Sie sind hier

Das Kastell im stillen Ozean

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Kastell im stillen Ozean.

 

W. Belka.

 

Wenn man eine Weltverkehrskarte zur Hand nimmt und seine Aufmerksamkeit dem Teile des Großen oder Stillen Ozeans zuwendet, der von der Westküste Südamerikas, dem Äquator, den Marquesas- und Paomotu-Inseln und schließlich von dem 40. Grad südlicher Breite begrenzt wird, so wird man bemerken, daß auch nicht eine der regelmäßigen Dampferlinien diese Meeresgegend durchschneidet und daß in diesem Viereck nur zwei Inseln weitab von jeder anderen Küste liegen, – die Oster-Insel und das durch des Dichters Chamisso Gedicht berühmt gewordene Eiland Salas y Gomez (Chamisso besuchte es im Jahre 1816 bei Gelegenheit einer Weltumsegelung. Die einsame, nur vier Quadratkilometer große, von unzähligen Vogelscharen bewohnte Insel regte[1] ihn zu seinem bekannten Gedicht „Salas y Gomez“ an).

In der Tat gehört denn auch dieser Südostteil des Großen Ozeans zu den einsamsten und am seltensten von Schiffen aufgesuchten Meeresbreiten. Hierhin verirrt sich höchstens einmal ein Walfischfänger oder ein übelduftender Guanosegler, der alle drei bis vier Jahre auf den Vogelbrutinseln das gutbezahlte Düngemittel einsammelt.

Und doch trieb an einem glühend heißen, windstillen Maitage etwa 100 Seemeilen nördlich von Salas y Gomez ein Boot mit einer kaum merklichen, nach Nordwesten gehenden Meeresströmung träge auf der spiegelglatten See dahin.

Das Boot war fast zierlich aus Eichenholz gearbeitet, sauber gestrichen und oben am Rande mit drei Streifen in schwarzer, weißer und roter Farbe geschmückt. Es besaß einen schlanken Mast, dessen Segel jetzt jedoch eingezogen waren, und zeigte an dem eckigen Bugbrett, das mit einer Ziergitterlehne für den Steuerer versehen war, außen den Namen Sellentin und darunter in kleineren Buchstaben den Heimatsort Valparaiso. Ein leicht gewölbtes Verdeck, das vor dem Mast und am Steuer große, aufschiebbare Luken hatte, schützte es vor überkommenden Spritzern.

In diesem einer kleinen Privatjacht sehr ähnlichen Fahrzeug hockte in sich zusammengesunken auf dem Steuersitz ein vielleicht fünfzehnjähriger Knabe, der in einen leichten, bastseidenen Anzug gekleidet war und einen breitrandigen Panamahut auf dem Kopfe hatte. Der schlanke Junge hatte sich an die halb zurückgeschobene Luke gelehnt und starrte mit trostlosen Augen, die aus einem trotz der Sonnenbräune jetzt bleich und verfallen aussehenden Gesicht hervorschauten, auf die im Sonnenlicht glänzende, unendliche Wasserfläche hin.

Jetzt erhob er sich, griff nach einem kleinen, dreiteiligen Fernrohr, stellte es ein und lugte scharf nach Norden aus, wo er soeben eine sich scharf abzeichnende weiße Wolke wie den abgeblasenen Dampf aus einer riesigen Maschine über dem Horizont lagernd beobachtet hatte. Durch das Glas sah er deutlich, daß es sich nicht etwa um Wolkenbildungen handelte, sondern daß die Dampfwolken in ihren höheren Schichten eine lebhafte Bewegung zeigten, sich ausdehnten und zusammenschrumpften, bisweilen ganz plötzlich hochschossen und sich auch nach den Seiten hin verbreiterten.

Während der Knabe noch verwundert dieses ferne Schauspiel beobachtete, glitt von Osten her ein leichter Lufthauch über die Wasseroberfläche hin, die sich immer stärker kräuselte und bald kleine Wellen zeigte, so daß das Boot in kurze, schwankende Bewegungen geriet. Hierdurch erst wurde der noch immer nach den merkwürdigen Dampfwolken ausspähende Insasse der langsam dahintreibenden Jacht aufmerksam, ließ das Fernrohr sinken und drehte der eben aufgekommenen Brise das Gesicht zu, die seine glühenden Wangen angenehm kühl umfächelte. Ein einziger Blick belehrte ihn, daß die jetzt bereits drei Tage anhaltende Windstille endlich vorüber sei.

Diese Tatsache ließ ihn den letzten Rest seiner Kräfte zusammennehmen. Eilig kletterte er die von der vertieften Steuerplattform in die Kajüte des Bootes führende Treppe hinab. Hier lag auf einer Polsterbank ein in einer Art Matrosenanzug steckender Mann mit grauem Vollbart und tiefgebräuntem Gesicht.

Der Knabe rief den fest schlafenden Alten jetzt mit lauter Stimme in deutscher Sprache an, indem er ihn gleichzeitig am Arm rüttelte.

„Hallo, Dinter, – aufgewacht! Die Flaute (Windstille) verabschiedet sich eben …!“

Schlaftrunken hatte der zweite Bootsinsasse sich mit einem Ruck aufgerichtet. „Was gibt’s, junger Herr?“ fragte er, mühsam die Worte über die ausgedörrten Lippen bringend, die nun bereits den dritten Tag weder Speise noch Trank gesehen hatten.

„Wind gibt’s, Dinter, – Wind! Und zugleich da vor uns im Norden etwas ganz Seltsames: Dampfwolken, die über dem Horizont liegen und ständig in Bewegung sind. Ich habe mir schon vergeblich den Kopf zerbrochen, was das für eine eigenartige Erscheinung sein kann, werde daraus aber nicht klug. Inseln gibt es hier nicht, auf denen vielleicht ein tätiger Vulkan durch seine in die See abfließenden, glühenden Lavamassen diese Dampfentwicklung erzeugen könnte, – das weiß ich nur zu gut. Die einzigen nächsten Eilande sind die Oster-Insel und Salas y Gomez im Süden, wie Du mir gesagt hast. Ich habe auch schon an ein unterseeisches Erdbeben mit gleichzeitigem Auftauchen eines neuen Vulkanes gedacht, wie wir es einmal vor zwei Jahren mit dem Vater in der Nähe der Insel Oahu (auf ihr liegt die Hauptstadt der Hawai-Inseln[2] Honolulu. Unterseeische Erdbeben, Seebeben genannt, sind dort recht häufig. Sie werden durch Erschütterungen des Meeresbodens hervorgerufen und erzeugen durch plötzliche ungeheure Wasserberge an den Küsten oft furchtbare Katastrophen) erlebten, wo das Wasser damals außerordentlich heiß wurde, die ganze See weithin mit schwimmenden Bimssteinstücken bedeckt war und sich ebenfalls ungeheure Dampfmassen entwickelten, die unsern Dampfer völlig wie starker Nebel einhüllten. Doch um eine solche Naturerscheinung kann es sich hier deshalb nicht handeln, weil wir sicherlich doch die dabei erzeugte Wasserbewegung bis hierher gemerkt hätten. Nichts dergleichen war zu spüren. Das Meer war die ganzen vier Stunden über, die Du geschlafen hast, glatt wie ein Teich.“

Friedrich Dinter hatte sich in einer Anwandlung von Schwäche an die Rückenlehne der Polsterbank gestützt und die Augen geschlossen. Mühsam öffnete er diese jetzt wieder, leckte mit der trockenen Zunge die spröden Lippen und keuchte:

„Junger Herr, da im Schrank ist in einer Flasche noch ein Rest Rum. Geben Sie ihn mir bitte, sonst klappe ich sofort wieder um wie ein altes Weib. Für eine Stunde wird mir das Zeug wieder auf die Beine helfen.“

Nachdem er den starken Trunk wie Wasser hinabgegossen hatte, wartete er noch ein Weilchen, erhob sich dann vollends und stieg hinter dem schlanken Knaben an Deck empor, wo sie nun zunächst das Großsegel entfalteten und auch das kleinere Zeug („Zeug“ nennt der Seemann die Segel eines Schiffes; „Takelage“ sind die Masten, Spieren, Tauwerk und Segel zusammengenommen) setzten, eine Arbeit, die an ihre dem Versagen nahen Kräfte die größten Anforderungen stellte.

Die Jacht kam in Fahrt und stürmte bald vor dem immer mehr auffrischenden Winde, einen Schaumstreifen hinter sich lassend, nach Norden davon, gerade auf die Dampfwolken zu, die wie eine helle Wolkenbank über dem Horizont lagerten.

Dinter, in dessen matte Augen der aufpeitschende Alkohol ein ungesundes Feuer gebracht hatte, saß jetzt neben dem Knaben auf dem Steuersitz. Nachdem er ebenfalls durch das Glas die rätselhafte Erscheinung einige Minuten lang betrachtet hatte, erklärte er mit seinem tiefen Baß, vor dem die schwarze Dienerschaft im Hause des Kaufmanns Sellentin in Valparaiso stets einen heillosen Respekt zeigte:

„Ob wirklich an dem Seemannsgarn etwas Wahres ist, daß es nördlich von Salas y Gomez ein geheimnisvolles Inselchen gibt, das, ständig von Feuer und Rauch wie von einem undurchdringlichen Walle eingeschlossen, früher einmal den Flibustiern (Flibustier oder Bukanier waren Seeräuber, die Ende des 17. Jahrhunderts die Küsten Mittel- und Südamerikas mit ganzen Flotten unsicher machten. Der berüchtigtste ihrer Anführer war ein gewisser Morgan) als Schlupfwinkel gedient haben soll?! Die Geschichte von dem Feuer- und Rauchgürtel haben die Maate sicher dazu erfunden, wenn die Sache überhaupt ihre Richtigkeit hat. Sicher ist jedenfalls, daß das da vor uns Dampfwolken sind. Und was darin steckt, wissen wir nicht.“ – –

Eine halbe Stunde später hatte sich das Boot diesen in einer Ausdehnung von gut dreizehn Seemeilen (zweieinhalb deutsche Meilen etwa) auf dem Wasser ruhenden, mindestens fünfzehn Meter hohen Dampfmassen so weit genähert[3], daß die beiden Insassen der Jacht die Erscheinung aus geringer Entfernung betrachten konnten. Es machte den Eindruck, als ob eine riesige Nebelwand hier den Horizont versperre. Die auf und ab wallenden Dämpfe wurden auffallenderweise auch durch den jetzt bereits recht kräftigen Wind nicht vertrieben. Mithin mußten sie stets aufs neue aus dem Wasser sich entwickeln und zwar in solchen Mengen, daß die Luftströmung sie nicht fortzudrücken vermochte.

Die kleine Jacht fuhr jetzt am Rande dieser Dampfwolke nach Westen zu entlang. Hin und wieder hörten der alte Dinter und der Knabe aus den weißen Nebeln das Rauschen einer Brandung deutlich hervordringen, ein Beweis, daß es dort Klippen oder Untiefen geben mußte, über die die Wogen aufschäumend hinwegfluteten.

