach rechts gedreht und sein keuchendes Atmen, das so krankhaft-schwerfällig schien, und das doch nur Rasseneigentümlichkeit war, behielt den warnenden Unterton grimmen Grollens und Knurrens.

Hätte ich ihn sorgfältiger beachtet!!

Hätte …

War mir ein Vorwurf daraus zu machen, daß ich nur, nur immer an die blonde Fremde dachte, die da in ihrer Leibesnot einsam in der Hütte lag, und die geheiligt war durch das große Mysterium der Fortpflanzung des Menschengeschlechts …! Meine Hilfe hatte sie abgelehnt – vor Scham, – ich war ihr zu jung, und sie selbst war noch ein halbes Kind, kaum Weib geworden, und sollte nun bereits hier in der Wildnis Glück und Pein der Mutterschaft bis zum bittersten Grunde eines rätselhaften Schicksalskelches auskosten!

Ich rannte, sprang, kletterte …

Helfen – – helfen!

Ich jagte dahin wie eine Maschine, ohne Rücksicht auf mich selbst.

Helfen!!

Der tote Wald war durchquert, noch eine sanft ansteigende Prärie, und dort ragte der kahle Berggipfel über die Tannenkulisse hinweg.

Ich mußte ihn umgehen, nach Osten zu war die Strecke kürzer, ich bog um den äußersten Waldzipfel, und wie Gespenster rasten da zwei Reiter über das weiche Moos, voran ein Weib mit flatterndem schwarzen Haar, hinterdrein ein Kerl wie ein Strauchdieb: Das war Jan Grosch, Tuckers Vertrauter, einer der Mörder Malcolms!

Wie unheimliche Erscheinungen verschwanden sie, hatten mich nicht gesehen, hatten das Grauen in den wilden Augen gehabt oder die Angst … die Angst …

Und – – mit Recht Angst, denn ein dritter Mann zu Pferde nahte schon, der alte Stanhoop!

Hatte mich meine Geistesgegenwart denn völlig verlassen?! Was lähmte mich so, daß ich wie ein Narr den Zuschauer spielte?!

Vielleicht war es Stanhoops entsetzliches Gesicht, vielleicht der Blutstrahl, der da im Takte des Herzschlages aus seiner fingerlangen Halswunde hervorsprang!

In die offene Prärie rasten die drei, – Stanhoop bekam freies Schußfeld, – schoß, traf nicht, und der Schurke Grosch warf seinen Gaul herum, feuerte ebenfalls aus dem Sattel …

Stanhoops Pferd schnellte mit allen Vieren hoch, brach zusammen, begrub den Reiter unter sich, und das schwarze Weib, von deren diabolischer Schönheit nur ein visionärer Eindruck haften blieb, und Jan Grosch sprengten davon, tauchten im toten Walde unter.

Stanhoop war tot, als ich ihn unter dem toten Pferde hervorzog. Drei Kugeln in der Brust, ein tiefer Streifschuß am Halse, – das hatte auch diesen Riesen der Wildnis gefällt!

Stanhoop brauchte keine Hilfe mehr, aber die Ärmste brauchte mich, und abermals jagte ich dahin, keuchend, überanstrengt, unnötig meine Kräfte vergeudend: Sinnlos!

Das war es: Sinnlos, verwirrt, unfähig, mich hineinzufinden in dieses Drama der weiten Unendlichkeit Kanadas …! –

Ich kam zu spät.

Die, die der Tod hier fällte, konnte nichts mehr erklären. Ich war auf Vermutungen angewiesen.

Ich näherte mich der Hütte im toten Walde, und mein Blut erstarrte, als das schrille Bellen von Schüssen kurz auflebte und wieder erstarb.

Ich sah noch nichts, – aber Bully raste mir voran mit schleifender Leine, und als ich nach Minuten vor der Hüttentür stand, lag neben mir Jan Grosch, Kugel in der Stirn, und quer über der Schwelle lag die blonde Fremde auf dem Gesicht …

Bully saß da, Bully regte sich nicht, Bully hatte die Ohren nach hinten gelegt und starrte unverwandt in die Hütte hinein.

Und da hörte ich in dieser lähmenden, quälenden Stille dort drinnen das leise Greinen eines Kindes.

Meines Kindes …

Des Kindes der Wildnis, vater- und mutterlos, – kaum in die Welt eingetreten, durch pfeifende Kugeln begrüßt, die Jan Grosch niederstreckten und die auch die Mutter töteten.

In der Hand der blonden Frau ruhte noch die Pistole, mit der [sie][9] Jim Stanhoops Schatz vor diesen Schurken verteidigt hatte.

Denn hier in der Hütte auf der Lichtung des toten Waldes hatte Stanhoop sein totes, kaltes Gold verborgen – mit verborgen, und hatte dadurch den Tod herbeigelockt, und der hatte alle niedergemäht, nur das schwarze Weib nicht, das für mich ein Phantom von teuflischer Schönheit war.

 

5. Kapitel.

Die schwarze Hexe.

Ein Mann, ein neugeborenes Kind und ein treuer, häßlicher, bissiger und doch so kluger Hund inmitten der Wildnis.

Inmitten einer Waldblöße, deren freundliche Blumen und frische Tannentriebe und Weidenkätzchen vor diesen Untaten hätten verdorren müssen!

Aber die Natur nimmt keinen Anteil an den Geschicken der Menschen, die Natur bleibt der äußere Rahmen des Geschehens, und wir Menschen bleiben nichtige, unwichtige Einzelerscheinungen dieser selben Natur. Werden und Vergehen, neues Werden und neues Vergehen lösen sich ab in vorher bestimmtem Wechsel. Frühling naht, Sommer kommt, Herbst kündet den Winter: So ist des Menschen Weg!

Eine Frühlingsknospe, ein Menschlein, kaum erst geboren, klagt mit feinem Stimmchen das Schicksal an, das ihm die Mutter nahm.

Ein Mann, dem an den Schläfen das Grau des Erlebens sich färbte, steht hilflos vor diesem in ein Wollhemd geschlungenen Geschöpf mit dem krebsroten Gesicht und zermartert sich das Hirn, wie dem Kinde Nahrung, Pflege geboten werden könnte.

Ein Hund sitzt vor dem Bett der toten Mutter, auf dem das Kindlein liegt, und hat die Ohren emporgerichtet und wedelt ganz, ganz wenig mit dem Stummelschwanz.

Wedelt das Kindlein an, meinen Schützling, mein Kind!

Das Leben verlangt gebieterisch sein Recht, und dieses heißt: Behüte mich, – die Toten haben Zeit!

Das Leben ist hier ein Bündel, aus dem sich Ärmchen emporrecken und mir zuzuwinken scheinen: Hilf mir!!

Das Leben den Lebenden!

Nahrung für dieses Kind!!

… Fern, ganz fern von den Siedlungen der Menschen mitten in der nordkanadischen sommerlichen Wildnis trägt ein Mann einen Säugling eilends dorthin, wo ein klügerer Mann vorsorglich ein Karibumuttertier mit einem Jungtier neben der Hütte auf den Berghang in die Umzäunung sperrte und mich zusehen ließ, wenn er das Muttertier zu melken suchte.

Das Leben den Lebenden!

Ich kam vorüber an Jim Stanhoops Leiche, und Bully heulte leise Klagetöne.

Ich komme oben zur Hütte, und finde einen zweiten Toten, den Mörder Fred Tucker, dem Stanhoops Jagdmesser bis zum Griff im Herzen sitzt. Ich lege das Kind auf Stanhoops verwaistes Lager und stehe da und überlege.

In der Box rasen die Schlittenhunde, gebärden sich wie toll, wittern das Blut …

Ein infernalischer Lärm, aber er stört mich nicht. Ich muß überlegen, muß mir Erinnerungen wachrufen an Monate, als ich unter Wilden oder Halbwilden hauste und ihr Tun und Treiben beobachtete.

Was fängt man mit einem Säugling an, der kaum erst vier Stunden alt ist?

Baden …!

Ich war froh als mir dies einfiel: Baden!

Ich zünde das Feuer auf dem Herde an, hole Wasser drüben aus der Quelle, und als der Kessel, nur ein kleiner Reisekessel, gefüllt ist, beginnen schon die Schwierigkeiten. Eine Badewanne, auch nur etwas Ähnliches war nicht vorhanden. Wenn ich Bretter gehabt hätte – ja dann!! Und da dachte ich an mein Fellboot, das auf einem der Schlitten die Reise bis hierher mitgemacht hatte.

Ich habe nicht das Umiak vom Bibersee nach oben geholt, sondern schnell ein Gerüst aus Ästen zusammengestellt und ein Karibufell darübergespannt.

Das Kind der Wildnis nahm sein erstes Bad in einem kleinen kahnähnlichen Lederzuber.

Dann schrie es weiter und der Mann überlegte, ob so ganz winzige Säuglinge sofort Nahrung erhalten dürften. Und der Mann tat das Richtige, brühte ein wenig Tee auf, süßte ihn schwach und gab dem Kinde zu trinken und wechselte nachher das, was er als Windeln benutzte.

Das Kind schlief, und Bully saß vor dem Lager, und der Mann nahm einen Spaten und die Büchse und verscharrte den toten Fred Tucker weitab vom Waldrand und ließ ihm Stanhoops Messer im Herzen stecken, stampfte die Erde fest und wälzte Steine darüber.

Dann schaute er nochmals nach dem Kinde, es schlief, und er nahm den einen Radschlitten und spannte acht Hunde davor und fuhr zur Lichtung im toten Walde.

Bully bewachte das Kind.

Und der Mann war ich, denn es gab jetzt außer mir keinen anderen, so weit das Auge reichte, – die anderen waren tot, erschossen.

Ich beeilte mich. Die Hunde liefen flott, denn die Peitsche pfiff über ihre Köpfe hin, und sie keuchten und bellten, sie waren zu fett und träge geworden. Es war nicht eine trächtige Hündin unter ihnen, und ich wußte nicht einmal, ob unter den noch in der Box verbliebenen sich ein weibliches Tier befände.

Auf der Lichtung vor der Hütte lag starr und steif Jan Grosch. Er wurde verscharrt.

Auf der Schwelle lag starr und stumm die blonde Unbekannte, die hier Mutter geworden. Ich hüllte sie in eine Wolldecke, – zwei Kugeln hatten die Brust getroffen, die mütterlich prall einem neuen Menschlein hatte Nahrung spenden sollen. Ich legte die Tote auf den Schlitten und band sie fest, durchsuchte die Hütte, packte alles ein, was ich brauchen konnte, und fuhr wieder davon zu dem anderen Toten, zu Freund Stanhoop, vorbei an dem erschossenen Pferde, und lud auch ihn auf den Schlitten. Meine Gedanken kehrten bei dieser traurigen Arbeit immer wieder zur Lichtung zurück, wo Bully der Klügere gewesen, als er mich nach Westen hatte abdrängen wollen, denn dort, daran zweifelte ich nicht, waren das schwarze Weib und Tucker und Grosch zu unserem Berge geritten, und Bully hatte sie gewittert. Hätte ich dem besseren Instinkt des Hundes getraut, wäre ich Bully gefolgt, so würde vielleicht …

Vielleicht?!

Das Schicksal hatte bereits entschieden. Meine Pflicht lag in der Gegenwart und Zukunft und hieß: Kanada!

Mein Kind war ein Mädchen, und als ich es in das laue Wasser getaucht und gewaschen hatte, da war dieses Bad des verwaisten kleinen Geschöpfes Taufe gewesen:

Kanada,
Das Kind der Wildnis.

Aber in meinem Herzen kürzte ich den Namen ab zu Ada, und wenn ich, die kleine Ada auf dem Schoße, vor der Hütte sitze und in die endlose, bunte Ferne dieser großen Einsamkeit schaue, – wenn das Kind leise schnurrte wie ein Kätzchen, dann streiche ich sanft über die blonden Haare hin, die feiner wie feinste Seide sind, und singe dem Kinde, meinem Kinde, ganz leise das Lied der Wildnis …

– Die blonde junge Mutter mit den reinen, schmerzlichen Zügen und den alten Trapper mit dem reinen, gütigen Herzen begrub ich in der Nähe der Hütte und gab mir viel Mühe mit diesem Grabe. Ich holte passende Felsstücke (am anderen Tage) und errichtete eine Einfassung um die beiden Gräber und stellte zwei spitze, breite rötliche Felsscheiben auf das Grab – Denkmäler. Das tat ich, wie gesagt, erst später, denn inzwischen waren schon wieder Stunden vergangen, das Kind schrie, war wach, und ich hielt es für notwendig, nunmehr das Muttertier in der Fenz zur Amme meiner kleinen Ada zu machen.

Ein mühseliges Geschäft, ein wildes Renntier zu fesseln, ohne daß es verletzt wird. Ich legte es auf die Seite, band die gefesselten Beine noch an Pflöcke und holte das kleine Bündel und hatte einen kritisch-ernsten Zuschauer: Bully!

Ich kniete an den Hinterbeinen des Karibu und säuberte die eine Zitze des vollen Euters mit Wasser und schob sie dann der kleinen Ada in das Mündchen.

Mir klopfte das Herz vor Spannung.

Und siehe, das Kind begann zu saugen, und das Renntier hob nach einer Weile den Kopf und schaute hin und sah das fremde Wesen an seinem Euter und legte den Kopf wieder auf den Boden und hielt ganz still.

Das war meines Kindes erste Mahlzeit im Sonnenlicht der Sommersonne seiner Heimat, der Wildnis.

Viele andere gleiche Mahlzeiten folgten, und mit jeder wurde das Muttertier fügsamer und zahmer, und jetzt brauche ich es nicht mehr zu fesseln, und ich weiß, daß es der Mutterinstinkt ist, der das wilde Karibu zwingt, selbst ein fremdes Junges zu säugen, genau wie die große Hündin in den zoologischen Gärten die Löwenbabys ernährt.

Inzwischen ist auch eine zweite Badewanne angefertigt worden, ich habe Lederriemen neben dem Hause gespannt, ich muß sehr viel waschen, und wenn ich diese Windeln säubere, lächele ich zuweilen …

Man lernt alles, und mein Kind darf von mir alles verlangen.

Ich liebe es. –

In der zweiten Nacht nach der Geburt der kleinen Kanada wache ich über dem Bellen der Schlittenhunde auf.

Auch Bully knurrte dumpf.

Ich horchte, – ich bin sehr mißtrauisch und vorsichtig, denn noch immer lebt der eine der drei Mordgesellen, das schwarze Weib, der schwarze Dämon. Ich halte nachts Fenster und Türen verrammelt, und neben meinem Lager liegt eine ganze Sammlung von Waffen, und neben diesen schläft die kleine Kanada in ihrer aus Weidenruten geflochtenen Wiege, auf die ich besonders stolz bin. Für das Kind der Wildnis ist die Nähe dieser Mordwaffen Symbol, – die Wildnis wird auch von meinem Kinde einst verlangen, daß es frühzeitig die Waffen führen lernt. Mein Entschluß über unser beider Zukunft ist bereits gefaßt: Ich werde dieses Land nicht eher verlassen, als bis mein Kind erwachsen ist. Es soll groß und stark werden im innigen Zusammenleben mit der Natur, und es soll rein und gut werden angesichts dieser blauen Ferne, hinter der die anderen Menschen ihr anderes Leben sich mühsam, neidisch und habgierig zurechtzimmern!

Auch Bully knurrte, und meine Hand fand die Waffe, das Kind schlief, und ich lauschte und unterschied in dem wütenden Kläffen der Meute fremde Töne fremder Bestien: Wölfe!

Und es war mein Fehler, daß die Wölfe herbeigelockt worden waren. Ich hatte das tote Pferd liegen lassen, wo es lag, und der Verwesungsgeruch war in die Wildnis geweht und hatte die immer hungrigen Wölfe zu billigem Fraße gerufen.

Ich horchte.

Es mußte ein ganzes Rudel sein, obwohl die Bestien sich nur im mageren Winter zusammentun und dann Treibjagden abhalten auf andere Kreaturen.

Diese Nachbarschaft war mir nicht erwünscht. Wollte ich sie gründlich wieder loswerden, mußte sofort etwas geschehen.

Ich nahm zwei Büchsen mit, Bully mußte das Kind bewachen, ich schulterte auch einen Spaten und schlich nach Osten um den Berg herum. Es war dem Namen nach Nacht, – es war taghell, die Sonne schien, und zwei Stunden darauf vergrub ich die Reste des Pferdes und acht fette Wölfe. Ich hätte ihnen die Pelze ausziehen können, aber das Sommerfell ist wertlos, und erst im September erscheinen daher auch die Fallensteller wieder in ihren weiten Revieren und treffen Vorbereitungen für die Winterjagd.

Ich hatte hier in unserer Gegend am Stanhoop-Berg und am Bibersee bisher keinerlei Anzeichen gefunden, daß ich zum Winter mit Nachbarn rechnen müßte. Diese Wildnis zwischen Mackenzie und Großem Bärensee ist zu entfernt von allem, was auch nur den Anschein von Kultur hätte. Die Jäger des Nordens wollen wenigstens an einem Tage der Woche sich irgendwo zusammenfinden, zu fünf, sechs, und wollen trinken und spielen und die Stimmen anderer Menschen hören außer den Stimmen ihrer Hunde und den Tönen der Wildnis, die für sie nur „Geschäft“ bedeuten, blutiges Geschäft des Tierfanges. Dieser eine Tag entschädigt sie für sechs Tage ewigen Kampfes gegen die winterliche Wildnis mit ihrer grausigen Kälte, den Schneestürmen und den Wölfen, die dann halb toll vor Hunger durch die Wälder rasen und schon so manchen Trapper zerrissen bei seinem Rundgang durch sein meilenweites Revier.

Ich fürchte diesen Winter nicht. Ich werde vorsorgen. Es wird meinem Kinde und mir und Bully und der Meute an nichts fehlen. Es ist nicht mein erster Winter im Nordland, und der erste war eine Tragödie um ein Millionenerbe, – dieser zweite wird ein friedliches Schauspiel „Einsame Menschen“[10] sein. –

Acht Tage ist die kleine Ada, mein Kind, und dieses Kind gedeiht und kräht die Wände der Blockhütte und draußen die Sonne an, und wenn ich arbeite und die Wände des Hauses verdoppele und Erde und Moos in die Zwischenräume stopfe und die Stämme für den Stall zurechtschneide, steht die Wiege immer in der Nähe, und noch näher stehen zwei Büchsen, und ganz nahe an der Wiege liegt Bully und läßt kein Auge von dem Kinde und hält die Ohren nach vorn gerichtet und horcht und blinzelt zuweilen ringsum. Er kennt seine Pflichten, und er liebt unsere kleine Ada wie mich, und das will viel heißen. –

Gestern nacht waren die Hunde wieder sehr unruhig und trieben mich ins Freie. Ich glaubte an der Fenz eine Gestalt zu erkennen, aber der bedeckte Himmel gab wenig Licht, und ich konnte mir auch nicht recht denken, daß das schwarze Weib es wagen sollte, hierher zu kommen und nochmals zu versuchen, Stanhoops erspartes Gold zu rauben.

Gestern Nacht schlugen die Hunde dann zum zweiten Male an, und ein Blick durch das Luftloch der Fensterläden zeigte mir eine Reiterin, die drüben vor dem Grabe, dem Doppelgrabe, hielt.

Es war „sie“.

Bevor ich feuern konnte, gab sie ihrem Gaul die Sporen und fegte im Galopp in den Wald hinein …

Dieser Weibsteufel muß vertrieben werden. Morgen werde ich ihn aufspüren und Abrechnung halten. Ich werde das Zelt mitnehmen und beide Radschlitten, auch Adas Amme und das Jungtier sollen uns begleiten, auch das Umiak verlade ich wieder, und wir werden die Schwarze finden und dann soll sie mir Rede und Antwort stehen. Vielleicht weiß sie etwas über Adas Mutter und über der blonden jungen Frau Beziehungen zu dem greisen, gütigen, groben Jim Stanhoop.

Ich selbst weiß nichts. Ich habe weder Papiere noch Briefe noch Aufzeichnungen gefunden, die in den Romanen stets rechtzeitig auftauchen.

In der Wildnis taucht kein Papier auf.

Das, das ich gut verwahrt hatte, ist mein Tagebuch, also Sergeant Malcolm Davis’ Notizbuch, und desselben Malcolm Zettel, der mich für einen Gentleman erklärt und den für einen Lump, der O. K. Abelsen verhaftet!

… Morgen also, morgen rechnen wir mit dem Weibsteufel ab!

 

6. Kapitel.

Der Kreuzungsritter.

Er kam dahergezogen wie ein mongolischer Händler, der mit ein paar Lastkamelen einsam die Wüsteneien durchquert.

Es war ein merkwürdiges Bild, das ich durch mein Fernglas beobachtete, diese vier hochbepackten struppigen Gäule, dazu der baumlange, dürre Gentleman, der auf dem fünften hing wie ein halb zusammengeklapptes Taschenmesser.

Ich hatte gerade das Umiak vom Bibersee durch die Hunde nach oben schleppen lassen, und ein Zufall zeigte mir da die Karawane, die gerade von Westen her aus einem Wäldchen in eine steinige Ebene einbog.

Der Mann war wirklich allein mit seinen fünf Pferden und seinen acht Hunden, die hinter dem letzten Gaul angeseilt dahintrotteten.

Wollte der Fremde hier irgendwo ein Warenhaus errichten?! Was sollte der ganze lächerliche Aufzug?!

Unangenehm war nur, daß er die Richtung auf den Stanhoop-Berg einschlug, und daß mir jeder Besuch, jede Nachbarschaft lästig waren. Vielleicht änderte er doch noch seine Marschroute und verschonte mich. Möglich, daß es ein Fallensteller war. Obwohl die Brillengläser, die in seinem länglichen Gesicht funkelten, bei allen Trappern ein unauslöschliches Gelächter hervorgerufen hätten.

Der Fremde verschonte mich nicht. Als er mein Blockhaus, die Fenz und die Wiege der kleinen Ada erblickte, winkte er mir mit seinem Schlapphut höflich zu und stieg steifbeinig aus dem Sattel.

„Morgen, Mister … Schöner Tag heute … Gibt es hier Wölfe?“

Bei näherem Zusehen hatte er recht einnehmende Züge, er konnte kaum dreißig sein, seine Bewaffnung war vorzüglich, aber die schlaffe Körperhaltung und die Hornbrille schädigten den Gesamteindruck.

Ohne Übergang nannte er seinen Namen.

„Justus Ritter von Napy, Mister … Mit wem habe ich die Ehre?“

„Zunächst“, sagte ich lächelnd, „quälen Sie sich nicht so übermäßig mit dem Englischen ab … Sie sind Deutscher, und ich spreche auch deutsch, obwohl Sie mir etwas spanisch vorkommen. Schmidt heiße ich.“

„Famos!! Ich bin Österreicher, nein, ich war es … Die Burg meiner Ahnen hat Italien aus Versehen samt ganz Südtirol verschluckt.[11] – Sagen Sie, Herr Schmidt, gibt es hier Wölfe?“

„Im Winter übergenug, jetzt nur durch fette Happen. – Wollen Sie Wölfe schießen?“

„Ach nein, – züchten!“

Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben.

„Züchten?!“

„Nun, genauer ausgedrückt: Kreuzen!! Mit meinen Hündinnen da … Alles Prachttiere. Ich denke damit viel Geld zu verdienen.“

Ich starrte ihn entgeistert an. Auf den Gedanken war hier im Nordland noch kein Mensch gekommen!

Er meinte ganz ernst: „In Fort Maupherson haben sie mich auch für verrückt erklärt … Aber ich weiß stets so ziemlich genau, was ich tue. Ich werde nachher die Lacher auf meiner Seite haben. Für gute Kreuzungen zwischen Wolf und Hund werden in Südkanada und in den Vereinigten Staaten Riesenpreise bezahlt, sowohl von Privatleuten als auch von der Polizei. In meiner Verrücktheit liegt System. Ich konnte doch nicht ewig in Edmonton Kellner spielen. Ich habe mein erspartes Geld gut angelegt – – da, bitte!“

Er zeigte auf die Gäule und die Warenballen und Hunde. „Es ist hier ja so unendlich viel Platz, eine Zuchtfarm einzurichten, Fleisch kostet nichts, Drahtgeflecht für die Boxen habe ich mit, und ich falle immer auf die Füße, Herr Schmidt.“

Der Kreuzungsritter war bestimmt harmlos. Er hatte so ehrliche Augen, ein so gewinnendes Lächeln, daß man ihm gut sein mußte.

„Nehmen Sie Platz“, bat ich und deutete auf die Bank neben der Tür. „Leider kann ich Ihnen nur einen miserablen Schnaps anbieten, aber …“

Er war neben Adas Wiege getreten, fuhr jedoch hastig zurück, als Bully nach seinen Waden schnappte. – Ob er bei seiner Magerkeit wirklich Waden hatte, bezweifelte ich. Seine Lederhosen täuschten nur Waden vor.

„Oh – welch ein eigentümlicher Hund!“, – und er musterte Bully kopfschüttelnd. „Der würde sich zum Kreuzen schlecht eignen.“

„Das fürchte ich auch, es würde ein Untier für ein Raritätenkabinett herauskommen. – Setzen Sie sich doch.“

Er sagte sehr höflich: „Ich liebe Kinder … Das ist ja ein ganz reizendes Baby! Gratuliere Ihnen, Herr Schmidt … Wirklich reizend … Sie Glücklicher, hier so mit Weib und Kind hausen zu dürfen.“

„Ich bin … Witwer …“, erklärte ich ernst. „Die Mutter des Kindes starb ganz kurz nach der Geburt.“

Justus Ritter von Napy streckte mir herzlich die Hand hin. „Mein Beileid … Sie Ärmster, ich habe da sehr taktlos eine frische Wunde Ihres Herzens berührt, – verzeihen Sie!“

Er war ein guter Kerl, das fühlte ich. Das Geschick hatte ihm, wie er mir dann offen erzählte, böse mitgespielt, aber er hatte sich nie unterkriegen lassen.

„Wir Napys sind zähe, Herr Schmidt! Und ich bin der allerletzte Napy … Nun werde ich Hundezüchter, und wenn das fehlschlägt, werde ich Trapper wie Sie. – Meinen Sie wirklich, daß es mir gelingen wird, Wölfe einzufangen?“

„Ja – – drüben!“ Ich deutete nach Osten. „Zehn Meilen von hier, immer dort am Bache müssen Sie sich halten, dort liegt ein kleiner See inmitten von Wäldern und jetzt noch blühenden Prärien. Dort sind Wölfe, weil dort Karibuherden sind.“

Er putzte seine Brille und steckte sie in ein Futteral. „Es ist nur eine Sonnenbrille, wissen Sie … diese Mitternachtssonne ist mir schädlich.“ Er schmunzelte. „Sie müssen nicht alles glauben, was ich sage. Ich habe eine sehr lebhafte Phantasie. – Kennen Sie Fort Maupherson?“

„Flüchtig …“

Das stimmte ja: Ich war ein Flüchtling, und ich legte auf die Freunde im Fort keinerlei Wert mehr.

