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Der Leuchtturm von Aldeburgh

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Leuchtturm von Aldeburgh.

 

W. Belka.

 

Die „Gertrud“ kam von einer Vergnügungsfahrt aus Norwegen zurück. Es war die schönste Privatjacht, die je einem Emdener Bürger gehört hatte. Und Franz Karstedt, der jugendliche Inhaber der Firma Karstedt, sagte stets, wenn jemand das schlanke, seetüchtige Schifflein aus Mahagoniholz bewunderte und nach dem Preise fragte, mit einem halb verlegenen Lächeln: „Es ist meine einzige Liebhaberei. Nur der Segelsport reizt mich. In dem Kampf mit dem Meere liegt ja immer etwas abenteuerlich Poetisches.“ – Aber den Preis nannte er nicht. –

Am Abend des 12. August 1914 war’s. Auf dem Hinterdeck der Jacht saßen auf bequemen Liegestühlen Franz Karstedt und seine Gäste, rauchten und plauderten. Wie es mit dem serbisch-österreichischen Konflikt aussah, wußte niemand von ihnen. Seit Abfahrt vom Nordkap am 29. Juli hatte die „Gertrud“ nur zwei Mal an kleinen Inseln der norwegischen Küste angelegt, um ihren Trinkwasservorrat zu ergänzen. Und dort kümmerten die Fischer sich kaum um die Dinge, die in der Welt vorgingen. Sie lebten wie die richtigen Insulaner ihr einsames, anspruchsloses Dasein. – Gewiß – Dampfer und Segler hatte man unterwegs hin und wieder getroffen. Aber es waren alles Frachtschiffe, die von Amerika herüberkamen. Sie anzurufen erschien daher zwecklos. Mit den neuesten Nachrichten von dem Stande der politischen Verwicklungen konnten sie kaum dienen.

Die vier Herren erörterten soeben wieder zum so und so vielten Male die Möglichkeit eines Weltkrieges, der sich aus dem verabscheuenswürdigen Mord in Serajewo[1] ergeben könnte, als vom Vorschiff der Kajütjunge Heinrich Frischel eilig auf seinen Herrn zugelaufen kam, die blaue Tuchmütze mit dem goldenen Anker zog und in seinem seltsamen Gemisch von Hoch- und Plattdeutsch sagte:

„Herr Karstedt, ich wollt’ man seggen, dat ich das Sehrohr von ‘n Unterseeboot eben bemerkt habe.“

Dabei wies er mit der braunen Hand nach Osten zu auf die nur leicht bewegte Oberfläche der Nordsee, über die die untergehende Sonne ihr schönstes, feuriges Rosenrot ausgegossen hatte.

Die vier Herren sprangen auf und starren nach jener Richtung hin, wo tatsächlich in vielleicht dreihundert Meter Entfernung eine dunkle Röhre aus dem Wasser ragte.

„Es ist ein U-Boot“, meinte der grauhaarige magere Wiesinger, der erste Prokurist der Großfirma Karstedt, mit deutlicher Unruhe in der Stimme.

Und der nicht viel jüngere Baurat Merten fügte achselzuckend hinzu: „Natürlich! Was sonst, lieber Wiesinger …?! – Überrennen wird uns das Ding schon nicht. Möchte nur wissen, was dieser eiserne Fisch hier so weit ab von jeder Küste zu suchen hat, dazu noch ganz allein ohne Begleitschiff.“

Kamillo Zarvori, ein junger Italiener, der seit einem Jahre bei der Firma Karstedt ohne Entgelt arbeitete, um deutsch zu lernen und die Geschäftsgebräuche eines Welthauses zu studieren, focht wild mit den Armen in der Luft herum und rief dem alten Bootsmann Peter Zander, der am Steuer saß, ängstlich zu:

„Aufpassen, Sie, – aufpassen! Sonst bohrt uns das Boot in den Grund.“

Baurat Merten warf dem Italiener einen ziemlich geringschätzigen Blick zu. Dieses enge Zusammenleben auf der Jacht hatte den drei deutschen Herren soviel wenig angenehme Charaktereigenschaften Zarvoris enthüllt, daß Karstedt als derjenige, von dem die Einladungen zu dieser Fahrt ausgegangen waren, schon wiederholt bedauert hatte, den Italiener ebenfalls aufgefordert zu haben.

Trotzdem hatte der zapplige, stets nur auf sein eigenes Wohl bedachte schwarzhaarige Herr dieses Mal mit seiner Besorgnis für sein wertvolles Leben nicht so ganz unrecht. Das U-Boot hielt wirklich auf die Jacht zu, tauchte nun aber, kaum noch achtzig Meter entfernt, langsam auf und machte, wie ein wassertriefendes Meerungeheuer aussehend, einen kurzen Bogen, der es dicht neben die „Gertrud“ brachte. Dann flog der Deckel der Turmluke auf, und aus der Öffnung schob sich der Oberkörper eines englischen Marineoffiziers heraus. Wenige Minuten später war die Jacht englische Prise, hatte drei englische, gut bewaffnete Matrosen an Bord, mußte nunmehr sofort den Kurs ändern und ihre Fahrt in südwestlicher Richtung fortsetzen. Den auf der „Gertrud“ befindlichen Deutschen hatte der Kommandant des U-Bootes, bevor er dieses wieder tauchen ließ, noch angedroht, daß seine Matrosen den Befehl hätten bei der geringsten Widersetzlichkeit von ihren Waffen Gebrauch zu machen, wobei er das Wort besonders an Karstedt richtete, der ihm als Reserveoffizier der Kaiserlichen Marine (dies hatte er aus den Schiffspapieren der Jacht ersehen) wohl am wenigsten zuverlässig erschien. – –

Die Nacht verging, und die vier Herren saßen noch immer in der Kajüte auf, dachten nicht an schlafengehen und unterhielten sich im Flüsterton über den traurigen Abschluß ihrer Nordlandreise.

Deutschland und Österreich im Kampf gegen eine Übermacht …! – Sie konnten es immer noch nicht fassen! Am niedergeschlagensten war Karstedt, der ja wußte, was ihm als Angehörigem der deutschen Seewehr bevorstand: Internierung in England bis zum Kriegsende!

Der Italiener nahm die Sache am gleichgültigsten auf. War er doch von dem englischen Offizier als Neutraler außerordentlich höflich behandelt worden. Und wie ihn dann nachher der Marinebaurat Merten, als sie in die Kajüte eingesperrt wurden, beiläufig fragte, ob denn Italien sich nicht an die Seite der hartbedrängten Zentralmächte stellen würde, erwiderte er achselzuckend:

„Bei uns haßt man Österreich. Das Volk will außerdem keinen Krieg. Wir haben noch genug an dem Feldzug in Nordafrika, der uns viel Geld und Menschen gekostet hat.“

Worauf der Baurat etwas wie „nette Verbündete!!“ vor sich hinbrummte. – –

Allmählich wurde man aber doch müde. Der Italiener lag schon seit einer Weile in einer Ecke des Wandsofas und schnarchte. Die drei Deutschen gähnten abwechselnd. Und oben auf Deck ging mit schweren Schritten der wachthabende englische Matrose auf und ab, während der alte Zander notgedrungen am Steuer saß und den ihm befohlenen Kurs einhalten mußte.

Karstedt gähnte wieder und schaute dabei zufällig nach den Oberlichtfenstern der Kajüte empor. Ein grauer Schimmer drang durch sie herein und kämpfte gegen das rötliche Licht der großen Pendellampe an.

„Der Morgen ist da“, meinte er seufzend und zeigte nach oben. „Wer weiß, wie lange wir noch beisammen sind?! Sie beide wird man ja bei Ihrem Alter laufen lassen. Aber ich – ich werde Emden wohl erst nach Friedensschluß wiedersehen! Scheußliche Geschichte …!!“

Wiesinger und Merten, die beide über die Hälfte der Fünfzig hinaus waren, suchten ihren jungen Freund zu trösten.

„Vielleicht gelingt es Ihnen auszukneifen, lieber Karstedt“, meinte der Baurat, indem er seine längst ausgegangene Zigarre in die Aschenschale warf.

Der Besitzer der „Gertrud“ wollte etwas erwidern. Aber das Wort blieb ihm im Munde stecken. Auf Deck knallten nämlich ganz unerwartet ein paar Schüsse, die nur aus den Gewehren der englischen Prisenbesatzung abgefeuert sein konnten.

„Holla – was ist da los?!“ rief Karstedt und sprang auf die Füße.

Auch die anderen drei Herren schnellten mit schreckensbleichen Gesichtern hoch. Und der Italiener tat dies in solcher Schlaftrunkenheit, daß er der Länge nach über den zwischen den beiden Wandsofas stehenden Tisch fiel.

Inzwischen waren oben noch weitere Schüsse gefallen. Dann ein dumpfer Knall, dem augenblicklich im Vorschiff der Jacht ein zweiter folgte, begleitet von wilden Flüchen, die schnell in ein schmerzliches Wimmern übergingen.