In weitem Bogen umrundete die Jacht nun, von Friedrich Dinter sicher gesteuert, die ungeheure Wolke, die tatsächlich kreisförmige Gestalt zu haben schien und eine wenigstens am Außenrande gleichmäßig dichte Masse bildete. Nur im Westen fand sich eine Stelle, wo der Dampf etwas lichter war und zuweilen einen Einblick in die Nebelmassen gestattete. Hier ließ der Alte das Boot, ohne sich vorher mit dem Sohne seines Brotherrn über seine Absichten zu verständigen, plötzlich in diese Öffnung einbiegen. In seinem alkoholumnebelten Hirn achtete er nicht der Gefahr, die sich aus diesem Eintauchen in die Nebelbank ergeben mußte, wo die Riffe, deren Vorhandensein das Brandungsgeräusch warnend anzeigte, nur zu leicht der Jacht verderblich werden konnten. Ihn leitete nur der Gedanke, das Geheimnis zu ergründen, von dem ihm die Matrosen der Walfischfänger in der Hafenkneipe in Valparaiso mitunter dieses und jenes erzählt hatten. Daß sie ihm nicht ganz faustdicke Lügen aufgetischt hatten, war ihm inzwischen schon klar geworden. Aus größerer Entfernung konnte man die Dampfwolken recht gut für Rauch halten, und daß ein Schiff nicht unnötig in diese Nebel eindringen würde, war ebenfalls durchaus glaubhaft.

Und ehe noch der Knabe Einspruch gegen diese Eigenmächtigkeit erheben konnte, war das Boot bereits in den weißen, feuchtwarmen Wolken untergetaucht. Als er sich jetzt mit einer halb ängstlichen, halb ärgerlichen Frage an den Alten wandte, erwiderte der nur heiser auflachend:

„Was liegt an der Gefahr, junger Herr …?! Darüber sind wir beide uns doch einig, daß wir verhungert und verdurstet sind, bevor wir eine der nächsten Inseln erreichen, auf die wir ja nur auf gut Glück zusteuern können, da uns die seemännischen Instrumente fehlen, mit deren Hilfe allein wir einen bestimmten Kurs einschlagen könnten. Unser Kompaß nützt uns dabei verd… wenig. Also – was haben wir zu verlieren?! Nichts! Dagegen besteht immer noch die Aussicht, daß die Maate in Valparaiso nicht zu dick aufgetragen haben, als sie von einem Felseneiland allerlei Unbestimmtes berichteten, das hier herum irgendwo, verborgen hinter Dunstmassen, liegen solle.“

Wieder lachte der Alte, dem bei seinem leeren Magen der genossene Rum die Sinne etwas verwirrt hatte, kichernd vor sich hin, als ob er damit ausdrücken wollte, daß ihm bereits alles völlig gleichgültig sei.

Inzwischen war das Boot, welches mit ziemlicher Geschwindigkeit in die wallenden, weißen Schleier hineingeschossen war, von diesen bereits vollkommen eingehüllt worden. Und so dicht lagerten sie über dem Wasser, daß man vom Steuer aus kaum noch den Mast erkennen konnte. Jetzt aber, wo nur noch einzelne Windstöße die Segel mitunter schwellten, ließ die Vorwärtsbewegung der kleinen Jacht langsam nach. Immerhin behielt sie aber soviel Fahrt, daß sie dem Steuer gehorchte, dem der alte Bootsmann eine solche Stellung gab, daß man die Nebelmassen etwa in der Mitte durchqueren mußte.

Fünf Minuten vergingen so. Oft genug schlugen die Segel klatschend hin und her, um dann wieder, von einem Windstoß gefüllt, die Jacht eine Strecke weiter zu treiben; oft genug vernahmen die beiden Unglücklichen, die dem sicheren Tode preisgegeben zu sein schienen, in nächster Nähe das Donnern brandender Wellen, in das sich häufig ein starkes Zischen mischte, dem ähnlich, als wenn man glühendes Eisen in Wasser taucht. (Derartige, auf vulkanische Ursachen zurückzuführende starke Dampfentwicklungen finden sich z. B. häufig an der Westküste der Insel Sumatra, ferner an einigen Stellen der Südsee, wo dicht unter dem flachen Wasser der Meeresboden durch glühende Lavamassen stark erhitzt ist.)

Und dann lichteten sich urplötzlich die weißen Dampfwolken. Noch zwei Windstöße, und das Boot glitt in den strahlenden Sonnenschein hinaus …

Die beiden kraftlosen Gestalten schnellten förmlich von ihrem Sitze hoch. Mit ungläubigen Augen starrten sie regungslos auf das seltsame Bild, das sich ihren Blicken darbot.

„Ein Haus …!“ rief der Knabe dann leise, noch immer von der Furcht befangen, daß seine Sinne ihn täuschten.

„Ein Haus auf einem Felsen!“ ergänzte der Alte jubelnd, indem er die Ruderpinne anders drehte, um die Jacht auf das seltsame Gebäude zulaufen zu lassen. – –

Die Überraschung der beiden war nur zu gerechtfertigt.

In der mächtigen Nebelwand befand sich eine runde, freie Stelle von gut fünf Seemeilen Durchmesser. Und mitten aus dieser Wasserfläche, auf die die Sonne leuchtend herabschien, erhob sich eine grauschwarze Klippe, auf der ein aus Steinquadern gemauertes Haus stand.

Einsam und geheimnisvoll lag es da mit seinen schmalen, schießschartenähnlichen Fensteröffnungen. Es bildete ein von einem spitzen Dach überragtes Viereck. Die Wände waren völlig glatt und schmucklos. Trotz des hellen Tageslichtes machte es einen düsteren, unheimlichen Eindruck mit seinen bemoosten Steinquadern und dem schweren, etwas überhängenden Balkendach, das mit rötlichen, großen Platten belegt war. Ein Eingang war auf dieser Seite nicht zu bemerken, dafür aber ein buchtartiger Einschnitt, der mehr westlich als ein kaum vier Meter breiter Riß die dunkle Klippe dicht neben der Hauswand spaltete.

Geschickt lenkte Dinter jetzt die Jacht in diese Einfahrt hinein, die sich bald zu einem von Felsen rings umschlossenen kleinen Becken erweiterte, in dem das Boot gerade Platz zum Wenden hatte. Hier gab es auch eine bequeme Anlegestelle, die aus einer wagerechten Felsplatte bestand, von der aus wieder eine in das Gestein gehauene Treppe auf die Klippe hinaufführte. In die Platte waren zwei von Rost zerfressene Eisenringe eingelassen, an deren einen der Alte nun die Jacht vertäute.

Dann stiegen die beiden, leise ihre Ansichten über dieses merkwürdige Gebäude austauschend, die Stufen hinan. Nach links hin stand die westliche Hauswand so dicht am Rande der Klippe, die jetzt bei Ebbe etwa fünf Meter hoch sein mochte, daß man hier nicht weiter vordringen konnte. Aber nach rechts lief ein deutlich wahrnehmbarer, ausgetretener Pfad um das Gebäude herum und endigte an dessen Nordseite vor einer eisenbeschlagenen, schweren Tür, an der sich ein altertümlicher, mächtiger Drücker und darunter ein großes Schlüsselloch befanden.

Die Erregung über die Entdeckung dieses geheimnisvollen Bauwerks hatte den Bootsmann und den Knaben ihre Erschöpfung völlig vergessen lassen. Und die Hoffnung, hier vielleicht Trinkwasser zu finden, verlieh ihnen neuen Mut und frische Tatkraft.

Dinter zögerte nicht lange, sondern versuchte sofort, ob die Tür sich öffnen ließ. Sie war unverschlossen und drehte sich unter dem Druck von des Alten Hand geräuschlos nach innen. Vor den beiden lag jetzt ein Gang, der geradeaus auf einen kleinen viereckigen Hof mündete. Auch hier nach dem Hofraume zu gab es eine ebenso feste Tür. Diese stand jedoch weit offen. Der Gang zeigte völlig glatte Wände. Das Haus konnte also nur vom Hofe aus betreten werden. Dieser bildete für die Eindringlinge insofern eine Überraschung, als sie von außen das Gebäude für ein geschlossenes Ganzes gehalten hatten und nun erst gewahr wurden, daß es ein innen offenes Quadrat bildete, dessen Seitenlänge vielleicht zwanzig Meter betrug, während die des Hofes etwa fünf Meter maß. Weiter konnten sie nun auch an den Fensterreihen, die auf den engen, leeren Hofraum hinausgingen, feststellen, daß das Haus bei einer Höhe von gut sieben Meter ein Erdgeschoß und einen Oberstock besaß. Die Fenster hatten bleigefaßte, grünlich angelaufene Scheiben und waren bis auf einzelne noch recht gut erhalten. Vor denen des Erdgeschosses befanden sich dicke, in die Mauer eingelassene Gitter.

Das Wichtigste aber: in jedem der Flügel des Hauses mit Ausnahme des nördlichen, durch den der Gang hindurchführte, gab es je eine Tür aus nachgedunkeltem Eichenholz, die sämtlich mit eisernen Zierbändern benagelt waren. Zwei von diesen waren unverschlossen, die des Westflügels dagegen versperrt, so daß Dinter und sein junger Gebieter nun zunächst den Ostflügel betraten. Hier war jedoch wenig zu sehen. Die Räume beider Stockwerke waren leer. Auch nicht die geringste Kleinigkeit fand sich darin vor. Bis unter das aus mächtigen Eichenbalken fast für die Ewigkeit zusammengefügte Dach kletterten sie. Auch hier in dem niedrigen Bodenraum erblickten sie nur Spinngewebe und geflügeltes Ungeziefer.

Vom Oberstock gelangten sie dann in den Nordflügel. Hier derselbe Befund: kahle, graugestrichene Wände, leere Räume von verschiedener Größe und vor den nach außen führenden schmalen Schießscharten dicke Läden aus Eichenholz. Das war alles. Und doch bemerkten sie jetzt etwas, das ihnen auffiel. Aus dem Oberstock dieses Nordflügels gingen in das Erdgeschoß, das durch den Gang in zwei Hälften geteilt war, zwei Treppen hinab. Neben der westlichen dieser Treppen lag die Eichentür, durch die man in den Westflügel hätte gelangen können, – wenn sie unverschlossen gewesen wäre. Aber der von der anderen Seite steckende Schlüssel war genau so, den Zutritt versperrend, im Schloß umgedreht wie der der Eingangstür, die vom Hofe in den Westflügel führte.

Die beiden Gefährten mußten also notwendig kehrtmachen und den Oberstock des Nord- und Ostflügels wieder durchschreiten, um in den Südflügel zu gelangen. Hier stand ihnen dieselbe Entdeckung bevor: leere Räume und … die verschlossene Tür nach dem Westflügel.

Der Bootsmann wandte sich jetzt, nachdem er vergeblich auch an dieser Tür gerüttelt hatte, an den Knaben, wobei über sein verwittertes Gesicht ein schlaues Lächeln lief.