Er bot mir eine Zigarre an.

„Sehr nett, daß Sie hier hausen, Herr Schmidt. Wir wollen gute Nachbarschaft halten … Werden Sie mir helfen, ein Blockhaus zu errichten? In der Theorie beherrsche ich diese Art Baukunst, in der Praxis – – na, wir werden ja sehen. Dumm bin ich nicht.“

„Nein, bestimmt nicht. Nur Phantast. Wie denken Sie es sich eigentlich, die Hunde und Wölfe im Winter durchzufüttern? Glauben Sie, hier rennt das Wild wie in einem zoologischen Garten umher?“

„Warten Sie ab …“ Er sog an seiner Zigarre und blickte wieder nach der Wiege hin. „Ein reizendes Baby … Miß Jane Audrey aus Edmonton war genau so hellblond … Armes Mädel!“

Ich horchte auf. „Ist ihr etwas zugestoßen?“

„Das schlimmste, was einem blutjungen, alleinstehenden Ding passieren kann … Sie war Hotelsekretärin im Palace-Hotel, wo ich Kellner spielte. Ein Schuft heiratete sie, ließ sie sitzen und verduftete. Der Kerl war ein ausgesprochener Gauner. In Edmonton hieß er Rodder, aber er wird wohl noch ein paar Dutzend andere Namen auf Lager gehabt haben. Er soll unter die Walfänger gegangen sein, seine Frau reiste ihm nach und verschwand … tot … wahrscheinlich, armes Ding!“

„Wie sah denn dieser Robber aus“, warf ich scheinbar gleichgültig ein.

„Dja, mein Lieber, – bald so, bald so …“ Er beschrieb ihn, so gut er es vermochte, und ich wußte nun, wer meiner kleinen Ada Vater war: Fred Tucker!

„Sind Sie dem Kerl mal begegnet, Herr Schmidt?“

„Vielleicht … Ich kenne viele Schurken, die meisten davon sind schon in der Hölle, und die, die dort noch nicht Freiquartiere haben, bekommen von mir eine Gratisfahrkarte.“

„Aus Blei mit Nickelmantel“, ergänzte er und betrachtete mich von der Seite, ließ seine Zigarre fallen, bückte sich, und mit einem Male schaute ich in das Mündungsloch seiner Repetierpistole.

Der Mann war mit einem Schlage völlig verändert. Er stand auf, seine schlappe Haltung war straff, das frische Gesicht bekam harte Falten.

„Sie sind Abelsen, der den Sergeanten Malcolm erschoß“, sagte er kalt. „Sie mögen es aus Notwehr getan haben … Trotzdem: Ich kenne Ihre Geschichte, und ich möchte Sie eins fragen: Trafen Sie Milli Haynes hier?“

Armer Ritter von Napy.

Bully hatte die Szene interessiert beobachtet, sah die auf mich gerichtete Schußwaffe, und das genügte ihm.

Bully sprang Napy von der Seite an, warf ihn im ersten Anprall zu Boden und lag über ihm, das weiße Gebiß dicht an der Kehle des törichten Angreifers.

Ich hob die Pistole auf.

„Bully – weg da!! – Stehen Sie auf, Napy. Hier, lesen Sie diesen Zettel.“ Ich zog aus dem Jackenaufschlag eine Fischblase heraus, in die ich Malcolms letzte Zeilen wasserdicht eingebunden hatte.

„… Ich habe Malcolm Davis nicht erschossen. Fred Tucker tat es, und Tucker ist Rodder. – Wer ist Milli Haynes?“

Napy murmelte eine Entschuldigung und setzte sich wieder.

„Milli Haynes ist ebenfalls ein Mädchen aus Edmonton“, erklärte er freimütig. „Auch sie ist verschwunden, genau wie ihr Vater, an dem die Welt nicht viel verloren hat. Er soll unter dem Deckmantel eines Indianerhändlers böse Geschichten begangen haben, aber er war ebensowenig zu fassen wie Rodder.“

Das besagte nicht viel.

„Beschreiben Sie mir Milli Haynes“, bat ich in ganz bestimmter Absicht.

Napy wurde lebhaft. „Das schönste Mädchen von Edmonton, – leider durch ihren Vater, der zwei Jahre vor ihr verschwand, in Verruf geraten. Aschblond, rassig, eine glänzende Reiterin und …“

„Wirklich aschblondes Haar?“

„Ja – – Bubikopf, – entzückend, sage ich Ihnen! Ich … ich …“

„Stottern Sie nicht! Sie sind in das Mädel verschossen gewesen. Wo steckt sie denn?“

„Sie ging bei Nacht und Nebel nach dem Süden, nachdem sie ihr Haus verkauft hatte …“

„Wann?“

„Hm – sind Sie aber neugierig.“

„Ich habe meine Gründe …“

„Wann, – das mag im April gewesen sein, – ja anfangs April. Niemand weiß, wo sie ist. Niederträchtige Menschen haben da widerwärtige Gerüchte verbreitet, daß Milli die Geliebte eines der Neureichen der neuen Großstadtsiedlung Edmonton gewesen sei, – alles erfunden und erlogen – alles!“ Er ereiferte sich in sehr verdächtiger Weise.

Vielleicht liebte er diese Milli Haynes.

Aber was meine Vermutungen anging, – Milli Haynes konnte nicht mit dem schwarzen Weibsteufel identisch sein, und auch die andere Frage, ob jene Jan Audrey meiner kleinen Ada Mutter sei, war abermals zweifelhaft geworden. Die Gerüchte über Milli Haynes mochten stimmen, – möglich, daß der alte Händler Haynes meinen Freund Stanhoop gut gekannt hatte und daß dieser der unglücklichen Milli bei sich Unterschlupf gewährt hatte. Hier ging es ja letzten Endes um die Haarfarbe, und die junge Mutter, die dort drüben neben Stanhoop ruhte und den ewigen Schlaf schlief, hatte nicht ausgesprochen hellblondes, sondern leicht meliertes Haar gehabt.

Ich war so klug wie zuvor, – ich hatte vielleicht die Wahl zwischen Jan und Milli, aber sicher war auch das nicht.

„Worüber grübeln Sie nach, Abelsen?!“

Ritter von Napy betrachtete schon wieder das Kind, und ich wußte, was er fragen würde.

„Über vieles …“ Ich schaute in die weite, herrliche Landschaft hinaus und sah den See im Tannendunkel glitzern, den ich Napy zur Niederlassung empfohlen hatte. Sollte ich mich freuen, einen Nachbar zu erhalten?! Ich hatte an dem Kinde, an Bully, den Hunden und der Wildnis übergenug Reichtümer und Abwechslung.

Napy zauderte. Ich fühlte, die Frage schwebte ihm auf den Lippen …

Ich kam ihm zuvor. „Sie möchten wissen, wie ich zu dem Kinde gekommen bin? Es ist mein Kind, das muß Ihnen genügen.“

Er schwieg dazu. „Ich will Sie nicht weiter belästigen“, meinte er nach einer Weile. „Ich muß mich auch beeilen. Ob ich den See noch vor Abend erreichen kann?“

„Abend?! Es bleibt ja doch hell … – Ja, Sie erreichen ihn, und demnächst besuche ich Sie und helfe Ihnen.“

Er drückte mir die Hand, sein ehrliches Gesicht war sehr ernst. „Sie sind Einsiedler, Abelsen … Sie schätzen die Menschen nicht sehr. Ich habe im Fort genug über Sie gehört. Sollten Sie mich je brauchen, so zünden Sie hier oben ein stark qualmendes Feuer an … Wenn ich Ihnen auch als Phantast erscheine: die Napys sind zäh wie Leder und fallen immer auf die Füße – wie Katzen, und große Katzen können gefährlich werden … – Auf Wiedersehen. Ich muß den Berg wohl nach Norden zu umreiten …? Wiedersehen …“

Ich war froh, daß er die Gräber nicht sah und daß er nichts mehr fragte.

Seine letzte Bemerkung blieb mir etwas dunkel. Sollte es eine versteckte Drohung sein, oder nur ein Hinweis darauf, daß Justus von Napy ein wertvoller Kamerad sein könnte?!

Ich winkte ihm nach, und er verschwand mit seiner Karawane um die Waldecke.

 

7. Kapitel.

Die Wiege des Kindes.

… Ein sonderbarer Kauz, dieser Napy, – ein Mensch, der mir gefiel und der für mich doch etwas Unklares, Verhülltes in seinem Wesen hatte. – Hundefarm?! – Konnte das nicht nur ein Vorwand sein, in meiner Nähe zu bleiben?! Gab es ein Spiel des Zufalls, das einen Fremden ausgerechnet hier an den Stanhoop-Berg führte, hier, wo doch die Wildnis keine Grenzen kannte und tausend ungebahnte Wege in tausend unbekannte Gegenden liefen?!

Irgend etwas in meinem Innern warnte mich …

Sinnend stand ich vor der Wiege der kleinen Ada, und ganz zart strich ich über das Köpfchen hin und fragte leise: „Wer bist du, du Kind der Wildnis?!“

Das feine plärrende Stimmchen antwortete mir in seiner Art mit seinen kindlichen Lauten, die nichts verrieten und die auch nichts verraten konnten.

Nur eine einzige Person gab es, die hier Aufklärung geben konnte: Das schwarze, dämonisch-schöne Weib, das damals toll vor Angst vor Jan Grosch vor Stanhoop geflohen war und das trotzdem die Kühnheit besaß, sich hier abermals zu zeigen!

Ich hatte sie gesehen, ich hatte die Spuren ihres Pferdes eine Strecke weit verfolgt, ich hatte Bully, und Bully würde diese Fährte selbst da finden, wo die Reiterin vielleicht allerlei Künste angewandt hatte, um mich irrezuführen und ihren Schlupfwinkel zu verbergen.

Meine Zurüstungen zur Fahrt in die Wildnis waren fast beendet. Nur gut, daß Justus Napy sich nicht noch einmal Zeit gelassen hatte, hinter mein Blockhaus und den Stall zu schauen! Dort standen die gepackten Schlitten mit den plumpen Rädern, dort lagen die Vorräte an Rauchfleisch, Mehl, Tee, – – vieles andere. Was ich nicht mitnehmen konnte, würde ich dort verstecken, wo nun auch Stanhoops Goldschatz ruhte.

Ich schloß das Kind in die Hütte ein, ließ Bully bei ihm, verschloß die Fensterläden, machte die anderen Hunde los, die an mir bereits mit gleicher Treue hingen wie einst an Jim Stanhoop, der sie wohl sehr gut behandelt hatte, genau wie ich, und das merkt ein Tier. In ihrem Schutze wußte ich die Hütte sicher, – die beiden Proviantsäcke, die ich in dem Goldversteck mit verstauen wollte, brauchte ich nur eine kurze Strecke zu tragen.

Hinter dem Grabmal am Waldrande lag drinnen im dunkelsten Tannengrün eine Gruppe von Felsen. Eine kleine Quelle entsprang dort und schlängelte sich nach Osten in dünnem Rinnsal den Berg hinab und floß schließlich in den Bibersee. Zwischen diesen dick bemoosten und von langen Flechten wie Bärten geschmückten Steinen gab es in dem einen Block von fünf Meter Höhe und Breite, ein geräumiges, trockenes Loch, das durch einen Moosvorhang verschlossen war. Die Tannenäste reichten dort so tief, daß die Felsgruppe kaum zu bemerken war. Dicke Kreuzspinnen spannen dort ihre meterweiten Netze, und gerade diese Spinnennetze zeigten mir in ihrer Unberührtheit, daß kein Fremder hier herumgeschnüffelt hatte, – kein Fremder, also das Weib, das schwarze Weib, Genossin von Mördern, die nun in der keuschen Erde der Wildnis faulten.

Ich verbarg die Säcke, ohne die Spinnen zu stören, und als ich den Moosvorhang wieder in Ordnung gebracht hatte, geschah das, was in mein Hirn einschlug wie Feuerbrände.

Von der Hütte her das wütende Kläffen der Meute, – Schüsse – nochmals Schüsse, und dann ich selbst, sonst so besonnen, so ohne Nerven, wie ein Unsinniger davonrasend, stolpernd, stürzend, bis ein zurückschnellender Ast mich blendet, mir die Augen wie Feuer brennen, die Tränen hervorquellen, – – halb blind taumele ich weiter, und halb blind renne ich gegen Bäume, Steine, erreiche das Freie, reibe diese brennenden Augen, die mich blenden, und ein letzter Knall zerreißt die Stille, ich fühle den kurzen, dumpfen Schlag gegen die Stirn und werfe die Arme hoch, falle nach vorn zwischen Gräser und Blumen.

Stunden – – Tage?!

Ob Stunden, Tage vergangen sind, ich weiß es nicht.

Die Sonne bleibt am Himmel, und in den kurzen lichten Momenten sehe ich in flimmernden, verwehten Bildern tote Hunde, die von den lebenden Hunden geplünderten Fleischvorräte der Schlitten, – Verwesungsgestank weht mir entgegen, die Hüttentür ist offen …

Und wieder versinke ich in das schwarze Nichts der Vorhalle des Todes …

Bis die Stunde kommt, wo etwas Sanftes, Kühles mir die halb zerschmetterte Stirn streichelt, wo meine Augen bewußt die Umgebung erfassen und … Bully neben mir liegt, – der treue Bully mit einer gräßlichen, blutverkrusteten Wunde quer über dem Schädel …

Er leckt meine Wunde, und in seinen Augen ist ein Ausdruck, der mich rührt.

Das Kind!!

Ein lautloser Schrei der Qual zerfetzt mein Herz.

Das Kind!!

Wie konnte ich nur mein Kind vergessen!!

„Bully, wo ist Ada?“, – ein noch schlimmerer Gedanke zerwühlt mein Hirn.

Bully röchelt, winselt dumpf, legt die Ohren zur Seite …

Armer Kerl!

Ich krieche auf allen Vieren vorwärts, er schleppt sich neben mir weiter, – Herr und Hund in gleichem Zustand, beide kraftlos, beide halbtot durch diesen schwarzen Teufel von Weib, das kein Erbarmen kannte. Welch wahnwitziger Haß muß diese Frau wohl zu solchen Untaten treiben! Nur Haß kann es sein, – – aus welcher Quelle entsprang er?!

Ich krieche über die Schwelle, – hin zu des Kindes Wiege …

Leer – – leer!!

Und mit einem tierischen Brüllen fahre ich empor, taumele gegen den Tisch, reiße mich hoch … taste nach dem Wandbrett, nach der Brandyflasche, trinke, … und in den leeren Leib rinnt das trügerische Feuer des Alkohols, peitscht mich auf.

Ich werde ruhig, ganz ruhig, – die Peitsche brachte mir eins, das ich jetzt am nötigsten brauchte: Kühle, klare Überlegung!

Das Weib hat mir mein Kind gestohlen, – – ein schachmatter Mann wie ich wird sein Kind niemals zurückerobern.

Essen also, trinken, den Streifschuß an der Stirn säubern und verbinden, für Bully in gleicher Weise sorgen!

Stunden vergehen, und mein eiserner Wille hat das Unmögliche fertiggebracht: Wir, Bully und ich, sind versorgt, die toten Hunde – vier erschoß mir die menschliche Bestie – sind in den See geflogen, die Hütte ist aufgeräumt, und bei dieser Arbeit habe ich festgestellt, daß das Weib alles von Kinderwäsche mitnahm, was ich für mein Kind benutzt hatte … Auch das Kaributier und das Junge haben ihr Futter erhalten, – mit zusammengebissenen Zähnen, hinter denen Todesdrohungen für den Weibsteufel lauerten, habe ich das Muttertier, die Amme meines Kindes, gestreichelt, und die Verzweiflung mag mein Gesicht unnatürlich verzerrt haben.

Ich habe ja mein Kind geliebt, ich liebe es, und es ist mein Kind – mein Kind ganz allein, für mich allein erworben durch Blut und Jammer und treueste Pflege und unruhige Nächte, in denen ich das Atmen und leise Greinen des verwaisten Geschöpfes belauschte und mich marterte mit allerlei Zweifeln, ob ich der kleinen Ada vielleicht zu wenig, vielleicht zu viel von der Milch des Karibu gegeben hätte.

Mein Kind!

Und wenn ich Jahre gebrauchen müßte: Ich werde es wiederfinden! Es kann nicht tot sein! So bestialisch kann selbst dieses freventliche Weib nicht sein, daß es aus Haß ein hilfloses Menschenjunges umkommen ließe!

Dann fällt mir Justus Napy ein.

Ich zögere …

Ihn herbeirufen?! – Ich fühle, daß ich schlafen muß, daß noch Tage vergehen werden, bevor ich imstande bin, die Verfolgung der Diebin aufzunehmen. Aber Justus Napy?! – Das Mißtrauen erwacht wieder … Napy ist mir noch zu sehr Fremder, um ihn völlig einzuweihen, und das müßte ich tun, wenn ich seinen Beistand erbäte.

Ich werfe mich auf mein Lager, und so erschöpft bin ich, daß ich sofort in tiefen Schlaf versinke …

Aber ich habe meinen Körper doch unterschätzt. Als ich nach Stunden erwache, als ich mich rasiert habe, gegessen habe, bin ich wieder frisch wie zuvor, – ein Bad unten im See erquickt mich noch mehr, und ich klimme vom Seeufer den Berg hinan mit dem festen Vorsatz, noch heute aufzubrechen. Dem Stande der Sonne nach muß es jetzt elf Uhr vormittags sein, – meine Uhr ist stehen geblieben, als ich wie tot dalag – vielleicht drei volle Tage, schätze ich, denn Tage mußten dahingeschwunden sein, weil die erschossenen Hunde bereits verwesten und stanken.

Wir klimmen den Abhang hinan, Bully und ich, und Bully, der das Bad mitgemacht hat, läßt sich von mir an besonders steilen Stellen schieben und stützen, der Kolbenhieb hat ihn doch arg mitgenommen, in seinen Augen ist stets ein Ausdruck stummer Qual wie in denen eines Kranken, der seiner Umgebung sein Leiden verbergen möchte. Er ist nicht mehr der alte, oder noch nicht wieder der alte, vielleicht verlange ich zu viel von ihm. Mein Streifschuß nahm Knochenteile mit, bei ihm mag es ein Schädelbruch sein, und ich überlege wiederum, ob es ratsam sei, mit Bully mich in die unbekannte Wildnis zu wagen, denn ohne seine gute Nase werden wir das Weib nie finden.

Ja – er ist noch schwach, sehr schwach, der arme Kerl …

Er sitzt auf einem Grasvorsprung und stöhnt. Seine Vorderbeine zittern, die Ohren hängen ganz schlaff herab, er schafft das letzte Stück nicht mehr.

Traurig sieht er mich an. Vielleicht denkt er: „Du bist ein sehr unvernünftiger Herr, daß du mir all dieses zumutest. Wäre ich nicht mitgekommen, hättest du geglaubt, ich sei zu faul, und hätte ich mich nicht mit in den See gestürzt, würdest du ironisch gemeint haben, ich wollte meine Flöhe schonen.“

Zuweilen habe ich so gedacht. Das ist schon richtig.

Jetzt tut es mir leid, er zeigt für nichts mehr Interesse, ich habe ihm Adas leere Wiege gezeigt, er hat sie beschnuppert und nur ein paar dürftige Töne ausgestoßen. Kein Kaninchenloch, kein Rattenloch knurrt er mehr an, die anderen Hunde sind ihm gegenüber frech und anmaßend, – und welchen Respekt hatten sie vor ihm!!

Er ist sehr krank, fürchte ich. Und ich bin sehr wenig klug, daß ich ihn nicht mehr geschont habe. Das Bad hat ihn erschöpft. Ich werde ihn die letzte Böschung hinantragen, und dann seine Wunden genauer untersuchen.

Ich bin selbst erschöpft. Ich habe mir und ihm zu viel zugetraut, und die Frische vorhin war trügerisch. Wir sitzen nebeneinander, und wir blicken beide in die weite Ferne der bunten sommerlichen Wildnis, und meine Augen ruhen etwas sehnsüchtig auf dem kleinen blanken Fleck, jenem See, den ich Justus Napy zur Niederlassung empfahl. Er wird längst dort sein, vermute ich, er wird längst mit dem Bau des Hauses begonnen haben, ohne meine Hilfe.

Ich hätte ihn doch herbeirufen sollen, die Einsamkeit bedrückt mich, ich möchte mich einem Menschen gegenüber aussprechen, ich bin ein allzu mißtrauischer Mann geworden, die Ereignisse hier haben mich seelisch aus der Bahn geschleudert, und daß man mir mein Kind raubte, ist das Allerschlimmste bei alledem. Die Angst um das Kind zerfrißt mein Herz, und diese Stille ringsum ist ganz dazu angetan, mir durch meine überreizten Hirnnerven Geräusche und Töne zu vermitteln, die ich herbeisehne, weil sie meinem Leben in der letzten Zeit so reichen Inhalt gaben.

Ringsum lebt die Natur … Noch leben drüben die Teppiche der Glockenblumen, der bescheidenen Wildveilchen, und der seltenen Orchideen, für die ein Liebhaber vielleicht Unsummen zahlen würde.

Noch …

In vier Wochen wird die Sonne sinken und sehr bald ganz verschwinden. Und dann?!

Ich horche auf die Stimmen der Natur, ich schließe die Augen und höre ein anderes Stimmchen, fein und zart, oft auch schrill und heiser … Dann war Ada, das Kind der Wildnis, hungrig, und das Kaributier säugte es und schaute geduldig mit zur Seite gewandtem Kopfe zu, wie Ada sich satt trank.

Ein Stimmchen, fein und zart …

Oft auch schrill und heiser …

Ich presse die Hand über die Augen …

Ich leide an Gehörtäuschungen …

Früher entzückten mich diese Töne des krähenden kleinen Menschenkindes, das meine Einsamkeit teilte und meinem Leben ein Ziel gegeben hatte.

Jetzt – – es sind Nerven, … ich täusche mich, – – ich glaube zu hören, wonach ich mich sehne, und …

… Und Bully knurrt röchelnd …

„Bully?!“

Ich stiere ihn an …

Er knurrt lauter, aber es klingt doch wie ein Stöhnen … Er hat sich aufgerichtet, wollte den Abhang empor, fiel zurück, daß ich zupacken muß.

Ich halte ihn …

Seine Ohren sind steil nach oben gerichtet und wackeln. Seine Augen gieren zum Rande des Abhangs, und aus den blauroten Lefzen tropft der Geifer. Der Verband am Kopf ist verrutscht, das getrocknete Blut hat sich gelöst, und ich sehe zwischen der zerfetzten Haut den Schädelknochen hindurchgrinsen. – Nur Bully konnte diesen Kolbenhieb überleben, Bully mit diesem Eimerkopf und diesem massigen Körperbau, der von Muskeln strotzt.

Er … knurrt …

Und schielt mich an …

Und ich horche …

Gott im Himmel, das ist keine Täuschung, – das ist die Stimme meines Kindes, – – es ruft mich …!

Ich trage Bully, hetze die Anhöhe empor, und – – dort liegt mein Heim, – dort vor der Tür in der Sonne steht die Wiege, und über dem Rand der Wiege strampelt ein rosiges Beinchen und fällt wieder zurück.

„Mein Kind!!“

Und der Schrei mag die Wasserhühner und Enten und Biber gestört haben …

Bully kollert zu Boden, – ich fliege vorwärts, reiße das Bündelchen aus der Wiege und drücke es an mich …

„Mein Kind – – mein Kind!!“

– Damals habe ich Ada, das Kind der Wildnis, mit meinen Tränen seligen Wiederfindens zum zweiten Male getauft …

„Bully … hier sieh, – unser Kind.“

Der Hund beschnüffelte das Bündel …

Knurrt röchelnd, wie so die Bulldoggen knurren.

Sein Kopf fährt herum, er duckt sich zusammen, er will springen – einen Menschen anspringen, und fällt kraftlos zurück und winselt.

In der Tür meines Blockhauses, vier Schritt vor mir, steht das schwarze Weib mit angeschlagener Büchse … Bleich … unheimlich starr die schönen Züge.

Kalt weht mir die helle klare Stimme entgegen.

„Abelsen, – diese Tränen retten Ihnen das Leben! – Legen Sie das Kind in die Wiege zurück und hören Sie mich an …“

 

8. Kapitel.

Milli Haynes aus Edmonton.

Ich sah sie zum ersten Male aus solcher Nähe und bei so heller Beleuchtung. Sie trug eine helle wollene Bluse, darüber eine kurze Lederjacke, Beinkleider aus Leder, deren Nähte verziert waren, und leichte Sommermokassins. An dem breiten Ledergürtel hingen die Felltaschen für zwei Pistolen, ein Messer und Patronen. Den breitkrempigen, dunkelgrünen Filzhut hatte sie weit zurückgeschoben und unter dem Kinn mit einem Riemen befestigt. Das schwarze Haar hing ihr halb in die Stirn und war nach hinten frei zurückgeworfen: Ein mattschwarzer Rahmen für ein berückend schönes Gesicht von edelsten Linien, – wie eine altitalienische Kamee, auch in der Farbe …

Mattbraun, leicht gelblich die Wangen, das Kinn, die Stirn, rot und frisch und herb die Lippen, die Nase sehr schmal, leicht gekrümmt und mit einer unmerklichen Rille an der Spitze.

Das ganze Gesicht, selbst das kräftige, eigenwillige Kinn und die ebenso energische Mundpartie verloren jede Bedeutung gegenüber diesem von starken, blonden Augenbrauen überwölbten leuchtenden Augenpaar. In diesen Augen wohnten die Rätsel eines ungezügelten Charakters, – Feindseligkeit, Haß, finstere Entschlossenheit, Melancholie und ein stiller überlegener Spott.

Ich war ohne Waffen, und sie hatte mich schon einmal an den Rand des Todes geschickt. Daran dachte ich nicht. Sie hatte mir mein Kind zurückgebracht, und das glich vieles aus.