– „Eine Granate aus einem Revolvergeschütz …!“ sagte Karstedt ganz entgeistert zu den anderen. „Was bedeutet das alles …?! Ich finde keine Erklärung für …“

Da unterbrach ihn des alten Bootsmanns rauhe Stimme, die durch das eine halboffene Oberlichtfenster hindurchkam.

„An Deck, an Deck … Wir sinken …! Die Schufte von …“

Wieder traf eine Granate, fuhr in die mittschiffs gelegene Kombüse, krepierte und drückte die aus der Kajüte in den schmalen Gang nach vorn führende Tür ein, so daß diese gegen den Tisch flog, die Lampe zertrümmerte und dem Prokuristen noch einen wuchtigen Schlag vor den Kopf versetzte.

In wilder Hast drängte Zarvori sich rücksichtslos als erster nach oben. Dann stürmten Wiesinger und Merten hinterdrein. Karstedt aber hielt sich noch einen Augenblick auf und steckte eiligst einige Sachen aus einem der Wandschränke zu sich. Dann wollte auch er an Deck. Die Jacht lag jetzt schon bedenklich schief, und deutlich war das Einfluten des Wassers durch die Schußlöcher zu hören.

Nun wieder ein neuer Knall, diesmal ganz dicht vor dem jungen Großkaufmann. Er sah noch das Aufblitzen der krepierenden Granate, Sprengstücke flogen ihm um die Ohren, und unmittelbar prallte er zurück bis mitten in die Kajüte. Etwas Warmes rieselte plötzlich über sein Gesicht, verklebte ihm die Augen, tropfte auf seine Hand, die tastend nach der Stirn glitt …

Derbe Fäuste waren’s, die ihn dann mit fort rissen, die kleine Treppe emporzerrten und ihm einen Rettungsring überstreiften.

„Springen Sie nach vorwärts, Herr Karstedt, – los, es eilt …“ Peter Zanders Stimme war’s. Und eine zweite, hellere fügte hinzu:

„Wir verlassen Sie nicht, Herr Karstedt! Springen Sie nur ruhig …!“

Und der Besitzer der sinkenden „Gertrud“ riß die Augen weit auf[2], sah wie durch einen roten Nebel dicht unter sich das Wasser. Er stand am Rande des Decks, dessen Steuerbordseite ganz hoch emporragte.

Er sprang … die Flut schlug über ihm zusammen. Aber schnell war er wieder an der Oberfläche. Das Wasser hatte ihm die Augen reingewaschen. Er schaute sich um. Rechts von ihm schwammen noch drei Menschen, unter den Armen die Rettungsgürtel, und von links strebte Peter Zander mit ein paar langen Stößen auf ihn zu. Die Jacht war bereits verschwunden. Ganz plötzlich mußte sie in die Tiefe geschossen sein.

Rings um das kleine Häuflein Menschen, das hier in den Fluten um sein Leben kämpfte, aber lag, nur einen Kreis von kaum dreißig Meter freilassend, eine dichte graue Nebelwand. Von dem Schiff, das die verderblichen Schüsse abgefeuert hatte, war merkwürdigerweise nichts zu sehen.

Jetzt hatte der alte Bootsmann seinen Herrn erreicht. Auch er steckte in einem Rettungsring, der ihn über Wasser hielt, ohne daß er die Arme zu bewegen brauchte. Ein paar Worte an Karstedt, und dann knotete er diesem ein rotgeblümtes, nasses Taschentuch ganz fest um die Stirn.

Inzwischen waren die Nebelmauern immer näher gerückt. Um zusammen zu bleiben, banden die fünf Schiffbrüchigen jetzt die Aufhängeschleifen ihrer Rettungsringe aneinander. Das Meer war ruhig, so daß sie dies wohl wagen durften. Nur eine leichte Dünung schaukelte sie träge auf und ab.

Nun war der Nebel da, hüllte sie völlig ein. Der Italiener, der jetzt erst einigermaßen zu Besinnung kam, begann laut um Hilfe zu rufen. Seine gellende Stimme klang in diesen düsteren Schleiern so schaurig, daß Karstedt ihm bald bedeutete, wie zwecklos er seine Kehle anstrenge. Wenn das Schiff, das die Jacht in Grund gebohrt hätte, die Besatzung hätte retten wollen, wäre es ihm ein leichtes gewesen.

Der Italiener verstummte denn auch wirklich.

Wie an einer Schnur aufgereiht trieben die Unglücklichen dahin. Um ihre Kräfte bis zum Verschwinden des Nebels zu schonen, ließen sie sich nur von den Rettungsgürteln tragen, ohne Schwimmstöße zu machen. Zum Glück war das Wasser jetzt im Hochsommer warm genug, so daß sie es wohl ohne zu erstarren, stundenlang darin aushalten konnten.

Gesprochen wurde wenig. Nur Peter Zander hatte seinem Herrn berichten müssen, was eigentlich vorgefallen und aus den übrigen vier Männern, die sich noch an Bord der „Gertrud“ befunden hatten, geworden war.

Der Bootsmann erzählte folgendes. – Zugleich mit dem ersten Schimmer des Tageslichtes habe sich auch von Südwesten her eine dichte Nebelwand, die aber keine in sich zusammenhängende Masse bildete, genähert und die Jacht zeitweise vollkommen eingehüllt. Plötzlich sei dann das verschwommene Geräusch von Schiffsmaschinen hörbar geworden, woraufhin der wachthabende Engländer sofort seine im Vorschiff schlafenden beiden Kameraden geweckt habe. Die „Gertrud“ sei gerade mitten in einer freien Stelle der Nebelwand gewesen, als das fremde Fahrzeug, offenbar ein als Wachtschiff armierter Fischdampfer, vor ihr auftauchte. Die Leute des Dampfers hätten dann die Jacht in deutscher Sprache angerufen, und dies wieder wäre für die drei englischen Matrosen als Prisenbesatzung der „Gertrud“ das Zeichen zur Eröffnung eines wütenden Gewehrfeuers auf das anscheinend deutsche Schiff gewesen, das sie auf diese Weise in der Annahme, es sei unbewaffnet, vertreiben wollten, um die beschlagnahmte Jacht nicht zu verlieren. Zu spät seien sie dann ihren Irrtum gewahr geworden, da von dem Fahrzeug aus nun drohende englische Flüche herüberschallten und sehr bald auch die erste Granate das Vorschiff der „Gertrud“ getroffen habe, ein Schuß, dem zwei der Engländer zum Opfer fielen. Ehe der überlebende Dritte noch seine Landsleute durch Rufe von der wirklichen Sachlage hätte verständigen können, seien weitere Granaten gefolgt, deren eine die armen Herren Wiesinger und Merten tötete, während eine andere das kleine Beiboot der Jacht zerstörte. Nach dieser Heldentat hätte der Engländer, der inzwischen gemerkt haben müsse, wie die Dinge lagen, sich schleunigst entfernt und die Insassen der Jacht ihrem Schicksal einfach überlassen.

Auf Karstedts Frage, wo ungefähr die „Gertrud“ sich zur Zeit des Überfalles befunden haben könne, erklärte Zander, man sei gerade ungefähr auf der Höhe der Braunen Bank gewesen.

Dieser Bescheid war recht niederdrückend. Sowohl die holländische als die englische Küste lagen mithin gleich weit ab, und die Hoffnung, von einem Schiffe aufgenommen zu werden, war mehr als gering.

Der Nebel wurde dazu noch immer dichter. Dieses Dahintreiben in den grauen, feuchtkalten Dunstmassen wirkte so niederdrückend, daß Zarvori als erster von einem schweren Nervenanfall heimgesucht wurde, tobte, brüllte und zwischenein wieder jämmerlich weinte. Nur langsam beruhigte er sich und hing dann matt und bleich in seinem Rettungsring.

So vergingen Stunden. Als Karstedt einmal nach der Uhr sah, war es bereits 11 Uhr vormittags. Dann machte ihn sein alter Bootsmann darauf aufmerksam, daß man offenbar in eine Meeresströmung (Die bedeutendste Strömung der Nordsee kommt aus dem Kattegat heraus und läuft mit 4 Knoten Geschwindigkeit (d. h. in einer Stunde zwei Meilen) nach Norden zu. Die größte Meeresströmung, der Golfstrom, erreicht bei 40 Kilometer Breite nur eine Geschwindigkeit von 1 Meile in der Stunde. Der Rhein fließt nur bei Hochwasser ebenso schnell) geraten sei, die sowohl an der tieferen Temperatur des Wassers als an der schnelleren Vorwärtsbewegung zu erkennen war.

Wieder schlichen die Stunden hin. Der Nebel wollte nicht weichen. Einmal hörten die Schiffbrüchigen dumpfe Kanonenschüsse aus weiter Ferne, dann auch das Stampfen von Schiffsmaschinen. Aber ihre lauten Hilferufe waren vergeblich. Immer eisiger kroch ihnen jetzt die Kälte zum Herzen. Klappernd schlugen ihre Zähne aneinander. Besonders Zarvori schien bereits mehr tot als lebendig zu sein.