„Das hat was zu bedeuten, junger Herr, – ganz sicher! Ich wette, daß dieses alte Flibustiernest auch jetzt Bewohner hat, die uns noch rechtzeitig genug in unserem Boot bemerkt haben, um den Westflügel, wo sie wahrscheinlich hausen, abschließen zu können. – Hm, Sie machen ein so zweifelndes Gesicht, junger Herr. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß die Angeln der Eingangstür dieses ungemütlichen Hauses ganz frisch geölt waren und daß da unten auf der Felsplatte, an der wir unsere Jacht festgemacht haben, ein Häufchen angekohlten Tabaks und Asche lag, die ein Mensch vor nicht langer Zeit aus seiner Pfeife ausgeklopft hat, um sie frisch zu füllen …?! – Glauben Sie mir, Friedrich Dinter irrt sich nicht. In diesem Steinkasten stecken Leute, deren Bekanntschaft ich schon deswegen recht bald machen möchte, um für uns Trink- und Eßbares zu erbitten. – Die richtige Piratenfestung ist dieses Gebäude“, fügte er hinzu, indem er wieder den Rückweg nach dem Hof antrat. „Ganz ohne Zweck ist es sicher nicht derart eingerichtet, daß man nur aus dem Oberstock in die anstoßenden Flügel gelangen kann und daß die Treppen oben in starken Gelenken hängen, so daß sie hochgehißt werden können, falls bei einem Angriff der Zutritt zu den Erdgeschossen von dem Feinde erzwungen wird. Na – wer weiß, was wir hier noch alles erleben werden! Ganz reinlich kommt mir die Geschichte nicht vor! Weshalb zeigen sich zum Beispiel die Leute nicht, die dieses einsame Kastell bewohnen?! Wir können ihnen doch nichts anhaben, unbewaffnet und halb tot vor Hunger und Durst wie wir sind!“

Inzwischen hatten sie den Hof wieder betreten. Dinter rief nun ein paar Mal laut „Hallo!“ erreichte damit jedoch nichts. Hinter den grün angelaufenen und deshalb ganz undurchsichtig gewordenen Fensterscheiben des Westflügels blieb es still wie zuvor.

Da verließen sie das Gebäude, um auf der Klippe, die nach Norden und Westen zwei etwa hundert Meter lange und einige zwanzig Meter breite Ausläufer in die See hinausschickte, nach Muscheln zu suchen, die vorläufig ihren Hunger stillen sollten.

In die westliche dieser Felszungen eingebettet lag der kleine Hafen, in dem sie die Jacht zurückgelassen hatten. Als der Alte jetzt nach jener Richtung hinschaute, wo die Spitze des Mastes mit dem Wimpel in den deutschen Farben über den Fels hinausragen mußte, riß er vor Schreck die Augen immer weiter auf. Von dem noch vorhin lustig flatternden Wimpel war ebensowenig etwas zu erblicken wie von der dazugehörigen Mastspitze.

„Unser Boot ist fort!“ schrie Dinter dem Knaben zu, der einige Schritte vorausgeeilt war. Und beide hasteten nun nach der Steintreppe hin, die, in die schräge Felswand eingehauen, nach der Anlegestelle hinablief.

Der kleine Hafen war leer. Und auch auf dem offenen Wassergürtel, welcher sich bis zu dem Nebelwall hinzog, der die geheimnisvolle Klippe von der Außenwelt absperrte, war keine Spur eines Segels zu sehen.

Nachdem die beiden Gefährten dies festgestellt hatten, eilten sie verzweifelt am Rande des winzigen Eilandes entlang, getrieben von der geringen Hoffnung, daß ihr Boot sich losgerissen haben könne und irgendwo gestrandet sei. Wie unmöglich diese Annahme war, kam ihnen gar nicht zum Bewußtsein. Den schmalen Kanal, der nach dem Wasserbecken hinführte, hätte die Jacht nie ohne Menschenhilfe passieren können.

Natürlich entdeckten sie auch jetzt nichts von ihrem Fahrzeug. Kaum eine Viertelstunde hatten sie sich in dem öden Gebäude aufgehalten. Aber diese Zeit war von irgend welchen Leuten benutzt worden, die Jacht zu entführen. Darüber bestand jetzt kein Zweifel.

Niedergeschlagen suchten sie die beiden Landzungen, deren Ufer stellenweise flach zur See hinabliefen, nach Muscheln ab. Der Bootsmann wußte genau, welche genießbar waren. Zum Glück fanden sie auch einige Möweneier. Ein gutes halbes Hundert dieser Seevögel nistete in den Spalten der Felsen, die hier wild durcheinander lagen. Jedenfalls konnten sie sich vollauf sättigen. Freilich, Trinkwasser gab es nirgends, obwohl der Alte alle Vertiefungen nach Regenwasser durchforschte.

Langsam kehrten sie darauf nach dem stillen Hause zurück. Jeder war mit denselben Gedanken beschäftigt: was jetzt aus ihnen werden solle, und doch sprach keiner sie aus. Nur der Bootsmann meinte, als man sich der Eingangstür näherte:

„Satt sind wir jetzt. In dem Gebäude ist es kühl. Legen wir uns also irgendwo zum Schlafe nieder. Das wird uns frische Kräfte geben. Nachher können wir dann sehen, was weiter geschehen soll.“

Sie durchschritten den Gang nach dem Hofe zu, blieben dann aber plötzlich, vor Schreck zurückprallend, stehen.

Der oder doch jedenfalls einer der Bewohner des alten Kastells stand mitten in dem quadratischen Hofraum. Es war ein Greis mit weißem, langem Bart und ebensolchem, vollem Kopfhaar, buschigen Brauen und ein Paar dunklen, blitzenden Augen darunter, die aus einem gebräunten Antlitz die Eindringlinge durchdringend musterten. Die Gestalt dieses Mannes, die kräftig und über Mittelgröße war, hatte etwas Achtung Gebietendes an sich. Er war in einen Anzug einer längst dahingeschwundenen Mode gekleidet, der den Knaben sofort an die Bilder jener spanischen und portugiesischen Edelleute erinnerte, die nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus sich als Eroberer der Neuen Welt einen Namen gemacht hatten. Dieses reichgestickte, bunte Gewand aus schwerer Seide mit dem lose um die Schultern gehängten, ebenfalls äußerst kostbaren Umhang erhöhte noch das Eigenartige der Erscheinung des Fremden.

Doch Friedrich Dinter ließ sich bei seiner Draufgängernatur durch diese Maskerade, wie er es geringschätzig in Gedanken nannte, keineswegs einschüchtern. Schnell hatte er die erste Überraschung überwunden, schritt nun mit seinem wiegenden Seemannsgang auf den Greis zu, faßte an die Mütze und sagte mit größter Gemütsruhe auf Englisch, da er annahm, daß der Mann diese Sprache vielleicht beherrschen würde:

„Sie scheinen hier zu wohnen, und daher können Sie uns vielleicht Auskunft darüber geben, wo unsere Jacht geblieben ist. Die ist uns nämlich gestohlen worden.“

Der Greis erwiderte nichts, sondern zeigte nur mit der Hand auf seine Lippen, wobei er einige heisere Töne ausstieß, wie man diese von Stummen zu hören bekommt.

Der Bootsmann wurde verwirrt, wandte sich an seinen jungen Herrn und sagte achselzuckend:

„Eine Verständigung mit dem Alten erscheint ausgeschlossen. Er ist offenbar stumm. Eine unangenehme Geschichte also …“

Fragend blickte er dann wieder auf die Gestalt des so phantastisch herausgeputzten Mannes. Dieser deutete ihnen durch eine Handbewegung an, daß sie in den Westflügel gehen sollten, dessen Eingangstür jetzt offenstand. Gleichzeitig brachte er einen Revolver zum Vorschein, den er in der Linken hielt und nun wie warnend hochhob.

Dem Bootsmann wurde recht unbehaglich zu Mut. Trotzdem tat er, als handelte es sich um die gleichgültigste Sache von der Welt und winkte dem Knaben mit einem aufmunternden Lächeln zu.

„Kommen Sie, junger Herr! Machen wir den Bewohnern dieses Hauses unsere Aufwartung.“ –

Der Greis brachte sie die Treppe hinauf in den großen, saalartigen Raum, der hier wie in den anderen Oberstocken das mittelste der Zimmer war. In diesem Gemach befand sich nichts weiter als ein häßliches, buntbemaltes Götzenbild von weit über Mannsgröße. Es stand genau in der Mitte des Raumes und wirkte mit seinem vergoldeten Gesicht und der um den Leib gewundenen, ebenfalls vergoldeten Schlange mehr als abschreckend.

Der Greis lehnte sich jetzt einige Schritte vor dem Götzen gegen die Wand, nachdem er Dinter und dem Knaben durch eine befehlende Handbewegung angedeutet hatte, vor dem scheußlichen Bildnis stehen zu bleiben.

„Was hat denn nun wieder diese Geschichte zu bedeuten?!“ brummte Dinter, dem keineswegs wohl zu Mute war.

Der Knabe hielt sich dicht neben ihm und erwiderte leise und verschüchtert:

„Dies hier ist eine Darstellung von Vitzliputzli, dem Kriegsgott der alten Mexikaner, den sie durch Menschenopfer verehrten. Ich erkenne ihn an der goldenen Schlange. – Sage nur, Friedrich, was soll dies alles?!“

Bevor der Alte noch antworten konnte, wurde eine strenge Stimme vernehmbar, die aus dem offenen, teuflisch grinsenden Munde des Götzen hervorzudringen schien:

„Wer seid Ihr, und wie gelangtet Ihr hierher? – Ich fordere wahrheitsgemäße Auskunft …!“

Die beiden Gefährten traten unwillkürlich einen Schritt zurück und starrten entgeistert dem Bildnis in das häßliche Gesicht. Überraschte sie schon die Tatsache, daß der Götze sie anredete, so waren sie noch weit mehr darüber erstaunt, daß dies in ihrer Muttersprache geschah.

Dinter fand auch jetzt schnell seine Fassung zurück. Er drehte sich nach dem Greise um, der mit unbeweglichem Gesicht dastand, und sagte mit merklichem Spott:

„Wozu dieser ganze Mummenschanz?! Meinen Sie, daß uns das schreckt, Alter?! Da sind Sie sehr auf dem Holzwege! Sie haben natürlich einen Ihrer Freunde in das widerliche Ding da versteckt, – das ist klar! Schlimm genug, daß dieser Freund, der sogar ein Landsmann von uns zu sein scheint, sich zu solchen Albernheiten hergibt! Es wäre entschieden vernünftiger, uns …“

Weiter kam er nicht. Wieder erklang die Stimme aus dem Götzenbilde, jetzt aber schrill, ärgerlich und drohend. – Der Bootsmann fuhr mit dem Kopf herum.