„… Hören Sie mich an, Abelsen …! Ihr Leben hing abermals an einem dünnen Faden, – ich war zurückgekehrt, weil das Kind nicht sterben durfte. Ich hatte gehofft, mir ein Karibumuttertier einzufangen, – es gelang mir nicht, und halbtote, angeschossene Karibus als Nährerinnen des Kindes zu benutzen, widerstrebte mir. Ich hielt Sie für tot … Sie hatten den Tod verdient, Abelsen, – wer mit einem Schurken wie Stanhoop sich zusammen tut, ist selbst ein Schurke.“

Ich hatte mein Kind noch im Arm, es erschien mir etwas abgemagert, das Gesichtchen nicht mehr so rund und blühend.

Schurke?! – Das floß an meinen Ohren vorüber wie ein Nichts …

„Wann hat Ada zum letzten Male Milch erhalten?“, und der drohende Ton färbte die Wangen des Weibes röter – vor Scham! „Sie sind eine Bestie!“, und mein Zorn schäumte über. „Sie sind viehischer wie der gemeinste Mensch, denn Tiere sind niemals gemein, ihnen fehlt die Kritik des Handelns, sie leben nach ererbten Instinkten. Aber Sie, mögen Sie heißen, wie Sie wollen, Sie sind … Kanaille, jämmerlichste, feigste Kanaille! Ein Kind stehlen und es hungern lassen, – das wird Ihnen nie vergessen werden!“

Ich wandte mich um und schritt der Fenz zu, hinter mir her trottete Bully, – keinen Blick gönnten wir dem Weibsteufel dort, ich legte das Kind in das Gras, fing das Muttertier, das mehr Erbarmen hatte mit dem kleinen verwaisten Geschöpf als jener verführerische Dämon, und Ada trank aus dem Euter des Renntieres, schmatzte und tutschte behaglich, und ein Mann kniete und hielt das Kind, und ein Hund saß dabei und schaute zufrieden zu.

Als mein Kind sich gesättigt, trug ich es zurück in die Wiege, wickelte es aus den Hüllen und sah, daß der Unrat, die mangelnde Sorgfalt die zarte Haut zerfressen hatte.

Da war es nicht mehr Zorn, der mir die Brust dehnte, sondern namenlose Wut gegen die, deren versteinertes Herz dieses hilflose Wesen derart hatte verkommen lassen.

„Platz – ich brauche warmes Wasser!“

Sie stand noch in der Tür, – noch mit der Büchse im Arm, und erbleichend wich sie zur Seite. Ich trat ein …

Auf dem Herd flackerte das Feuer, der Kessel stand darüber, das Wasser dampfte schon.

Sie hatte es aufgesetzt, sie mochte geahnt haben, daß mein Kind ein Bad nötig hatte.

Ich lief zur Quelle, holte kaltes Wasser, und als ich zurückkam, stand neben der Wiege bereits die Badewanne, und das Weib hielt den Kessel in der Hand.

„Her damit, – scheren Sie sich zum Teufel!“, – – und abermals prallte sie zurück und ging davon und setzte sich auf die Bank.

– Das Kind war sauber, die wunden Stellen waren mit feinstem, heilenden Bärenfett eingerieben, saubere Teile meines letzten Hemdes hüllten das Körperchen ein, und Ada schlief ein, den kleinen Daumen im Mündchen, – – satt, geborgen, – das Kind der Wildnis war heimgekehrt zu seinem Vater.

Ich drehte mich um.

Das steinerne schöne Gesicht des weiblichen Unholds zeigte einen finsteren, entschlossenen Zug.

Die Büchse lag im Anschlag, der Finger am Abzug, und meine Waffen, – – wo waren sie?!

„Abelsen, bleiben Sie stehen! Ein Schuß mehr oder weniger macht mir nichts aus“. Ihre Stimme war kalt, ohne Gefühl, wie erstorben. „Denken Sie an das Kind!!“ – Und ich … blieb stehen.

„Abelsen, die Sachlage ist rasch geklärt“, fuhr sie genau so gefühllos fort. „Ich verlange von Ihnen Ihr Ehrenwort, daß Sie …“

Mein Hohnlachen zerschnitt ihr den Satz. „Das Ehrenwort eines Schurken?! Sie nannten mich doch vorhin einen Schurken!!“

Ihr Blick wurde unsicher. Aber hochmütig rief sie, den Kopf leicht zurückwerfend: „Es gibt für Sie zweifellos einiges, das nicht gegen Sie spricht … – Geben Sie mir Ihr Ehrenwort bei der Liebe zu dem Kinde versichern Sie mir, daß Sie nichts gegen mich unternehmen werden, daß Sie mir gestatten wollen, dort im Stall zu wohnen und Ihnen zu helfen, das Kind großzuziehen.“

In ihrem Gesicht erschien ein deutlich ängstlich abwartender Zug. Sie fürchtete eine Ablehnung, und sie ahnte nicht, wie sehr mich dieser widersinnige Vorschlag verwirrt hatte.

Ihre Augen senkten sich abermals.

„… Ich … kann nicht länger allein sein hier in der Wildnis“, fuhr sie überhastet fort. „Ich … habe das Grauen der einsamen Nächte kennengelernt, und ich hatte nicht einmal einen Hund zum Gefährten – nur das große Schweigen der Wildnis und den Vielklang ferner Tierstimmen. – Abelsen, versprechen Sie mir das, was ich forderte, und – – Sie retten vielleicht einen zweiten Menschen, wie Sie jenes Kind dort retten. Ihre Liebe zu diesem Kinde hat mich … gerührt, – – wir werden schon einen Weg finden, miteinander auszukommen, Abelsen … Ich – – ich will nicht mehr allein sein, ich ertrage es nicht, in meinen Träumen geistern die Toten, und … das Grauen … das Grauen würde mich …“

Ihre letzten Sätze hatten sich überstürzt, sie wehrte sich wohl dagegen, mir einen Blick in ihr Inneres zu gönnen, aber die Angst vor dem Schweigen der Wälder Kanadas war stärker, und – ich begriff – vor mir stand ein seelisch zerbrochenes Geschöpf, das bei mir Schutz suchte – – bei mir, den sie hatte töten wollen.

Mitleid?!

Nein!

Das wäre vielleicht als schöne Romanphrase in dem Moment sehr wirkungsvoll gewesen für jene Sorte entnervter Literaten, die mit ihrem Geschwätz über „heilige Menschenpflichten“ einen Mann zum Lachen zwingen.

Ich wollte ablehnen, wollte sie wieder hinausjagen, woher sie gekommen – in die Unendlichkeit dieser Einsamkeit … Ich hätte sie anspringen, sie niederschmettern können, denn ihre Büchse hing mit dem Lauf nach unten im schlaffen Arm.

Ich hätte …

Es wäre gelungen.

Aber ihre, aus einem geborstenen Menschenherzen emporklingende Bitte – nicht als Bitte gedacht, und doch eine Bitte: „Sie retten vielleicht einen zweiten Menschen …!“, das gab den Ausschlag.

„Es ist gut“, sagte ich nur.

Nicht eine Silbe mehr …

Und ging davon, nahm Bully und legte ihm einen neuen Verband an. – –

Über alledem sind fünf Tage verstrichen.

Das Weib ist für mich nicht vorhanden. Anfänglich versuchte sie, sich in mein und meines Kindes Leben einzudrängen, versuchte mit mir zu sprechen, wollte das Kind anrühren.

„Hinweg!!“

Ich hatte meine Waffen wieder, und sie trug die ihren nur, wenn sie auf die Jagd ritt.

Sie lebt in einem Verschlag des Stalles. Wie sie dort lebt, ist mir gleichgültig.

Sie ist sehr bescheiden und demütig geworden in diesen fünf Tagen, und ich hoffe, ich werde wirklich eine Seele kurieren – von Grund auf, und dazu ist nötig, daß diese Frau wieder begreifen lernt, was sie begangen hat.

Nur die Einsamkeit zermürbt und baut wieder auf. Und Arbeit! Auch dafür ist gesorgt. Sie verlangte, bei der Erziehung des Kindes helfen zu dürfen. Sie hilft, sie wäscht … Windeln. Sie darf den Räucherofen bedienen. Was wir miteinander sprechen, betrifft Haushaltungsdinge – nichts mehr. Ich habe sie nicht gefragt, wie sie heißt, wer sie ist, ich erwarte die Stunde, wo sie von selbst mir die nötigen Aufschlüsse gibt.

All das ist vielleicht hart, sehr hart. Aber ich vergesse niemals, daß sie eine Mörderin ist. Wer sich mit Kerlen wie Tucker und Grosch zusammentat, wer mit dabei war, als Stanhoop samt seinem Blockhaus auf der Insel in Flammen aufgehen sollte, wer wie sie bei dieser unglaublichen Schurkerei half, der verdient keine schonende Behandlung. Trotzdem glaube ich immer noch, daß in der Seele dieses Weibes ein gutes Fünkchen schlummert, daß vielleicht wirklich noch dieser Mensch, diese mir in vielem rätselhafte Frau zu retten sein könnte. – Der Rest von starrem, unverständlichem Haß, der noch in ihr schlummern mag, wird dahinschwinden, – ich habe mir vorgenommen, ganz allmählich meine Behandlungsmethode zu ändern. Sie soll spüren, daß ich es gut mit ihr meine.

Abends – noch immer kann man hier in der nordischen Wildnis kaum von „Abend“ sprechen – sitzt sie zumeist drüben vor den Gräbern am Rande des Abhangs und schaut in die endlose Ferne, den Kopf in die Hand gestützt, – schön wie ein Wundergemälde.

Ihr feines Profil zeichnet sich scharf gegen den hellen Himmel ab. Regungslos sitzt sie, ein lebendes erstarrtes Rätsel, und ich sitze dann auf der Bank vor meiner Tür und halte mein Kind in den Armen.

Zuweilen in diesen Feierstunden erscheint mir das, was ich hier erlebe, wie ein bunter, wirrer Traum, ein Traum der Wildnis, der mir eins bescherte: Ein Kind!!

Gehören wirklich Bande des Blutes dazu, ein Kind so zu lieben?!

Nein! – Eltern, entmenschte Eltern haben ihre Kinder geschlagen, gefoltert … Väter und Mütter ließen ihre Kinder Nichtigkeiten halber in Elend und Not verhungern und darben, – Geschwister hassen einander, – die Verwandtschaft bleibt allzeit eine Interessengemeinschaft und die schöne Phrase von den „Banden des Blutes“ mag die betören, die das Leben nicht kennen. Mütter haben ihre Kinder ausgesetzt, – – kein Tier tut das, das Tier kämpft bis zum Tode für seine Jungen, der Instinkt gebietet ihm dies, und es gehorcht und opfert sich. Nur der Mensch füllt mit seinem schamlosen Vorgehen gegen sein eigen Fleisch und Blut die Spalten der Zeitungen, – die Verlogenheit jener Welt, die nicht Wildnis ist, tritt niemals schamloser hervor als bei dem Kapitel „Nächstenliebe“.

Der Weg abseits vom Alltag ist rein. Die große Straße der Herdenmenschen stinkt gen Himmel mit ihrem moralischen Unrat, mit ihrer Genußsucht, Selbstsucht, Pharisäertum und ihren eklen Schwätzern und gewinnsüchtigen Propheten.

Ein klägliches Bild, diese Straße der Narren. Wäre auch nur ein Fünkchen wahrer Nächstenliebe in diesen kümmerlichen Seelchen, könnte die ganze Erde ein Paradies sein. –

Spät abends schließe ich die Tür und die Läden, nehme Bully mit in die Blockhütte und neige mich über diese Blätter.

Und dann lasse ich oft die Feder ruhen und denke zurück an das Erbe der Gondaloors, denke an meine Sehnsucht, das Fabelreich der blonden Eskimos zu besuchen, und gedenke all derer, die mir Freunde wurden und Freunde blieben in meinem Herzen für alle Zeit. Spukgestalten ziehen vorüber – Tote, die mir wert gewesen, und Lebende, von denen ich nichts mehr weiß.

Bully liegt stets zu meinen Füßen. Er träumt oft … Wenn unser Kind sich rührt, ist er sofort wach. Er ist wieder ganz gesund, und er hat die Schlittenhunde böse zerzaust, die ihn, als er krank, drangsalieren wollten.

Eine herbe Seele, der Bully …

Aber treu. Und wenn ich morgen den längst geplanten Ritt hinüber zu Napys Farm unternehme, zu seiner Zuchtfarm, dann bleibt er hier zurück. Als Wächter …

Ein Wunder ist, daß die Frau bei ihren Jagdausflügen noch nie Napy begegnete. Wenigstens nahm ich das an.

Die Frau …

Man sollte sich nie selbst belügen, Abelsen!

Die Frau spielt ja doch bereits in deinem Leben eine weit größere Rolle, als du es dir selbst eingestehst.

Ein altes fettes, faltiges Eskimoweib wäre mir lieber. – –

„Was gibt es?!“

Pochen am Fensterladen.

„Ich!“

Sie ist es …

Um diese Zeit?!

„Öffnen Sie, Abelsen, schnell …!“ – Die Stimme verrät mehr als Angst …

„Öffnen Sie …!! Es geht um …“

Und dann ein Schuß draußen, noch einer …

Wie ein Blitz bin ich an der Tür, schiebe die Tür auf, – ich muß Kraft anwenden, irgend etwas drückt von außen dagegen, – ich hatte in der Linken die Pistole, der matte Schein einer umwölkten Mitternachtssonne dringt herein, am Boden liegt ein Arm, – ihr Arm, ich ziehe sie herein, und eine Schar bissiger, brummender Wespen umpfeift mich, zerfetzt das Holz, Splitter fliegen, – dort am Abhang hinter den vereinzelten Jungtannen kauern Gestalten, Blitze sprühen von dorther auf, ich schlage die Tür zu, – Riegel vor, und draußen ein schrilles Heulen, ein grimmes, haßerfülltes Gelächter von Dämonen des Eislandes … Eskimos, – ich weiß, des alten Umiwark Horde, der in die Wildnis flüchtete, weil ihm der Strang sicher war!

Die Frau erhebt sich mühsam … Ihr weißes Gesicht zeigt denselben verlegenen, trotzdem verbissen-hochmütigen Ausdruck wie schon oft …

„Es … war nur der Schreck“, sagt sie stammelnd und lehnt sich gegen den Tisch. „Die … die Teufel wollten die Hütte anzünden … Ich war noch wach … – Abelsen, – – das Kaributier!“, und ihr Blick sucht die kleine Wiege … „Holen wir das Muttertier und das Junge, – es sind mindestens dreißig draußen, wohl Eskimos, und …“

Dank ihr, daß sie daran mahnte: Das Kind hätte verhungern müssen!

Ich reichte ihr zum ersten Male die Hand, und ihre Finger sind eiskalt.

„Kommen Sie mit!“, sage ich aufmunternd. „Herrn Umiwark hatte ich nie vergessen …!“

Die Leiter, die immer in der einen Ecke lag, wird an den Rauchfang gestützt, und dieses Loch im Dach ist längst ein Panzertürmchen aus zwei Lagen Balken und Erde dazwischen und ist mit Lehm ausgeschmiert worden. Ein etwas plumper, kurzer Schornstein, jedoch praktischer als viele andere, ein Schornstein für die nordische kanadische Weite, die nicht nur ehrliche Fallensteller, faules, degeneriertes Indianerpack und Eskimostämme in den Küstengebieten birgt. – Seit dem Kampf um die Gondaloor-Millionen haust irgendwo in den Einöden Herr Häuptling Umiwark von den einst so blutigen Kupagniut mit seiner zahllosen Sippe, von der Polizei gesucht, nie gefunden, – Stecknadeln im Heuschober findet man nicht so leicht!

„Kommen Sie, – da, nehmen Sie die Büchse!“

Und über meine Lippen fliegt unbewußt die Frage als Nachsatz: „Wie heißen Sie eigentlich?“

„Milli …!“

Unsere Augen begegnen sich, – ihr Blick senkt sich, sie atmet schwer.

„Milli Haynes aus Edmonton …“

Also doch!!

Aber hier gilt es anderes, als dunkle Zusammenhänge klären, hier gilt es lediglich, mein Kind vor dem Hungertode zu schützen.

Wir kauern droben hinter der Brustwehr des Schornsteins, – es ist fast taghell, dünne Wolkenfetzen ziehen über den Himmel hin, – – ein Blick ringsum, … und aus der Sniders schießt der Feuerstrahl … noch einer, noch einer …

Eine Wut, die mir die Schläfen zu sprengen droht, ist in mir …

Die Schufte!! In der Fenz tummelten sie sich … Zerlegten schon den billigen Braten, meines Kindes Amme! Aber vier zerlegen nichts mehr, nie mehr, – die anderen flohen in den Wald.

Milli Haynes neben mir … weint. Aus ihrem Schluchzen klingt immer wieder die eine Sorge hervor: „Wie werden wir Ada ernähren?!“

Und als Begleitmusik ihrer Sorge um das Kind schwirren von hier und dort bleierne Nüsse, klatschen in die Stämme, den Lehm, bohren sich nutzlos in das Gebälk. Sehr groß kann Umiwarks Patronenvorrat nicht mehr sein, – aber wir haben davon genug …

„Machen wir reinen Tisch!“, – diese Jammerschützen, die da faustgroße Schießscharten treffen möchten, müssen erst noch in die Lehre gehen.

Meine Sniders spuckt harte Nüsse …

Millis Büchse bellt dazwischen, und die Kerle am Abhang werden die Fische füttern …

Aber trifft Millis Schätzung zu, daß Umiwark noch über dreißig Anhänger verfügt, stecken im Walde noch sicherlich ihrer zwanzig, und was mir gar nicht gefällt, ist der Himmel mit seinen langen Wolkenfäden, die von Norden dahinschweben wie graziöse Elfen und doch die Bestie Sturm, Orkan nicht verhüllen.

„Hallo!!“ – unwillkürlich fahre ich zurück …

Die Kugel kam von schräg oben …

Milli ist fix bei der Hand.

„Dort in der Tanne …!“ Sie richtet sich halb auf, schießt aus der Kniebeuge, und mit gellendem Schrei fällt eine bissige Krähe wie ein schwerer Sack durch die rauschenden Äste.

Ich reiße das Mädel zurück.

„Sind Sie toll!! Sich so preiszugeben!!“

Ihr spöttischer Blick funkelt mich an.

„Eine … Mörderin, Abelsen?! Davon machen Sie so viel Aufhebens!“

Und jetzt verwirrt sie mich.

Doch die Lage ist nicht danach angetan, sich im Wortgeplänkel zu verlieren.

Es wird dunkler, von Norden her folgt den Fäden, die es zu ziehen scheinen, schwarzes kompaktes Gewölk, – keine Wolkenwand, ein finsteres Ungeheuer mit gelblichen Rändern.

Jeder Lufthauch erstirbt.

Die Natur der Erde duckt sich scheu zusammen vor dem, was folgen wird, – die Wälder schweigen, die Jungenten über dem Bibersee, die soeben noch ihre Flugübungen vollführten, verkriechen sich in den Weiden, Totenstille lastet über Wäldern und Prärien und steinigen, wasserarmen Flußtälern, über blanken Seen, die bereits in düsteres Grau sich verfärben, und über den endlosen Moorgefilden, in denen die mächtigen Elche hausen.

Dann erklingen klar und scharf, nachhallend wie Sterbeseufzer, Axthiebe, die sich in das Holz der Riesentannen hinter uns einfressen …

„Umiwark spielt Biber!“, sage ich zu Milli, und die Angst greift nach meinem Herzen.

Sie versteht mich nicht.

„In wenigen Minuten braust der Orkan über die Bergkuppe, – und dann wehe uns, Milli Haynes! Die eingekerbten Stämme werden stürzen, und wir werden unter dem brechenden Gebälk begraben werden! – Wachen Sie hier oben, uns bleibt nur noch die Flucht … Ich packe rasch zusammen, was wir mitnehmen müssen … – Fragen Sie nicht, es gibt keinen anderen Ausweg!“

Fliehen …!

Und ich habe dieses Haus geliebt, ich habe in dieser Blockhütte das große Ziel meines Lebens gefunden: Mein Kind!

Im Nu habe ich in die Ledersäcke gepfropft, was notwendig ist, im Nu bin ich draußen, lasse die Hunde los, locke sie heran …

Und oben vom Schornstein fegen Millis Kugeln gegen heimtückische Kerle, die aus dem Dickicht zu feuern wagen. Milli trifft, – – die Schreie verraten es, – und dann ist auch schon die Finsternis der schwarzen Wolkentücher da, und der Himmel gleicht einer schwarzen, farblosen Masse, die sich der Erde zu nähern scheint wie der Leib eines Riesen, der einen anderen erdrücken möchte.

„Milli!!“

Hinein in den Kamin rufe ich es.

Im Augenblick ist sie unten …

Fiebernd vor Erregung flüstert sie: „Haben den Wald angezündet, – von oben kann man den roten Schein sehen …“

„Hier – nehmen Sie Ada! – Vorwärts, den Abhang hinab zum See … Sie wissen, wo das Umiak liegt … Schnell … Die Schufte werden heranschleichen …“

„Ich … danke Ihnen!“, – – sie dankt mir für das Vertrauen, das ich ihr schenke, – das Beste lege ich ihr in die Arme: Mein Kind!

Sie schlüpft davon. Ich rolle die Säcke zum Abhang, – sie kollern allein hinab … Hinterher kollern die beiden Schlitten …

„Bully, hierher …!“

Es ist so finster, daß man auf drei Schritt nichts sieht.

„Bully!“

Ein wilder Aufschrei, – ein Schuß, – – ich muß Bully von dem zerfetzten Körper wegreißen … Die anderen Hunde umdrängen mich, ihr Instinkt sagt ihnen, daß eine Naturkatastrophe droht, daß sie Schutz suchen müssen bei dem klügeren Menschen, daß der, der sie füttert, auch Rat wissen wird gegenüber dieser Finsternis, die sie erschreckt.

Hinab die steile Böschung …

Keine drei Sprünge, da kommt der Sturm.

Eiskalt wird es – eisige Kälte führt der Orkan aus den Polargebieten mit sich, und diese Stürme, Vorzeichen des nahenden Winters, rasen oft tagelang, fegen Regen oder Schnee über die Wildnis, fällen die Riesen des Urwaldes, häufen Windbrüche auf, breiten verheerende Feuer aus, stauen das Wasser der Flüsse auf und treiben in den Strom des Nordens, des Mackenzie, Flutwellen von solcher Höhe, daß Blockhütten, Anlegestege, Rampen und Schiffstrümmer in dem weißen Gischt umherwirbeln … –

Unten am Seeufer hat Milli Haynes alles vorbereitet. Die Säcke liegen im Umiak, das Kind ruht in der überdeckten Wiege, – ich sehe alles nur schattenhaft-verschwommen, ich hebe Bully in das Fellboot, und über uns hin hoch droben naht der Orkan, schleudert Grasbüschel, Zweige, Erdklumpen, Äste durch die Luft und facht das Feuer der Rotte Umiwarks zu wildem Tanze an … Flammen, Funken sprühen, neigen sich vor der Windsbraut, bleiben für uns unsichtbar, erscheinen wieder in einer Atempause dieses ungeheuren Blasebalgs, der da von Norden her über die Wildnis sein wütendes Fauchen herüberschickt – und diese ungewohnte Kälte, die bis ins Mark dringt, die hohnlächelnd den Lederanzug als Zeugfetzen durchweht und die Finger steif macht …

„Abstoßen, Milli!!“, – mir kommt es gar nicht zum Bewußtsein, daß in dieser Anrede eine Vertraulichkeit liegt, die ich Milli Haynes nicht gönne.

Die Schlittenhunde heulen, bellen, wollen mit ins Boot … Ich kann ihnen nicht helfen, mögen sie uns am Ufer folgen. Ihre feinen Nasen werden sie schon wieder zu uns zurückführen.

Wir rudern, und je weiter wir der Mitte des Sees zustreben, desto sicherer sind wir vor den Kugeln, die zuweilen sich durch giftiges Zischen bemerkbar machen, desto mehr schwindet aber auch der Schutz des hohen Bergufers, desto toller stößt der Orkan in den Talkessel hinab, und desto deutlicher wird für uns das grandiose, schauerliche Bild des flammenden Waldes. Wir sehen die einzelnen Stämme wie Fackeln brennen, – ich kenne jeden Baum, der mir dort am Waldrande hinter der Hütte Gesellschaft leistete in diesen Wochen, da ich ein Menschenjunges großzog und die ersten kritischen Tage des jungen Lebens überwand – meines Kindes!

Wir sehen, – und wir lassen die Ruder sinken, – denn unser Heim, es war auch Millis Heim geworden, wird vernichtet durch den Sturz dreier Baumriesen …

Funkengarben, Flammenbüschel, dann eine einzige Lohe …

Unser Heim verbrennt, und aus Millis Kehle dringt ein Schluchzen.

„Vorwärts!“

Gen Osten geht es, dem Biberdamm zu …

Aber je mehr wir unter dem Schutz des Stanhoop-Berges hervorschießen in das ungeschützte Ostende des durch die Biber aufgestauten Sees, um so erbarmungsloser trifft uns der Sturm, frißt uns die Kälte in den schlecht bedeckten Leib. Dennoch – unsere Rettung liegt nur im Osten, wo Justus Napy uns aufnehmen wird.

„Milli, die Pelze für Sie und das Kind! Legen Sie das Ruder weg …“

Sie tut es sofort. Sie kauert neben der Wiege, und ich weiß, daß sie das Kind behüten wird wie ihr eigenes, wie sich selbst, denn Milli Haynes ist nicht mehr die, die sie war.

Die Wildnis hat zu ihr gesprochen, und die Sprache der Wildnis ist gewaltiger als die des gewaltigsten Bußpredigers, der wie ein Besessener mit seiner Besessenheit das Schuldgefühl unter dem Unrat der Seelen hervorkratzt. Die Wildnis hat ihre stumme Sprache, und nichts kommt dagegen auf, denn diese Wildnis ist die Natur, und nur die Natur mit all ihren Schönheiten, Wildheiten, Grausamkeiten und Hexenscheiterhaufen tagelanger Waldbrände packt das Herz und krempelt das Innere um und schafft neue Menschen.

Ich rudere, und die Wasser schäumen, die kleinen Wogen lecken über Bord, dünner Schneeregen peitscht mir die linke Hälfte des Gesichts, daß sie wie Feuer glüht, während die andere Hälfte friert. Aber mein Körper wird elastischer mit jeder neuen Anstrengung, der Rausch des Kraftbewußtseins durchrinnt ihn, und der Siegeswille zwingt die Muskeln zum Ausharren. Am Ufer, unsichtbar irgendwo, jaulen die verlassenen Hunde. Zuweilen stoße ich einen schrillen Pfiff aus, und ich merke, daß sie dann – unsichtbar – die Ohren spitzen und weitertraben …

Aus Schneeregen wird Schnee …

Dieses Land am Polarkreis verleugnet nie sein wahres Gesicht, auch im Sommer nicht, der so kurz und heiß und so betörend fruchtbar ist. Schnee – und jenseits der Wolkenschichten scheint die Sonne, und morgen vielleicht schon wird keine Spur von diesem weißen Flockenhagel mehr vorhanden sein, der Milli und die Wiege und die Pelze und das Boot so zart bepudern.