Abermals waren fünf Stunden vergangen. Karstedt hatte mit dem Leben abgeschlossen. Je mehr der Tag sich seinem Ende zuneigte, desto geringer wurde die Aussicht auf Rettung. Und hin und wieder kam ihm schon der Gedanke, die Arme hochzuheben, damit der Rettungsring über ihn hinweggleite und er selbst in die Triefe sinke. Diese Qualen, diese Kälte und die Schmerzen in den Beinen waren kaum mehr zu ertragen.

Da, gegen fünf Uhr nachmittags, wurde die Nebelmasse etwas lichter. Gleichzeitig vernahmen die Unglücklichen rechts vor sich das leise Branden der trägen Dünung gegen irgendein Hindernis.

Peter Zander lauschte angestrengt.

„Hören Sie, Herr Karstedt …?! – Was mag das nur sein? Einer Küste können wir uns doch unmöglich schon so weit genähert haben?!“ In des Alten Stimme zitterte freudige Hoffnung.

Karstedt war zu matt um zu antworten. Er befand sich in einer Art halber Betäubung. Aber der Bootsmann wußte durch Zurufe seine vier Gefährten schnell zu einer letzten verzweifelten Anstrengung anzuspornen. Mit erst recht schwachen Schwimmstößen drängten sie aus der Strömung nach rechts herüber. Die Bewegung tat ihnen gut, und die neuerwachte Hoffnung verlieh ihnen ungeahnte Kräfte. Immer näher kam das feine Rauschen des Wassers. Dann schrie Peter Zander, der jetzt als vorderster schwamm, plötzlich jubelnd auf. Seine Füße hatten Grund erreicht. Er stand auf steinigem Geröll. Und vor sich bemerkte er etwas wie einen niedrigen Turm, der sich undeutlich aus den grauen Schleiern abhob, die ein eben aufgekommener Abendwind stetig weiter von dannen drängte.

„Herr Karstedt – Herr Karstedt – jetzt ist mir alles klar!“ rief er frohlockend. „Dies hier kann nur der Leuchtturm von Aldeburgh sein. Soweit kennt Peter Zander die Nordsee, um zu wissen, daß östlich der Braunen Bank eine Strömung nach Südwest geht, die dicht an diesem einsamen Leuchtturm, der gut 150 Seemeilen von der englischen Küste entfernt ist, vorbeiführt.“

Mühsam, taumelnd und sich gegenseitig stützend wateten die fünf Schiffbrüchigen in dem immer flacher werdenden Wasser auf das einsame Bauwerk zu. Der englische Matrose, ein etwa 25 jähriger, kräftiger Bursche, der Burwell hieß, erklärte jetzt mit matter Stimme, daß der Leuchtturm am Tage vorher von dem Kommandanten des U-Bootes, von dem die „Gertrud“ angehalten worden war, auf Befehl der englischen Admiralität gesprengt sei.

Bald sah man denn auch, daß der Mann recht hatte. Von dem runden, eisernen Turm waren von den fünf Stockwerken nur noch die beiden unteren vorhanden, während der obere Teil einige Meter nach Norden zu halb im Wasser lag, wohin ihn die Gewalt der Explosion von sechs Dynamitpatronen geschleudert hatte.

Es war gerade Ebbe, und daher ragte die Sandbank, auf der der Leuchtturm errichtet war und die eine Ausdehnung von etwa 150 Quadratmeter hatte, aus dem Wasser heraus, während sie während der Flutzeit, die in der Nordsee durchschnittlich einen Unterschied in der Wasserhöhe von zweieinhalb Meter ergibt, von der See völlig überspült wurde. Von der Sandbank selbst war nichts zu sehen. Um das Unterwühlen des 20 Meter tiefen Fundamentes des Turmes zu verhüten, war in weitem Umkreise um diesen der Boden durch Faschinenpackung (Faschinen sind Strauchwerkbündel. – Der Leuchtturm auf Rotersand, halbwegs zwischen Helgoland und Bremerhaven, ist genau so gebaut) und Steinschüttung gesichert worden. Über diesem Fundament erhob sich, allmählich sich verjüngend, der Leuchtturm, dessen unterstes Stockwerk, der Vorratsraum, mit seiner eisernen Eingangstür, zu der eine in die Außenwand eingelassene Leiter hinaufführte, noch 2 Meter über der bei Sturmflut wahrscheinlichen Wasserhöhe lag.

Zunächst setzten die völlig erschöpften, dem Tode entronnenen Schiffbrüchigen sich am Fuße des Turmes auf die hier aufgeschichteten Granitblöcke und ruhten sich aus. Nur der Kajütjunge, dem dieser endlose Aufenthalt im Wasser am wenigsten geschadet zu haben schien, kletterte über die Steine hinweg, um den zertrümmerten Oberbau, der jetzt halb auf dem Trockenen lag, in Augenschein zu nehmen.

Die Sprengpatronen waren, wie die zerrissenen Stahlwände zeigten, unterhalb des Fußbodens des vierten Stockwerks, des Wohnraumes, angebracht worden und hatten dieses sowie die darüber befindliche Beleuchtungsanlage wie Teile eines Kartenhauses weggeblasen. Dieser losgerissene Oberteil bildete auf den Steinen beim Aufschlagen plattgedrückt, immerhin noch eine zusammenhängende Masse, deren dem Turmstumpf zugekehrte Seite der stellenweise vollkommen vernichtete Fußboden des Wohnraumes war.

Getrieben von jugendlicher Unternehmungslust, wagte es Heinrich Frischel, in dieses Gewirr von zerrissenen Eisenplatten hineinzuklettern. Die Einrichtungsgegenstände des Wohnraumes waren wild durcheinander geworfen, meist zerbrochen und lagen auf einem Haufen übereinander. Trotzdem gelang es dem Knaben, auch in das oberste Stockwerk zu kriechen, da die Wendeltreppe zwar völlig zusammengebogen war, aber den Eingang freigelassen hatte. Von der mächtigen Drehlampe, die von hier aus ihre Lichtblitze nachts warnend weithin über das Meer geschickt hatte, um den Schiffen anzuzeigen, daß sie sich den gefährlichen Aldeburgh-Untiefen näherten, waren alle Glasteile zerschlagen, und die Maschinerie hatte gleichfalls schwer gelitten. Ebenso waren sämtliche Türen und Fenster, die von hier nach der um den Turm laufenden eisernen Galerie führten, zertrümmert.

Nach dieser kurzen Forschungsreise kehrte Heinrich zu seinen Gefährten zurück und erstattete Karstedt Bericht über den Zustand des oberen Turmteiles. Die vier Männer hatten inzwischen vor Erschöpfung nicht viel gesprochen. Jetzt aber wandte der junge Großkaufmann sich mit einigen Fragen an den englischen Matrosen, die dieser mürrisch beantwortete. Er erzählte, daß die drei Leuchtturmwärter gleich nach der Kriegserklärung durch einen Lotsendampfer abgeholt worden seien. Dieser habe nicht die Zeit gefunden, den Turm auch sofort zu sprengen, wie dies befohlen gewesen wäre, da deutsche Kreuzer aufgetaucht seien, vor denen er eiligst hätte flüchten müssen.

„Deshalb bekam unser U-Boot den Auftrag“, fuhr er widerwillig fort, „das Bauwerk zu vernichten, besonders die wertvolle Beleuchtungsanlage, die nicht etwa vom Feinde gelegentlich mitgenommen werden sollte. Aber auch wir konnten unsere Aufgabe nur halb erfüllen. In der Ferne nach Osten zu bemerkten wir schnell sich nähernde Rauchwolken, die nur von einer feindlichen Torpedobootflottille herrühren konnten. Daher mußten wir schleunigst verschwinden und den in dem Vorratsraum aufgespeicherten Proviant zurücklassen, den wir gut hätten brauchen können.“

Diese letzte Bemerkung war es, auf die es Karstedt besonders ankam. Jetzt war die Möglichkeit gegeben, sich längere Zeit in der Turmruine zu halten und abzuwarten, ob nicht vielleicht ein deutsches Schiff sie aufnahm. Schnell war sein Entschluß gefaßt. Er erhob sich und ging unter einem Vorwand mit seinem alten Bootsmann auf die andere Seite des Turmes, wo sie sich ungestört aussprechen konnten.

Peter Zander grinste vergnügt, als sein Brotherr, an dem er mit großer Treue hing, ihn nun in sein Vorhaben einweihte.

„Ein feiner Gedanke, Herr Karstedt, – sogar sehr fein!“ meinte er. „Und mit dem verd… Engländer werden wir schon fertig werden.“ –

Burwell ahnte nicht, was ihm bevorstand. Er trug noch an einem Riemen das Lederfutteral mit seinem Revolver umgeschnallt, und auf diesen hatte Karstedt es zunächst abgesehen.