„Wagt es nicht nochmals, mich zu reizen! Mein Diener hat ganz bestimmte Anweisungen, wie Ihr behandelt werden sollt. Bei der geringsten Widersetzlichkeit ist es um Euch geschehen! – Nun heraus mit der Sprache …! Beantwortet meine Fragen!“

Dinter versuchte wieder spöttisch zu lächeln. Aber es gelang ihm nicht recht. Der Gedanke an den Revolver des Greises beunruhigte ihn stark. Und daher erwiderte er etwas höflicher:

„Na, – der Klügere gibt nach. – Also: dieser junge Herr hier neben mir ist der einzige Sohn des Großkaufmanns Sellentin aus Valparaiso und ein Deutscher genau so wie ich. Ich selbst bin bei Herrn Sellentin Bootsmann seiner Privatjacht, mit der wir vor sechs Tagen eine Vergnügungsfahrt ein Stück in die See hinaus unternommen haben, wobei uns ein Unwetter überraschte, das uns weit nach Westen verschlug. Eine Windstille, die drei Tage anhielt, bracht uns dem Tode nahe. Unsere Vorräte an Eß- und Trinkbarem waren nur zu schnell zu Ende. Da bemerkte der junge Herr Fritz zum Glück die auf der See lagernde Dampfwolke. Wir steuerten auf sie zu, suchten hindurchzukommen und fanden so die Klippe und dieses Haus. – So, das wäre alles. – Wir heißen also Fritz Sellentin und Friedrich Dinter“, fügte er noch ergänzend hinzu.

Eine Weile blieb es still. Dann abermals die harte, strenge Stimme aus dem Munde des grinsenden Gottes:

„Ihr werdet die beiden Zimmer bewohnen, die im Obergeschoß des Südflügels rechts von der Treppe liegen. Die Fensterladen nach der See zu bleiben dort verschlossen. Das Betreten der anderen Räume des Hauses ist Euch aufs strengste verboten. Im übrigen dürft Ihr Euch auf der Klippe frei bewegen. – Nun geht! Weitere Befehle werde ich Euch später mitteilen.“

Der Bootsmann stampfte, jetzt wirklich wütend, mit dem Fuße auf.

„Sie sind verdammt kurz angebunden, Landsmann!“ sagte er ergrimmt. „Etwas anständiger könnten Sie uns schon behandeln, hol’s der Kuckuck! Geben Sie uns unser Boot wieder zurück, und wir wollen Ihnen nicht länger lästig fallen. Nur Proviant und Wasser für acht Tage etwa brauchen wir.“

Doch Dinter wartete umsonst auf eine Antwort. Mit einer gewissen Spannung blickte er dem Götzenbilde in das vergoldete, häßliche Gesicht. Dann wurde er ungeduldig.

„Was meinen Sie zu unserem Vorschlag? – Uns gefällt es hier nämlich gar nicht. Und die Eltern meines jungen Herrn werden in schwerer Sorge um ihn sein. Deshalb müssen wir schleunigst nach Valparaiso zurück.“

Alles blieb still. Und dann sagte Fritz Sellentin leise, den Alten am Ärmel zupfend:

„Friedrich, der Diener ist verschwunden. Gehen wir auch. Es ist hier so unheimlich in dem leeren Raum.“

Der Bootsmann schaute sich nach dem Greise um. Der hatte inzwischen wirklich das Gemach verlassen, aus dem eine Tür auf die Treppe, eine zweite in das nächste Zimmer führte.

Dinter klopfte den Knaben jetzt aufmunternd auf die Schulter.

„Gut, daß wir allein sind, junger Herr! Nun werde ich gleich mal nachsehen, wer eigentlich in dem ekligen Götzen steckt! So leicht läßt sich Friedrich Dinter nicht bange machen!“

Und ehe Fritz Sellentin noch Einspruch erheben konnte, hatte der Alte das Bildnis schon gepackt und rüttelte es hin und her. Es war ziemlich leicht an Gewicht, und als er es jetzt hochzuheben versuchte, gelang ihm dies ohne große Kraftanstrengung, was den Alten recht stutzig machte. Nun legte er es sogar vorsichtig auf den Rücken, da er vermutete, daß sich vielleicht unter dem breitem Fußgestell in den Eichendielen des Gemaches eine Falltür befinde, durch die derjenige sich entfernt haben könne, der nach Dinters Ansicht im dem dicken Götzen sich verborgen gehalten haben mußte.

Das Bildnis, das offenbar hohl und aus einer Tonmasse hergestellt war, wies jedoch unten am Boden keinerlei Öffnung auf. Ebensowenig zeigte sich an den dunklen Dielen auch nur die geringste Spur von einer Falltür.

Kopfschüttelnd stellte der Alte den Götzen wieder aufrecht hin, wobei er ihn nochmals in die Arme nahm und das Gewicht prüfte.

„Da ist kein Mensch drin, junger Herr“, meinte er brummig und unzufrieden. „Dazu ist der Wischlipuschel, oder wie der greuliche Heide sonst heißt, viel zu leicht. Außerdem ist er ja auch ganz aus einem Stück, und nirgends etwas von einem versteckten Loch zu bemerken.“

Suchend schaute er sich jetzt in dem großen Raum um.

„Die Geschichte hat einen Haken, junger Herr“, fuhr er nachdenklich fort. „Und diesen Haken möchte ich gern finden. Vielleicht, daß in …“

Er konnte den Satz nicht beenden. Überlaut, gellend und vor Zorn bebend erklang die Stimme des Götzen, so daß der Bootsmann diesmal wirklich erschreckt ein paar Schritte zurückwich:

„Wahnwitzige – was wagt Ihr?! Fort mit Euch, oder Ihr sollt es bereuen!“

Fritz Sellentin ergriff entsetzt des Alten Hand und stammelte: „Komm’, Friedrich, komm’ …! Ich fürchte mich …!“

Hinter ihnen knarrte die nach der Treppe führende Tür. Der greise Diener war’s. Schnell trat er ein. In seinem Gesicht prägte sich deutlich eine übermächtige Angst aus, und mit hastigen Bewegungen winkte er ihnen zu.

Wortlos schlichen sie hinter ihm drein. Er ging über den Hof nach dem Südflügel hin, stieg die Treppe empor, öffnete die Tür zu den beiden Räumen, die ihnen als Wohnung zugewiesen waren, und ließ sie eintreten. Dann ging er wieder von dannen. – –

Die beiden Zimmer, die noch vorhin, als der Bootsmann und der Knabe das Gebäude besichtigt hatten, nicht das geringste Einrichtungsstück enthielten, waren inzwischen offenbar für ihre Aufnahme vorbereitet worden. In dem ersten Gemach befanden sich jetzt ein Tisch, zwei Schiffsklappstühle und zwei Schlafmatratzen mit Decken. Auf dem Tisch standen eine einfache Petroleumlampe, zwei Eßschalen aus Blech nebst zwei Paar Messern, Gabeln, Löffeln, und zwei Wassergläser. Das zweite Zimmer war als Küche bestimmt. Hier gab es auf einer leeren Holzkiste, deren Deckel mit Blech benagelt war, einen einfachen Petroleumkocher, zwei Tiegel, einen größeren Napf und ein paar leere Konservenbüchsen, durch deren Ränder man starke Drahtbügel hindurchgezogen hatte. Neben der Kiste standen ein Eimer mit Trinkwasser und eine Kanne Petroleum. In einer Ecke aber war eine ganze Menge von Blechbüchsen mit Gemüse- und Fleischkonserven, Tee, Zucker und Schiffszwieback aufgeschichtet.

Friedrich Dinter stieß bei dem Anblick dieser wenn auch recht dürftigen, so doch immerhin ausreichenden Einrichtung ihrer neuen Wohnung ein zufriedenes Brummen aus. Dann fand auch Fritz Sellentin das erste Wort, seit sie den Westflügel vorhin in Begleitung des stummen Dieners verlassen hatten.

„Verhungern sollen wir jedenfalls nicht“, sagte er, indem sein hübsches Knabengesicht sich merklich aufheiterte. Und dabei wies er auf die Konserven, die mit ihren bunten Papierschildchen recht verlockend ausschauten und allerlei gute Dinge als Inhalt verrieten.

„Wenn nur dieser Wischlipuschel nicht wäre!“ meinte der Alte, der noch unter dem Eindruck der geheimnisvollen Vorgänge stand, gedankenvoll.

„Vitzliputzli“, verbesserte Fritz eifrig und fügte hinzu: „Genau so wie dieses Götzenbildnis sieht die farbige Abbildung dieses Gottes aus, die ich oft genug in meines Vaters „Kulturgeschichte Altmexikos“ mir angeschaut habe.“

Inzwischen hatte der Bootsmann nachgesehen, ob die Tür, die aus der Küche in das nächste Zimmer führte, versperrt war. Er fand sie verschlossen, und ebenso waren auch die dicken Eichenladen vor den Schießschartenfenstern mit Hilfe von Eisenstangen, die in Krampen eingriffen und mit starken Schlössern versehen waren, an die Mauer fest angedrückt, so daß den beiden halben Gefangenen die Aussicht nach der See hin von diesen Zimmern aus unmöglich war. Nachher überzeugte sich Dinter dann auch, daß sie nur ihre Räume allein noch betreten konnten und alle Türen, die ihnen den Zugang zu den übrigen Gemächern sowohl dieses als des Ost- und Nordflügels ermöglicht hätten, versperrt waren. Nur auf den Westflügel dehnte der Alte diese Untersuchung nicht aus. Das wagte er doch nicht. Dort hauste ja der unheimliche Wischlipuschel, vor dem der abergläubische einstige Matrose trotz allen persönlichen Mutes doch bereits eine gewisse Scheu empfand.

Noch vor Sonnenuntergang suchten die beiden dann ihre Lagerstatt auf. Gern hätten sie die Tür nach der Treppe hin, die nach innen schlug, während der Nacht verschlossen gehalten. Aber der Schlüssel fehlte, und ein Riegel war nicht vorhanden. Um trotzdem vor Überraschungen sicher zu sein, stellten sie den schweren Tisch so vor die Tür, daß jeder Eindringling diesen erst bei Seite schieben mußte, bevor er in den Raum hineingelangen konnte.

Übermüdet wie sie waren, schliefen sie dann bis in den hellen Morgen hinein. Ihr erster Gang, nachdem sie eine reichliche Mahlzeit gehalten hatten, führte sie nach einer flachen Uferstelle der nördlichen Landzunge hin, wo sie ein Bad nahmen und sich nachher im Schatten der Felsen niedersetzen, um hier, wo sie vor Lauschern sicher schienen, ihre Lage eingehend zu besprechen. Daß bei dieser Gelegenheit auch die Frage erörtert wurde, was man von diesem merkwürdigen Götzenbilde halten solle, lag nur zu nahe.

Fritz Sellentin, der heute, gesättigt und ausgeruht, ein ganz anderer war, äußerte jetzt den Wunsch, daß Vitzliputzli ihnen recht bald wieder etwas mitzuteilen haben möchte.