Es ist ein harter Kampf gegen den Sturm, Kampf im Finstern, – da vor mir irgendwo liegt der lange Biberdamm, und dort werden wir landen und …

… Was bedeutet das?!

Rudern noch?!

Das Wasser schießt von allein vorwärts, reißt das Boot mit, – der See ist zum gleitenden Strom geworden, – – der Sturm hat den Damm eingedrückt, die Wassermassen stürzen in das Bachbett hinab, in dieses Bett, das einst zehn Meter breit, jetzt kaum mehr drei, nachdem die Nagetiere mit den feisten Ruderschwänzen hier ihre Kolonien bauten.

Jetzt wieder Fluß, – – der gezähmte See wirft die Tierfesseln ab, und hilflos suche ich der gierigen, rasenden Flut zu entkommen. Das Boot dreht sich, – – es prallt gegen eine Biberhütte, fliegt weiter, – – dreht sich, – und stößt abermals hart auf, schiebt sich höher, – – Wasser rauscht herein, Milli schreit, – – das Umiak kippt, und in Finsternis und Kälte und Schneegestöber spießt sich ein Ast dieses Biberhauses, das uns zum Kentern brachte, in meine Jacke … Ich will mich losreißen, – – Millis Schrei verklingt, – – ich komme frei, ich schwimme, – und wie glühende Stangen wühlten in meinem Hirn der Nachhall von Millis verzweifelten Rufen. Ich arbeite gegen den Strom, meine Stimme brüllt nach denen, die ich verlor, aber diese Orkannacht hat kein Mitleid, und wiederum renne ich gegen einen der spitzen Pfähle des Unterbaues einer Biberhütte, und dieser Stoß gegen die Brust raubt mir die Besinnung.

 

9. Kapitel.

Ein Feind von früher.

Durch den jetzt über der Wasserlinie befindlichen Eingang der Biberhütte, der einem Tunnel in einem Strauchhaufen gleicht, fällt nach Stunden der Widerschein der Sonne, die sich in dem ruhigen Wasser des Sees spiegelt. Dieses flirrende Licht weckt mich, und urplötzlich bin ich völlig munter und erinnere mich mit einem Entsetzen, das mir die Sinne verwirrt, an die trostlosen Ereignisse des schicksalsschweren Schiffsbruches und an mein Kind, das den Tod in den reißenden Fluten fand.

Ich liege im Innern der reich gepolsterten Biberhütte dicht vor dem Schlupfloch. Wie ich hier hineingelangt bin, weiß ich nicht. Die Schmerzen in der Brust beweisen mir nur, daß meine Erinnerung nicht getrübt ist, daß ich wirklich das Bewußtsein durch einen Anprall an ein Aststück verlor und daß ich wie durch ein Wunder gerettet bin.

Nein, kein Wunder, – und das Glück, das ich empfinde, als hinter mir aus dem Dunkel der Biberwohnung ein dumpfes, mahnendes, röchelndes Knurren ertönt, als ich mich dann umwandte und in dem Dämmerlicht meinen Bully erkenne, der neben einem mir nur zu bekannten Bündel liegt – meinem Kinde! –, während auf des Kindes anderer Seite ein junger, ganz junger Biber liegt und in dem molligen Nest gleichfalls Wärmflasche spielt, – dieses Glücksgefühl ist in Worten nicht auszudrücken.

Ich schleppe mich hin zu den dreien, meine Hand betastet das Kind, – – es schläft, seine Bäckchen sind warm, seine Hüllen getrocknet, und nur einer, nur ein Hund, würden die tierfeindlichen Narren sagen, hat hier den Retter gespielt.

„Bully!!“

Ich will ihn an mich pressen, aber er bleibt liegen und knurrt: „Störe mich nicht, ich bin hier Wärmflasche!“

O Bully, was für gescheite Geschöpfe seid ihr doch!! Ich habe bei Hunden, die meine Gefährten waren, noch weit eindrucksvollere Handlungen klarer Überlegung gesehen, wie hier. Daß Bully die Moospolster des Biberbaues über Beine und Leib des Kindes gescharrt hat, daß er das Biberjunge mit als zweite Wärmflasche benutzte: Instinkt! – Die Polarhunde wechseln im Winter bei böser Kälte, wenn sie eng bei einander liegen, auch die Plätze, und nach einer gewissen Zeit werden die „Außenseiter“ abgelöst und dürfen sich in der Mitte des Kreises wärmen. Das nur ein Beispiel.

Aber daß diese herbe Hundeseele von Bully es fertigbrachte, sowohl das Kind als auch mich aus dem reißenden Strom zu bergen, wobei er doch sehr zielbewußt gehandelt haben muß, das geht fast über mein Verständnis – zunächst!

Nachher sah ich, daß die Dinge für den guten Bully doch einfacher gelegen hatten. Ein zweites Loch in meiner Lederjacke zeigte mir, wo der Baumast mich so hart getroffen, aber auch über Wasser gehalten hatte, und dieses Wasser war infolge des Dammbruches sehr schnell gefallen.

Trotzdem: Bully bleibt der Retter!

Ich streichele ihn, aber meine dankbare Zärtlichkeit währt äußerlich nicht lange, ich habe andere Pflichten. Wenn das Kind erwacht, wird sich der Hunger melden, und ich habe nichts, diese junge Menschenblüte, die auf Milchnahrung angewiesen ist, zu sättigen. Pflichten erwachsen mir, die größer sind als das eigene körperliche Ungemach. Diese Pflicht des Vaters für das Kind der Wildnis trieb mich ins Freie. Von meinen Waffen besaß ich nur noch das Messer, die beiden Pistolen und dreißig Patronen. Falls Umiwarks Bande noch droben im Walde steckte, würde es einen bösen Tanz geben. Die Hoffnung, daß sie mich nicht entdecken, sobald ich draußen nach Milli Haynes und dem gekenterten Umiak suchte, war sehr gering. Das Unwetter hatte sich verzogen, ein strahlend blauer Himmel überwölbte See und Wälder, und von dem Biberdamm, das sah ich bei dem ersten vorsichtigen Rundblick aus der Biberhütte, waren lediglich noch karge Reste geblieben. Wie einst floß nun der See nach Nordosten in glitzerndem, breitem Bachrand mit seinen die normale Wasserhöhe nicht übersteigenden Fluten in unbekannte Fernen, dicht vor mir standen diese Strauchhügel der Biberbauten mit freigelegten Schlupflöchern, die Biber selbst waren verschwunden, sie mochten durch die reißende Strömung mit fortgespült sein oder hockten in ihren Hütten und hielten Rat, wie sie den Damm aufs neue errichten könnten.

Ein Blick nach links rückwärts zeigte mir auch den Stanhoop-Berg, – und mein Herz krampfte sich zusammen, dicke Rauchschwaden umhüllten den Gipfel, der Wald brannte noch immer, und mein und meines Kindes Heim waren trostlose schwarze Trümmer geworden.

Ich bemerkte nichts von Umiwarks Horde, das Wasser war so flach geworden, daß ich von Biberbau zu Biberbau waten konnte und ohne Mühe das Nordufer erreichte.

Dort lag auch das Boot, Weidengestrüpp hatte es aufgefangen, es schien wenig beschädigt, ich eilte hin, zog es an Land und stellte fest, daß nur zwei Rippen des Gerüsts gebrochen waren. Die Lederhaut war unverletzt, und unter den Sitzen halb im Wasser lagen zwei Büchsen …

Das Geschick hatte es gnädig gemeint.

Ich fand auch die beiden angespülten Ledersäcke, ihr Inhalt war trocken geblieben, ich hatte sie sehr fest zugebunden, und sie waren davongeschwommen wie fette Seehunde, die nun am Ufer sich sonnten.

In kurzem flickte ich die Bootsrippen, reinigte die Büchsen, verfrachtete alles in das Umiak, benutzte einen Ast als Ruder und Stoßstange und trug zu allerletzt sehr behutsam mein Kind in das plumpe und doch so widerstandsfähige Fahrzeug und lockte Bully mit mir, der sich ungern von der warmen Biberhütte trennte. Draußen jedoch war es noch wärmer, auf den Orkan war ein heißer Tag gefolgt, und der breite Bach trug uns eilends davon.

Von Milli Haynes entdeckte ich nichts. Trotzdem sagte mir eine innere Stimme, daß sie sich gerettet habe, – eine Frau wie sie stirbt nicht so leicht.

Und das Biberjunge, das mein Kind gleichfalls gewärmt hatte?! Ich hätte es nicht zurückgelassen, ich hätte es niemals umkommen lassen. Biberköpfe waren hier und dort im flachen Wasser aufgetaucht, und Vater und Mutter Biber hatten sich in der Nähe gehalten. Kaum war ich mit dem Kinde und Bully am Ufer, als die Bibereltern in ihren nunmehr freien Bau kletterten. Das genügte mir.

So glitten wir denn mit der Strömung dahin, erst noch durch Hügelland, dann durch Prärie und Bauminseln, und als mein gutes Auge die ersten Karibuherden bemerkte, atmete ich erleichtert auf und verbarg das Umiak im Gestrüpp einer kleinen Insel, band Bully am Boote als[12] Wächter fest, nahm die eine Büchse und pirschte mich gegen den Wind an die ruhig äsende nächste Herde heran.

Es war kein einziges Muttertier mit einem kleinen Jungtier dabei, ich mußte eine halbe Stunde kriechen, bis ich endlich das Gewünschte erspähte. Abseits am Rande einer Nische von Tannen weidete ein Muttertier, – ich war in Schußnähe, aber es widerstrebte mir, mein anfängliches Vorhaben durchzusetzen und das Tier am Hinterlauf durch eine Kugel zum Krüppel zu schießen. Meinen Lasso machte ich fertig, und noch vorsichtiger schob ich mich in die Tannen hinein, sprang plötzlich auf, stürmte vorwärts, und die Lassoschlinge glitt über das Geweih, – ich hatte gewonnenes Spiel. – Ein Kampf mit einem sich heftig sträubenden Karibu erschöpft alle Kräfte. Diese Spielart der europäischen Renntiere ist kräftiger, hirschähnlicher, – sie gehören ja auch zur Gattung der Hirsche, und das Tier samt dem Jungen zum Bache zu bringen, glückte mir nur durch den einfachen Trick, den ich von Stanhoop gelernt hatte: Junge Tannen an den Flanken befestigen, so daß das Karibu nicht zur Seite ausbrechen kann.

Schweißgebadet, mit brennenden Stichen in der Brust, erreichte ich den Bach, fesselte das Muttertier und watete zur kleinen Insel, holte das Umiak herüber, hörte des Kindes hungriges Plärren und lächelte glückselig.

Das Karibu ward so Adas zweite Amme.

Ich entschloß mich, die kleine Insel als vorläufiges Versteck zu wählen, denn einmal fühlte ich mich selbst sehr matt, und dann fürchtete ich Umiwarks Horde, die unfehlbar nach mir suchen würde. Des alten Eskimohäuptlings blinder Haß richtete sich allein gegen mich, – ein Zufall mochte ihn herbeigeführt haben, ein Zufall, und der brave Bully hatte mich gerettet. Aber insgeheim beschäftigten sich meine Gedanken immer wieder mit Milli Haynes. Ich konnte mir nicht denken, daß sie ein Opfer des Orkans geworden sein sollte, und ich nahm mir vor, nach ihr zu suchen, sobald ich die Insel erst für uns hergerichtet hatte.

Sie war etwa zwölf Meter breit und dreimal so lang, mit Tannen, Erlen und Weiden bestanden, zwischen denen Gräser, Blumen, Moose und Flechten üppig wucherten.

Ich seilte das Karibu an, es hatte sich in sein Schicksal ergeben, das Junge war bei ihm, und ich konnte aus dem Umiak und Weidenflechtwerk eine Nothütte herstellen, die im Gestrüpp völlig versteckt lag.

Vaterpflichten hielten mich dann weiter in Atem. Ich zündete ein Feuer an, badete die kleine Ada, wusch die Wunden und verließ mich ganz auf Bullys Wachsamkeit.

Ein wunderbarer Tag war es damals. Dieses unendliche Land, das in seinen Tiefen nie auftaut, erfreut sich kurzer Sommertage, deren Reiz berückend ist. Die Wildnis hat ihre ungeahnten Schönheiten, – so diese Insel, diesen klaren, breiten Bach, ringsum die Prärie, von denen der Unkundige nichts weiß.

Abermals mußte das Karibu mein Kind säugen, inzwischen hatte ich im Bache ein paar Lachsforellen gespießt und gebraten, und todmüde legte ich mich neben das Kind unter das umgekippte Boot und sperrte das Licht durch Wolldecken ab. Bully, der treue, lag draußen und kannte seine Aufgabe. Auf ihn war Verlaß.

Traum der Wildnis …

Ich schlief und träumte … Träumte von dem lodernden Wald, von Stanhoops gut verborgenem Schatz, von Milli Haynes, die demütig herankam und mir eine wirre Geschichte zu ihrer Rechtfertigung erzählte.

Träume der Wildnis, – nichts vom dem Getriebe der Weltstädte der Erde, nichts von kleinlicher Genußsucht, törichtem Neid, gewissenlosem Spekulantentum, – – nur die Reinheit der Natur, das Unberührte, Keusche, Urgewaltige, das all dieser Narren spottet, die da wähnen, ihre Geldsäcke seien Schutz und Schirm und Gott! Und dann kommt der harte, brutale Mahnruf der unvergänglichen Urgewalten, – Stürme schicken schimmernde Paläste auf den Meeresgrund, fegen Städte hinweg, oder die Schlünde der Erdkruste öffnen sich, und die Feuer der Tiefe senden ihre glühenden Ströme, – – und der Mensch steht hilflos dabei.

Natur und Wildnis sind eins. In ihnen lebt das Ursprüngliche, Unverdorbene, in ihnen kreist das reine Blut reiner Geschöpfe, – gewiß, Kampf ist dieses Leben, aber Kampf, der die Schwächlinge hinsterben läßt und nur die wirklich Starken als Sieger sieht.

… Fünf Stunden Schlaf, und ein Erwachen bei Sonnenlicht, und Bullys drohendes Knurren …

Das trieb mich hoch.

Man muß Bullys Ohrenstellung studiert haben, um sofort zu wissen, woran man ist. Und dieses Signal bedeutete: Gefahr!

Ich kroch ins Freie, – das Südufer war leer, aber im Norden, dort, wo der Bach eine Krümmung machte, standen jetzt Sommerzelte der Eskimos, keine fünfhundert Meter entfernt. Ein Glück, daß diese Banditen des Nordens, die noch vor wenigen Jahrzehnten mordend und plündernd den großen Mackenzie hinabgezogen waren und die Indianer vor sich hergejagt hatten, so miserable Fährtensucher waren. Ein Wunder, daß sie meine Spuren nicht gefunden hatten, daß sie nicht im Schlaf über mich hergefallen waren …

Ein ganzes Lager, acht Zelte zählte ich, und unzählige Hunde trieben sich dort umher, abseits war ein Pferd angepflockt, unser Pferd, auf dem Milli Haynes so oft in wildestem Galopp den Stanhoop-Berg hinabgestürmt war – mit fliegendem Haar, eine wilde, berückende Teufelin …

Wo war Milli?!

Und – täuschte ich mich – war das nur Sorge um das Schicksal eines Weibes, die mir innerlich gänzlich fernstand, – war das nicht doch mehr als nur Sorge um ein mir gleichgültiges Wesen infolge reinen Menschlichkeitsgefühls?! – Gefühle zu zergliedern und hineinzuleuchten in die eigenen versteckten Winkel der Seele: Dazu war diese Stunde kaum geeignet! Und doch war es eine Stunde der Offenbarung: Mein Groll und meine Verachtung gegen Milli waren geschwunden, und der Mann, der hier eine kranke Menschenseele hatte heilen wollen, war aus einem Saulus zu einem Paulus geworden und schlug sich an die Brust und gestand sich: „Siehe, auch ich bin nur ein Mensch!“

Das war geistiges Schauen, und das leibliche Schauen durchrüttelte mich noch mehr: Drüben, im Lager Umiwarks, des Flüchtlings, auf dessen Kopf ein hoher Preis ausgesetzt, saß der alte gelähmte Häuptling vor dem Zelteingang in seinem Rollsessel, die Hände im Schoße, etwas zusammengeduckt, und nach den lebhaften Gesten des greisen nordischen Banditen zu urteilen sprach er sehr eindringlich auf Milli ein.

Was wohl, worüber wohl?! – Mein erster Gedanke war ein schimpflicher Verdacht, Milli könnte mit den Flüchtlingen sich verbündet haben, mein zweiter gerechterer war der, daß Umiwark Milli zu irgend etwas zu überreden trachtete. – Wozu?! – Daß meine Person hierbei im Mittelpunkt der Erörterungen stände, war mir gewiß. Glaubte der schlaue Eskimo, mich mit Millis Hilfe irgendwie ausfindig machen zu können?!

Der Sachlage nach war nur anzunehmen, daß man Milli noch weiter nach Nordwesten am Bachufer überrascht hatte und daß die Horde Umiwarks im Glauben, wir seien mit dem Umiak den Bach hinab geflohen, den See gänzlich unbeachtet gelassen hatten, denn sonst hätten sie mich finden müssen, ebenso das Umiak und die angespülten Säcke.

Noch mehr gab mir zu denken: Gerade jetzt kehrten fünf Eskimos in ihrer leichten, zierlichen Sommerpelztracht ohne Büchsen mit zwei erlegten Karibus von der Jagd zurück. Sie hatten Pfeile und Bogen und Wurflanzen bei sich, und nach dem spärlichen Gewehrfeuer bei dem Überfall auf mein Blockhaus zu urteilen, mußte es mit ihren Munitionsvorräten sehr schlecht bestellt sein – genau wie bei mir! Unsere Patronenpakete lagen im Wasser des Ostzipfels des Bibersees, – Umiwark als Flüchtling hatte wohl kaum Gelegenheit gehabt, seine Munition irgendwie zu ergänzen. Wenn Eskimos sich dazu herablassen, wieder einmal wie ihre Großväter zu Pfeil und Bogen zu greifen, haben sie bestimmt keinen Schuß mehr im Lauf. Als um das Jahr 1885 der Handel mit den Eskimos durch Walfänger und Beamte der Hudson-Bai-Kompagnie begann und man ihnen die erbeuteten Edelpelze gegen Waffen modernster Konstruktion eintauschte, gab es nach zehn Jahren kaum mehr einen einzigen Eskimo, der nicht seine Mehrladerbüchse und seine Pistole besaß. Hierin gaben sie die Traditionen ihres Volkes preis, in anderer Beziehung blieben sie Wilde, wenn auch Kulturerzeugnisse ihnen das harte Leben während der Winternacht erleichtern halfen.

Zweierlei war mir durch diese heimkehrenden Jäger gleichsam geschenkt worden: Einmal die Gewißheit, daß ich diese Gesellschaft dort drüben kaum zu fürchten hatte, und zweitens, daß ich unbedingt nach den Patronenpaketen suchen mußte. In dem klaren flachen Wasser konnte das kaum allzu schwierig sein.

Was Milli Haynes betraf: Sie würde befreit werden, – mit den neun Patronen in den beiden wiedergefundenen Büchsen konnte ich zunächst nichts unternehmen!

Ich beobachtete weiter.

Was ich vermutet hatte, traf zu: Im Lager Umiwarks begann eine große Schmauserei, nachdem die Schenkel der Karibus über loderndem Feuer halb gebraten waren. Und dann – wieder etwas Wichtiges: Die ganze Sippe zog sich zum Schlafen in die Zelte zurück, und nur Milli Haynes blieb draußen und streckte sich in der Sonne aus, bewacht von drei Jünglingen, sicherlich Enkeln des Alten, die als moderne Eskimos sehr farbenfrohe Wollsweater und Schlappmützen trugen und die in einer Großstadtkaschemme kaum aufgefallen wären.

Die Bande schlief und verdaute. Zwei der Wächter bezogen im Westen und Osten hohe Hügel als Ausguck, der dritte blieb bei Milli. – Die Hunde lagen hier und dort umher und hatten Festtag, die Knochen und Abfälle der Karibus waren für sie wohl ein seltener Genuß, denn der Eskimo kennt keine Tierliebe, und nur im Winter, wo er seine Meute für die Schlittenfahrten braucht, füttert er die Tiere wirklich ausreichend.

Milli Haynes war also doch eine Gefangene. Ich empfand Freude darüber, ein Verrat ihrerseits hätte mich bitter enttäuscht. Sie hatte vieles, was sie begangen, durch ihr tapferes Verhalten wieder wettgemacht, und ich gedachte für sie mehr zu wagen, als ihr vielleicht zukam.

Mein Kind schlief. Bully als Klein-Adas Beschützer genügte. Es war auch kaum zu befürchten, daß einer der Eskimos in den nächsten Stunden sich hierher verirrte. Die Weidenumrahmung der Insel war sehr hoch, die Bäume boten gleichfalls gute Deckung, und das Karibu und das Jungtier befanden sich angekoppelt auf einer kleinen Blöße.

Bewaffnet mit einer Büchse und meinen am Gürtel befindlichen Pistolen durchwatete ich den Bach nach Süden zu und kroch dann hinter die nächste Bodenwelle. Die Insel deckte mich gegen die beiden Wachposten, und als ich erst eine der zahlreichen Regenrinnen, die nach Westen zu verlief, betreten hatte, schlug ich einen flotten Trab an und war in einer knappen Stunde am Seeufer angelangt.

Ich schob mich durch die Weiden hinter den zerstörten Damm, und das Bild, das jetzt die Biberkolonie bot, war so überraschend und erstaunlich, daß ich minutenlang die emsige Arbeit dieser Nager kritisch bewunderte.

Sie bauten bereits wieder an dem Damm, und in ihrer Arbeit lag Methode. Jeder hatte da scheinbar seine besondere Aufgabe, und zum ersten Male in meinem Leben konnte ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß eine Biberkolonie ein sehr intelligentes Völkchen darstellt.

Schade, daß ich sie stören mußte. Ich berechnete ungefähr, wo das Umiak gescheitert sein konnte, und kaum richtete ich mich zu voller Höhe auf, als die ganze betriebsame Gesellschaft blitzschnell verschwunden war.

Ich watete in den See, ich fand auch die drei Pakete Patronen, denen die Nässe kaum etwas geschadet haben würde. Jede einzelne Patrone war gut eingefettet. Und dann überkam mich die Sehnsucht nach den Resten der Blockhütte droben auf dem Stanhoop-Berg, den ich in Wahrheit als meine zweite Heimat betrachtet hatte, denn dort hatte ich ja mein Kind gefunden – mein Kind, und dort waren mir die schwersten Stunden dahingeflossen, in denen ich um eines Säuglings zartes Lebenslichtlein gebangt hatte, dort hatte ich jene Gefühle – als Unbeteiligter eigentlich – kennen gelernt, die ein Vater empfinden muß, wenn er allein mit einem Neugeborenen zurückbleibt … Jene Stunden, in denen ich mit dem Kinde im Schoß im Sonnenschein vor der Hütte gesessen hatte und die Angst mir im Herzen flatterte, dieses Kindlein könnte dahinsterben durch mein Ungeschick.

Aber ich hatte doch das Richtige zu Adas Pflege getan, ich hatte dieses Leben behütet und für mich erobert, und mein sollte es auch bleiben, mein für alle Zeit!

So dachte ich, als ich vorsichtig den Berg hinanklomm.

Noch rauchte der Wald, gelbbrauner Rauch zerflatterte in der klaren Luft, und als ich, mißtrauisch durch die verkohlten Reste der Tannen mich anpirschend, freien nahen Ausblick gewann, da … lagen meine Schlittenhunde neben den Trümmern meines Stalles, faul sich rekelnd, und doch treu – treu, wie nur Hunde es sein können. In der Orkannacht hatten sie mich verloren, und der Instinkt trieb sie dorthin zurück, wo auch ihre Heimat gewesen, wo sie gut behandelt worden waren …

Noch etwas sah ich, und der Mann, der dort neben der geborstenen, verkohlten Hütte stand, erschien mir wie eine Neuschöpfung aus alten Kinderträumen, wie die neu erwachte Romantik glücklicher Knabentage, in denen ich mit fiebernden Pulsen die Romane eines Cooper im Originaltext gelesen hatte. Niemals wird man[13] diesem Schilderer verflossener Indianerromantik gerecht werden können, wenn man lediglich die deutschen oder schwedischen gekürzten Ausgaben seiner Werke liest. Keiner vor ihm, keiner nach ihm wird ihn je erreichen, seine berühmtesten Werke sollten weit mehr Volksgut werden, als sie es bisher gewesen.

Der Mann, der dort, auf seine lange Flinte gelehnt, regungslos verharrte, hätte den hellen Jubel jedes Knabenherzen hervorgerufen.

Er wandte mir den Rücken zu, und im ersten Moment war ich derart verblüfft, daß ich tatsächlich einen der nordkanadischen Indianer vor mir zu haben glaubte – vielleicht einen allerletzten, der auf die fertig gekauften Anzüge verzichtete, und der hier in der Wildnis wirklich noch als Wilder lebte.

Phantastisch blieb trotzdem sein Aussehen. Er trug ein Wolfsfell samt dem offenbar sauber ausgehöhlten Schädel um die Schultern, der Schädel diente ihm gleichzeitig als Mütze, – darunter war er ebenfalls vollkommen indianisch gekleidet, sein Jagdrock, seine Hosen, alles Leder, alles überreich mit Perlen und Haarbüscheln verziert …

Eine Gestalt, wie aus einem Traumgesicht, – auch er ein verkörperter Teil des Traumes der Wildnis, auch er so unwirklich in dieser einsamen Umgebung, daß ich ihn nirgends unterzubringen wußte.

Immerhin blieb ich mißtrauisch.