Auf den Matrosen jetzt zutretend, der gerade seine Jacke durch Auswinden etwas zu trocknen suchte, sagte er kurz:

„Sie wissen, daß ich deutscher Marineoffizier bin. Ich erkläre Ihnen als solcher, daß Sie mein Gefangener sind. Geben Sie also gutwillig Ihren Revolver heraus.“

Dabei zog er die Hand aus der Tasche und brachte eine Mausermehrladepistole zum Vorschein, die er vor dem Verlassen der Jacht nebst anderen Gegenständen, die den Engländern bei der Durchsuchung der Kajüte entgangen waren, zu sich gesteckt hatte.

Burwell fand keine Zeit, sich über sein Verhalten schlüssig zu werden. Mit schnellem Griff nahm ihm der Bootsmann jetzt den Gürtel ab und schnallte ihn sich selbst um den Leib.

Da erst brauste der Überrumpelte auf. Er drohte, schimpfte, – es half nichts. Kaltblütig erklärte Karstedt ihm, daß er ihn, sobald er sich widersetzlich zeige, binden lassen würde.

Zarvori hatte die Szene zuerst mit erstaunten, dann jedoch immer ängstlicheren Blicken beobachtet. Jetzt erhob er sich gleichfalls und wandte sich ärgerlich an den jungen Großkaufmann.

„Herr Karstedt – ich muß gegen diese Behandlung des Mannes doch sehr energisch Einspruch erheben! Bedenken Sie, was für Folgen unser Vorgehen gegen den Engländer haben kann. Wenn ein englisches Schiff uns hier findet, so werden wir …“

„Sparen Sie Ihre Worte“, unterbrach der andere ihn kurz. „Ich weiß, was ich tue. Und damit Sie gleich unterrichtet sind: Kommen englische Fahrzeuge in die Nähe so verhalten wir uns ganz still. Daß ein feindliches Schiff diese Ruine nochmals anläuft, ist kaum anzunehmen. Mithin sind wir hier sicher, bis sich uns Gelegenheit bietet, deutschen Boden zu erreichen, – ich betone: Deutschen Boden! Wieder in die Gefangenschaft der Engländer zu geraten, dazu habe ich nicht die geringste Lust. – So, nun werde ich mit dem Jungen in den stehen gebliebenen Teil des Turmes klettern und mich dort umsehen. Zander – Sie geben inzwischen auf Burwell acht!“

Zarvori wurde ganz blaß vor Wut und Angst.

„Herr, das ist ein Wahnsinn, – verstehen Sie mich – ein Wahnsinn!!“ schrie er. „Die Engländer werden uns als Piraten, als Räuber, als Spione erschießen …!!“ schrie er mit überschnappender Stimme.

„… wenn sie uns bekommen …!“ ergänzte Karstedt kalt. „Ich hätte Ihnen eigentlich doch ein bißchen mehr Mut zugetraut. Na – man irrt sich ja mitunter.“

Dann ließ er den Italiener stehen und begann die eiserne Leiter zu erklettern, die nach der kleinen Plattform hinauflief, auf die wieder die Tür des untersten Stockwerkes mündete. Diese stand halb offen. Das runde, etwa vier Meter hohe Gemach empfing sein Licht durch vier Fenster und war mit Kisten halb angefüllt, die allerlei Eßwaren in Konservenform enthielten. In der Mitte stand ein mächtiges, eisernes Trinkwasserfaß. Durch Beklopfen der Wandung stellte Karstedt fest, daß es zu ein Viertel gefüllt war. An der einen Seite wieder lag ein Haufen von Steinkohlen. Daneben erhob sich ein von einem Blechschirm umgebener, kleiner eiserner Ofen, der im Winter den Proviant vor dem Erfrieren schützen sollte.

Eine eiserne Wendeltreppe brachte Karstedt und den Knaben dann in das nächste Stockwerk, das Magazin. Hier zeigte sich bereits insofern eine Wirkung der Sprengung, als die eiserne Decke dieses Raumes nach unten zu etwas eingedrückt war. Im übrigen war sie jedoch gut erhalten, so daß sich auch dieses Gemach leicht als Wohnraum einrichten ließ. Das Magazin diente als Aufbewahrungsort für die Ersatzteile der großen, jetzt zerstörten Drehlampe, die Preßgas- (zur Speisung der Drehlampe. Andere Leuchttürme haben auch elektrische Lichteinrichtung), Schmieröl- und Petroleumbehälter, ferner für Handwerkszeug aller Art und auch für einen großen Tisch, der alles Nötige zur Ausführung kleinerer Reparaturen enthielt.

Hierauf stiegen die beiden die zweite nach der zerstörten Küche führende Wendeltreppe empor. Die Wand des Turmes war hier in etwa drei Meter Höhe über dem eingebauten Fußboden unregelmäßig zerfetzt, und der ganze Oberteil fehlte, so daß man über sich den von leichten Wolken bedeckten Himmel sah. Der eiserne Herd lag umgestürzt und geborsten am Boden, daneben die Trümmer zweier Schränke, mehrere Kochkessel und -pfannen, Scherben von Porzellan- und Glassachen und manches andere, das die Gewalt der Explosion zerstört oder doch stark verbogen hatte.

Heinrich Frischel und sein Herr suchten sich jetzt aus diesem Wirrsal einen Kochtopf, der noch zu benutzen war, eine Pfanne und, aus den Trümmern des einen Schrankes, ein paar Blechnäpfe, Messer, Gabeln, Löffel und auch ein Päckchen Zündhölzer heraus und kehrten reich beladen in den Vorratsraum zurück. Von der Plattform vor der Eingangstür rief Karstedt dann dem Bootsmann zu, er solle mit den beiden anderen nach oben kommen. Aber der Engländer weigerte sich die Leiter emporzuklimmen, begann wieder zu schimpfen und wurde hierbei von Zarvori unterstützt, der sich inzwischen einigermaßen erholt hatte und sich völlig auf die Seite des Matrosen geschlagen zu haben schien. Erst als Peter Zander den Revolver zog, wurde Burwell einsichtsvoller und stieg nach dem Vorratsraum hinauf, gefolgt von dem Bootsmann, der den Widerspenstigen nicht aus den Augen ließ. Als letzter betrat Zarvori das runde Gemach, in dessen eisernem Ofen Heinrich Frischel bereits ein Feuer angezündet hatte. Stumm und finster setzten sich der Matrose und der Italiener abseits auf eine Kiste, während die drei Deutschen sich eifrig an die Arbeit machten, dieses unterste Stockwerk, das einen Durchmesser von ungefähr acht Meter hatte, etwas wohnlich herzurichten und eine Mahlzeit zuzubereiten.

Inzwischen hatte sich draußen der Nebel vollständig verzogen, und die Sonne beschien mit ihren letzten Strahlen die Ruine des Leuchtturmes von Aldeburgh, der plötzlich wieder einige Bewohner erhalten hatte. Karstedt überzeugte sich, indem er nacheinander durch die vier Fenster hinausblickte, daß weit und breit kein Schiff in Sicht sei. Andernfalls hätte Heinrich den Ofen sofort wieder auslöschen müssen, da der durch ein Rohr nach außen geleitete Rauch zu leicht verraten haben würde, daß sich Menschen hier aufhielten.

Zander und der Kajütjunge begaben sich dann bald in den abgesprengten Oberteil des Turmes hinab, um noch vor Rückkehr der Flut aus diesem alles herauszuschaffen, was noch brauchbar war, so besonders die Matratzen der drei Betten, die Decken, Kissen und vieles andere, das den Wohnraum behaglicher machen sollte. All diese Dinge wurden zu Bündeln vereinigt und mit Hilfe der an der Plattform befestigten Winde hochgehißt.

Der Ofen strahlte bald eine solche Wärme aus, daß man die nassen Kleider daran trocknen konnte, ebenso auch die übrigen Gegenstände, die aus dem Wohnraum geborgen worden waren. Als Abendessen gab es Fleisch und Gemüse, dazu einen steifen Grog, da man auch ein Fäßchen Rum, sogar einige Flaschen Wein, entdeckt hatte.

Zarvori und der Engländer aßen mit größtem Heißhunger. Ersterer spielte noch immer den Beleidigten, bis Karstedt ihm streng ins Gewissen redete und damit auch scheinbar eine Sinnesänderung bei dem selbstsüchtigen Herrn erzielte, der sich dann nach der Mahlzeit sogar dazu verstand mit anzufassen, um sämtliche Proviantvorräte nach oben in das Magazin zu schaffen.

Nach Sonnenuntergang begann das Wasser zu steigen, und bald bedeckte die Flut die Sandbank und den abgesprengten Turmteil vollständig. Für Stunden waren nun die Insassen der Ruine auf die beiden Stockwerke und die oben offene Küche beschränkt. Inzwischen hatte Heinrich Frischel, dem dieses Abenteuer offenbar den größten Spaß machte, überall umhergestöbert und noch mancherlei entdeckt, das er triumphierend seinem Herrn zeigte, so zwei einfache Petroleumlampen mit blanken Blechscheinwerfern, eine doppelläufige Vorderladeflinte, eine Blechschachtel mit Pulver, Zündhütchen und Schrot und mehrere Angelschnüre und Stöcke. Außerdem gelang es ihm auch, oben in der verwüsteten Küche noch vier ganze Teller, drei Steingutschüsseln, ein paar Büchsen Kakao und Kaffee und drei Pakete Tee herauszusuchen.