„Gestern war ich von den Entbehrungen der letzten Tage mehr tot als lebendig, lieber Friedrich“, meinte er unternehmungslustig. „Jetzt würde mir dieser Hokuspokus genau so lächerlich vorkommen wie Dir, und ich würde auch meine Augen gut offen halten, um herauszubekommen, wie die Bewohner dieses ungemütlichen Gebäudes es fertigbringen, die Stimme gerade aus dem Munde des Götzen hervordringen zu lassen.“

Der Bootsmann schob ein frisches Stück Kautabak bedächtig in den Mund. Einen kleinen Vorrat davon besaß er zum Glück noch. Dann sagte er leise und sich scheu umsehend:

„Junger Herr, ich habe mir gestern vorm Einschlafen diese Sache mit dem Tonbildnis noch gehörig durch den Kopf gehen lassen. Wir wollen uns damit lieber nicht weiter abgeben. Es kommen doch in der Welt manchmal Dinge vor, die man nicht erklären kann. Die Landratten lachen ja auch über den Fliegenden Holländer, den Klabautermann und andere Seegespenster. Und doch habe ich mit meinen eigenen Augen … Doch – darüber spreche ich nicht gern.“

Der Knabe schaute den Alten überlegen lächelnd von der Seite an.

„Vielleicht erhältst Du eine andere Meinung von unserem Vitzliputzli, wenn ich Dir mitteile, daß die alten Römer und Griechen in ihren Tempeln zahlreiche weissagende Götterstandbilder hatten, die, wie jetzt festgestellt ist, mit einem verborgenen, aus einem Nebengemach bis in die Mundhöhle reichenden Rohre versehen waren, das betrügerische Priester wie ein Sprachrohr benutzten. Eines der berühmtesten Orakel dieser Art war das des Jupiter Ammon in der Oase Siwah. Und doch war alles barer Schwindel.“

Der Bootsmann erwiderte nur, indem er sich erhob: „Na so ein Sprachrohr besitzt der Wischlipuschel hier auf keinen Fall. Davon haben wir uns überzeugt. – So, und jetzt wollen wir uns ein paar Möweneier zum Frühstück suchen.“

Offenbar wollte er das Gespräch über den Götzen abbrechen, und Fritz Sellentin erwähnte diese Angelegenheit dann auch nicht weiter, obwohl er sich vornahm, der Sache unbedingt auf den Grund zu gehen.

Nachdem sie ein reichliches Dutzend Eier gesammelt hatten, wollten sie sich wieder in ihre Wohnung begeben. Vorher aber schlug der Bootsmann vor, man solle nach dem kleinen Hafen hinabsteigen, um nach dem Boot auszuschauen, das mit umgelegtem Mast von der Klippe aus nicht zu sehen gewesen wäre. Vielleicht hätten die Leute, die gestern damit davongefahren seien, es inzwischen wieder zurückgebracht.

So bogen sie denn um die nordwestliche Ecke des Hauses und gingen langsam auf die Steintreppe zu, die zu dem tief in die Felsen eingebetteten Wasserbecken hinablief. Doch bevor sie noch die erste Stufe betreten hatten, hörten sie hinter sich eilige Schritte.

Es war der Greis, der wieder in seinem altertümlichen Anzug steckte und ihnen nun lebhaft zuwinkte. Offenbar wünschte er die beiden wieder vor den Götzen zu führen.

Und wenige Minuten später standen Dinter und der Knabe zum zweiten Mal vor dem grinsenden Kriegsgott. Alles war wie am Tage vorher. Der stumme Diener lehnte ziemlich teilnahmslos an ein Fenster, und die beiden Gefährten blickten erwartungsvoll in das vergoldete Gesicht des sprechenden Tonbildnisses.

Eine Weile verging in drückendem Schweigen. In dem weiten, leeren Raum war es totenstill. Nur draußen rauschte das Meer, und ein paar das Haus umkreisende Seevögel stießen heisere Schreie aus. Dann dieselbe harte, befehlende Stimme:

„Ihr habt gestern verschiedene Türen zu öffnen versucht, die Euch nichts angehen. Ich warne Euch nochmals! Meine Anordnungen sind aufs genaueste zu befolgen. Zur Strafe werdet Ihr von jetzt gleich an drei Tage lang das Gebäude nicht verlassen. Außerdem verbiete ich Euch, die westliche Landzunge und somit auch den Hafen zu betreten. – Nun geht! Es ist genug für heute!“

Da faßte Fritz sich ein Herz, trat einen Schritt vor und sagte durchaus höflich und fast bittend:

„Ich möchte gern wissen, wie lange unsere Gefangenschaft hier noch dauern soll. Meine Eltern sind sicherlich in größter Sorge um mich …“ Er wollte noch mehr hinzufügen, aber der greise Diener nahm ihn schnell beim Arm, machte eine ängstliche, warnende Handbewegung nach dem Götzen hin und führte den Knaben zur Tür hinaus. –

Stumm gingen die beiden dann in ihre Wohnung hinüber. Hier erst entlud sich Fritz Sellentins Empörung in einem Wortschwall, den der offensichtlich jetzt ganz eingeschüchterte Bootsmann vergeblich einzudämmen suchte. Zum Schluß flüsterte der Knabe dann leise, aber nicht minder erregt:

„Wenn du ein wenig Mut hast, Friedrich, so wagen wir das nächste Mal, sobald wir dem Greise begegnen, einen Gewaltstreich und nehmen ihm den Revolver ab. Ich wette, daß sich nur zwei Personen hier befinden: Der Diener und der, der den sprechenden Götzen spielt. – Mit den beiden werden wir schon fertig werden!“

„Was Sie befehlen, junger Herr, das tue ich“, erwiderte der Bootsmann ebenso leise. Aber man merkte ihm an, wie schwer ihm diese Worte über die Lippen kamen. – –

Die drei Tage Hausarrest, wie Fritz es ärgerlich nannte, waren bald überstanden. In dieser Zeit hatten die Gefangenen doch so mancherlei festgestellt. Gewiß – von den geheimnisvollen Bewohnern des Kastells ließ sich niemand sehen, selbst der Greis war nie im Hofe zu bemerken. Am Tage lag das große Gebäude totenstill da. Kein Türenklappen, kein Schritt – nichts war zu hören. Aber in der ersten Nacht ihrer Strafhaft hatte Fritz deutlich draußen auf See das Stampfen einer Schiffsmaschine und taktmäßige Ruderschläge, auch ferne Zurufe vernommen. Er weckte Dinter, und beide standen dann dicht an dem einen der Fensterladen, der einen breiten Riß hatte, und lauschten. Leider lief dieser Spalt nicht gerade, sondern so schräg durch das Holz hindurch, daß sie, wenn sie das Ohr daran legten, zwar besser hören konnten, was außerhalb des Hauses vorging, aber doch nichts als die Wand der Schießscharte zu sehen vermochten. Auch in der zweiten Nacht wiederholten sich diese Geräusche. In der dritten aber blieb alles still. Jedenfalls hatten die beiden Gefährten jetzt den untrüglichen Beweis erhalten, daß die Leute hier im Kastell mit der Außenwelt verkehrten, daß ein Dampfer in der Nähe der kleinen Insel erschienen war und Boote zwischen ihr und dem Hause hin und her gefahren waren.

Als sie dann aber am vierten Tage morgens, nachdem sie ihren Hausarrest verbüßt hatten, ungehindert das Gebäude verließen und sich draußen umschauten, war von einem Schiffe nicht das Geringste zu bemerken. Und wieder vergingen nun acht einsame Tage, in denen nichts geschah. Nicht einmal den weißhaarigen Diener bekamen sie auch nur ein einziges Mal zu Gesicht. Und doch merkten sie von ihm insofern etwas, als sie stets kühles Trinkwasser in ihrer Wohnung vorfanden und eines Mittags auch zwei starke Angelschnüre mit sehr festen Haken, die Dinter sofort als zum Schildkrötenfang bestimmt erkannte.

Eintönig floß das Leben der beiden Gefährten dahin. Und sie waren froh, als sie die Angelschnüre erhielten, die ihnen wenigstens eine kleine Zerstreuung möglich machten. Stundenlang saßen sie nun auf der nördlichen Landzunge dicht am Ufer im Schatten eines Felsens und warfen ihre Angeln, deren Haken sie mit Krebstieren dicht besteckten, an der Steilküste in das Wasser hinab und warteten auf einen Biß, den sie nur an dem Ruck der Schnur bemerkten, die sie in der Hand behielten.

Dieser Sport wäre jedoch für den Knaben einmal beinahe verhängnisvoll geworden. Fritz hatte sich nämlich öfters die Schnur, um sie nicht immer halten zu müssen, um das eine Bein geschlungen, wobei er ebenfalls recht gut merkte, sobald eine Schildkröte angebissen hatte. Der Bootsmann warnte seinen jungen Herrn und Freund, den er im Hause Sellentin hatte aufwachsen sehen, dringend aber vergeblich vor dieser Bequemlichkeit, indem er ihn darauf aufmerksam machte, daß vielleicht einmal ein kräftigeres Exemplar dieser Meeresbewohner (die das Meer bewohnenden Schildkröten besitzen sämtlich Flossenfüße ähnlich denen der Seehunde. Die sog. Riesenschildkröte, die bis zu drei Meter lang und ein Meter hoch wird, gibt es nur noch auf der Insel Aldabra. Sie ist sehr gern auf dem Lande und unternimmt hier weite Wanderungen) den Haken in das wie beim Vogelschnabel mit scharf schneidenden, gezahnten Hornplatten bewehrte Maul nehmen würde, wodurch leicht Unheil entstehen könne.

Dinter sollte nur zu recht behalten. Es war an einem gewitterschwülen Nachmittag, als Fritz plötzlich aufschrie, ein Stück nach vorn rutschte und sich nur durch schnelles Festhalten an einer Felszacke vor einem Sturz ins Wasser schützte. Die um seinen rechten Oberschenkel gewickelte Schnur war zum Reißen gespannt, und als der Bootsmann nun schnell zugriff, um die Schildkröte, die nach dem Biß mit dem Haken im Maul sich hatte davonmachen wollen und dabei den Angler fast über den Felsen ins Wasser gezogen hätte, aufs Trockene zu zerren, merkte er sofort an dem Widerstande, den das Tier leistete, daß es sich um ein außergewöhnlich starkes Geschöpf handeln müsse. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden Gefährten schließlich doch, obwohl die Schnur ihnen die Haut der Handflächen arg zerschnitt, das mächtige Tier seinem Element zu entreißen und es dann auf den Rücken zu legen, wodurch die wild um sich beißende, durchaus nicht ungefährliche Schildkröte wehrlos gemacht wurde.

Es war eine fast zwei Meter lange Lederschildkröte, die diesen Namen deshalb führt, weil sie keinen festen Rückenschild, sondern eine lederartige Haut besitzt, die an Dicke der eines Rhinozerosses nicht viel nachsteht. Diese Haut bewahrte Fritz sich dann zum Andenken an dieses Abenteuer auf, das ihn für immer von seiner Bequemlichkeit heilte. Später fingen sie auch einige Exemplare der sog. Suppenschildkröte, die ebenfalls bis zu zwei Meter lang wird, gut zwei Zentner wiegt und deren Fleisch zu allerhand Leckerbissen verarbeitet wird. Dies machte sich Dinter zunutze, indem er für seinen jungen Herrn und sich selbst kräftige, schmackhafte Suppen kochte. Eines dieser eßbaren Panzertiere schleppten sie auch in den Hof des Kastells und legten es hier in der Annahme vor die Tür des Westflügels auf den Rücken, daß die Bewohner es als Geschenk für sich verwenden würden. Hierin täuschten sie sich aber. Die Schildkröte lag noch am nächsten Morgen an derselben Stelle. – –

Oft genug unterhielten die beiden Gefährten sich während des Angelns über ihre merkwürdige Gefangenschaft, das stille Gebäude und vieles andere, was ihnen hier seltsam und rätselhaft vorkam.