Da – einer der Hunde schlägt an, hat mich gewittert …

Sämtliche Hunde fliegen empor …

Wie ein Blitz sinkt die Gestalt des Fremden zusammen, – ein paar Balken geben ihm Deckung, seine Büchse liegt im Anschlag …

Während die Rüden mich wie besessen umspringen und ihrer Wiedersehensfreude übertoll Ausdruck verleihen, hallt ein unendliches Gelächter aus zwei Männerkehlen über die Stätte der Verwüstung hin … Der stolze Indianer erhebt sich und nähert sich mir eiligen Schrittes … Seine Hand packt die meine …

„Abelsen, – und ich hielt Sie für tot!!“

„Napy, – und ich hielt Sie für den stolzen Delawarenhäuptling Chingachgook[14]!!“

Ich musterte ihn …

Weiß der Henker: Mit diesem Exkellner aus dem Palace-Hotel in Edmonton ist eine erstaunliche Veränderung vor sich gegangen! Ein strammer Kerl war er trotz seiner Magerkeit wohl schon immer, – jetzt mit diesem dunkelgebräunten Gesicht und in diesem Aufputz, der bei ihm keineswegs komisch wirkt, ist er der echte, kühne, freimütige, klaräugige Sohn der Wildnis.

„Vielleicht bin ich es“, sagte er ganz ernst, „vielleicht bin ich mehr Indianer als Weißer geworden trotz meines rein weißen Blutes …! Dieses Land hat mich bezaubert, verzaubert, – dieses Land hat mich erlöst! Abelsen, – jetzt begreife ich, weshalb Sie schon so viele Jahre die Erdteile durchstreifen, jetzt, wo auch ich das geworden, was Sie sind: Abenteurer, ein einsamer Wanderer auf den Pfaden abseits vom Alltag!“

Wir stehen noch Hand in Hand …

Irgend etwas treibt mich, ihm mitzuteilen, daß Milli Haynes drüben gen Osten Umiwarks Gefangene sei. – Irgend etwas hält mich davon zurück, und unsere Unterhaltung versickert in einer Schilderung meiner Flucht, bei der Milli Haynes nicht erwähnt wird.

Weshalb tue ich das?!

Weshalb?!

… Und dann kommt mir die jähe Erkenntnis: Weil ich Milli Haynes liebe, und weil auch Justus Ritter von Napy sie liebt!!

 

10. Kapitel.

Flucht in die Unendlichkeit.

Wir sitzen beieinander auf einem der Balken. Die Hunde liegen ringsum, – – ein Bild, das auch der Wildnis angehört.

Hinter uns der noch qualmende, verbrannte Wald, vor uns im Sonnenglanz diese unendliche Weite, die ich so verehrte, in der meine träumerischen Gedanken sich verloren.

„Abelsen“, sagt Napy halb spöttisch, – – „meine Wolfszucht wird sich rentieren …“

„So?!“

„Ja, drei meiner Hündinnen haben die Wölfe schon gefressen, – ein Pferd hatte ich als Köder für die Fanggruben geopfert … Fünf männliche Wölfe fing ich, es waren aber schamlose „Kavaliere“, und …“

„Lieber Napy, – die Zuchtanstalt muß ich sehen!“

Er lachte … „Sollen Sie auch! Aber zunächst werden wir einmal dem Herrn Umiwark so etwas Beine machen, – die Nachbarschaft können wir nicht brauchen … – Vorwärts, ich habe von dem alten Knaben bisher nur gehört und sehne mich danach, seine Bekanntschaft zu machen. Daß ich sein Lager nicht sah und auch seiner Rotte nicht begegnete beim Herritt, ist nicht weiter wunderbar, da ich in gerader Richtung von meiner Farm hierher ritt und den Bach rechts liegen ließ. – Was zögern Sie, Abelsen?!“

„Ihretwegen, Napy! Ich werde mit der Bande schon allein fertig, und es ist nicht unbedingt nötig, daß Sie nachher etwa mit der kanadischen Polizei Ungelegenheiten bekommen, weil Sie ein paar Kugeln auf zweibeiniges Wild abfeuerten. Mit mir ist das etwas anderes. Mein Ruf ist ohnedies nicht eben erstklassig, man hält mich für Malcolm Davis’ Mörder, wie Sie selbst sagten, und so unsinnig dieser Verdacht auch ist: Sie sollen in meine Angelegenheiten nicht mit hineinverstrickt werden.“ – Es war mir durchaus ernst mit diesen Worten. Milli Haynes hatte keinen Einfluß darauf. Ich bin nie der Mann gewesen, mit doppelter Zunge zu reden. – Was später werden würde, überließ ich dem Schicksal.

„Wir kommen also zu Ihnen, Napy, sobald die Luft rein ist. Reiten Sie zurück, machen Sie aber einen weiten Bogen nach Süden und rüsten Sie daheim alles für unseren Empfang, Klein-Ada ist auch Ihnen ans Herz gewachsen, – vielleicht bringe ich noch jemand mit – vielleicht.“

„Wen?!“ In seinen Augen blinkte es auf. „Abelsen, Sie verschweigen mir irgend etwas.“

„Vielleicht … Begnügen Sie sich jetzt mit dem bisher Erreichten … Wiedersehen, Napy. Fürchten Sie nicht für mich, die Umiwark-Bande hat ihr Pulver regelrecht verschossen … Mit Bogen und Pfeilen und Wurflanzen kommt man gegen zwei Snidersbüchsen nicht auf. – Noch eins, Napy … Nehmen Sie die Hunde mit, die mir folgen würden. Riemen genug liegen noch in dem halb zerstörten Stall … Die Tiere könnten mich vorzeitig verraten.“

Als er mit der Koppel Hunde davontrabte (sein Pferd hatte er im Walde versteckt), schien er etwas verstimmt zu sein. Ob er ahnte, daß ich Milli begegnet war, daß Milli mit dem gefärbten, lang nachgewachsenen Haar in diesen Traum der Wildnis sich mit eingemischt hatte und nun in meinem Herzen fast schon einen Ehrenplatz sich erobert hatte?!

Schmerzlich war der Abschied von dem Stanhoop-Berg. Die beiden Gräber waren zum Glück wenig beschädigt worden, Stanhoops Gold ließ ich liegen, wo es lag.

Ich wanderte zum See hinab, und nach einer Abwesenheit von kaum drei Stunden hatte ich die Insel vor mir. Das Bild war dasselbe geblieben, die beiden Eskimo-Posten hielten noch die Hügel im Osten und Westen besetzt, das Lager selbst war mir noch durch eine Bodenwelle entzogen. Ich erreichte unbemerkt die Insel, und mein Herz schlug höher, als ich schon von weitem das leise behagliche Plärren meines Kindes vernahm, das unter Bullys Obhut vergnügt mit den Ärmchen in die Luft griff und zuweilen die kleinen Fingerchen in des Hundes Fell vergrub und es tüchtig zauste. Bully besaß in dieser Hinsicht eine Engelsgeduld. Was Ada betraf, konnte er sich vollkommen innerlich umstellen. Er war an sich ein derber, wenig zärtlicher Bursche, ein plumper Grobian fast, eigenwillig und ein Dickschädel, aber was unser Kind betraf, – in dieser Beziehung konnte er sich vollständig verwandeln, da war er wie ein tolpatschiger, doch zuverlässiger Liebhaber.

Bevor ich das Kind der Wildnis aufs neue dem widerspenstigen Kaributier an die Mutterbrust legte, schaute ich nach Milli Haynes aus. Sie war von ihrem Platze inmitten der Zelte verschwunden, sie befand sich jetzt zweifellos in jener Weidenhütte, vor der ein Eskimojüngling als Wächter hockte und behaglich seine Pfeife schmauchte.

– Auch das Kind war versorgt, und Bully und ich hatten uns an den Resten des Rauchfleisches gesättigt, das ich unter den Trümmern des Stalles hervorgesucht hatte. Unsere eiserne Ration, die sich in einem der Säcke befand, wagte ich nicht anzugreifen. Mehl, Zucker, Tee, Salz, – das waren Kostbarkeiten, die für Ada aufgehoben werden mußten, wenn sie erst der Tiermilch entwöhnt wäre und der festen Speise bedürfe. Alles dreht sich um das Kind der Wildnis, um mein Kind, und Ada sollte einst ihrem Vater Ehre machen, sollte gesund und stark werden und die Natur lieben lernen, wie ich sie liebte.

Dann öffnete ich die Patronenpakete, fand die Patronen unversehrt, füllte mir den Gurt mit den matten Messinghülsen mit dem drohenden Nickelmantellangblei und überließ es abermals Bully, die kleine Ada zu bewachen. Das Hochgefühl des Abenteurers durchpulste mich, und frohgemut watete ich wieder gen Süden durch den Bach, um im Bogen zunächst die beiden Wachen zu beschleichen.

Die Sonne brannte heißer denn je hernieder. Die Luft war dunstig, und diese Wärme war nichts als eine tröstende Täuschung der Natur, denn nichts konnte die Tatsache hinwegleugnen: Noch vier Wochen, und die Schneestürme würden sich mehren, die Sonne würde nur noch für kurze Stunden erscheinen, und dann würde die Wildnis Nordkanadas ihr Winterkleid anlegen und Eis und Kälte und Schnee völlig neue Lebensbedingungen schaffen.

Vier Wochen nur …

Inzwischen mußte ich mit den Meinen in der fernen Wildnis nicht nur verschwunden sein, sondern auch eine Hütte bereit haben, vieles andere noch … Arbeit genug wartete meiner.

Aber diese Zukunft schreckte mich nicht. Wer die Schwierigkeiten seiner Lage ängstlich abwägt, lähmt die eigenen Kräfte.

Und meine Kräfte, meine Muskeln spielten leicht und arbeitshungrig, mein Kopf war klar, ich unterschätzte nichts, ich überschätzte nichts.

Es gab eine Zeit, in der ich durch die Pampas des südlichsten Südamerikas sprengte, neben mir der beste Reiter, Schütze und Fährtensucher, der mir je Freund war.

Und dort – weidete ein Pferd, Millis starkknochiger Brauner, gesattelt, von Umiwarks Rotte mit Beschlag belegt … Dort in der Nähe lag der eine Wächter. Vielleicht fürchtete die flüchtige Horde die Polizei, – aber in diesen unendlichen Gebieten zwischen Fort Maupherson und dem Großen Bärensee waren die Polizeiposten so selten wie die Wasserstellen in der Sahara. Sie kamen überhaupt nicht in Betracht. Sie hatten auch nur Zweck für die Winterzeit, wenn das wilde urwüchsige Volk der Fallensteller von Süden heranzog in ihre Jagdreviere und einsamen Hütten. Dann gab es hier die berüchtigten „Fallengreifer“, die Banditen, die des ehrlichen Jägers Fangeisen und Fallgruben und Baumfallen plünderten und ernteten, wo sie nicht gesäet hatten. Blitzschnell verschwand das Gesindel wieder, verfügte über tadellose Hundeschlitten, plünderten wohl auch die Pelzverstecke der Trapper, obwohl diese wetterharten Kerle die Pelze zumeist sehr gut verbargen.

Trotzdem: Umiwark wußte, was seiner drohte. Umiwark hatte Verbrechen begangen, die ganz Nordkanada kannte. Polizeisender hatten seine Schandtaten nach allen Richtungen hin gefunkt, – man war auch hier in der Wildnis mit der Technik mitgegangen, aber diese Wildnis war zu groß, zu menschenleer, und das Polizeiaufgebot des Norddistriktes verfügte vielleicht über zweihundert Mann: Ein Tröpflein auf einen heißen Stein! –

„Mein Freund, wenn du schreist, kannst du die Länge meines Messers in deinem eigenen Kadaver[15] nachmessen“, sagte ich zu dem Wachposten, als ich auf ihm kniete und ihn warnend kitzelte.

Er ließ sich ruhig fesseln und knebeln. Es war ein Bursche von kaum siebzehn Jahren.

Ich schleppte ihn in eine Regenrinne, begrub ihn halb mit Steinen und fragte nur: „Habt ihr noch Patronen?“

Er schüttelte den Kopf. Seine Augen aber leuchteten hämisch und haßerfüllt.

Mir gefiel das nicht.

Ich kroch weiter.

Der zweite Kerl nach Osten zu war schwerer zu beschleichen. Irgend etwas mußte seinen Argwohn erregt haben … Er hatte sich halb erhoben, blickte sich häufig um, dann sackte er doch zusammen. Es war gegen mein Gefühl, aber Rücksichten kennt die Wildnis nicht. Der Stein traf ihn mitten vor die Brust, – sein Röcheln erstickte, die wilden Blicke zeugten von Atemnot, – auch er war erledigt.

Als ich ihn fesselte, berührte plötzlich jemand meine Schulter.

Milli Haynes bleiches Gesicht, unnatürlich bleich, erhob sich aus den Gräsern.

„Fliehen Sie, Abelsen!“, – sie war erschöpft, sie stieß die Worte nur keuchend hervor. „Dort – – fünf, sechs Reiter: Polizei! Nehmen Sie das Pferd … Wo ist das Kind?!“

Und flehend wiederholte sie: „Wo ist das Kind?! Ich rette es … Zögern Sie nicht!“

Ein Blick gen Norden …

Und ein Gedanke an Malcolm Davis’ durchweichten, jetzt unleserlichen Zettel!

Dieser Zettel wäre mein Schutz gewesen, jetzt war er wertlos …

„Auf der Insel dort, Milli … Wir treffen uns an dem kleinen fernen See, den ich Ihnen zeigte … Milli, – – mein Kind muß mein bleiben …!“

Ich hatte ihre Hand gepackt …

„Sie kennen Milli Haynes noch nicht! Fliehen Sie! Ada und Bully rette ich!“

Ihr Mund bekam wieder die harten, scharfen Linien.

„Fort mit Ihnen, Abelsen! – Am kleinen See – – ich weiß!“

Es war die höchste Zeit.

Ich rannte, – ich schwang mich in den Sattel, ich sprengte gen Nordost am Bachufer hin, – hinter mir Rufe, Schüsse … –

Hinein in den Bach, – hinüber in den Wald, – hinaus aus dem Walde, wieder über den Bach, hinauf auf eine Anhöhe, – ich wollte gesehen werden, ich hatte bereits fünfhundert Meter gewonnen, ich trabte weiter, und in meinem Herzen war nur ein großes starkes Gefühl: Dankbarkeit gegenüber Milli Haynes, gegenüber diesem prächtigen Weibe, das da irgendwie den Eskimos entwischt war, und das mein Kind und meinen Hund schützen würde.

Ich schaute zurück. Drei Reiter hetzte ich hinter mir. Die anderen weckten nun wohl Umiwarks Horde aus dem Verdauungsschlaf!

Drei …

Und der Gaul unter meinen Schenkeln kein elender Klepper, sondern trainiert durch Millis wilde Hetzjagden, ausdauernd und ein tadelloser Springer …

Ich bog weiter nach Norden ab, ich ritt durch steinige, halbleere Bachtäler, die im Frühjahr reißende Flüsse wurden, ich ritt durch Waldstücke, deren feiner harter Flechtenbelag von Karibufährten durchkreuzt war, ich hielt mich auf diesen frischen Wildfährten, die die Hufeindrücke des Braunen unkenntlich machen mußten, ich traf auch eine Karibuherde von achtzig Tieren, und ich jagte sie nach meinem Willen erst gen Norden, dann im Bogen nach Süden, – sie gaben den Ausschlag, der von ihnen zertretene Boden war mir sicherste Gewißheit, daß die Verfolger die Suche einstellen mußten. Ich spielte mit der Karibuherde wie ihr Gebieter, ich näherte mich ihnen niemals so sehr, daß ihre Flucht sie ermüden konnte. –

Drei Stunden sind verflossen.

Zwischen endlosen Tannenwäldern dehnt sich ein Tal, das ich kenne. Bis hierher habe ich einst meine Jagdstreifen ausgedehnt, dort rechts hinter den Hügeln mußte Justus Napys Blockhütte liegen.

Das Tal wird enger, felsiger, – und vor mir her trabt die Herde, trabt in die Schlucht hinein, die keinen anderen Zugang hat als diesen.

Der Mensch ist größte Bestie.

Aber die Wildnis kennt nur Kampf, nur Kampf aller gegen alle.

Als das letzte Karibu in der Schlucht verschwunden ist, steige ich aus dem Sattel.

Links hat der Orkan eine ganze Reihe Jungtannen samt den Erdmassen in die Tiefe befördert. Die Tannen kamen mir gerade recht, ein Zaun vor dem Schluchteingang ist bald hergestellt, und die Karibus sind mein.

Die Wildnis ist hart. Undank fast ist es, die Tiere für später einzukerkern.

Dann reite ich vier Meilen auf dem zertrampelten Boden zurück, – ich will sicher gehen, ich lege mich auf eine Anhöhe und warte. Nach Nordwest dehnen sich blumige Prärien, – dorther kam ich, dorther müssen die Verfolger kommen …

Sie kommen nicht. Ich wußte es, – sie suchten mich im Norden, und ich bin südwärts der Herde nachgetrabt, und alle Pfadfinderkünste dieser Elitetruppe müssen versagen, wenn unbeschlagene Pferdehufe zwischen frische Karibufährten sich mengen und wenn der dunstige Horizont jetzt um die siebente Abendstunde Südwind beschert und sich zu Wolken ballt und Regen bringen wird.

Ich reite zurück, die Büchse über dem Sattel, immer noch vorsichtig, immer noch Sohn der Wildnis, der dahinschleicht, stets bedroht wie das huschende Kaninchen, wie der scheue Fuchs, wie der finstere grämliche Wolf, der soeben da drüben mit hellem Sommerpelz sich dünn machte: Ein alter Einsiedler wahrscheinlich, die Rute fast ohne Haare, ohne Zähne wohl, und nur noch auf Kleinwild angewiesen, das die zahnlosen Kiefer zermalmen können.

Im Walde reite ich dahin, am Waldrande, links das Tal, über dicken Moosteppich im Dämmerlicht uralter säuselnder Tannen. Aus kleinen Tümpeln unter diesen Riesen der Wälder stiegen ölige Blasen auf, in dem grünen Rasen düsterer Teiche, die nur selten das Sonnenlicht sehen, wachsen hier im ewigen Schatten Brombeerstauden mit unwahrscheinlich dicken, fast schwarzen Früchten. Eine Bärenfährte läuft vor mir her, ein oft betretener Pfad, – Meister Petz hat seinen Fruchtgarten inspiziert, Brombeeren und Honig liebt der schwarze Kletterkünstler genau so wie den Kadaver eines Elches, der vielleicht, von Wölfen zerfetzt, im Moor Zuflucht suchte und aus dem Moor mit gebrochenem Bein auf festes Land zurückkehrte und hilflos umkam. Es gibt viele Tragödien der Wildnis, und wer Augen hat zu schauen, der sieht, daß diese Wildnis nichts anderes ist wie ein großer Kampfplatz.

Ich habe die Hürde vor der Schlucht noch verstärkt. Viele Tage wird dieser Kerker den Karibus Nahrung bieten, und dann …?

Wir brauchen Fleisch, Milch, Häute …

In den Großschlächtereien Chicagos sieht man täglich im Durchschnitt fünfzigtausend Schweine mit raffiniert ersonnenen Vorrichtungen sterben. Ob jedes Schwein bereits tot ist, wenn es in den Brühkessel fällt, bleibt zweifelhaft. Aber die Dividenden der Gesellschaften sind gut, und die Aktionäre haben Luxusautos.

Noch vorsichtiger trabe ich mitten durch die Wälder und Hügel gen Südwest. Ich denke an mein Kind, an Bully und an Milli Haynes. Justus Ritter von Napys Wolfsfarm ist mir gleichgültig, wird nur Zwischenstation sein. Mein Ziel liegt drüben im Osten an dem Binnenmeer des nordischen Kanada, an den Gestaden des Großen Bärensees, die tausend Schlupfwinkel bergen. Ich weiß, daß die Polizei sich niemals mit dieser heutigen Verfolgung begnügen wird, es sind zähe, ehrliche Burschen, diese Hüter der Ordnung in einem Lande, das ganz Europa Platz bieten könnte. Ich weiß, daß Monate vergehen, oft Jahre, bevor sie ihr Wild zur Strecke bringen.

Mich werden sie nicht fangen.

Ich bin keiner von jenen dunklen Strolchen aus den Verbrecherhöhlen der Großstädte, die als letzte Zuflucht sich in die Wildnis schlagen und hoffen, daß die Wälder sie verbergen werden. Ein törichter Irrtum!! Der Landfremde versagt gegenüber dieser Wildnis, und die Wildnis hilft selbst mit, ihn zu erhaschen.

– Mein Pferd binde ich an eine Kiefer mit langem Lasso auf einer kleinen Lichtung an, und zu Fuß pirsche ich mich heran an die letzte bewaldete Reihe Berge, die Napys kleinen See gen Norden verdeckt. Es regnet sacht, und die schweren Tropfen, die sich an den Nadeln der Bäume angesammelt haben, fallen klatschend auf meinen schäbigen, ehrlichen Filz und den ledernen Jagdrock. Als der Regen dann in Schnüren herabprasselt, freue ich mich, die Satteldecke des Braunen mitgenommen zu haben, zumal ich mich doch in der Entfernung verrechnet haben muß. Hügelreihe an Hügelreihe, dunkle, triefende Wälder, unsichere Beleuchtung, und nach einer Stunde bei mir die begründete Sorge, daß ich zu meinem Pferde nicht zurückfinden könnte, falls dieser Regen anhält und die bedrückende Dämmerung noch tiefer würde. Gewiß, nicht leichtfertig bin ich diesen nie begangenen Pfad gegangen, habe hier und dort einen Ast geknickt und Moosstücke herausgerissen. – Ich muß kehrtmachen. Zum ersten Male beschleicht mich die Angst, ich könnte mich verirrt haben, und die andere Angst ist noch ärger: Was wird aus meinem Kinde?! Wird Milli Haynes es gerettet haben?! Niemandem gönne ich es, niemandem, dieses kleine Wesen ist ein Teil meines eigenen Ich geworden. Ich beginne zu laufen, zu traben … Und – – der Regen fällt nicht mehr in Schnüren, in Strömen, – der Regen wird zum Wolkenbruch. Ich bin zufrieden, als ich zwischen Felsen ein trockenes Loch entdecke, in dem fraglos einmal ein Bär gehaust hat, vielleicht war es auch die Wochenstube einer Bärenmutter, – Knochen genug liegen umher, und das Mooslager im tiefsten Winkel enthielt die für den Jäger so unverkennbar steinhart gewordenen Kotreste von Jungbären. Da der Höhle jedoch der typische Raubtiergeruch fehlte, war mit einem unerwünschten Besuch eines ausgewachsenen schwarzen Honigliebhabers kaum zu rechnen. Das Wochenbett der Bärenmama nahm mich warm und freundlich auf, draußen goß es weiter in Strömen, und nur eins störte hier meine Ruhe: Die Moskitos!! – Ich habe sie als zeitweilige Landplage Nordkanadas bereits erwähnt, aber wer längere Zeit in der Wildnis gelebt hat, wird gegen ihre Stiche ziemlich immun, da der Körper ein Gegengift entwickelt, und dies war sowohl bei Milli Haynes als auch bei mir der Fall, und die kleine Ada hatten wir auf andere Art gegen diese Blutsauger geschützt, die, falls sie nicht bereits überaltert sind, im Herbst sich in die rissige Borke der Bäume verkriechen, im Winter erstarren und – ein förmliches Wunder der Zählebigkeit! – beim ersten Sonnenstrahl und warmen Lüftchen wieder vergnügt, aber sehr zum Schaden und Mißbehagen von Mensch und Tier, umhersurren.

Sie kamen dahergesurrt, und sie kamen nicht von draußen, sondern von den Steinwänden des Schlupfwinkels, wo sie vielleicht schon in Vorahnung des mahnenden Winters sich eingenistet haben mochten. Der Menschendunst lockte sie an, – Blutsauger, die wochenlang hungern und auf ein Opfer lauern und dann mit harmlosem Fliegensummen herbeikommen und sich bis zum Platzen füllen und mit fremdem Blut das eigene Grab düngen.

Immerhin – sie werden lästig. – Mein Feuerzeug funkt, das Moos brennt wie Zunder, und Zweige und Äste sind auch vorhanden. Rauchwolken quellen hoch, Flammen flackern, und das erst, finde ich, gibt der Wildnis ihre intimste Note: Das Lagerfeuer! – Der Qualm zieht gehorsam nach draußen, die Moskitos verduften, und ich liege da auf dem Bauche im Moos, die Ellenbogen aufgestützt, und blicke träumerisch in die tänzelnden Flämmchen …

Bärenhöhle, Einsamkeit, – – Traum der Wildnis …!

Ich habe viele Träume der Einsamkeit geträumt, ich habe an fremden Schicksalen in fremdesten Erdenwinkeln ganz abseits vom Alltag aufs engste teilgenommen, und die Rückschau über diese Jahre tragen Überschriften von freudigster Farbenpracht: Das Erbe des angeblich Gehenkten, – die Nacht der Gondaloors, – – viele, viele andere noch.

Meine Gedanken kreisen dichter, verdichten sich um das zarte, kleine Geschöpf, das die Wildnis mir schenkte, um Milli Haynes, um meinen Hund.

Das ist meine Gegenwart und Zukunft.

Wo sind die drei?!

Daß Milli die Insel im breiten Bach glücklich erreicht hat, bezweifele ich nicht. Auch ungesehen erreicht hat. Aber die Flucht?! Wird sie den Augen der Polizei entgangen sein, diesen prächtigen Kerlen, die alle das humorvolle Blinzeln jener Männer besitzen, die nichts als harte Pflicht und Freude an dieser Pflicht kennen? – Wird es Milli geglückt sein, mit dem Umiak und dem Kinde und dem Hunde und dem Gepäck zu entrinnen?! – Milli kennt die Wildnis. Kein Püppchen ist sie aus den Städten mit den Steinkästen, die mit dem Dach die Wolken kratzen, – etwas Urwüchsiges haftet ihr an … Millis Vater war Indianerhändler, und so wenig wir auch miteinander gesprochen haben: Milli deutete an, daß ihr Vater sie schon als halbwüchsiges Kind mitnahm in das Schweigen der Wälder und in die winterlichen Schneewüsten.

Irgend etwas in meiner Seele bemüht sich da abermals, Milli Haynes Kumpanei mit den Halsabschneidern Fred Tucker und Jan Grosch zu entschuldigen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Weib ihres Schlages grundlos einen solchen tiefen Haß gegen Stanhoop empfand und grundlos auf mich übertrug. Ihr danke ich den Streifschuß an der Stirn, – die Wunde ist Narbe geworden, und Narben schmerzen nicht mehr. Ihr danke ich diese Warnung vor den nahenden uniformierten Reitern, ihr auch den Hinweis auf das Pferd, – meine Rettung also! Denn Malcolm Davis’ für mich ausgestellter Ehrenschein ist nur noch ein durchweichter, wieder getrockneter Fetzen mit völlig verlaufener Schrift. Niemand würde mir glauben, daß nicht ich Malcolm erschoß. Es sei denn, Milli legte Zeugnis für mich ab, – falls sie etwas davon weiß, daß Tucker der wahre Mörder ist – falls …

Milli …!