Nach Eintritt der Dunkelheit wurden dann die Lagerstätten auf dem Boden des Vorratsraumes ausgebreitet. Den Ofen hatte man wieder ausgehen lassen, da die Hitze in dem Gemach zu stark geworden war.

Karstedt und Zander berieten noch vor dem Schlafengehen darüber, ob nicht einer von ihnen die Nacht über abwechselnd wachen solle, damit der Engländer ihnen nicht irgend einen Streich spiele. Der Bootsmann traute Burwell nicht, obwohl dieser sich jetzt in sein Schicksal ergeben zu haben schien und zum Schluß gleichfalls beim Hinausschaffen der Proviantkisten geholfen hatte, die, wie man feststellte, auch Schiffszwieback, Mehl und Fett enthielten. Der junge Großkaufmann, der sich kaum noch vor Müdigkeit auf den Beinen halten konnte, meinte, der Matrose würde wohl ebenso erschöpft wie sie selbst und froh sein, wenn er ungestört sich ausruhen könne, worauf Peter Zander erwiderte, Karstedt möge damit vielleicht recht haben, aber besser sei es doch, wenn man Burwell als Schlafraum eines der kellerartigen beiden Gelasse anweise, die unter dem Fußboden des Vorratsraumes lagen, nur ein schmales Fenster besaßen und deren Falltüren man erst entdeckt hatte, als die Kisten weggeräumt waren. Die beiden Gelasse enthielten nichts als etwas zerkleinertes Brennholz eine Ersatzwinde und ein paar Reusen zum Aalfang.

Karstedt wollte hiervon jedoch nichts wissen. Man müsse wenigstens versuchen, mit Burwell im guten auskommen. Sperre man ihn da unten ein, so würde man ihn nur aufs neue reizen. – So kam es, daß eine halbe Stunde später bereits die fünf Bewohner der Leuchtturmruine anscheinend in festem Schlummer lagen.

Aber außer Peter Zander, der Burwell stark mißtraute, gab es noch einen kaum dem Kindesalter entwachsenen Knaben, der heimlich den Engländer und Zarvori mit argwöhnischen Augen beobachtet hatte und dem es nicht entgangen war, daß die beiden hin und wieder sich ein paar Worte verstohlen zuflüsterten und bedeutsame Blicke wechselten. Daher hielt Heinrich sich auch absichtlich munter und tat nur so, als ob er ebenfalls schlafe. Schwer genug fiel ihm dies. War er doch nicht minder abgespannt als die anderen.

So lag er denn regungslos da, atmete tief und gleichmäßig und strengte alle seine Sinne an, damit ihm kein verdächtiges Geräusch entgehe. Sein Platz befand sich neben dem Ofenschirm, und wenn er die Augen öffnete, konnte er bequem die Reihe der übrigen Schläfer überblicken. Gerade über ihm hing die brennende Petroleumlampe an der Wand, die Karstedt absichtlich nicht hatte auslöschen lassen.

Peter Zander schnarchte derart laut, daß das aus seiner Kehle aufsteigende Rasseln bisweilen sogar das Geräusch der Wellen übertönte, die an das Fundament des Turmes anschlugen. Auch Burwell begann jetzt ein ähnliches Konzert zu veranstalten. Aber Heinrich kam es so vor, als ob dieses Schnarchen bedeutend weniger echt klang als das seines alten Freundes, des Bootsmannes. Dann wieder schien es ihm, als ob er in den Ruhepausen, die die Kehle des Engländers sich gestattete, ganz leises Flüstern vernahm und zwar von dorther, wo Burwell und Zarvori als die letzten der Reihe nebeneinander lagen.

So verging gut eine Stunde. Bisweilen nickte der Junge doch ein, schreckte dann aber sofort zusammen und machte sich mit aller Gewalt munter. Hin und wieder blinzelte er auch durch die halbgeschlossenen Lider nach den Männern hin. Eben tat er es abermals, da Burwells Schnarchen nun schon eine ganze Weile verstummt war, was ihm verdächtig vorkam.

Gerade im rechten Augenblick hatte er aufgeschaut. Er sah, wie sich der Engländer weit über den alten Bootsmann beugte und in dessen Oberkleidern, die dieser neben sich gelegt hatte, herumsuchte. Auch Zarvori saß aufrecht auf seinem Lager und begann jetzt behutsam im Bogen auf Karstedt zuzurutschen.

Heinrich Frischel wußte genug. Burwell tastete ohne Zweifel nach dem Revolver, den Peter Zander ihm abgenommen hatte, während der heimtückische Italiener dem jungen Großkaufmann zu Leibe wollte. Wie ein Ball schnellte jetzt der Knabe empor, stieß ein gellendes: „Achtung – Verrat!!“ aus, sprang über seinen neben ihm liegenden Herrn hinweg und warf sich mit seinem vollen Körpergewicht dem Engländer in den Nacken, so daß dieser lang über den Bootsmann hinstürzte.

Burwell hatte bereits den Revolver in der Hand. Aber zum Schießen kam er nicht. Ehe er den Knaben von sich abschütteln konnte, waren Karstedt und Zander völlig munter geworden. Sie hatten es jetzt nur mit dem Engländer allein zu tun, da Zarvori in der Erkenntnis, daß der Anschlag mißglückt sei, sich schleunigst wieder auf sein Lager geworfen hatte und den Schlaftrunkenen spielte, ohne auch nur den Versuch zu machen, seinem Verbündeten zu Hilfe zu kommen.

Der Engländer wurde sofort gefesselt, nachdem der Bootsmann ihm den Revolver wieder entwunden und Heinrich seinen Landsleuten mitgeteilt hatte, was von ihm soeben beobachtet worden war. Kamillo Zarvori wollte sich natürlich herauslügen, erklärte mit tausend Eiden, der Junge müsse sich geirrt haben. Er sei überhaupt von seinem Lager nicht aufgestanden. – Aber Karstedt wußte, woran er mit ihm war. Der Italiener mußte jetzt neben dem gebundenen Burwell sich niedersetzen, und dann sagte der Großkaufmann mit eisiger Ruhe zu den beiden Ausländern:

„Durch diesen schmählichen Verrat haben Sie beide jeden Anspruch auf Bewegungsfreiheit innerhalb unseres Turmes verwirkt. Ihnen, Burwell, nehme ich diesen Versuch, sich zum Herrn der Lage zu machen, nicht allzu übel. Sie sind unser Feind. Da liegt also die Sache anders. Trotzdem verlangt es unsere Sicherheit, daß wir auch Sie fortan einsperren. – Nun zu Ihnen, Zarvori. Noch nie ist mir ein so verächtlicher Charakter begegnet wie der Ihre. Gegen mich, der Ihnen stets nur Gutes erwiesen hat, haben Sie sich als Angehöriger einer Nation, die allerdings wohl nur dem Namen nach mit Deutschland verbündet ist, mit Burwell zusammengetan, um uns zu überwältigen. Sie werden daher jetzt auch das Los des Engländers teilen. – Kein Wort der Widerrede! Sonst sollen Sie mich noch von einer ungemütlicheren Seite kennen lernen …!“ –

Während Karstedt dann die Gefangenen bewachte, mußten der Bootsmann und Heinrich aus dem Kellergelaß, dessen Fenster nach Osten zu zeigten, alles herausschaffen, was sich darin befand. Dafür wurden eine der Matratzen und zwei Decken hinuntergebracht.

Die Wände dieses vier Meter langen, drei Meter breiten und ebenso hohen Raumes bestanden aus Zement, mit dem auch das ganze Turmfundament ausgefüllt war. Die Außenmauer war gut ein viertel Meter stark und besaß außerdem noch den äußeren Eisenmantel, der sich bis in die Sandbank hineinzog. Eine eiserne Leiter, die in feste Eisenösen oben eingehakt war, führte zu der Falltür hinauf. Nahm man die Leiter weg, so waren die Gefangenen ebenso sicher wie in die Zelle einer modernen Strafanstalt eingeschlossen, denn das lange, schlitzartige Fenster war zu schmal, um einen menschlichen Körper hindurchzulassen. Außerdem sollte Peter Zander auch sofort nachher von außen ein festes, enges Eisengitter anzubringen versuchen, damit die beiden nicht etwa vorbeifahrenden Schiffen Zeichen geben konnten.