Am 26. Mai 1905 waren sie auf der Klippe gelandet. Am 7. Juni trat dann ein Ereignis ein, das von den schwerwiegendsten Folgen sein sollte. Als sie an diesem Tage morgens nach ihrer gewöhnlichen Badestelle hinschritten, trafen sie vor dem Gebäude auf den weißhaarigen Greis, der ihnen, ohne ihren Gruß zu beachten, hastig zuwinkte und dann sofort dem Hause zuging. Die beiden Gefährten wußten, daß Vitzliputzli sie wieder zu sprechen wünschte. Diese Gelegenheit wollte der wagemutige Knabe, der aus Sehnsucht nach seinen Eltern stets über allerlei Befreiungsplänen brütete, nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Ganz leise flüsterte er jetzt dem Bootsmann einige Worte zu, auf die dieser mit einem kurzen Kopfnicken antwortete.

Sie beschleunigten ihre Schritte nun derart, daß sie in dem den Nordflügel durchschneidenden Gang den greisen Diener eingeholt hatten, der leicht gebückt und langsam seinen Weg verfolgte, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach ihnen umzuschauen.

Dann tat Friedrich Dinter plötzlich einen Sprung nach vorwärts, um hier in dem Gange wie verabredet, seine Arme um den ahnungslosen Alten zu schlingen, damit Fritz diesem die Schußwaffe abnehmen könne, die der Stumme zumeist im Gürtel trug.

Dieser Überfall mißglückte vollkommen. Bevor der Bootsmann noch ordentlich zugepackt hatte, drehte der weißhaarige Mann sich blitzschnell um und streckte den Angreifer mit einem furchtbaren, gutgezielten Faustschlag gegen die Schläfe nieder. Niemand hätte ihm diese außerordentliche Kraft zu getraut. Und deshalb stand der Knabe jetzt auch völlig gelähmt vor Überraschung da, bis eine gebieterische Armbewegung des Greises ihn vorwärts und auf die Tür des Westflügels zutrieb. Willenlos gehorchte er. Und dann stand er wieder vor dem greulichen Götzenbilde, diesmal tatsächlich bebend vor Angst. Regungslos hielt sich der Diener als Wächter im Hintergrunde. Sofort begann auch Vitzliputzli mit seinem alten, teuflischen Grinsen zu sprechen.

„Soeben habt Ihr Euch zu einer lächerlichen Torheit hinreißen lassen. Dinter wird seiner Strafe nicht entgehen. Du aber verfügst Dich sofort auf Eure Zimmer und bleibst dort bis zur Mittagsstunde. Dann findest Du Dich an der Stelle der nördlichen Halbinsel ein, wo Ihr zumeist Eure Angeln ausgeworfen habt. Dort wirst Du sehen, wie ich Ungehorsame bestrafe. – Geh’ und laß Dir diesen Vorfall zur Warnung dienen!“

Völlig gebrochen schlich Fritz Sellentin davon. Im Wohnzimmer angelangt, ließ er sich aufschluchzend in einen der Klappstühle fallen, vergrub das Gesicht in beide Hände und weinte bitterlich. Doch – was half es ihm jetzt, daß er seinen übermütigen Leichtsinn verwünschte, daß er sich die schwersten Vorwürfe machte, seinen treuen, braven Friedrich zu diesem Streich überredet zu haben …?! – Dann wieder jagten ihn Angst und Unruhe hoch. Er stellte sich an das Fenster und öffnete es ein wenig, um in den Hof hinabzusehen. Doch niemand zeigte sich. Tot und still wie immer lag das geheimnisvolle Haus da. Die Tür, die vom Hofe in den Gang führte, stand noch weit offen, ebenso die äußere Eingangstür, so daß er den Gang fast ganz überblicken konnte. Der Körper des Bootsmannes war verschwunden. Und doch kehrte Dinter nicht zurück. – Die Sonne stieg langsam höher und höher. Fritz Sellentin fieberte jetzt förmlich vor Aufregung. Er ahnte, daß er nachher Entsetzliches draußen auf der Landzunge werde schauen müssen. Und doch sehnte er sich nach Gewißheit. Dieser Zustand nutzlosen Grübelns war kaum länger zu ertragen.

Endlich glaubte er, daß es Zeit sei. Aber wie zögernd schritt er nun die Treppe hinab, wie langsam verließ er das Haus und ging ihrem alten Angelplatze zu …! Die Füße waren ihm so schwer wie Blei. Und in seinem Herzen wohnte nichts als Angst und Verzweiflung.

Dort, wo sie noch gestern eine schwere Suppenschildkröte mühsam auf die Felsen gezogen hatten, stand jetzt der greise Diener mit über der Brust verschränkten Armen da und starrte ins Weite. Zu seinen Füßen aber lag ein langes Brett, auf dem ein längliches, in ein Stück Segeltuch gehülltes Bündel festgebunden war.

Jeder Blutstropfen wich dem Knaben aus dem Gesicht. Das Bündel zeigte deutlich menschliche Formen, und unten ragten aus der Umhüllung noch ein Stück der blauen Hosen und die derben Stiefel des Bootsmannes heraus. Ein schwerer Stein war außerdem noch an dem Brett befestigt, und all dieses zeigte nur zu deutlich, daß hier ein Toter in die See versenkt werden sollte.

Fritz Sellentin vermochte sich kaum mehr aufrecht zu halten. Jetzt wandte der Greis sich nach ihm um, wies auf die Leiche und schüttelte bedauernd und schmerzlich das weiße Haupt. Dann faltete er die Hände und schien zu beten. Halb unbewußt folgte der Knabe seinem Beispiel. Er wußte kaum mehr, was er tat. Mit Mühe nur drängte er die Tränen zurück. Er wollte sich nicht schwach zeigen vor dem Diener, den er wie seinen Todfeind haßte.

Der Alte war mit seinem Gebet zu Ende. Nun bückte er sich, hob das Kopfende des Brettes an, schob es vorwärts über den Rand der steilen Felsen hinaus und ließ es ins Meer hinabgleiten. Noch ein lautes Klatschen im Wasser, dann war alles vorüber. Der weißhaarige Mann schritt langsam von dannen, und Fritz Sellentin war mit seinem Schmerz allein. Stundenlang saß er fast ohne sich zu bewegen auf dem harten Gestein. Seine Augen brannten von all den Zähren, die er dem toten Freunde nachgeweint hatte. Aber endlich wurde das Gefühl fassungslosen Wehs von anderen Empfindungen verdrängt. Wilde Rachegelüste keimten in seinem Herzen auf. Und als er nun, von der Sonnenhitze allzu arg belästigt, in das stille Haus zurückkehrte, war sein Entschluß gefaßt.

Eine Woche verging, ohne daß sich ihm Gelegenheit bot, seinen Plan auszuführen. Nur vorbereitet hatte er alles Nötige. In den Nächten war er lautlos tätig gewesen. Mit seinen Taschenmesser hatte er den Mörtel ausgekratzt, mit dem die Eisenkrampe des Fensterladens im Wohnzimmer in der Mauer befestigt war. Und es gelang ihm wirklich, die Krampe soweit zu lockern, daß er sie herausziehen konnte. Aber er fügte sie sofort wieder in die Öffnung ein und verklebte das entstandene Loch mit zerkautem Schiffszwieback, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Schießscharte weit genug war, um seinen schlanken Körper hindurchzulassen, und daß der aus seinen Kleidern zusammengeknotete Strick weit genug hinabreichte, um mit dessen Hilfe bis auf die Klippe heruntersteigen zu können.

Nun wartete er sehnsüchtig darauf, daß der Dampfer wieder erscheinen möchte, der damals in der Nähe des winzigen Eilandes geankert hatte, als der Götze ihnen zur Strafe das Verlassen des Hauses für drei Tage verboten hatte. Nacht für Nacht hielt er sich munter und lauschte. Aber alles blieb still. Nur die Wellen sangen ihr eintöniges Lied.

Dann begegnete er am 15. Juni mittags auf dem Hofe zum ersten Mal seit des Bootsmannes traurigem Begräbnis dem weißhaarigen Diener. Dieser schien auf ihn gewartet zu haben und führte ihn sofort nach oben vor das Götzenbild.

Fritz klopfte das Herz in rasenden Schlägen. Schon fürchtete er, daß seine Vorbereitungen vielleicht entdeckt seien und strenge Strafe ihm drohe. Und erleichtert atmete er auf, als der mordgierige, tönerne Gebieter des Kastells ihm lediglich mitteilte, er habe zwei Tage von heute Abend an in seinem Zimmern zu bleiben.

Gerade dieser Befehl sagte ihm, daß er jetzt vielleicht, wo man ihn in die Wohnung einsperrte, mit dem Auftauchen des Dampfers rechnen könne, der bei dem Kastell irgendwelche Dinge zu erledigen hatte, die das Licht des Tages scheuten und die selbst vor dem Überlebenden der beiden Gefangenen streng geheimgehalten werden sollten. In dieser seiner Vermutung hatte Fritz sich nicht getäuscht. Gleich in der ersten Nacht seines Stubenarrestes hörte er etwa zwei Stunden nach Eintritt der Dunkelheit das deutliche, unverkennbare Stampfen einer Schiffsmaschine, das näher und näher kam und schließlich verstummte. Gleich darauf vernahm er auch das rasselnde Geräusch einer in das Wasser gleitenden Ankerkette.

Ein kurzer Moment des Zauderns, in dem er sich nochmals vergegenwärtigte, was ihm bevorstand, wenn sein Plan mißglückte. Aber diese Gefahr schreckte ihn nicht zurück. Seit dem Tode des Bootsmannes hatte er sich ja häufig genug alle Folgen dieses Wagnisses ausgemalt, die guten sowohl als die schlechten.

Im Nu war jetzt die gelockerte Krampe entfernt, so daß er die vor die schwere Eichenlade gelegte Eisenstange entfernen konnte. Die schmale Schießscharte war offen. Wieder drehte und knotete er aus seinem bastseidenen Anzug und seinen Unterkleidern eine Art Strick zusammen, den er an einem der eisernen, starken Gelenke befestigte, in denen die Fensterlade sich bewegte. Dann schob er zunächst den Oberkörper durch die Maueröffnung und spähte hinaus. Die Nacht war ziemlich dunkel. Der Mond stand als silberne Sichel am Himmel, und ein Teil der Sterne wurde von leichtem Gewölk verdeckt. Wenn er sich ganz weit vorbog, konnte er nach rechts hin gerade noch das Heck eines Dampfers sehen, der kaum hundert Meter von der Einfahrt in den kleinen Hafen entfernt leise schaukelnd dalag.