Können Gedanken Lebende herbeibringen?!

Geräusche im Eingang der Höhle …

Ein Griff zur Büchse, – ein blitzschneller Sprung in den dunklen Winkel hinter die Steinnase dort …

Unnötig …

Im Eingang lehnt Milli, durchweicht vom Regen, den Hut im Genick, beide Hände gegen die Brust gepreßt. Ihr Atem fliegt, und ebenso plötzlich fliegt sie vornüber. Ich bin bei ihr, trage sie zum Feuer, – keine Verletzung, nur Ohnmacht, Erschöpfung …

Trotzdem zerreißt die Angst mir das Herz. Wo ist … mein Kind?! Wie kommt Milli Haynes hier in den tiefen Tannenforst?!

… Sie ist kein gemaltes Püppchen aus duftendem Boudoir.

Sie schlägt die Augen auf … ich kniee neben ihr, – sie erkennt mich, – Schreck verzerrt das bleiche Gesicht, und aufschluchzend wie ein verängstigtes kleines Mädel schlingt sie mir die Arme um den Nacken, schmiegt sich an mich, und über ihre Lippen kommt das qualvolle Geständnis, das mich zunächst förmlich erstickt …

„Abelsen, … ich … habe … das Kind einem Fremden überlassen müssen … Auch mich hätten die Berittenen beinahe erwischt …“

 

11. Kapitel.

Milli beichtet.

Sie weint herzzerbrechend …

Einem Fremden?!

Vielleicht klingt meine Stimme allzu rauh.

„Erzählen Sie, Milli …! – Was sollen die Tränen jetzt?! Erzählen Sie!!“

Ihre Arme lösen sich, und die großen, schönen Augen blicken mich an mit dem Ausdruck eines gehetzten Wildes.

Ein bitteres Lächeln umflackert den zuckenden Mund. Mit jäher Kraftanspannung reißt sie sich zusammen.

„Verzeihen Sie, Abelsen …“ Sie sitzt aufrecht da und schiebt das Haar aus der Stirn und wischt die Tränen weg. „Verzeihen Sie … Aber sie waren hinter mir her wie die Wölfe … Ich bin um meine Freiheit gerannt, ich … bin nicht schlechter und besser denn Sie, Abelsen … Die Polizei hat scheinbar die Gräber geöffnet, und …“

Ich spüre, daß ein Übermaß von Energie für diese unklaren Sätze verwendet wird … Jeden Augenblick kann bei diesem erschöpften jungen Weibe eine Nervenkrise eintreten.

„Milli, Ruhe …!“, – und jetzt ziehe ich sie an mich wie ein krankes Kind. „Jetzt sprechen Sie gar nichts mehr, – Sie sind ja in Sicherheit, Mädel … Erholen Sie sich erst …“

Aber Milli Haynes ist halbes Geschöpf der weiten Wildnis, – halb nur Städterin.

„Löschen Sie das Feuer aus …“, – ihr Kopf liegt an meiner Brust, und sie atmet tief auf … „Der Rauch ist weit zu riechen … Ich hoffte, die Hütte eines Fallenstellers zu finden …“

Das Feuer ist im Nu erstickt.

Draußen vor dem Eingang stehen dicke, starke Tannen, und dicht davor hohe Büschel jenes gelblichen Grases, das kein Tier anrührt: Messergräser, – an den Kanten wie geschliffene Rasierklingen, – spröde, hart, – nur der Winterschnee durchlaucht diese seltsamen, seltenen Gewächse, und dann knabbern die Wildkaninchen sie ab, die unter der Schneedecke sich endlose Gänge wühlen, gegen die ein Labyrinth ein übersichtlicher Park ist.

Draußen dämmert die matte Helle des Regentages. Hier im Bärenasyl ist es dunkel.

„Waren sie Ihnen denn so dicht auf den Fersen?“, fragte ich halblaut. – Ihre körperliche Nähe verwirrt mich. Milli ist kein Weib, das ein Mann ungestraft im Arm hält.

„Ganz … dicht, – bis vor einer halben Stunde … Sie haben Hunde mit, Abelsen … Es waren acht Reiter im ganzen …“

„Nicht zu viel reden – erst ruhig werden!“, – der Ton meiner Stimme verrät zu viel.

Wie ein Erschauern geht es durch ihren Leib.

„Und – – Sie wollte ich töten, Abelsen, Sie …!!“ Ihr Flüstern wird schrill in trostloser Selbstanklage. „Ich … Närrin!! Ich muß schamlos betrogen worden sein, – belogen von einem Schuft, der … nur mich haben wollte, – Tucker, – – der war der Dämon!“

Sie atmete hastiger. „Fürchten Sie nicht, daß meine Nerven versagen könnten … Meine Nerven sind durch Haß trainiert worden, der von diesem Tucker geschürt wurde … Ich will meine Seele befreien von dieser ganzen Last, ich muß es tun. Aber zuerst haben Sie ein Anrecht darauf, zu erfahren, wie es Ihrem Kinde und mir ergangen ist. Das ist rasch erzählt. Ich kam unbemerkt auf die Insel, zerschnitt den Riemen des Karibu, das ich ja doch nicht mitnehmen konnte, maskierte das Umiak mit Weidenbüschen und Erlenästen und ließ es mit der Strömung am Südufer dahintreiben. Die Beamten der kanadischen Polizei hatten vielzuviel mit Umiaks Horde und mit Ihnen zu tun, als daß sie auf das bewegliche Stück Ufergestrüpp Achtung gegeben hätten … Ich wußte längst, daß der Bach in einem der Flüsse mündete, die nachher dem Großen Bärensee zufließen – meine Jagdausflüge dehnte ich ja stets recht weit aus, weil unser Zusammenleben auf dem Stanhoop-Berg für mich eine Qual bedeutete. O – Sie waren sehr hart zu mir, Abelsen, sehr hart …! – Ich gelangte dann auch unangefochten in den Fluß hinein, der sich in langen Windungen durch die Wälder schlängelt und schließlich – das wissen Sie wohl kaum – auch jenen See durchströmt, den Sie mir als Treffpunkt angegeben hatten. Kurz vor diesem See gewahrte ich zwei Reiter, – zum Glück hatte ich das Fellboot noch besser maskiert … Ich drückte es in die Weiden hinein, hielt Bully die Schnauze zu, da er bereits drohend knurrte, und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, daß die kleine Ada nicht erwachen möge … Sie schlief ganz fest, aber die Moskitos waren so zudringlich, und allzu dicht mochte ich das Kind nicht zudecken … Die beiden Policemen machten in meiner Nähe auf einer Uferkuppe halt, sie verfolgten zweifellos mich, – und sehr bald hörte ich aus ihren kurzen Bemerkungen, daß Umiwark mich verraten hatte, daß seine Kundschafter über die Vorfälle am Stanhoop-Berg sehr genau unterrichtet waren, – daß man mich … als Mörderin greifen wollte!“

Sie erschauerte wieder …

„Mörderin …! – – Und ich – – als Beschützerin eines Kindes, – ich saß da in doppelter, dreifacher Angst – nicht um mich selbst, Abelsen, aber Ihnen hatte ich für Ada zu sorgen versprochen, und …“

„Ruhe, Milli …! Ruhe!!“ – Ich drückte sie an mich, ich ahnte schon, was sie mir weiter mitzuteilen hätte, und meine Sorge um mein Kind war behoben.

Es war dunkel um mich her … Der Duft ihres Leibes, ihres überreichen Haares umnebelte mich …

Es war ein Traum der Wildnis, ein Traum der Liebe inmitten der weinenden Riesentannen.

Und ganz leise sagte sie da: „Wenn Sie nur ein einziges Mal so … nachsichtig gewesen wären – – droben auf dem Stanhoop-Berg …! Ein[16] einziges Mal so … nachsichtig gewesen wären … Und ich eine Ausgestoßene, nur geduldet, nur immer geduldet …!“

„Mädel, – es geschah in bester Absicht“, suchte ich mich recht matt zu verteidigen … „Ich wollte strafen und … bessern, Milli, – – doch das alles mag nun begraben sein … Ich …“

Sie umklammerte mich, plötzlich fühlte ich ihre Lippen auf den meinen.

Ein flüchtiger Kuß.

Ein Stammeln …

„Abelsen, trotzdem war die Strafe gerecht … Sie war gerecht … Ich hatte es verdient, aber ich litt unsäglich … – – Nein, ich will nicht weich werden, – – die beiden Beamten ritten schließlich weiter, hatten sich jedoch noch nicht weit entfernt, als die kleine Ada erwachte … Und was dann kam, – das war eine einzige grausame Jagd, ein tolles Zusammendrängen von Ereignissen, von Entschlüssen … Ich ruderte rasch quer über den Fluß, ich wollte an das Nordufer, die Strömung war barmherzig, sie half mir, die Berittenen feuerten, als ich nicht anhielt, – dann stieß das Umiak gegen Baumwurzeln, – vor mir eine kleine Lichtung, am Rande halb unter den Tannen ein … Indianer, – Trapper, doch wohl Trapper, nur so phantastisch herausgeputzt … Ich schrie ihm zu: „Verbergen Sie das Kind …!“ – und stürmte in den Wald, als er fast freudig winkte, – die Kugeln beschleunigten meine Flucht, – ich blieb dennoch unter den ersten Bäumen, floh nach Westen zu, woher ich gekommen, – die Policemen lockte ich so von dem Umiak fort, – sie trabten ins Wasser, pfiffen ihren Hunden, – und dann kam diese stundenlange Hetze – – hierhin, dorthin, – – aber Milli Haynes fängt man nicht, – oh, Milli Haynes kennt die Wildnis, – – wie haben sie mich gejagt!! Und jetzt – – Abelsen, – – ich habe Ihr Kind preisgegeben, aber … der fremde Trapper schien sehr rasch begriffen zu haben, der Mann machte auf mich, obwohl ich ihn kaum recht sah, einen so vertrauenerweckenden Eindruck …“

„Jener Trapper ist eine biedere Seele“, – wie leicht war mir es, sie zu trösten. „Der Fallensteller wird für das Kind vortrefflich sorgen, Milli, davon bin ich überzeugt. Besser als bei ihm kann Ada kaum aufgehoben sein. – Und jetzt wollen wir auch über die anderen Dinge Klarheit schaffen. Weshalb haßten Sie Jim Stanhoop?“

„Weil er meinen Vater ermordet und beraubt haben soll, – behauptet Tucker“, – ihre Antwort klang scheu und zögernd. „Ich fürchte, ich bin da sehr leichtgläubig gewesen, zu leichtgläubig … – Tucker wohnte in Edmonton, war jedoch einige Male droben in Fort Maupherson, und …“

Ich fühlte, wie sehr sie sich wieder erregte …

„Wissen Sie, daß er verheiratet war?“, fragte ich, um diese Aussprache abzukürzen.

„Ja … Mit Jane Audrey … Er schickte sie nach dem Fort voraus, nachdem ich mit Tucker und Jan Grosch darüber einig geworden, Stanhoop … zur Rede zu stellen oder besser die Beweise beizubringen, daß …“

„Nicht alles wissen Sie …“ – Ich nahm ihre Hände … „Geschah es mit ihrem Einverständnis, daß Stanhoop bei lebendigen Leibe verbrannt werden sollte?“

Sie zuckte zusammen. „Gott im Himmel, Abelsen, – – das waren doch nur Drohungen, und als wir uns von Stanhoops Insel entfernten, hat Grosch doch die Lampe weggenommen und …“

„Das tat er nicht! – Milli, – nur noch eine Frage? – Kannten Sie die Tote auf der Türschwelle der Blockhütte in dem verbrannten Walde? Sahen Sie sie?“

„Nein! Nein!! Ich wurde ja damals vor Entsetzen in die Wälder gescheucht, als …“ Sie konnte nicht weitersprechen …

Wer unnötigerweise eine Beichte, ein Geständnis in die Länge zerrt und seelische Pein bei dem Opfer irgend welcher tragischer Umstände hervorruft, ist ein herzloser Folterknecht. – Milli Haynes Angaben trugen durchaus den Stempel der Wahrheit. Tuckers und Jan Groschs teuflische Pläne waren enthüllt. Sie hatten gewußt, daß Stanhoop über bedeutende Ersparnisse verfügte, und zweifellos hatten sie Milli veranlaßt, das Haus ihres Vaters in Edmonton zu verkaufen und dieses Geld als Betriebskapital in das Unternehmen gegen Jim Stanhoop zu stecken.

Ich wollte Milli nach Möglichkeit schonen.

Indem ich ihre Hände streichelte, teilte ich ihr vorsichtig mit, daß Tucker ganz offenbar sein junges Weib irgendwie hatte loswerden wollen und daß Jane Audrey-Tucker bei Stanhoop Zuflucht gefunden.

„Ada ist ihr Kind, und dieses Kind war geboren, kurz bevor die Kugeln die junge Mutter niederstreckten …“

Milli erschauerte. Ich fürchtete, ein Weinkrampf würde dieser ungeheuren Erregung folgen. Aber Milli Haynes besaß noch immer genügend Widerstandskraft. Sie schwieg, sie lehnte an meiner Brust, und ihr Atem flog.

„Ein glattes Gesicht ist ein Fluch!“, sagte sie dann. – Ich verstand sie. Sie spielte auf ihre eigene Schönheit an. „Tucker wollte mich haben … Das war es …! Stanhoops Geld und mich, und er hatte auch seine Gier mehr als einmal verraten. Daß mir nicht früher die Augen aufgingen!! Daß ich mich hinreißen ließ, auf Sie zu schießen, Abelsen …!! Das vergebe ich mir nie … nie!“

„Ich verzieh Ihnen längst, und das ist wohl das Wichtigere, Milli!! Und noch wichtiger: Vergessen Sie das alles!!“

Es war dunkel, draußen plätscherten die Regenfluten, und hier in der Bärenhöhle tropften auf meine Hände die warmen Tränen eines von jämmerlichen Schurken gewissenlos hintergangenen jungen Weibes, das für den Vater, der selbst ein sehr fragwürdiger Ehrenmann, sich und ihre Seele beinahe geopfert hatte.

Vergessen, – – und wenn sie vergessen wollte, war nur ein Mittel vorhanden: Ablenkung, Tätigkeit!!

„So, wie die Dinge liegen“, erklärte ich etwas energisch, „besteht für uns keine Gefahr, entdeckt zu werden. Der Regen wäscht alle Fährten weg, und die Tropfen, die von den Tannennadeln rinnen, sind mit Harzgeruch durchsetzt und vernichten auch die Fährtenwitterung für die feinste Hundenase. Wir werden es uns hier etwas behaglicher machen, Milli. Ich habe da eine Herde Karibus in eine Schlucht gehetzt, und – Hunger kennt kein Gebot! – Kommen Sie, nehmen Sie hier die Wolldecke als Umhang, Bewegung wird Ihnen nur dienlich sein, und das bißchen Nässe, – nicht wahr, Mädel, wir sind doch Kinder der Wildnis geworden, und die Geschöpfe der Wildnis scheuen nicht Regen, nicht Sturm, nicht Schneegestöber und Kälte!“

Der frische Ton fand bei ihr besonderen Widerhall. Ich hatte mich erhoben, ich hatte sie mit emporgehoben und ihre Hände dann freigegeben.

Sie sagte ganz schlicht, – ihr Gesicht konnte ich nicht sehen: „Abelsen, Sie sind ein Zauberer! Sie sind ein herrlicher Mensch!“

„Etwas backfischmäßig“, lachte ich vergnügt, denn das, was ich hatte erreichen wollen, war erreicht. Sie war aufgelebt, sie begann zu vergessen, und die Vergangenheit starb für sie dahin. So sollte es sein.

Doch die nächste Szene war mir nicht ganz nach Wunsch.

Milli stand dicht vor mir, legte mir die Arme um den Hals und … küßte mich.

Ohne Scheu …

Mit der großen Selbstverständlichkeit eines reinen Herzens, das übervoll ist von Dankbarkeit. Ohne Koketterie, ohne jedes Triebhafte, Urmenschliche …

Und das war schön.

Nur – – für mich eine Enttäuschung.

„Ich danke Ihnen …“, sagte sie ebenso schlicht und trat zurück. „Ich habe Sie lieb gewonnen, Olaf … Ich habe nie einen Bruder besessen, nie Geschwister, und mein Vater war ein derber, herber Mann … Ich habe mich nach Liebe gesehnt, nach jener Zärtlichkeit, die die Tage der Jugend sonnig gestaltet. Aber meine Jugend war Einsamkeit, meine Hausgenossin eine alte zahnlose Negerin … Die Lichtpunkte waren die Reisen mit meinem Vater in das Nordland. Im Hundeschlitten inmitten der weißen Wälder ging mein Sehnen auf die Natur über … – Nun habe ich Sie, Olaf, und – – ich bin glücklich!“

Frauen können sehr blind sein.

Milli war mit geistiger Blindheit geschlagen.

Ahnte sie nicht, daß ein Weib wie sie zu anderer Liebe geschaffen?!

„Brechen wir auf“, sagte ich rauh. „Da haben Sie die Decke, Mädel …! Ein paar Tage müssen wir nachts in diesem Versteck bleiben … – Halt, – was mag übrigens mit Umiwark geschehen sein?“

Ein hartes Auflachen. „Die Horde war dumm genug, nicht sofort „Hände hoch“ zu machen … Es knallten ein paar Schüsse, und die Berittenen wollten sich schwerlich der Mühe unterziehen, Umiwark bis zum Fort zu transportieren … Mehr weiß ich nicht.“

Ich schritt davon.

Der regenschwere Himmel weinte kaum so nachhaltig um den alten Eskimo-Häuptling. Wir gingen dahin durch das Rauschen der strömenden Wolken und das feine Klingen der fallenden Tropfen. Ich war jetzt so ruhig, so innerlich gesammelt, daß ich mühelos die Richtung fand, wo der Braune festgebunden war. Er stand mit hängendem Kopfe da, ihm mißfiel das Wetter …

Wir nahmen ihn mit.

Vorsicht war geboten. Wir schlichen durch Wald und Prärie und kamen zum langgestreckten Tale … zur Schlucht, zur Hürde, die den Karibus den Ausgang versperrte.

„Warten Sie!“

Milli hielt unser Pferd, und ich kletterte über die Tannenstangen. – Die Wildnis ist Kampf … ist Leben, Sterben. Mich widerte die Schlächterarbeit an, aber die vier Karibus, die ich mir auswählte, starben schmerzlos. Wir brauchten Fleisch und Häute, – kein Schuß fiel, das Messer arbeitete lautlos. Rasch weidete ich die Tiere aus, zog ihnen die Sommerdecken ab, zertrümmerte die Schädel mit einem Stein und packte die Hirne in eins der frischen Felle. Das Fleisch, das ich nicht mitnehmen konnte, warf ich auf einen riesigen Ameisenhaufen.

Milli empfing mich schwer beladenen Mann mit der wenig erfreulichen Nachricht, sie hätte Hundegebell gehört.

„Dort, Olaf, – dort ungefähr …“

Sie wies nach Norden das Tal entlang.

Ich horchte … –

Nichts …

Aber ich war doch mißtrauisch.

Und dann vernahm auch ich das Kläffen von Hunden.

„Das sind niemals Polizeihunde, Milli … Wir müssen feststellen, wer dort lagert … Es können Indianer sein, auch Eskimos. Wir befinden uns hier auf dem Grenzstreifen der Eskimowanderungen. Im Sommer kommen sie weit südlich …“

Wir fanden für Milli und das Pferd ein zweites Versteck. „Da, nehmen Sie die Felle, Mädel … Nur keine Langeweile … Verstehen Sie das Gerben?“

„Welche Frage?“

„Ich bin sehr bald zurück … Das Lager kann keine tausend Meter entfernt sein …“

Sie haschte nach meiner Hand. „Seien Sie vorsichtig, Olaf …!“

„Bei dem Regen wittert mich kein Hund, und ich habe den Wind auch von vorn … – Wiedersehen, kleine Milli … Bin neugierig, was für Herrschaften dort Quartier bezogen haben …!“ – Sie drückte mir die Hand … Unsere Hände waren feucht, und die meinen nicht ganz sauber. Ich fühlte die Wärme von Millis Fingern, und es flutete mir heiß zum Herzen. Aber für mich war dieses Mädchen auch nur Traum der Wildnis … Sie hätte mich groß und erstaunt angesehen, wenn ich etwa gewagt hätte, diese Kameradschaft zu brechen. Ich wäre in ihren Augen gesunken, herabgestiegen von dem Piedestal der Verehrung, auf das sie mich in übertriebener Dankbarkeit gestellt hatte.

Die Schleier des Regens fielen hinter mir zu, und ich ging einem Abenteuer entgegen, dessen Eigenart mir die heimlichen Wünsche langer Monate erfüllte. – –

… Die Feder mag eine Weile ruhen. – Ich lehne mich zurück, und mein Blick schweift durch den seltsamen Raum, der mich und Bully nun seit acht Tagen beherbergt. Drüben im Nebengemach ruht der blonde Riese Haskielt … Seine Atemzüge sind wie das Brausen der Windsbraut, – aus diesem mächtigen Brustkorb kann kein flaches, säuselndes Atmen kommen, dieser gewaltige Körper aus Muskeln und Sehnen saugt die Luft ein wie ein Blasebalg, der nachher das Feuer zu Weißglut anfacht und Eisen erröten läßt.

… Ich sinne vor mich hin. Krause, wehmütige Gedanken sind es. Der schmale Pfad abseits vom Alltag hat grausame Dornen. In diesen Tagen habe ich mich hineinzwingen müssen in eine Stimmung, die der Vergangenheit in diesen Blättern gerecht wird. Mein Herz ruft nach denen, die ich verlor, die ich freiwillig aufgab … Weil die bessere Einsicht siegte. Das war es.

Aber zu dieser Einsicht sich durchzukämpfen, – das war ein Weg des Verzichtens, das war die Straße, auf der ich hinter mir Hoffnungen und Liebe und Vatergefühl begraben hatte. Aus dem Grabe steigen immer noch die Träume empor …

Traum der Wildnis …

Mein Kind, das ich liebte, ist nicht mehr bei mir …

 

12. Kapitel.

Einer vom blonden Volke.

Die Hunde der Fremden dort ließen mich doch nicht nahe heran. Drei Lederzelte erkannte ich, – spähend lag ich unter nassen, wippenden Tannenästen am Westrand des Tales, gerade vor mir befanden sich die Zelte, eine große Menge Hunde von erstaunlicher Größe und halb im Schutz der ersten Bäume zwei Pferde, deren Umrisse ich mehr erraten mußte. Aus den Zeltöffnungen stieg dünner Rauch auf, leise Stimmen vernahm ich zuweilen, – draußen zeigte sich kein Mensch. Aus den Pferden schloß ich auf die Anwesenheit zweier Policemen, – diese Nachbarschaft behagte mir wenig, und die unruhigen Hunde konnten mich jederzeit wittern. Ich wollte bereits kehrtmachen, als das völlig Unerwartete geschah: Eine Riesenfaust packte von hinten mein Genick, – der Druck dieser Eisenfinger war so vernichtend, daß mir die Schlagadern abgeschnürt wurden und jeder Versuch, mich zu erheben, infolge der jähen Ohnmachtsanwandlung scheiterte.

Ein Ungetüm von Mensch hatte mich in seiner Gewalt. Mit der anderen Hand nahm er mir die Büchse weg, – ein einziger leichter Schlag dieser Hand auf meinen Unterarm drohte mir die Knochen zu brechen. Zwischen kläglicher Kraftlosigkeit und dem Wunsche, mich irgendwie zur Wehr zu setzen, pendelte mein Geist hilflos umher. Ich biß die Zähne zusammen, – ein Augenblick klaren Denkens kam, meine Linke fand das Messer.

Mich hier gefangennehmen zu lassen, durch Polizei nach Fort Maupherson geschleppt zu werden, endlose Auslieferungsverhandlungen, dann zurück ins Zuchthaus, zurück zu den Scharen von Wanzen und hinein in die Zelle mit halbverdorbener Luft … – – ich – – niemals!!

… Blitzartig fliegen Gedanken, blitzartig verstärkt sich der Lebenswille, der Freiheitsdrang zu allerletzter unerhörter Anspannung. Menschenleben?! Ging es nicht um mein Leben hier?! Hatte ich deshalb mein Kind unter quälenden Sorgen über die ersten gefährlichen Tage glücklich hinübergeleitet in ein geregeltes, gesundes, blühendes Dasein, um nun als Sträfling ihm entrissen zu werden – einer Waise, die niemanden hatte als mich, niemanden sonst!

Und die Hand mit dem Messer fährt nach hinten, gleichzeitig eine rasche halbe Drehung des Körpers, – der matte, halb verrostete Stahl trifft auf Widerstand, die eisernen Finger lösen sich, ein Fausthieb schleudert diese über mich gebeugte wuchtige Masse in das Moos, ein Körper schlägt dumpf auf, liegt still, – – und ich selbst erwache wie aus bösem Traum …

Eisig rinnt es mir über den Rücken …

Ich … habe getötet!! Die Knie versagen, – ich reiße mich hoch …

Wer ist der, der da liegt?!

Kein Beamter …

Ein Mann in Ledertracht mit Pelzkappe, die jetzt neben dem blonden, hellblonden Kopfe ruht …

Ein Riese, – ein Kerl von einem erschreckenden Gliederbau, trotzdem tadellos proportioniert …

Ein Gesicht, wohl tief gebräunt, trotzdem mit unverkennbar germanischen Zügen … Nur die Backenknochen stehen ein wenig hervor, und dann – seltsam genug! – der Fremde trägt zu beiden Seiten des Mundes wie früher die Eskimos jene an Negersitten erinnernden Lippenknöpfe, fast talergroße Scheiben aus Walroßbein, dem nordischen Elfenbein, die die Unterlippe herabziehen und den Mund breit und wulstig erscheinen lassen.