Mit verbissener Wut fügten die Gefangenen sich in das Unabänderliche. Unten in der Zelle wurden Burwell dann die Fesseln von Peter Zander wieder abgenommen. Kaum hatte er die Hände frei, als er nicht etwa einen Angriff auf den alten Bootsmann wagte, – nein, er machte vielmehr seinen Groll gegen Zarvori, der ihn so schmählich im entscheidenden Moment im Stich gelassen hatte, durch ein paar kräftige Ohrfeigen Luft, die er dem völlig überraschten Italiener verabreichte, wobei er ein englisches Schimpfwort gebrauchte, das sich ins Deutsche schwer übersetzen läßt. Jedenfalls kam es nun zu einer Balgerei zwischen den beiden, die Heinrich Frischel von der Falltür aus hohngrinsend mit der Petroleumlampe beleuchtete, bis Karstedt, angewidert durch diesen Auftritt da unten, ihm befahl, die Luke zu schließen. Noch eine ganze Weile hörten die Deutschen das klägliche, dumpf heraufschallende Geschrei des geschniegelten Zarvori, dem es unter den Fäusten Burwells keineswegs gut zu gehen schien.

Inzwischen war es so spät geworden, daß es für die drei kaum mehr lohnte, sich schlafen zu legen. Außerdem wollte Peter Zander auch die erste Morgendämmerung dazu benutzen, das Gitter fertigzustellen und über der Falltür einen starken Riegel anzubringen. Diese Arbeiten boten bei dem vorhandenen Handwerkszeug weiter keine Schwierigkeiten. Nur die spätere Befestigung des Gitters vor dem Zellenfenster bereitete dem Bootsmann einiges Kopfzerbrechen, zumal er gezwungen war, dies von einer Art Schaukel aus zu tun, die zu einem der Fenster des jetzigen Wohnraumes herausgehängt werden mußte. Aber der praktische Sinn des alten Seemannes kam auch hiermit zu Ende, bevor noch die Sonne aufging.

Heinrich hatte mittlerweile, nachdem es hell genug geworden war und die Flut sich verlaufen hatte, abermals dem losgesprengten Teil des Leuchtturmes einen Besuch abgestattet, wobei er aus den Trümmern des Wohnraumes noch mancherlei hervorsuchte, was den seltsamen Robinsons von Nutzen war: die Reste eines Tisches und dreier Stühle, die der Bootsmann nachher wieder zusammenflickte, eine Anzahl von Unterhaltungsbüchern, ein paar Lagen durchweichtes Papier, das sich jedoch noch trocknen ließ, Tinte, einen Federhalter, auch mehrere Kleidungs- und Wäschestücke, ein unversehrtes Fernrohr und mehrere Pakete Rauchtabak.

Nachdem er die Sachen nach oben in den Turm hinaufgewunden hatte, wobei ihm Karstedt half, wurde das Gefundene sorgfältig abgetrocknet, gereinigt und, soweit nötig, in die Nähe des Ofens gelegt. In diesem hatte der junge Großkaufmann noch schnell, bevor es draußen ganz hell wurde, sowohl Kaffee als auch eine warme Mahlzeit gekocht, die allen, auch den Gefangenen, trefflich mundete. Als Peter Zander diesen das Essen hinunterreichte, wozu er sich ein Brett an eine lange Stange befestigt hatte, mußte er sie erst wecken. Jeder schlief in einer Ecke, und Burwell hatte natürlich die Matratze allein mit Beschlag belegt, so daß Zarvori sich mit seiner Wolldecke begnügen mußte. Damit die beiden nun auch sich etwas Bewegung machen könnten, ordnete Karstedt an, daß nacheinander frühmorgens und abends, wenn die Ebbe die Sandbank freigelegt hatte und wenn kein Schiff in der Nähe war, sich eine Stunde draußen vor dem Turm bewegen dürften. Fliehen konnten sie ja nicht. Trotzdem sollte stets einer der drei Gefährten die Gefangenen im Auge behalten. –

Nach der Mahlzeit beschäftigten sich die neuen Turmbewohner mit allerlei Arbeiten, um den Wohnraum gemütlicher zu machen, oben in dem Magazin die Vorräte zu ordnen und das dritte, nur noch halb vorhandene Stockwerk, die frühere Küche, aufzuräumen. Hierbei wurde noch manches gefunden, was leidlich brauchbar war, so auch zwei Holzschemel, die man den Gefangenen zuwies.

Heinrich bat sich dann von seinem Herrn die Erlaubnis aus, die Angelschnüre in Ordnung bringen zu dürfen, da er die Haken mit Krabben bestecken und sie dann auslegen wollte, damit man auch einmal einen Fisch auf der Tafel hätte. – Karstedt war mit dieser Fürsorge für die Küche sehr einverstanden, sagte aber sowohl dem Bootsmann als auch dem Jungen aufs strengste an, den Turm während der Ebbe am Tage nie zu verlassen, wenn sie sich nicht vorher überzeugt hätten, daß der Horizont ganz frei sei. Ferner bestimmte er auch, daß jeder von ihnen dreien abwechselnd jede halbe Stunde mit dem Fernrohr nach allen Seiten hin Ausschau halten solle. –

Krabben fand Heinrich in Menge zwischen den Steinen, die über die Faschinen rund um den Turm angehäuft waren, so daß er die Angelschnüre, von denen im ganzen sechs vorhanden waren und die in Abständen von ein halb Meter zwanzig an einer kurzen Seidenschnur befestigte Haken besaßen, leicht mit Köder versehen und dann vom äußersten Rande der kleinen Sandbank ins Wasser werfen konnte. Damit sie an der einen Seite einen Halt hatten, schlang er das eine Ende um einen passenden Stein und verknotete es.

Gerade als er die letzte Schnur mit geschicktem Wurf in die See geschleudert hatte, rief ihm der Bootsmann von der Plattform aus zu, er solle schleunigst nach oben kommen. Ein Dampfer sei in Sicht. Gleichzeitig mit ihm mußte dann auch Zarvori, der gerade seine Freistunde hatte, wieder in den Turm hinaufklettern.

Als Heinrich jetzt in das Magazin emporstieg, nachdem der Italiener wieder in der Zelle untergebracht war, stand Karstedt mit dem Fernglas in der Hand an dem nach Westen gehenden Fenster und beobachtete ein Schiff, dessen Umrisse schnell immer deutlicher über den Horizont hinüberwuchsen.

Fünf Minuten später war es bereits als englischer Kreuzer mit vier Schornsteinen für des Marineoffiziers kundige Augen zu erkennen. Aber das Kriegsfahrzeug zog in weiter Entfernung nach Südosten zu vorüber, ohne sich um die Ruine des Leuchtturms zu kümmern. In den nächsten Tagen tauchten dann noch öfters Schiffe auf, denen die drei Deutschen eine halb ängstliche, halb hoffnungsfrohe Aufmerksamkeit schenkten. Doch nicht eines näherte sich dem zerstörten Turme mehr als auf höchstens zehn Seemeilen. Und auf diese Entfernung konnte man bei Frachtfahrzeugen nie feststellen, welche Nationalität sie hatten. Deutsche Kriegsschiffe wurden vorläufig gar nicht gesichtet, wie denn überhaupt dieser Teil der Nordsee jetzt im Kriege stark gemieden zu werden schien. – –

Dieser erste Tag ihres einsamen Daseins verlief für die drei Männer ohne jedes bemerkenswerte Ereignis. Da gerade während der hellsten Tagesstunden Flut herrschte, mußten sie notgedrungen sich im Innern ihrer merkwürdigen Zufluchtsstätte beschäftigen. So wurde unter anderem das dritte Stockwerk nach Möglichkeit leer gemacht und dann als eine Art Veranda eingerichtet, indem Peter Zander den oben offenen Raum zur Hälfte mit einem alten Segel als Dach überspannte und aus den zertrümmerten Küchenschränken bequeme Stühle und einen Tisch zurechtzimmerte, die er stolz als „Gartenmöbel“ bezeichnete.

Nach dem Mittagessen holten sie den versäumten Nachtschlaf nach. Als Heinrich Frischel als erster erwachte und sich leise erhob, um nach Karstedts goldener Taschenuhr zu sehen, die dieser an Stelle einer Wanduhr neben dem Ostfenster aufgehängt hatte (sie war trotz des langen Aufenthaltes im Wasser ganz unbeschädigt geblieben), stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß es bereits sechs war. Ein Blick ins Freie belehrte ihn dann, daß das Flutwasser schon beträchtlich gesunken war und er seine Angelschnüre einziehen konnte. Der Horizont war ringsum frei, und so kletterte er denn leise an der Leiter auf die Sandbank hinab; zwischen deren Steinen noch hie und da große Wasserpfützen standen, in denen Krabben und kleine Krebse zurückgeblieben waren.