Jetzt glitt er an dem Strick an der äußeren Hauswand hinunter und stand gleich darauf auf dem schmalen Felsabsatz, der sich noch zwischen dem Gebäude und der hier steil abfallenden Klippe befand. Immerhin war diese natürliche Galerie breit genug, daß er sich auf ihr nach der Südostecke des Hauses hin vorwärtsbewegen konnte. Hier wurde der Felsabsatz nach Norden zu schnell breiter. Mit äußerster Vorsicht schlich er nun in weitem Bogen über die nördliche Landzunge um das Haus herum und näherte sich dem Westrande. Seine Absicht ging dahin, nach dem Dampfer hinüberzuschwimmen, ihn heimlich zu erklettern und sich im Laderaum zu verbergen. Was dann weiter wurde, mußte er freilich abwarten. Aber er hoffte, daß er es bis zum nächsten Hafen, in dem das Schiff anlegen würde, als blinder Passagier schon aushalten und dann vielleicht glücklich entweichen könne.

Zwischen ein paar Felsen gedrückt, beobachtete er erst eine Weile die Vorgänge, die sich kaum fünfhundert Meter vor ihm abspielten. Boote unterhielten einen lebhaften Verkehr zwischen den Dampfer und dem kleinen Hafen. Laternen blitzten hier und da auf. Er bemerkte, daß die Boote sämtlich beladen waren, wenn sie, vom Schiffe kommend, in der engen Einfahrt zu dem tief gelegenen Wasserbecken verschwanden, und leer wieder nach dem Schiffe zurückkehrten. Und doch sah er nicht, wo die Kisten und Ballen blieben, die man doch offenbar in dem winzigen Hafen auslud. Keine Menschenseele kam die Steintreppe von der Anlegestelle her empor. Niemand ging nach dem Kastell hinüber, dessen Eingangstür fest verschlossen blieb. Wo ließ man also die Ladung der Boote …?! All diese Gegenstände konnten doch unmöglich auf der Felsplatte aufgestapelt werden, die die Anlegestelle bildete …!

Fritz wollte sich hierüber um jeden Preis Gewißheit verschaffen. Er ahnte, daß hier irgend ein neues Geheimnis mitspielte. Und so schob er sich denn, auf allen Vieren vorwärtskriechend, nach dem Nordrande des tiefen Felsenbeckens hin, wo ihm kleine, verstreut liegende Felsblöcke einige Deckung boten. Schließlich wagte er es denn auch, über den Rand des steilen Abhangs hinwegzulugen. Was er jetzt erblickte, übertraf selbst seine abenteuerlichsten Vorstellungen.

Etwa fünf Meter unter ihm waren auf der Felsplatte drei große Scheinwerferlaternen, die offenbar durch Acetylengas gespeist wurden, aufgestellt. Sie warfen ihre Strahlenbündel nach derselben Richtung hin und beleuchteten scharf und klar eine gut drei Meter hohe und ebenso breite Öffnung in der südlichen Wand des Felskessels. Dieses Loch, das jetzt zur Ebbezeit etwas über dem Wasserspiegel lag, mußte während der Flut, die hier die Wasserhöhe um gut einen Meter veränderte, teilweise überspült werden. Wie weit es sich in die Felsmassen des Eilandes hineinzog, konnte der Knabe von seinem Platze aus nicht bemerken. Aber es mußte sich nach hinten zu beträchtlich erweitern, da eben wieder die Ladung eines Bootes von einer Anzahl von Leuten, die offenbar einem südamerikanischen Staate angehörten, hineingeschafft wurde. Auch in dieser Felsöffnung brannten im Hintergrunde zwei große Laternen, bei deren Schein Fritz Sellentin deutlich die Gestalt des alten Dieners erkennen konnte, der in seiner phantastischen Tracht an die Felswand lehnte und die Arbeit der Männer überwachte.

Daß man ihn oben auf seinem Lauscherposten entdecken würde, brauchte der Knabe nicht zu fürchten. Das helle Licht mußte die Leute derart blenden, daß sich ihre Augen erst wieder eine Weile an die Dunkelheit gewöhnen mußten, bevor sie etwas deutlicher zu unterscheiden vermochten. So harrte er denn eine geraume Zeit auf seinem Platze aus. Jetzt gesellte sich zu dem greisen Diener ein stattlicher, sehr gut gekleideter Mann und sprach eifrig auf ihn ein. Der Stumme antwortete zuweilen durch Kopfschütteln oder Nicken. Dann reichten sie sich die Hände, der andere stieg in das bereitliegende Boot und ließ sich aus dem kleinen Hafen hinaus nach dem Dampfer rudern. Plötzlich war das Felsenloch, in dem noch soeben ein so reges Leben und Treiben geherrscht hatte, völlig vereinsamt. Der Greis schwang sich jetzt als der einzige Zurückgebliebene gewandt vom Rande der Felsenöffnung auf die Felsplatte hinüber, löschte die Laternen aus und trug sie in die Grotte hinein.

Fritz Sellentin sah voraus, daß der Dampfer sehr bald den Anker lichten und davonfahren würde. Trotzdem blieb er ruhig liegen. Er hatte seinen Entschluß geändert. Die Flucht konnte er recht gut auch bei dem nächsten Besuch des Schiffes in der geplanten Weise bewerkstelligen. Allzu sehr lockte es ihn, die Geheimnisse des Kastells zu ergründen, besonders auch zu beobachten, wie der weißhaarige Diener jetzt das Felsloch wieder derart verschließen würde, daß dessen Vorhandensein von außen so gar nicht zu bemerken war. Weder ihm noch dem armen Friedrich war bei ihrer Ankunft auf dem Riff das Geringste an den steilen Wänden des Hafens aufgefallen, was irgendwie darauf hingedeutet hätte, daß diese Felsen kein fest geschlossenes Ganzes bildeten.

Sehr bald sollte er jetzt über diesen Punkt Aufklärung erhalten. Der Greis, der schon einmal den Beweis außerordentlicher Körperkräfte erbracht hatte, schleppte aus dem Hintergrunde mehrere dünne Felsplatten herbei, die auf der Rückseite eiserne, überragende Leisten besaßen, an denen Flügelschrauben hier und da angebracht waren. Die Platten fügte er so geschickt zusammen und verband sie so fest durch die Schrauben miteinander, daß sie mit ihrer rauhen, stellenweise moosbewachsenen Außenseite ganz genau den Eingang der Grotte verschlossen. Wie gut sich diese merkwürdige Tür dem umliegenden Gestein auch in der Farbe anpassen mußte, hatte der Knabe selbst schon erfahren. Nie hätte er etwas Derartiges hier zu finden vermutet.

Der Alte hatte jetzt die Platten bis auf eine kleine Öffnung, durch die er tief gebückt gerade noch hindurchschlüpfen konnte, festgemacht. Nun schwang er sich abermals auf die Anlegestelle hinüber, stieg die Treppe empor und begab sich zum Weststrande hinunter, wo er wahrscheinlich die Abfahrt des Dampfers beobachten wollte.

Diese Gelegenheit ließ der Knabe sich nicht entgehen. Eilig kroch er am Rande des Felsenbeckens entlang bis zu der Steintreppe hin. Und gleich darauf stand er in der Grotte, in der noch die beiden Laternen brannten. Scheu blickte er sich um. Das erste, was er sah, war die Jacht, die mit umgelegtem Mast hier weit aufs Trockene gezogen war. Daneben lag ein kleineres Ruderboot, und weiter hinten bemerkte er ganze Stapel von Kisten und Ballen, die in der außerordentlich geräumigen, schräg in die Tiefe sich hinziehenden Höhle aufgetürmt waren. Neben einer der Laternen aber lag eine Schachtel Zündhölzer, die Fritz jetzt ergriff, um sich dann sofort zwischen den Kisten zu verkriechen.

Gut zehn Minuten mußte er bang klopfenden Herzens warten, ehe der alte Diener zurückkehrte, der nun auch die letzte Öffnung des Einganges verschloß. Hierauf löschte der Greis eine der Laternen aus und verschwand mit der anderen im Hintergrunde der Höhle. Immer leiser wurden seine Schritte. Dann ein Krach wie das Zufallen einer schweren Tür, und nichts regte sich mehr in den unterirdischen Räumen.

Eine Stunde wartete der Knabe in der tiefen Dunkelheit, ob der Alte vielleicht zurückkommen würde. Alles blieb still. Da verließ er sein Versteck, zündete eine der Laternen an und begann die Höhle genauer zu untersuchen. Diese zog sich in einem Bogen nach Osten hin, war etwa vierzig Meter breit, stellenweise bis zu vier Meter hoch und endete etwa gerade unterhalb der westlichen Außenmauer des Gebäudes, wie Fritz Sellentin sich ungefähr berechnete. Eine drückende Hitze, die nur auf unterirdische vulkanische Feuer zurückgeführt werden konnte, herrschte hier, so daß dem Knaben sehr bald der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief.

Daß es einen zweiten Ausgang aus der Höhle geben müsse, unterlag keinem Zweifel. Als Fritz nun die Wände der Ostseite genauer sich ansah, fand er auch bald eine Spalte in dem Gestein, deren unterer Teil durch eine schwere Tür verschlossen war. Vorsichtig suchte er den altertümlichen Drücker zu bewegen und die Tür zu öffnen. Es gelang. Der greise Diener hatte es nicht für nötig gehalten den Schlüssel hinter sich umzudrehen. Von hier lief eine steile Holztreppe in dem sich stetig verengernden Spalt empor, die in einen weiten, ausgemauerten Keller führte, der aus mehreren Abteilungen bestand und fraglos zu dem Kastell gehörte. Kleinere Räume dieses Kellers waren durch eisenbeschlagene Türen versperrt und machten fast den Eindruck von Kerkerzellen. Sie waren sämtlich offen. Einige enthielten Dreh- und Hobelbänke und besaßen die vollständige Einrichtung von Schlosser- und Tischlerwerkstätten, andere wieder waren mit langen Gestellen angefüllt, in denen eine Unmenge Gewehre neuester Konstruktion standen.

Nun wollte Fritz Sellentin auch die letzte dieser festen Türen öffnen, die dicht neben einer nach oben gehenden Treppe lag. Diese Tür aber war verschlossen. Wieder zog der Knabe an dem Drücker. Vielleicht klemmte sie sich auch nur in dem Rahmen. Der Drücker kreischte … Erschreckt ließ er ihn los. Bisher hatte er sich hier unten ganz lautlos bewegt.