Irgendeine dunkle Erinnerung kommt mir da an all die vielen Gerüchte, die über die blonden Eskimos von Viktoria-Insel verbreitet sind. Neuere Forscher trafen mit kleineren Abteilungen dieses unbekannten Volkes zusammen. Die Existenz der blonden Eskimos leugnet niemand mehr. Einige Gelehrte nennen deren Land „Kupferland“, weil diese blonden Nachkommen von europäischen Seeleuten und Eskimoweibern gern Kupfer als Tauschartikel benutzen. Andere sprechen von einer noch unbekannten Polarinsel, auf der die „Blonden“ hausen – fernab von allen übrigen Nordlandbewohnern, scheu und fremdenfeindlich. Niemand bestreitet mehr, daß sie vorhanden sind. Ihr Land kennt niemand. Sie sollen eine Sprache haben, die nichts mehr mit der der Eskimos gemein hat, sie sollen als Nachkömmlinge von Norwegern und Schweden sich eines Mischidioms bedienen mit vielen norwegischen Anklängen.

Sollte ein Zufall mir hier ein paar Leute dieses Volkes in den Weg geführt haben?

Und ich bücke mich über mein Opfer, öffne rasch den Jagdrock, das zweite lederne dünne Untergewand, fürchte einen Herzstich, quellendes Blut zu finden, betaste die Brust, und das Rätsel löst sich: Der Mann ist nur bewußtlos! Der Messerstich hat lediglich einen der hellen Elfenbeinknöpfe seines reichverzierten Rockes [getroffen][17], zersplitterte ihn, aber die Kraft des Stoßes übertrug sich auf die Herzgrube, und mein Fausthieb über die Nase gab dem Koloß den Rest.

Eiligst wickelte ich den Lasso von der Hüfte.

Ein Knebel ist ebenso schnell in den Mund gewürgt und befestigt … Der Riese bewegt sich bereits, und ein zweites Mal hätte dieser ungleiche Kampf zu meinen Ungunsten geendet.

Und – es regnet …

Regnet …

Der Wind scheint sich gedreht zu haben, die Luft ist kühl, – Zeichen des nahenden kurzen, ach so kurzen Herbstes …

Mein Blick gleitet zu den Zelten, und aus dem einen tritt ein Mann hervor, – der Lichtschein des drinnen brennenden Feuers beleuchtet sein graubärtiges verwittertes Gesicht.

Ein Europäer, so scheint es …

Die Hunde umdrängen ihn knurrend, er teilt brutale Fußtritte aus, sein Büchsenkolben verscheucht die wilde, prächtige Meute, aber sein ganzes Benehmen beweist, daß er den Tieren ein Halbfremder.

„Hallo, – – Haskielt!!“, brüllt er in die Regenschleier hinein.

„Hallo, – – zum Teufel, wo steckst du, Haskielt?!“

Eine grobe, rauhe, brutale Stimme ist es.

Aber was mich stutzig macht, – – der Mann spricht die Sprache meiner Heimat mit jenem geringfügigen fremden Akzent des Amerikaners …

„Hallo!!“

Der Riese neben mir regt sich … Er richtet sich auf, sein bewußter Blick umfängt meine Gestalt, haftet an meinem Gesicht. Er hat die hellen Augen der Nordländer von jenem lichten Blaugrau, das so erstaunlich wandlungsfähig ist.

„Hallo …!! Haskielt!!“

Der Riese horcht, aber sein Blick sucht weiter meine Züge zu zerlegen. Regen trieft herab, wir beide triefen, und die Riesentannen der Wildnis und das Träufeln der Tropfen ist die sanfte Begleitmusik zu Haskielts ruckartigen Anstrengungen, seine Fesseln zu sprengen.

Ich fühle ein unklares Verlangen, mich mit diesem Mann friedlich zu verständigen. Ich flüstere ihm zu:

„Verstehen Sie meine Sprache?“

Er nickt eifrig, und unsere Augen bohren sich ineinander. Plötzlich lächelt er … Ein gutmütig-nachsichtiges und ehrliches Lächeln. Nickt wieder und macht eine energische Kopfbewegung nach den Zelten hin … Seine Züge werden dabei drohend und finster.

„Wenn Sie nicht um Hilfe rufen, nehme ich Ihnen den Knebel ab …!“ Mein Mund ist dicht an seinem Ohr … „Jeder laute Ton – – eine Kugel als Quittung! Versprechen Sie es mir?“

Er nickt.

„Hallo!“, brüllt der Alte schon wieder. „Zum Satan, Haskielt, – wo steckst du denn?!“

Die Hunde knurren, nähern sich dem Graubart, – sein Büchsenkolben treibt sie zurück.

Ich nehme dem Blonden den Knebel ab.

„Wer sind Sie?“

Er holt tief Atem. „Einer vom Volke jenseits des Eises … Ein blonder Eskimo, wie man uns nennt … Und Sie?!“

„Ein Schwede, Haskielt … Und Sie sprechen meine Sprache?!“

„Wir sind im Grunde Skandinavier, Herr … In unsern Adern ist nicht mehr viel Eskimoblut … Von einem Walfängerwrack holte ich mir eine schwedische Grammatik, Herr … Es ist alles so einfach …“

„Einfach zu erklären?! Für Sie!! – Wer ruft da nach Ihnen?“

„Ein … Schuft, den ich heute fassen werde, Herr …!“

„… Haskielt – in drei Teufels Namen, wo sind Sie?! Kommen Sie!“

Die schrille, harte, rohe Stimme verrät verborgene Wut.

Und Haskielt raunt mir zu: „Nehmen Sie mir die Fesseln ab! Ihnen geschieht nichts, – – aber dem da, dem Giftmischer!!“

Ich wage es. Haskielt erhebt sich und reicht mir die Hand.

„Ich danke Ihnen. Warten Sie hier …“

Er bückt sich und hebt seine Büchse auf. Jetzt, wo er vor mir steht, staune ich diesen tadellos gebauten Riesenleib von neuem ehrfurchtsvoll an.

Er gleitet davon – ins Freie, seine Bewegungen sind leicht und spielend …

„… Hallo, Haynes!!“, meldet er sich …

Ich glaube mich verhört zu haben.

Haynes?! Etwa Millis Vater?!

„… Hallo, Haynes …!“

Ich schaue … ich ahne irgend etwas Gräßliches.

Haskielt geht langsam auf die Zelte zu.

Ungewisse Angst treibt mich vorwärts, – ich folge einer inneren Eingebung, ich laufe im Bogen tief geduckt ihm voraus …

Die Hunde wittern mich, wollen vorwärtsstürmen … Haynes flucht, – ein paar Steine fliegen …

Der blonde Riese nähert sich.

Urplötzlich da – Sekunden sind es – – der Alte hebt die Büchse … schlägt auf den Blonden an …

Zwei Sätze – meine Faust prallt ihm in die Rippen, der Schuß knallt, die Kugel geht ins Blaue, – dann hat Haskielt sich vorwärts geschnellt …

Packt den Alten bei der Kehle, – ich schließe unwillkürlich die Augen, ich höre ein furchtbares dumpfes Krachen …

Dann:

„Da – – freßt ihn auf!!“

Ein Körper dröhnt auf den nassen Steinboden.

„Haskielt, – – sind Sie wahnsinnig?!“ Ich stehe vor ihm … Die Meute zerrt bereits an der Leiche … „Haskielt, das ich bestialisch, das ist …“

Ein Kinderlächeln gleitet um die blondbärtigen Lippen.

„Das ist Vergeltung, Herr, nichts weiter. Kommen Sie … Sehen Sie … Die anderen meines Volkes hat der Schurke auch diesmal wieder betrunken gemacht … wie stets! Und betrog sie immer – seit Jahren. Er verschaffte uns Waffen, Patronen, vieles andere. Aber – – er betrog …!! Diesmal machte ich die endlose Reise mit … Hier trafen sich die Meinen mit ihm seit Jahren … Unser Gold nahm er uns, tausendfach ließ er sich alles bezahlen, – Schnaps war seine beste Waffe.“

Also das war Millis Vater!!

Indianerhändler, – nein, nur so nebenbei … Lieferant der blonden Eskimos also, und er war überhaupt nicht ermordet worden, erst hier starb er … und wie starb er! Ich hatte seine Genickwirbel knacken hören.

„Haskielt, das dulde ich nicht, – verjagen Sie die Hunde!“ Ich fahre ihn an, wie einen dummen Jungen. „Wollen Sie das Blut Ihrer Vorväter schänden durch diesen widerlichen Akt der Rache?!“

Er blickt mich lange an.

Dann geht er und hebt den Toten mit einer Hand empor, schleift ihn zu einem Erdloch, wirft ihn hinein und scharrt mit Füßen und Händen Steine darüber – Steinbrocken von Zentnerschwere – für ihn nur Kiesel … –

In dem Zelt liegen sechs gänzlich betrunkene blonde Männer, sämtlich weit älter als Haskielt, keiner von seiner Größe.

Eine Weile sitzen wir uns stumm an dem Feuer gegenüber.

Dann sagt Haskielt ganz schlicht: „Wir hatten zwei Zentner Goldkörner diesmal mit … Ich ahnte, daß der Schurke mich beseitigen wollte. Ich war ihm im Wege, Herr …“

„Abelsen heiße ich …“

„Und ich Jörn Haskielt … Unsere Familie ist ausgestorben bis auf mich. Vielleicht habe ich droben in unserem Eislande, das nur einen Monat Sonne kennt, zu viel Bücher gelesen. Ich bin vielleicht hinausgewachsen über meine Stammesgefährten, die Sehnsucht nach den wärmeren Ländern erstarb nicht mehr, und der letzte Anlaß zu dieser Reise war eben der berechtigte Wunsch, den Betrüger Haynes, der durch uns reich geworden, der uns die Pest des Alkohols brachte, endgültig zu entlarven.“

„Und – Ihr Land“, frage ich begierig. „Wo liegt Ihre Heimat?“

Sein Gesicht wird ernst. „Das fragen Sie bitte nie wieder, – fragen Sie nichts! Wir alle dort von droben schweigen … alle! Sogar die da!“ Und er deutet voller Geringschätzung auf die Trunkenen. „Haynes wird uns keinen Brandy mehr liefern, und mein Volk wird wieder gesunden. Bevor ich unser Land verließ, verbrannte ich alle meine Bücher. Bildung, selbst die geringe, die man aus einem Dutzend Bücher sich aneignet, ist nichts für unser einsames blondes Volk. Ich habe es an mir gespürt, ich habe mir die Sehnsucht nach alledem angelesen, was jenseits der Eisgrenze liegt, und ich will diese Sehnsucht befriedigen.“

Unser Gespräch wendet sich anderen Dingen zu, – ich berichte von mir selbst, berichte von Haynes’ Tochter und bitte Jörn Haskielt, daß er Milli gegenüber schweigen möchte.

Vieles, was ich erzähle, begreift er nicht ganz. Sein geistiger Horizont ist eng geblieben trotz seines Eigenstudiums, aber seine rasche Auffassungsgabe überrascht mich. Einige erläuternde Worte genügen, ihn in das fremde Reich zivilisierter Völker einzuführen.

Er rüttelt dann einen der Bezechten wach und sucht dem verblödeten Wicht zu erklären, daß er nicht mit heimkehre …

Er nimmt einen Hammer, zerschlägt die beiden Fäßchen … Schnapsdunst entweiht den reinen Odem der Wildnis.

Als wir aufbrachen, scheuchte er die Hunde zurück. Er ist still und bedrückt, dieser Riese, – die Liebe zu seiner fernen Heimat im Norden kämpft noch gegen das andere Sehnen …

Sein Großvater, das weiß er, war Matrose auf einem der Schiffe der Franklinexpedition, – aber damals, betonte er, existierte das blonde Volk bereits, und Jörn Haskielt, der Ahn, fand nur Aufnahme, weil er Schiffbrüchiger und dem Tode nahe war. – Mehr habe ich von meinem blonden Freunde nie erfahren – nie. Vielleicht haben inzwischen kanadische Forscher mit Hilfe von Flugzeugen das geheimnisvolle Eisland entdeckt – ich weiß es nicht. Es tut auch nichts zur Sache. Die blonden „Eskimos“, längst wieder Skandinavier, existieren … An der Tatsache ist nicht in rütteln.

Milli, die diesen jungen Riesen wie ein Gespenst anstarrte, wurde mit einigen knappen Sätzen abgefunden. Gut, daß sie nicht ahnte, was sich dort bei den Zelten abgespielt hatte. Gut, daß sie niemals die Wahrheit hörte, woher die verschiedenen Gegenstände stammten, die wir mit angeschleppt brachten: Decken und zwei Beile, eine Axt und Feuerzeuge, zwei neue Scheren und Zwirn und Nadeln und einen kleinen Ballen Wollstoff.

Wir kehrten zu dreien in die Höhle zurück. Es war bitterkalt geworden, der Regen war mit Schnee vermischt, und der Herbst bedrohte die noch grüne sommerliche Wildnis mit dem raschen Hinwelken kurzer Sommerpracht. –

Als diese Nacht vorüber und der junge Tag mit heißer Sonne und blauem Himmel uns nach langem Schlaf begrüßte, hockten wir vor der Höhle um das knisternde Feuer, und unser Gast Jörn Haskielt saß zwischen uns und staunte Millis verwirrende Schönheit mit großen Kinderaugen an.

Kerzengerade stieg der dünne Rauch empor und verlor sich in den Baumwipfeln.

Als ich später das Tal aufsuchte, um das Grab des alten Haynes in aller Stille zum Hügel aufzuschichten, waren die Zelte verschwunden.

Das blonde Volk der fernen Nordlandinsel war ernüchtert heimgezogen. Die Stätte war leer.

Nachdenklich trug ich die Steine zusammen, – der Hügel wuchs, und die Wildnis hatte einen tragischen Traum ausgeträumt.

… Irgendwo zwischen Mackenzie und Großem Bärensee liegt da der Indianerhändler Edgar Haynes begraben – – irgendwo …

Wölfe und Füchse werden das Grab umschleichen, die Mitternachtssonne wird es bescheinen, und aus diesem Grabe steigen die Erinnerungen auf an dunkle Mächte, die die Seelen der Menschen in die Irre führen und Mord und Niedertracht wecken …

Oder, und das ist das Versöhnende, mir mein Kind bescherten, das ich nie vergessen werde und das ich … verloren habe. – –

Verloren …

Und so ist auch unser Kind nur Episode meines bunten Daseins gewesen, aber die allerschönste …

Mein Kind wird, wenn die Jahre dahingeeilt sind und wenn es einmal Auskunft verlangt über seine Eltern, nur den Namen Olaf und Jane vernehmen, und man wird ihm sagen: „Dein Vater liebte dich so sehr, daß er, ein Wanderer abseits vom Alltag, dich hingab, damit die Gefahren und Nöte des bitteren kanadischen Winters dich nicht bedrohten.“

Ich gab dieses Kind hin.

Und wie das alles sich fügte, werde ich morgen hier verzeichnen …

Bully schläft zu meinen Füßen … Jörn schläft nebenan.

Wenn ich die Augen schließe, glaube ich das feine plärrende Stimmchen noch immer zu hören …

Es war mein Kind, und nun ist es für mich … tot.

… Der Qualm der Pfeife beizt mir die Augen.

Sie tränen …

Auch ich werde mich niederlegen …

Jörn will morgen Hundeschlitten bauen.

 

13. Kapitel.

Mr. Smith ohne Steckbrief.

Jörn Haskielt, der Riese, ist ein Simson und ein Kind. Die spärliche Bücherweisheit hat ihm nicht das Urwüchsige, Ehrliche, Primitive geraubt. Dabei ist es zweifellos eine für Frauenherzen gefährliche Erscheinung. Frauen lieben entweder das dekadente, schmalzige, krankhafte, überkultivierte (dann gehören sie selbst zu diesem Großstadtunkraut), oder das Kraftvolle, Gesunde, Lebensbejahende (dann sind sie ebenfalls durch und durch gesund geblieben). – Millis anfängliche Bewunderung für Freund Haskielt legte sich sehr bald. Sie begann ihn zu erziehen. Da er auch das Englische leidlich beherrschte, konnten sie sich einigermaßen verständigen.

„Ihr Bart sieht wie Schafwolle aus“, sagte Milli bei der Abendmahlzeit. „Schneiden Sie ihn ganz kurz. Außerdem kann man auch in der Wildnis saubere Finger haben.“

Sie hielt ihm ihre eigenen Hände unter die Augen und fügte noch eindringlicher hinzu:

„Und Fingernägel, Jörn!“

Jörn errötete und lächelte kindlich, stand auf und ging zu einer nahen Quelle, deren feiner Sand besser als Seife war.

Über dem Feuer schmorte ein Karibuschinken, den ich eifrig drehte und mit dem herabträufelnden Fleisch- und Fettsaft wieder begoß.

„Milli, auch eine Erzieherin soll zartfühlend sein“, mahnte ich erheitert. „Sie gehen zu scharf ins Zeug.“

„Aus Jörn läßt sich ein Gentleman machen“, verteidigte sie sich. „Wie Sie es sind, Olaf. Sie halten doch gewiß sehr viel auf Ihr Äußeres. Und das muß sein.“

„Danke.“

Jörn kehrte zurück, zeigte Milli seine Hände. „Zufrieden?“

„Für den Anfang genügt es, lieber Jörn.“

Er holte seine Pfeife hervor und rauchte. „Ich werde nachher einmal Ausschau halten, ob die Policemen noch dort am See sind“, erklärte er mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit und ölte seine tadellose Repetierbüchse, die in seinen Pranken einer Kinderflinte glich. „Olaf hat Sehnsucht nach dem kleinen Mädchen und dem Trapper dort.“

Ich hüstelte. „Der Trapper, Jörn, unbedingt zuverlässig.“

Noch immer wußte Milli nicht, daß Justus Napy dieser hilfreiche Freund war. Jörn sollte den Namen nicht nennen, und er schätzte meine Unterbrechung seines Satzes richtig ein.

„Trotzdem gehe ich hin“, beharrte er bei seinem Entschluß. „Für mich bedeutet das weiter keine Gefahr.“ Um seine Mundwinkel spielte das Schmunzeln selbstbewußter Kraft. „Ich werde mich für einen Fallensteller ausgeben, der von Süden kam. Man wird mich ungeschoren lassen. Ich habe schon Eisbären mit den bloßen Händen erwürgt.“

Wir saßen wieder vor der Bärenhöhle, und der Tannenwald und das Dickicht und die bunten Flecken der Blumenbeete freuten sich des Sonnenscheines. Die Wildnis meldete sich mit ihren vielfachen fernen Stimmen, – wir horchten zuweilen, aber kein verdächtiger Laut drang an unser Ohr.

Ich zerlegte den Karibuschinken, schnitt lange schmale Stücke ab, und wir aßen und redeten über allerlei, und Milli füllt Jörns Bildungslücken mit dem Eifer der geistig sehr beweglichen Frau gründlich aus.

Ich dachte an die kleine Ada, an das Kind der Wildnis, aber meine Gedanken waren unfroh und trübe. Vorhin hatte Milli geäußert, es sei doch wohl ausgeschlossen, das Kind den langen Winter über hier in der Einsamkeit zu lassen, wo nicht einmal auf hundert Meilen ein Arzt zu haben sei. Es wäre barbarisch, die Kleine den Unbilden der Witterung auszusetzen. – Barbarisch sagte sie, und ich hatte dazu schweigen müssen. Aber mein Kind preisgeben – – niemals!!

Unter dem Einfluß der Sonnenwärme dufteten die Tannen so kräftig nach Harz, daß man das Harz auf der Zunge zu schmecken meinte, die Moospolster dampften, und in den Altweibergesichtern tiefvioletter Stiefmütterlein glänzten noch Regentropfen wie Tränen.

Ein Wildkaninchen schoß herbei, verfolgt von einem Fuchs, – wie gelähmt saß das Tierchen vor uns, während der Räuber blitzschnell verschwand. Die Augen des Tieres verrieten Todesangst, Milli streckte die Hand aus, streichelte es, und die Schrecklähmung wich. Zusammengekauert hockte es vor uns, ein Jungtier noch, und Milli sagte mit besonderer Betonung: „So kann es unserer Ada ergehen – so ähnlich! Der Winter ist schön, aber unbarmherzig, und ein Kind bleibt ein zartes, anfälliges Geschöpfchen …“

Ein Vorwurf für mich, – aber Milli predigte tauben Ohren.

„Es ist mein Kind, nicht unser Kind“, erwiderte ich schroff.

Und dies war der Beginn des zähen Kampfes um Ada, um das Kind der Wildnis, das ich gesund und stark machen wollte und das mir Inhalt meines Lebens werden sollte.

Jörn hatte ängstlich den Kopf gewandt und horchte. Das Kaninchen flitzte davon.

„Reiter und Hunde“, sagte Jörn sehr ruhig. „Geht in die Höhle, verhaltet euch still … Nehmt eure Waffen mit.“

Er erhob sich und schleppte ein paar halb vermoderte Tannen herbei, lehnte sie vor den Eingang, – es waren Stämme, die zwei Mann nicht hätten tragen können. Er trug sie wie Bootsruder.

Dann verwischte er die Spuren, legte sich bequem auf seine Decke und rauchte weiter.

In der Bärenhöhle hatte Milli sich an mich gedrängt.

„Hören Sie etwas, Olaf?“

„Nein …“

Ich schob die Sicherung der Büchse zurück und lugte durch den Baumverhau, der einem natürlichen Windbruch gleichen mußte.

Milli flüsterte ängstlich: „Es müssen Beamte sein … Was soll werden, Olaf?“

„Abwarten!“ … Und ich sah das triste Bild einer Zuchthauszelle …

Niemals!! Niemals wieder!!

Aus dem Walde hervor trabten zwei Reiter, jeder zwei Hunde an der Leine, – den einen Reiter kannte ich: Sergeant Carmer aus dem Fort, nebst Malcolm der schneidigste der Gruppe.

„Das … sind sie …“, hauchte Milli verstört. „Das sind die beiden vom Flußufer …“ Sie zitterte … Aber das, was draußen vorging, lenkte sie sehr bald von ihrer begründeten Angst wohltätig ab, und machte sie zur staunenden Zuschauerin.

„Hallo, Mister, – wer seid ihr?“ rief Carmer sichtlich verwundert.

Jörn behielt die Pfeife zwischen den Zähnen. „Fallensteller …“ Er hatte sich auf die Ellenbogen gestützt, und seine Riesengestalt lag auf dem Bauche – äußerst unbesorgt und behaglich.

„Ihr Name?“

„Jörn Haskielt …“

„Papiere?!“

Jörn verstand nicht recht.

„Papiere, Mister?! Was sind Papiere?“

„Jeder Trapper hat irgend einen Ausweis, Mister Haskielt … falls Sie wirklich so heißen.“ Er stieg aus dem Sattel und stand dicht vor Jörn.

„Habe ich nicht, – – Ausweis?! Wozu?! – Was wollen Sie?“

Carmer spielte mit der Pistole. Seine Büchse hing am Sattel seines Gaules.

„Wir suchen jemand … Ihr Englisch ist mangelhaft, mein Freund, und überhaupt …“

Er schaute ringsum … „Wo haben Sie Ihre Fallen?“, fragte er schärferen Tones.

„Brauche keine, baue sie mir selbst, wenn der Winter kommt. – Suchen Sie mich?“ Jörns kindliche Naivität entwaffnete den scharfen Carmer.

„Ein ulkiger Bursche“, meinte er zu dem zweiten Berittenen. Der hatte leider die Büchse im Anschlag, und leider kehrte er mir sein Profil zu. Kommt es zum Äußersten, würde diese Büchse wohl unbrauchbar werden. Auch die meine lag im Anschlag.

Sergeant Carmer erwiderte kurz:

„Trafen Sie hier ein Mädel, Haskielt?“

„Verschiedene …“ Jörn lächelte wieder. „Eskimomädels, dann auch Indianerinnen … Ein Trupp Cree-Indianer war gestern drüben in dem langen Tale, etwa zwei Meilen von hier …“

Dieser Jörn mit seiner knappen Bücherweisheit war doch ein schlauer Bursche.

„Eine Weiße, meine ich“, sagte Carmer, ungeduldig werdend.

„So?! Jagen Sie weiße Mädchen?! – Ich nicht. Mir genügen Füchse, Marder und Stinktiere. Die Wildnis ist kein Tanzsalon, Mister. Nur für Tiere, glaube ich. – Wollen Sie essen? Von der Karibulende ist noch genug vorhanden.“

Carmers braunes Gesicht wurde finster.

„Ich möchte eine klare Antwort haben, Haskielt …“

„Mister Haskielt“, verbesserte Jörn freundlich. „Unsere Bekanntschaft ist noch zu kurz, und – ich bin kein Bandit … – Wenn Sie weiße Mädchen jagen, mache ich nicht mit. Jeder hat seinen Standpunkt, Mister, und der meine ist: Ich rede so viel, wie es mir gefällt“.

Mit Sergeant Carmer war nicht zu spaßen. Den „Schnapper“ nannten sie ihn im Fort.

„Stehen Sie auf – – und Hände hoch!!“, fuhr er Jörn bissig an. „Sie kommen mit zu Napys famoser Hundefarm“.

Napy!!

Ich konnte gerade noch Milli die Hand auf den Mund drücken … Sie hätte sonst laut geschrien.

„Ruhe!“ – und ich rüttelte sie. „Ada ist bei Napy! Verhalten Sie sich still!“

In der Dämmerung der Höhle geisterte ihr Gesicht in erschreckender Blässe.

„Napy – – hier?!“ Ihre Augen verrieten sehr viel …

„Still!!“

Draußen hatte sich Jörn gemächlich erhoben. Seine Simsongestalt zeigte erst jetzt ihre erstaunlichen Maße.

„Ich kenne keinen Napy“, meinte er harmlos. „Ist das Ihr Vorgesetzter? Dann werde ich dort reden … Sie werden da hoffentlich ein paar Kollegen haben, mit denen man vernünftig verhandeln kann.“

Carmen grinste. „Wir zwei genügen … Die Kollegen, Haskielt, bringen eine Bande Eskimos zum Fort, und denselben Weg werden …“

Jörn hatte die Arme vorgeworfen, hatte Carmers Handgelenke gepackt und dessen Hände an die Schenkel gedrückt, hob ihn wie ein Püppchen empor, und mit einem Schmerzensschrei ließ der Sergeant die Pistole fallen.

Jörn lachte.

„Schießen Sie doch“, sagte er zu dem zweiten Gegner. „Aber erschießen Sie diesen Mann nicht!“

Der im Sattel fluchte und ließ die Hunde los.

„Packt zu – – allons!! Packt zu!“

Der eine Hund sprang, – ein Fußtritt schleuderte ihn gegen eine Tanne, wo er heulend liegen blieb.

Der zweite sprang, – – und schnappte Carmer in den Jagdrock, flog ebenfalls wie ein Ball durch die Luft, – – und dann kam das verblüffendste – – blitzschnell …: Jörn schleuderte Carmer wie einen Sack von sich, und der „Schnapper“ aus Fort Maupherson riß den Kollegen aus dem Sattel, beide kugelten zu Boden, beide bekam Jörn beim Genick, schleifte sie halbtot zum Feuer, – – sie brüllten vor Schmerzen, diese Eisenklammern haben sie wohl nie vergessen!