[Sehr zu seiner][3] Freude hingen gleich an der ersten Schnur zwei Steinbutten von gutem Gewicht, und die ganze Beute setzte sich schließlich aus vier Steinbutten, drei Seezungen und fünf Schollen zusammen. Freilich – eine Schnur hatte er eingebüßt. Er fand von ihr nur noch das um den Stein befestigte Ende. Der übrige Teil war ohne Frage dadurch abgerissen, daß ein besonders kräftiger Fisch so lange an der Schnur gezerrt hatte, bis diese sich an einer scharfen Steinkante durchscheuerte und schließlich abriß. Der erfahrene Bootsmann belehrte ihn dann nachher, daß der Übeltäter sicherlich ein großer Heilbutt (ein eßbarer, vielbegehrter Fisch von der Gestalt einer riesigen Flunder, auf der einen Seite braun, auf der anderen Seite weiß gefärbt. Beide Augen liegen auf der braunen Körperseite. – Auch der Steinbutt wird in der Nordsee in Exemplaren von zwei Meter Länge gefangen. Besonders auf dem Fischmarkt in Bergen (Norwegen) kann man täglich solche Riesentiere bewundern. – Zu der Familie der Schollen (auch Plattfische oder Weichflosser), die in der Ostsee nur in kleineren Arten vertreten sind, gehören auch die Flunder und die Seezunge) gewesen sei, die ebenfalls zu der Familie der Schollen gehören, in der Nordsee, besonders an den Küsten Norwegens, häufig anzutreffen sind und bis drei Meter lang und 350 Kilogramm schwer werden.

Auch Karstedt freute sich über dieses Ergebnis des ersten Fischzuges sehr, zumal er sich sagte, daß sie auf diese Weise ihren sonstigen Proviant mehr schonen könnten, der für fünf Mann nach seiner Berechnung höchstens acht Wochen reichen würde.

Als er mit Peter Zander sich über Heinrichs Anglerglück unterhielt, kamen sie dann auch auf etwas sehr Wichtiges zu sprechen: die Ergänzung des Trinkwasservorrats, der kaum noch lange vorhalten konnte, da sie auch die Mahlzeiten damit kochen mußten. Der Bootsmann fand schnell einen Ausweg. Er wollte das Segel über der „Veranda“ so einrichten, daß es gleichzeitig das Regenwasser auffangen mußte und dieses durch eine Traufe in einer Tonne gesammelt wurde. In abgekochtem Zustande wäre es als Notbehelf immerhin genießbar. –

Bald brach der Abend an. Nun wurde zunächst Burwell, dann Zarvori je eine Stunde Aufenthalt auf der Sandbank gewährt. Ersterer war anscheinend schon nach diesem ersten Tage seiner Haft recht bescheiden und kleinlaut geworden. Er versprach Karstedt hoch und heilig, nie wieder aufsässig zu werden. Aber dieser blieb fest. Er erklärte, er wolle den beiden Gefangenen gern jede Erleichterung ihrer Lage zukommen lassen, soweit die Umstände dies zuließen Aber in ihrer Zelle müßten sie bleiben. Das erfordere seine und seiner Gefährten Ruhe und Sicherheit. – Burwell seufzte nur und schwieg.

Anders der Italiener, der Karstedt am Morgen bei seiner ersten Freistunde nicht zu Gesicht bekommen hatte und nun abends die Gelegenheit wahrnahm, in unverfrorenster Weise seine sofortige Entlassung aus der Zellenhaft zu verlangen und alle möglichen Drohungen ausstieß, unter die sich bald auch Schimpfworte gegen Deutschland mischten. Da riß dem Großkaufmann nun doch der ziemlich kräftige Geduldsfaden. Peter Zander mußte den jämmerlichen Wicht, obwohl die Stunde noch nicht um war, wieder nach oben bringen, und nachher bei der Abendmahlzeit wurde der edle Signore zum Fasten verurteilt, was ihm sicher schwer ankam, da die gebackenen Schollen recht verführerisch dufteten. Natürlich nahm Zarvori diese Nahrungsentziehung keineswegs geduldig hin. Im Gegenteil – er verlangte von Burwell, dieser solle sein Gericht mit ihm teilen, eine Zumutung, die der Engländer lediglich durch ein höhnisches Auflachen beantwortete, was den oben an der halb offenen Falltür lauschenden Heinrich riesig freute – Am nächsten Morgen gab Karstedt dem Matrosen dann einige der Bücher aus der kleinen, von dem Kajütjungen geborgenen Bibliothek der Leuchtturmwächter, ferner gestattete er ihm, sich morgens und abends je zwei Stunden im Freien aufzuhalten und zum Zeitvertreib mit der Angelrute nach Schollen zu angeln, eine Art des Fanges, die große Aufmerksamkeit erforderte, da der Schwimmer der Angelschnur in der Brandung, die die Steinaufschüttung der Sandbank selbst bei ruhigem Wetter umschäumte, schwer zu erkennen war. Kleinere Schollen halten sich nämlich hauptsächlich in der Brandung selbst oder ein Stück davor auf, weil an diesen Stellen die meiste Nahrung für sie von dem aufgerührten Wasser zusammengetrieben wird. – –

* * *

Eine Woche verging. Jeder Tag schlich wie der andere hin. Bald quälte die Langeweile die auf dem kleinen Fleckchen Erde Eingeschlossenen derart, daß sie alles mögliche versuchten, um sich Zerstreuungen zu schaffen. So stellte Karstedt eine Art Brettspiel her, an dem sich drei Personen beteiligen konnten und dessen Spielregeln er selbst ausklügelte. Ein ähnliches Spiel erhielten die Gefangenen, die sich inzwischen wieder völlig ausgesöhnt hatten. – Nach drei klaren, windstillen Tagen war dann auch leider so stürmisches, regnerisches Wetter eingetreten, daß selbst bei Ebbe um den Turm nur ein Ring von kaum vier Meter Breite von den tobenden Wellen freigelassen wurde und der Aufenthalt draußen fast unmöglich war. Das Brüllen der See, die während der Flutzeit ihre Wassermassen in stets gleichbleibender Wut gegen das Turmfundament anrennen ließ, scheuchte in den ersten Nächten jeden Schlaf hinweg. –

Auf die erste Woche folgte eine zweite, dritte in derselben Eintönigkeit. Der Herbst machte sich nun bereits bemerkbar. Die Tage wurden kürzer, die Nächte kälter. Regen und Sturm umpeitschten und umheulten die Turmruine, in der die fünf Bewohner immer stiller, immer mürrischer wurden. Nur Heinrich verlor seine gute Laune nicht. Stundenlang pfiff er alle möglichen Lieder, daß es in den runden Räumen nur so schallte. – Außer der Einsamkeit und der geisttötenden Langeweile bedrückten die beiden Männer, die für sich und die drei anderen zu denken und zu handeln hatten, aber auch ernstere Sorgen. Längst hatten sie eingesehen, daß die Aussicht, in die Heimat zurückzugelangen, verschwindend gering war. Der Winter stand bevor, und sie wußten nicht, wie lange sie noch mit ihrem Proviant und ihrem Heizmaterial reichen würden. Jetzt wurde das Angeln nicht mehr als Sport betrieben, nein, als dringende Notwendigkeit. Peter Zander hatte weitere Angelhaken in allen Größen gefertigt, so daß bei geeignetem Wetter jetzt stets zwei Dutzend Schnüre ausgelegt werden konnten. Die größten Fische wurden eingepökelt – Salz war zum Glück reichlich vorhanden –, die kleineren meist gekocht genossen, um Fett zu sparen. Oft gab es tagelang nichts als Fisch, und Burwell und Zarvori beschwerten sich, daß sie in dieser Weise gespeist würden. Dann kam der alte Bootsmann auf den Gedanken, oben auf der „Veranda“ eine Räucherkammer einzurichten. Das nötige Holz wollte er den Faschinen entnehmen, deren Strauchwerk sich aus allen möglichen Arten zusammensetzte und die vorher zum Austrocknen in das Magazin geschafft werden sollten. – Aber Karstedt wollte hiervon nichts wissen, da der Qualm des Räucherofens sich allzu weit über die See hinziehen würde und zum Verräter werden könnte. – So unterblieb die Ausführung dieser Idee denn. Aber ein gutes hatte Peter Zanders Vorschlag doch gehabt: Karstedt wußte jetzt, wo er Heizmaterial für den Ofen hernehmen konnte. Die Faschinenpackung mußte daran glauben. Und an windstillen Tagen arbeiteten die fünf Leute – denn auch die Gefangenen mußten mit helfen, eifrig daran, die wasserdurchtränkten, schweren Strauchbündel freizulegen und nach oben in die „Veranda“ zu schaffen, die der alte Bootsmann inzwischen zur Hälfte mit einem festen, aus Eisen- und Blechplatten bestehenden Dach versehen hatte. Die Platten wurden bei Ebbe von dem oberen Turmteil mühsam mit Meißeln losgesprengt. Aber so schwer auch diese Arbeit war, sie lenkte wenigstens die Gedanken ab. – –

* * *

Mitte Oktober gab es wieder eine Anzahl sonniger, windstiller Tage. Die Nebel, die nur zu häufig über der See gelegen hatten, blieben aus. Man bemerkte wieder zuweilen ein Schiff, das in der Ferne vorüberfuhr, meist in südöstlicher Richtung, wo die sog. „Tiefe Rinne“ sich dem Leuchtturm näherte. Diese ist der gewöhnliche Weg für alle den südlichen Teil der Nordsee durchquerenden Schiffe. Eine zweite Rinne, die norwegische, läuft an der Südwestküste Skandinaviens entlang. Hier befindet sich auch die tiefste Stelle der Nordsee mit 678 Meter, während die Durchschnittstiefe dieses von den Gelehrten oft als „flaches Bassin“ bezeichneten Meeres nur 60 Meter beträgt. Erwähnenswert ist auch, daß sich über die Mitte der Nordsee eine unterseeische Hochebene, die sogenannte Doggerbank, mit einer[4] Durchschnittstiefe von 18 Meter ausbreitet. – –

Das Verhältnis der drei Deutschen zu ihren Gefangenen war in letzter Zeit wesentlich besser geworden. Man zog Burwell und den Italiener zu den meisten Arbeiten zu und sah nur noch mit aller Strenge darauf, daß sie nie ohne Aufsicht blieben und nachts stets in ihre Zelle eingeschlossen wurden.