Da – hinter der Tür ein ärgerliches Brummen wie eine halb unterdrückte Verwünschung. – Fritz Sellentins Herz begann zu jagen. So knurrte nur einer vor Ärger – der alte Friedrich Dinter …! Sollte der etwa gar nicht tot sein, sollte …

Seine Gedanken brachen hier plötzlich ab. Jetzt vernahm er ziemlich deutlich eine wütende Stimme:

„Alter Schuft, nicht einmal nachts hat man Ruhe vor Dir! Laß mich in Frieden! Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich hier ausbreche …!“

Es war der Bootsmann – kein Zweifel! – Fritz zitterten die Hände vor freudiger Erregung so stark, daß er die Laterne kaum zu halten vermochte. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, klopfte er leise gegen das harte Holz. Drinnen wieder das ärgerliche Knurren. Dann Dinters Stimme, jetzt ganz dicht hinter der Tür:

„Zum Donner, wer ist denn da?!“

„Ich – Fritz Sellentin, lieber Alter! Wenn ich nur den Schlüssel hätte, dann solltest Du bald frei sein!“

Pause. Der Bootsmann schien sich erst von seiner Überraschung erholen zu müssen. Darauf aber drang’s jubelnd durch die Tür:

„Sie, junger Herr, Sie sind’s?! Na, das ist mal eine angenehme Störung! Und wegen des Schlüssels, da versuchen Sie doch, ob nicht einer der anderen Zellen paßt.“

Das war eine vortreffliche Idee. Wenige Minuten später tat sich die Tür auf, und Friedrich Dinter und Fritz flogen sich in die Arme. In diesem Augenblick fühlten sie erst, wie nahe sie sich durch dieses Abenteuer gekommen waren. – Während sie dann nach ein Paar Revolvern suchten, erzählte der Bootsmann kurz, was er während seiner Einkerkerung erlebt hatte. Er war damals nach jenem betäubenden Fausthieb erst in seiner Zelle zur Besinnung gekommen. Der weißhaarige Diener hatte bei ihm den Wärter gespielt und ihn recht gut behandelt. Sogar eine Lampe und ein paar Bücher erhielt er. Nur war der Greis äußerst mißtrauisch und hatte stets seinen Revolver schußfertig gehalten, ebenso wie er auch sehr häufig die Zelle betreten hatte, um sich zu überzeugen, ob der Gefangene nicht etwa an Flucht denke. – Das Begräbnis Dinters war also nichts als ein Schreckmittel für den Knaben gewesen. Freilich hatte er sich nicht geirrt, als er des Bootsmanns Stiefel und blaue Hosen an der „Leiche“, die sicher nur aus Lumpen oder dergleichen in die menschenähnliche Form gebracht war, zu erkennen glaubte. Dinter steckte jetzt nämlich in einer Art Uniform. Seinen Anzug hatte er sofort nach dem Erwachen aus seiner Ohnmacht ausziehen müssen. – –

Zehn Minuten später stiegen die beiden Gefährten, jeder mit zwei geladenen Revolvern in der Tasche, die aus dem Keller nach oben führende Treppe leise hinan. Diese mündete in eines der Zimmer des Erdgeschosses des Westflügels, das ganz wohnlich eingerichtet war. Als sie sich darin noch neugierig umschauten, tat sich urplötzlich die Tür auf, und der Greis stand vor ihnen. Seine stahlharten, durchdringenden Augen blickten die Eindringlinge finster an. Dann winkte er ihnen zu, indem er gleichzeitig nach oben deutete.

„Aha!“ knurrte Dinter. „Der Wischlipuschel wünscht uns zu sehen! Mir recht! Gehen wir also …!“

Der Greis schritt hinter ihnen drein. In dem als Schlafgemach eingerichteten Nebenraum brannte eine Lampe. Er nahm sie mit und stellte sie nachher oben in dem Götzensaal auf den Fußboden, obwohl draußen der Tag bereits zu grauen begann. Auch die Laterne, die der Bootsmann getragen hatte, stellte dieser nun bei Seite, um beide Hände frei zu haben. – Bei dieser Beleuchtung wirkte das Bildnis des Kriegsgottes noch abschreckender. Aber Dinter und Fritz focht das nicht weiter an. Sie hatten wie in absichtlicher Unhöflichkeit gegen den Götzen die Hände in die Taschen geschoben, in denen die Revolver steckten.

Und Vitzliputzli begann zu sprechen. Überlaut, drohend war seine Stimme wieder. Doch die beiden Sünder vor ihm lächelten verstohlen.

„Meine Geduld ist erschöpft …! Ich hatte gehofft, daß Ihr endlich einsehen würdet, wie unklug es ist, sich gegen meine …“

Weiter kam er nicht. Urplötzlich drang aus den Tiefen der Erde ein dumpfes, rollendes Krachen heraus. Das ganze Haus erzitterte. Ein paar Fensterscheiben fielen klirrend zu Boden. Dann folgte ein ferner Knall, das Haus schwankte hin und her, das Gebälk ächzte und der Mörtel polterte aus den Mauerfugen herab.

Schreckensbleich standen die beiden Übeltäter da, die Vitzliputzli hatte aburteilen wollen. Unwillkürlich blickten sie jetzt wie hilfesuchend nach dem greisen Diener hin. Der war verschwunden – nein, er war noch da. Aber den weißen Bart hatte er entfernt und ebenso die weiße Perücke. Beides lag vor ihm am Boden. Das energische, frische Gesicht eines Mannes in den besten Jahren kam unter der Verkleidung zum Vorschein. Und nun tat dieser seltsame Mensch sogar den Mund auf und rief den beiden mit einer Stimme zu, die vollkommen der des Götzen glich:

„Fort von hier! Folgt mir! Es gilt unser Leben! Das Spiel ist aus … Das Seebeben kann jeden Augenblick das Haus über uns zusammenstürzen lassen …“

Er jagte ihnen voran nach dem Hafen, schwang sich auf einen Vorsprung und warf den aus den zusammengeschraubten Steinplatten bestehenden Verschluß des Höhleneingangs mit gewaltiger Kraft nach vorn in das hochaufspritzende Wasser. Im Nu war dann die Jacht, die jetzt zur Flutzeit fast ganz im Wasser schwamm, mit einer Leine durch den engen Kanal in die offene See gelotst. Die drei Menschen arbeiteten mit verzweifelter Eile, um nun auch den Mast wiederaufzurichten. Inzwischen hatten die unterirdischen Gewalten sich keineswegs beruhigt. Im Gegenteil – das Dröhnen und Krachen, die Erdstöße und die dumpfen Knalle gewannen immer mehr an Heftigkeit. Das Meer schien weithin zu kochen, unregelmäßige Wellen schäumten auf und brachten die Jacht, die ohne Segeldruck noch nicht dem Steuer gehorchte, mehr als ein Mal in die Gefahr des Kenterns. Gerade in dem Augenblick, als das Großsegel sich endlich prall füllte und das Boot in Fahrt kam, stürzte das Kastell durch einen neuen Erdstoß wie ein Kartenhaus zusammen. Gleichzeitig barst mitten auf der Klippe das Gestein auseinander, und eine riesige Feuersäule stieg zum Morgenhimmel empor. Ein neuer Vulkan hatte sich aufgetan; Rauch- und Aschenwolken erfüllten bald die Luft und glühende Lavateile flogen wie schwere Brandgeschosse weit umher. Inmitten dieses Verderbens schoß die Jacht nach Osten zu davon. Glücklich gelangte sie auch durch den Dampfgürtel hindurch. Dann, als der furchtbare Hexenkessel, in den die unterirdischen Feuer die See verwandelt hatten, hinter den wie durch ein Wunder Geretteten lag, sanken auch die Schleier, die die Geheimnisse des jetzt zerstörten Kastells bisher verhüllt hatten, indem der rätselhafte Fremde dem Knaben und Friedrich Dinter folgendes erzählte:

„Mein Name und meine Herkunft tun nichts zur Sache. Jedenfalls steckt mir die Abenteuerlust von Jugend an im Blut. Nach jahrelangem Umherstreifen durch aller Herren Länder trat ich in die Dienste eines Mannes, der eine Revolution vorbereitet, um sein Vaterland, eine der südamerikanischen Republiken, von einem gewalttätigen Präsidenten zu befreien. Mein Gebieter übertrug mir dann die Bewachung seines Schlupfwinkels, eben jenes einsamen, alten Gebäudes, in dem einst der bekannte Freibeuter Morgan gewohnt hat und das den Revolutionären jetzt als Stapelplatz für ihre Waffenankäufe diente. In Gesellschaft eines alten Indianers habe ich dort gehaust. Als Sie beide auf dem Riff landeten, suchte ich Sie durch das Gaukelspiel mit dem Götzenbilde, das noch zu den Beutestücken Morgans gehörte, einzuschüchtern, damit Sie sich willig meinen Befehlen unterordneten, die nur den Zweck hatten, Ihnen die wahre Bedeutung des Kastells zu verheimlichen. Daher spielte ich den Stummen und legte auch jene alte Tracht an, die ich in den Kellern des Hauses in einer Truhe gefunden hatte. Ich bin ein vorzüglicher Bauchredner, und diese Fertigkeit befähigte mich, scheinbar den Götzen zu Ihnen sprechen zu lassen. An dem Tage, als Sie den Überfall auf mich versuchten, war gerade der Indianer, der Gefährte meiner Einsamkeit, gestorben. Ihn ließ ich dann auf dem Brett in den Kleidern des Bootsmannes ins Meer gleiten. – Alles andere können Sie sich leicht selbst zusammenreimen. Nur will ich noch erwähnen, daß der weiße Bart und die Perücke mir schon früher zur Verkleidung gedient hatten und sich noch unter meinen Sachen befanden.“ –

Das war alles, was der Fremde berichtete. Gern hätte Fritz Sellentin von ihm über manche Einzelheiten noch nähere Auskunft erlangt, doch der seltsame Mann, der offenbar eine sehr gute Erziehung genossen hatte, gab nur ausweichende Antworten.

Da die Jacht, gleich nachdem er sie in der Felsgrotte verborgen hatte, von ihm reichlich mit Proviant für den Fall versehen war, daß die von ihm schon lange befürchtete Erdbebenkatastrophe eintreten könnte (wie er erwähnte, hatte ihn die in der Höhle stetig sich steigernde Hitze gewarnt), so ging die Überfahrt nach Valparaiso bei leidlich gutem Wetter ohne Schwierigkeiten vonstatten. Gleich nach der Ankunft verabschiedete der Fremde sich von Dinter und Fritz. Nie wieder hörten sie etwas von ihm. –

* * *

Der Großkaufmann Sellentin ließ dann einen Monat später durch einen ihm gehörigen Frachtdampfer jene Meeresgegend, wo das Kastell gelegen haben mußte, genau absuchen um festzustellen, welche Verwüstungen das Seebeben dort angerichtet hatte. Aber das Schiff fand weder den breiten Dampfgürtel noch eine Spur jener Klippe, auf der das alte Gebäude gestanden hatte. Durch die vulkanischen Gewalten war offenbar eine völlige Umgestaltung der oberen Erdschichten an jener Stelle entstanden, und die langen Wogen des Stillen Ozeans rauschten jetzt ungehindert über die versunkenen Trümmer jenes Hauses hinweg, in dem sich noch vor kurzem so aufregende, merkwürdige Vorfälle abgespielt hatten.

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „ragte“.
  2. „Hawai“ (mit einem „i“) – In Mayers Blitz-Lexikon von 1932 steht dazu: „Hawai(i) …“ – Die zeitgenössische Schreibweise war uneinheitlich. Selbst in Lexika finden sich Hawai (Lueger 1904), Hawaii (Brockhaus 1911) und Hawaï (Mayer 1907). Daher wurde die Schreibweise der Vorlage unverändert übernommen.
  3. In der Vorlage steht „genährt“.