„Olaf!!“

Ich schob die Bäume weg … –

Als die beiden Beamten gefesselt vor uns saßen, sagte Sergeant Carmer ohne jede Feindseligkeit:

„Verdammt, – so etwas ist mir noch nicht passiert!“

Er war noch ganz grüngelb im Gesicht, und das wollte bei Billy Carmer etwas heißen.

Jörn hob seine Pfeife auf und setzte sie wieder in Brand. „Sie sind kein Eisbär, Mr. Carmer … Ich habe vier erwürgt, es können auch fünf sein … Seien Sie zufrieden, daß ich guter Laune war. – Abelsen mag reden.“

Was ich den beiden Beamten mitteilte, war nicht nur eine Schilderung der Ereignisse der letzten Wochen. Ich wollte endlich einmal einem Mann mit stark ausgeprägtem Gerechtigkeitsgefühl, und das war Sergeant Carmer, mein eigenes Schicksal ohne jede Beschönigung vor Augen halten. Ich dachte nicht im entferntesten daran, mich etwa zu verteidigen. Dessen bedurfte es nicht. Die Tatsachen sprechen für sich. Erst nachher gab ich einen knappen Überblick über meine Flucht aus Goldy Lake City, über Malcolms Tod und die weitere Entwicklung der Dinge. Millis Vater erwähnte ich nur nebenbei und beließ es bei der Annahme, Tucker hätte ihn ebenfalls beseitigt. Vorsichtiger sprach ich über meine Begegnung mit Jörn Haskielt, – die blonden Eskimos mußte ich mit einflechten, ich stellte dies so dar, als ob die Leute vom hohen Norden nur zur Jagd so weit südlich gekommen wären.

Sergeant Carmer musterte Jörn mit ungläubigen Blicken. „Sie sind also ein blonder Eskimo, Mr. Haskielt?“

„Man nennt uns so, – wir sind längst wieder Europäer geworden, wenn wir auch genötigt sind, als Eskimos zu leben. Dazu zwingt uns unser Eisland, die Überlieferung und das oberste Gesetz der Meinen: Unserer unwirtlichen Heimat treu zu bleiben und jeden Fremden fortzuweisen.“

Carmer fragte nichts mehr. Er überlegte eine Weile.

„Zeigen Sie mir Malcolms Zettel, Mr. Abelsen“, bat er durchaus höflich.

Es war nur noch ein brüchiger Papierfetzen mit gänzlich verlaufener Schrift, die nicht mehr entziffert werden konnte.

Ich hielt das Papier Carmer dicht vor die Augen. – In diesem Falle war er klüger als ich.

„Halten Sie es gegen die Sonne“, sagte er.

Und jetzt, daran hatte ich nicht gedacht, war doch einiges noch zu lesen.

„Es ist Malcolms Unterschrift, und ich glaube Ihnen“, erklärte der „Schnapper“ einfach. „Trotzdem bleibt leider der Steckbrief bestehen und bringt mich in eine sehr peinliche Lage. Ginge es nach mir, würde ich Sie unbedingt unbehelligt lassen. Aber Pflicht bleibt Pflicht, – Sie werden das begreifen, lieber Abelsen. Ich darf nicht ins Fort zurückkehren und dem Kaptain melden, daß ich Sie für unschuldig hielte und Sie hätte laufen lassen. Etwas anderes wäre es, wenn …“ – er zwinkerte mir vielsagend zu, „wenn Sie erklären, Sie seien nicht Abelsen, sondern eben jener ehemalige Schiffskoch Oskar Smith. – Nicht wahr, Parker, das wäre doch etwas ganz anderes“, wandte er sich an seinen Kollegen. „Gegen Smith, der bei Gondaloor wohnte, liegt nichts vor …“

„Allerdings, gar nichts!“, grinste Parker verständnisvoll. „Ich schätze, hier der Mr. Oskar Smith schmückt sich nur mit fremden Federn … Sie sind ja gar nicht Abelsen, Mann, – Sie haben mit ihm wohl eine entfernte Ähnlichkeit, aber – Sie sind eben Smith – abgemacht!“

„Abgemacht!“, sagte ich ganz ernst. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie so grob anlog. Ich bin Smith …!“

„Na also!“, – Carmer markierte glänzend einen gewissen Ärger. „Die Schwindeleien hätten Sie sich sparen können! – Nehmen Sie uns die Fesseln ab, die Geschichte ist erledigt.“

Es waren ein paar Prachtkerle, diese beiden Beamten, und Männer wie sie, die ein Herz in der Brust hatten, sind nicht selten bei der königlichen kanadischen berittenen Polizei des Nordwestdistriktes.

Carmer massierte sein Genick. „Ihr Griff, lieber Haskielt, wird wohl tagelang Spuren hinterlassen! Verdammt – haben Sie Kräfte!! So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten! Ich kam mir wie ein Kinderballon vor, als ich durch die Luft flog …“

Mit Schaudern dachte ich an des alten Gauners Haynes fürchterlichen Tod.

„Na, dann können wir ja zu Napys Farm zurückkehren“, fügte Carmer hinzu. „Sie werden Sehnsucht nach Ihrem Kinde haben, Smith … Und vielleicht hat noch jemand Sehnsucht gerade nach Napys Farm …“ (Er streifte Milli mit einem scherzhaften Blick.)

Sie wurde sehr rot und senkte den Kopf.

 

14. Kapitel.

Mein Sieg für mein Kind …

Ich hatte Justus Napys See noch nie aus der Nähe geschaut, – so weit hatte ich meine Jagdausflüge nie ausgedehnt. Als wir uns auf unserem Marsche dorthin den Sandhügeln näherten, blieb Milli plötzlich zurück, die bisher stets mit Sergeant Carmer die Spitze gehalten hatte. Sie saß zu Pferde, und es war der brave Braune, der sie leichtfüßig trug. Er hatte sich auf der einsamen Lichtung ein kleines Bäuchlein angefressen und war ziemlich übermütig.

Sie sprang ab und ließ ihn hinterher laufen. Die Steigbügel prallten häufig zusammen, und die hellen Metalltöne unterstrichen gleichsam die Hauptpunkte unserer Aussprache.

„Also doch!“, empfing ich Milli. „Weshalb weichen Sie mir aus?“

Sie schob etwas scheu ihren Arm in den meinen.

„Olaf, es war nicht recht von Ihnen, daß Sie mir Napys Anwesenheit hier verschwiegen …“

„Und von Ihnen eine kleine Entstellung der Tatsachen, daß Sie eine nur oberflächliche Bekanntschaft mit Napy vortäuschten …! Genau wie er nicht ganz bei der Wahrheit blieb, was seine „Hundefarm“ betrifft. Napy verließ Edmonton bitter enttäuschten Herzens, seine Hoffnung galt Ihrem Wiederfinden, Milli, und seine Karawane in die Wildnis hinein war ein letzter Versuch, irgendwo eine gewisse Milli Haynes doch noch aufzustöbern. – Wie stehen Sie mit ihm?“

Sie hing sehr schwer an meinem Arm. Sie blickte zu Boden, und vorsichtig wichen wir den bunten Blumenbeeten der Wildnis aus, die freilich nur zu bald doch dahinwelken würden.

„Eigentlich …“ – es kam ihr schwer über die Lippen – „waren wir verlobt, Olaf … Aber Tuckers aufstachelnde Reden fachten das häßliche Feuer in mir an, und ich vergaß Napy, ich weihte ihn in nichts ein … Nicht einmal einen Abschiedsbrief schickte ich ihm zu … Er … hat mich sehr geliebt, Olaf … Und erst die Einsamkeit der Wildnis hat mich belehrt, was ich in ihm aufgab. Ich … fürchte mich vor diesem Wiedersehen, er wird mir nie verzeihen …“

Weinte sie?!

Ein Seitenblick traf das schöne Antlitz.

Sie weinte nicht, aber in ihren Zügen las ich die Reue und die Hoffnungslosigkeit.

„… Er weiß jetzt alles, Olaf … Carmer hat ihm die Augen geöffnet. Schon in Edmonton warnte er mich vor Tucker. Er war eifersüchtig, es gab Szenen, und so, wie Napy seinem Charakter nach eingestellt ist, wird er mich als Fremde behandeln. Es ist alles aus zwischen uns, darauf bin ich vorbereitet …“

Jetzt weinte sie …

Die anderen waren ein Stück voraus.

Sie blieb stehen …

Ihre umflorten Augen bettelten, ihre Hand haschte nach dem meinen. „Olaf, – Sie könnten mir einen großen Gefallen tun … Sie sind doch mein Freund. Bitte veranlassen Sie, daß Napy mit mir zunächst allein spricht, ich werde in der Nähe seiner Farm warten … zurückbleiben. Und – legen Sie für mich ein gutes Wort ein, Olaf … Sie können so überzeugend sprechen, sagen Sie ihm, daß ich … ehrlich bereue, ich habe sehr schlecht an ihm gehandelt, ich war eine arme verwirrte, verhetzte Seele, das war ich wirklich, und …“

Sie lehnte sich an mich, – sie ahnte nicht, wie bitter weh es tat, gerade diese Bitte zu erfüllen.

„Napy wird Vernunft annehmen, wird einsichtsvoll genug sein, den ganzen Umständen Rechnung zu tragen …“ – mein Arm umfing sie sanft, und sie schaute zu mir auf mit dem frohen Leuchten des Glaubens. „Ich werde ihm gehörig den Kopf zurechtsetzen, falls er Geschichten macht … Es wäre ja noch besser, wenn er ein Mädel wie Sie aufgeben wollte, nur weil zwei Schurken es verstanden haben, Ihr Hirn zu umnebeln.“

Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen.

„Olaf, Sie … Prachtmensch!!“ – und sie schmiegte sich an mich und küßte mich … Nicht so flüchtig wie bisher, wenn ihr Herz sie zu geschwisterlicher Zärtlichkeit trieb …

Und ich – auch nur Mensch – mit diesem süßen Geschöpf im Arm, in dessen Adern das gesunde, wieder gesundete Blut der Menschen der großen, herrlichen Wälder flutete, vergaß mich für Sekunden, schloß die Augen und ließ mich hineintragen unter dem heißen Druck ihrer Lippen in das ferne, unerreichbare Land der Glückseligkeit … Preßte sie an mich, – – und verriet mich … Ihre Lippen lösten sich von den meinen, – ihr Kopf bog sich zurück, und der halb erstaunte, halb erschrockene Ausdruck in ihrem wie mit Blut übergossenen Antlitz bewies mir, daß auch sie nun erkannt hatte, wie es um unsere Kameradschaft stand.

„Olaf …!“

Und dann – mit ehrlicher Trauer in Miene und Ton:

„Mein Gott, das habe ich nicht geahnt!“

Ich fühlte mich so beschämt, ich war empört über mich selbst, ich hatte die Harmlosigkeit zwischen uns zerstört und nichts gewonnen, nur eine bisher völlig arglose Komödie verloren.

Um uns her war das Schweigen der ernsten, dunklen Wälder, – wie höhnend kreischte in der Tiefe des Forstes ein Eichelhäher, dieser gefährliche Räuber, der durch die Buntheit seines Gefieders auch in europäischen Wäldern den Papagei ersetzt.

„Verzeihen Sie, Milli … Und vergessen Sie!“, sagte ich beklommen. – Ich war der Schuldige, und Milli?!

Zarter und feinsinniger wie sie konnte kaum ein Weib diese verfahrene Situation wieder ausgleichen. Und gerade weil sie es tat, wurde sie meinem Herzen noch trauter.

„Olaf“, – sie hatte sich aus meinen Armen gelöst und hielt nur noch meine Hände, „Olaf, – ich soll vergessen, daß ein Mann wie Sie mich liebt? Niemals! Könnte ich denn einen besseren Beweis dafür erhalten, daß Sie mir vergeben haben, als diesen … Kuß?! Ich habe Ihnen zu danken, und wenn einmal das Grausige, Häßliche dieser gemeinsamen Erlebnisse in meinem Gedächtnis erloschen und nur noch das Bezaubernde der Träume der Wildnis darin lebt, dann werde ich in diesen Erinnerungen neben Ihnen ganz rein dastehen … Ich danke Ihnen, Olaf …!“

Wo hätte je eine Frau aus den großen Steinwüsten der Metropolen für diesen kritischen Augenblick solche Worte gefunden?! Worte, die uns beiden hinweghalfen über vieles Ungesprochene, Worte, die rein waren wie die kräftige Ozonluft der Wildnis, wie ein reinigender, erlösender Windhauch, der die schwüle, drückende, zwecklose Gewitterhitze vertreibt. – So war es …

Und wir beide konnten uns nun offen in die Augen blicken und vertraulich lächeln, – das Entfremdende war getilgt, Arm in Arm schritten wir weiter, scheinbar ruhevollen Tagen entgegen, über denen das gesunde, frische Antlitz meines Kindes als zweite Sonne strahlen würde.

Mein Kind!!

Ich beschleunigte meine Schritte … Andere Sehnsucht trieb mich vorwärts … Das, was sich in mir als Vatergefühl entwickelt hatte, war stärker als das Verlangen nach Weibesliebe. Die Sekunden der Gier, deren seelische Abschwächung der Gleichklang der Geister ist, waren weggewischt …

Mein Kind!! Ein kleines hilfloses Geschöpf hatte ich großgezogen, – war das nicht herrlicher als die Köstlichkeit schnell entrinnender heißer Stunden.

Vaterliebe, – war das nicht das Erhabenste, mit nichts vergleichbar, weil über dieser Liebe der heilige Schimmer der vollkommenen Selbstlosigkeit schwebte?!

„Milli, – die kleine Ada, – wenn Sie wüßten, wie ich mich auf dieses Bündelchen süßer Hilflosigkeit freue!!“ Ich presse ihren Arm … Zog sie den Abhang empor, Felsen durchbrachen hier das Gestrüpp … Es ging ziemlich steil bergan. Im Frühjahr mußte diese Geröllrinne, die wie das ausgetrocknete Bett eines Gießbaches aussah, sicherlich als schäumender Wasserfall die Massen der schmelzenden Schneeschichten zu Tal befördern.

Aber Milli blieb stumm. Vor uns, wo die Rinne in ein breites Felsenband überging, stand Sergeant Carmer, sein Pferd am Zügel. „Hallo, – Mister Napy hat die Liebenswürdigkeit gehabt, uns seine Festung zu öffnen!“ Er lachte, seine weißen Zähne blinkten, und seine Hand deutete vorwärts. „Da – schauen Sie, das ist Napys Festungswall oder Zugbrücke, wie Sie es nennen wollen …“

Wir hatten die Anhöhe erreicht. Ich sah, daß ein schmaler, ganz schmaler Felsenkamm sich nach Süden zog, zu beiden Seiten gähnte tiefer, schroffer Abgrund, und mitten in diesem unheimlich engen Pfad gab es eine vier Meter breite, ebenso tiefe Lücke, über die eine primitive Brücke aus Baumstämmen führte. Die Brücke war beweglich, die starken Lederlassos, mit denen das uns zugekehrte Ende gehoben werden konnte, verloren sich drüben in einer Kulisse von Tannen und spitzen Felsenzacken.

Carmer verband seinem Pferde die Augen. „Es ist besser so, – mag das Tier sich nur behutsam vorwärtstasten! Ein ganz verdammt schlauer Kerl, der Napy! Um den auszuräuchern, dazu gehört eine Abteilung Polizei!!“

Allerdings, Justus Ritter von Napy, gewesener Oberkellner aus Edmonton, hatte hier ein Fleckchen Erde gefunden, das die Natur von aller Welt abgesperrt hatte. Steile, kahle Schluchten umgaben ein bewaldetes Plateau von vielleicht zweihundert Meter im Quadrat, – nachher sah ich, daß auch die Südseite nach dem blanken See hin vollkommen steil abfiel.

Milli sagte leise: „Ich bleibe hier, Olaf … – Wenn Napy noch etwas von mir wissen will, wird er mich schon holen …“ – Sie setzte sich hinter einen Felsen, – mit einem treuen Händedruck trennten wir uns. Kaum hatte ich dann die Balkenbrücke passiert, als ich hinter mir das Knarren und Quietschen der reibenden Hölzer vernahm. Die Zugbrücke mit ihrem starken Geländer hob sich langsam, stand schließlich senkrecht, und Milli war abgesperrt von jedem Zugang in Napys kleines Reich. Gerade dieses sofortige, rücksichtslose Lösen der Verbindung zur Außenwelt konnte ich nur als schlechtes Vorzeichen deuten. Napy mußte Milli genau so gut wie uns gesehen haben, und daß er trotzdem die Brücke empordrehte, bewies nicht eben eine versöhnliche Stimmung. Ich beeilte mich, ich lief das letzte Stück, durchquerte die Tannen und stand vor der neuen Blockhütte. Links befand sich der Stall, daneben die Drahtgehege und Boxen der Hunde und Wölfe. – Napy lehnte in der Tür, die kleine Ada im Arm … Ohne Zeugen sahen wir uns wieder, – wortlos nahm ich ihm mein Kind ab, drückte es an mich, und die blanken Augen strahlten mich an, die feinen Fingerchen griffen nach meinem Bart.

Mein Kind, – – ich hatte mein Kind wieder, das Kind der Wildnis …

Aber in all die stille Seligkeit hinein schlugen Napys böse Worte wie Feuerbrände.

„Sie und Ihre Geliebte werden es wohl großziehen, das arme Wurm!! Aber um die Pflegemutter ist es nicht zu beneiden, weiß Gott nicht!“

Ich konnte ihn nur entgeistert anstarren. Ein feindseliger Blick bohrte sich in mein Gesicht, – – und doch, ebenso plötzlich fand ich das klärende, erlösende Wort:

„Sie sind ein großer Narr, Napy!! Milli liebt Sie, – – und Milli bat mich, bei Ihnen für …“

Vielleicht reimte er sich den Schluß des Satzes allein zusammen.

Das, was mir die Rede verschlug, waren drei, vier ferne Schüsse – nicht allzu fern …

Und dann ein Schrei, der durch die Wildnis flackerte wie der Angstruf eines gehetzten Tieres …

„Justus – – Hilfe …!!“

Und nochmals zwei Schüsse …

Und wir beide, ich das Kind im Arm, vorwärtsstürmend …

Sinnlos – gedankenlos …

Aufgepeitscht durch den Alarm der Kugeln, die irgend jemand gegolten hatten.

Wem?!

Und hinter uns das grollende Keuchen Bullys, der mich gewittert hatte, der an mir hochsprang, mich behinderte.

Carmer kam herbeigestürzt … Er dachte an die Zugbrücke … Er ließ sie herab, und dann – freier Ausblick über den schmalen Felsgrat …

Napy raste davon … Milli rang drüben mit einem blondbärtigen Kerl in Ledertracht … Ich erkannte ihn: Einer vom Volke der blonden Kinder des ewigen Eises, die zweifellos uns heimlich gefolgt waren, um Jörn zu zwingen, mit ihnen heimzukehren in das verbotene Reich der sagenhaften blonden Eskimos …

Napy brüllte wie ein Besessener … Wahnsinn war es, daß der Stammesbruder Jörns dicht neben dem Abgrund mit dem Mädchen diesen brutalen Ringkampf wagte.

Abermals schrie Milli gellend auf …

Aber ihre Stimme war ein Nichts gegen Jörn Haskielts ungeheures Organ, das über die Kluft hinweg dem Fremden ein paar Worte wie Trompetenstöße zuschickte.

Der Mann stutzte …

Wir stutzten …

Ein Blick rückwärts: Jörn stand unter den Tannen mit angelegter Büchse – ein Riese, ein Gigant, wie aus Erz gegossen …

Und der Kerl löste den Griff von den Hüften Millis, duckte sich, tauchte blitzschnell in der Steinrinne unter, und Justus Napy fing das umsinkende Mädchen auf, und – – wir anderen wandten uns ab und kehrten zurück …

Ich mit meinem Kinde und meinem Hunde, – ich schritt um die Blockhütte, ich wollte das weite endlose Bild der Wildnis vor mir haben … Und hatte den blinkenden See zu meinen Füßen, hatte drüben die grenzenlosen Wälder wie dunkelgrüne Meereswogen, Hügel, Täler, – – und angesichts dieser Überfülle von Freiheit, Weite, freiem Ausblick küßte ich das blonde Gelock um des Kindes Stirn und streichelte Bully, den Treuen …

Und in der Minute, wo ich fühlte, was mir das Kind bedeutete, schwor ich mir erneut zu, es niemals preiszugeben – – nie, niemals!

– Heute?!

Heute, – – ich sitze allein an diesem rohen Tannentisch vor Napys Hütte, die jetzt unsere Hütte ist …

Ohne das Kind …

Ohne Ada, das Kind der Wildnis, den Vatertraum der Wildnis …

Ich habe mein Kind doch hingegeben. Aus Liebe. Einsichtsvoll und ohne Selbstsucht … Weil es so besser für die kleine Ada ist, und weil Milli ihr allzeit eine gute Mutter sein wird. –

Wie das kam, daß ich mein Kind hingab?

Wie?

… Tage verstrichen, und Napys Farm war eine Stätte heiliger Freude.

Doch jeder Tag, der in die Vergangenheit versank, war ein stilles Ringen um dieses kleine Wesen.

Vielleicht – vielleicht lag es daran, daß Milli Weib war, und Ada instinktmäßig in ihr das noch Größere, Stärkere spürte als Vaterliebe: Mütterliche Zärtlichkeit!

Wehen Herzens sah ich es, daß mein Kind Milli entgegenjauchzte …

Und – für mich nur dieselbe Freude aufbrachte, wie für den treuen Bully.

So kam es …

Und den Ausschlag gab Sergeant Carmer mit seinen ernsten Vorhaltungen.

„Smith“, sagte er nach einer Woche, als die blonden Eskimos mit ihren beiden Verwundeten längst aus der Umgegend verschwunden, „Smith, bedenken Sie, daß schon der leichteste Krankheitsanfall das Kind Ihnen rauben kann. Sie haben keine Medikamente, nichts, – – ich bin selbst verheiratet, ich würde es für ein Verbrechen halten, einen Säugling dem arktischen Winter in einer weltfremden Blockhütte auszusetzen …“

– Meine Liebe zu meinem Kinde brachte so das größte Opfer: Ich gab es hin, – denn die bewohnten Stätten der Menschen waren mir versperrt, ich mußte bleiben, was ich war:

Wanderer abseits vom Alltag!

– Vor einer Woche sind sie davongegangen mit meinem Kinde, zunächst zum Stanhoop-Berg, um dort des alten Trappers erspartes ehrliches Gold zu holen: Die Mitgift für mein Kind, das von Milli und Napy adoptiert werden und den Namen Ada Olaf Napy führen wird …

Vor einer Woche …

Da ritten sie in die Ferne, und mein Kind, das ich liebte, ruhte in den Armen des Mädchens, das ich nicht lieben durfte …

Ein bitterer, bitterer Tag damals …

Und doch: Mein Sieg! Über mich – über das Vatergefühl, das ich mißdeutet hatte. Nur wer verzichtet, nur wer einsichtsvoll etwas preisgibt, weil es so besser ist für ein zartes junges Wesen, der hat gesiegt. –

Ich lege die Feder beiseite …

Und nehme das letzte zur Hand, das mir von dem Traum der Wildnis geblieben: Eine dünne, feine, seidenweiche Strähne blonden Haares …

Von ihr …

Von meinem Kinde …

Die Pfeife dort im Aschenbecher, der Hirnschale eines Wolfes, qualmt …

Beizt mir die Augen …

Ich wische die Tropfen weg, ich schleiche leise hinaus ins Freie, stehe an dem Seeabhang im Schein der matten Sonne, die nun bald verschwinden wird.

Vor mir dehnt sich die Wildnis des Nordens, kraftvoll, urwüchsig, einsam, endlos …

Wälder mit Wipfelmeeren …

Das Land abseits vom Alltag …

… Ich besaß ein Kind, und ich gab es hin, und ich habe nichts mehr als die Erinnerung und die blonde feine Locke auf meinem Herzen.

… Eine derbe Schnauze reibt sich an meinem Schenkel …: Bully!

Nein, – ich bin doch nicht einsam …

Wer in Hundeaugen zu lesen weiß, der liest jetzt in Bullys Augen das Mitempfinden und den Wunsch zu trösten und die schlichte Rede: „Du hast doch mich – und ich bin treu!“

– – Morgen will Jörn Schlitten bauen … Und dann wird der Winter kommen, die grimme Kälte, die Schneestürme, die im Kamin mit den Wölfen um die Wette heulen …

Mein Kind ist geborgen dort im Süden in der neuen Stadt Edmonton hart am Rande der Wildnis.

Geborgen – und verloren für mich!

Der Traum der Wildnis ist ausgeträumt …

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Georg“.
  2. In der Vorlage steht: „Ist“.
  3. In der Vorlage steht: „fünfzehnmal“. – Es ist unklar, was damit gemeint ist: 1. Malcom ist erst 15 Jahre alt (unwahrscheinlich), 2. Er ist seit 15 Jahren dort im Dienst, 3. Es soll vielleicht doch „fünfzigmal“ heißen. Daher Text so belassen.
  4. In der Vorlage steht: „großen …“. Bandübergreifend auf „Großen …“ geändert da Eigenname.
  5. „Bären-See“ / „Bärensee“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Bandübergreifend und einheitlich auf „Bärensee“ geändert.
  6. „Karibu-Muttertier“ / „Karibumuttertier“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Karibumuttertier“ geändert, da auch alle übrigen Wortverbindungen mit „Karibu… am Anfang zusammengeschrieben wurden.
  7. Fehlendes Wort „in“ ergänzt.
  8. In der Vorlage steht: „Galegos“. Bandübergreifend und einheitlich auf Gallegos“ geändert.
  9. Fehlendes Wort „sie“ ergänzt.
  10. Anspielung auf das „unfriedliche“ Schauspiel gleichen Namens von Gerhart Hauptmann (1891).
  11. 1919 wurde das von italienischen Truppen bereits besetzte Südtirol im Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochen, obwohl dies eigentlich dem von den Siegermächten proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker widersprach.
  12. In der Vorlage steht: „der“.
  13. In der Vorlage steht: „mit“.
  14. In der Vorlage steht: „Chigagnook“.
  15. „Kadaver“ / „Kadawer“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Kadaver“ geändert.
  16. Doppeltes Wort „“ein“ entfernt.
  17. Fehlendes Wort „getroffen“ ergänzt.