Diese milde Behandlung sagte Peter Zander und ebenso auch dem aufgeweckten Kajütjungen wenig zu. Oft besprachen sie miteinander diese Angelegenheit, und beide waren sich einig darüber, daß ihr gutmütiger Herr sich von den verschlagenen Ausländern Sand in die Augen streuen lasse und daß eines Tages die Folgen einer so wenig angebrachten Nachsicht nicht ausbleiben würden.

Aber der Oktober und auch der halbe November vergingen, ohne daß die stillen Befürchtungen der beiden treuen Gefährten Franz Karstedts wahr wurden. Inzwischen hatte der Bootsmann aus Eisenplatten einen zweiten kleinen Ofen hergestellt, der zur Erwärmung der Zelle der Gefangenen dienen sollte. Das Ofenrohr wurde, um dem Rauche nach außen Abzug zu geben, durch das Fenster geleitet, so daß Zander auch das Eisengitter dementsprechend umändern mußte. – Aus Vorsicht wurden beide Öfen nur abends nach Dunkelwerden und morgens geheizt. Immerhin spendeten sie genügend Wärme, um es in den beiden Räumen, die mittlerweile noch manches Einrichtungsstück erhalten hatten, ganz behaglich zu machen.

Am 19. November gleich nach Tagesanbruch (Karstedt führte über wichtigere Ereignisse ein Tagebuch) schallte von Süden her lauter Geschützdonner herüber, dessen Bedeutung man jedoch trotz des Fernrohres nicht feststellen konnte. Nur zeigten Rauchmassen am Horizont an, daß dort vielleicht ein Seegefecht stattfinde. Nach einer Stunde verstummte die Kanonade wieder.

Dann sichtete Heinrich Frischel ein kleines, niedriges Fahrzeug, das durch die nur mäßig bewegte See gerade auf die Leuchtturmruine zuhielt und langsam näherkam. Bald war Karstedt sich über das Schiff im klaren. Es konnte nur ein aufgetauchtes U-Boot sein, und zwar ein englisches, wie die Flagge hinter dem Turm verriet.

Immer deutlicher vermochte der junge Großkaufmann durch das Glas verschiedene Einzelheiten an Bord des langen Stahlzylinders zu erkennen. Das Boot hatte ohne Zweifel einen schweren Kampf hinter sich. Ein Stück des Kommandoturmes war fortgerissen, und beide Geschütze lagen anscheinend unbrauchbar auf dem gewölbten Deck, das drei klaffende Löcher aufwies, in die zuweilen eine besonders hochgehende Welle gierig hineinleckte. In das Kriegsschiff schien auch bereits eine Menge Wasser eingedrungen zu sein, da es sonst höher über die Oberfläche hätte herausragen müssen. Sehr schwerfällig und langsam fuhr es dahin, wie ein verwundetes Meerungeheuer anzusehen, das einen rettenden Strand aufsucht, um sich dort auszuruhen.

Die Aufregung der drei Deutschen steigerte sich mit jeder Minute. Daß das zerschossene U-Boot seine Besatzung in der Turmruine in Sicherheit bringen wollte, war bei Karstedt längst zur Gewißheit geworden.

Hastig beriet er nun mit seinem treuen Bootsmann, ob es nicht irgendein Mittel gebe, das drohende Verhängnis von sich abzuwenden.

Der Alte bat sich das Fernrohr aus, indem er meinte:

„Alles kommt darauf an, wieviel Engländer sich an Bord befinden. Die Schußlöcher lassen vermuten, daß bei dem Gefecht sicherlich auch Leute der Besatzung kampfunfähig geworden sind. Wollen mal sehen, wieviel von den „O Yes-Leuten“ da drüben herumkrabbeln.“

Er legte das Fernrohr auf die Fensterbrüstung und schaute lange hindurch. Dann erklärte er, es Karstedt zurückreichend:

„Soeben haben sie vier Verwundete auf Deck gebracht. Die beiden Matrosen, die dies taten, tragen auch weiße Verbände um den Kopf. Ein Offizier ist überhaupt nicht zu erblicken. Mir scheint, dem Tauchkahn da haben unsere Landsleute übel mitgespielt. Ich schlage vor, wir verraten in keiner Weise unsere Anwesenheit hier. Erklettern die Kerle den Turm, was ja nur einzeln geschehen kann, so empfangen wir jeden mit einem gehörigen Klaps auf den Schädel. Und das …!“

Heinrich, der neben den beiden Männern stand, unterbrach den Bootsmann hier mit dem Ruf:

„Da – wirklich – das U-Boot sinkt …! Und jetzt springen drei – nein, vier Leute ins Wasser …“

Ein Blick genügte Karstedt, um ihn die Beobachtung des Jungen als völlig zutreffend erkennen zu lassen.

Der Stahlzylinder ragte nur noch eine Weile mit dem zerschossenen Kommandoturm aus dem Wasser heraus. Die Entfernung bis dorthin, wo er sein Wellengrab finden sollte, betrug höchstens noch fünfhundert Meter. Und vier Leute strebten jetzt schwimmend der Ruine zu, deren Baugrund, die kleine Sandbank, zur Zeit gänzlich von der Flut bedeckt war.

Peter Zanders deutsches Herz frohlockte, daß England eines seiner Tauchboote verloren hatte. Anderseits aber bedauerte er auch die Verwundeten, die zugleich mit ihrem Fahrzeug versinken mußten oder aber bereits jämmerlich im Innern erstickt waren. Doch diesen Gedanken durfte er jetzt keinen Raum in seinem Herzen gewähren. Ihre eigene Sicherheit stand auf dem Spiel, – und das war jetzt das Wichtigste.

Schnell verständigte er sich mit seinen Gefährten. Während Heinrich Stricke herbeiholte und Karstedt ihre Waffen bereitlegte – die Mauserpistole, den Revolver und die doppelläufige Flinte –, räumte der Alte schleunigst das zweite Kellergelaß aus, damit man die ungebetenen Gäste dort zunächst unterbringen könne.

Dann wurde die auf die Plattform führende Tür etwas geöffnet. Inzwischen hatten die vier Engländer den Leuchtturm erreicht, ihn ein Mal umschwommen und begannen nun an der Eisenleiter hochzuklettern. Sie schienen recht erschöpft zu sein. Ihre Stimmen klangen matt und kraftlos, als sie sich dieses und jenes zuriefen.

Nun betrat der erste die Plattfarm, stieß die Tür ganz auf und … prallte zurück. Vor ihr stand Karstedt, die Pistole schußfertig in der Hand.

„Keinen Widerstand!“ sagte er drohend. „Wir sind Deutsche! Treten Sie dort in jene Ecke und rühren Sie sich nicht.“

Aber der Engländer gehorchte nicht. Mit einem Satz war er wieder auf der Plattform und brüllte:

„Zurück – zurück! – Macht Platz auf der Leiter. Ich will hinunter. Hier oben sind verd… Deutsche.“

Die Tür hatte er hinter sich zuziehen wollen. Doch Peter Zander ließ dies nicht zu. So stand der Engländer denn ungedeckt auf dem halbkreisförmigen Vorbau, beugte sich über das Geländer und trat seinem nächsten Kameraden, der schon die oberste Leitersprosse umklammert hatte, rücksichtslos auf die Finger.

Wie unsinnig seine Zumutung war, seine Gefährten sollten wieder in das kalte Wasser hinab, überlegte er sich gar nicht. Erst als von unten eine befehlende Stimme heraufschallte, er müsse den Weg freigeben, da sie sonst elend alle vier ertrinken müßten, ging ihm das richtige Verständnis für ihre verzweifelte Lage auf.

Er wandte sich wieder der Tür zu und musterte unsicher die drei Deutschen, die mit ihren Waffen in der Hand angriffsbereit dastanden.

Karstedt hielt es jetzt für angebracht, die Leute darüber zu beruhigen, daß sie nichts für ihr Leben zu fürchten hätten, wenn sie sich gutwillig ergeben würden.

Diese Verhandlung zwischen den feindlichen Parteien dauerte nur wenige Minuten. Die an der Leiter hängenden, in ihren nassen Kleidern halberstarrten drei Engländer riefen wiederholt, sie würden keinerlei Widerstand wagen. Man solle sie nur schnell herauflassen, da sich auch zwei Leichtverwundete unter ihnen befänden, mit deren Kraft es zu Ende sei. –

Gleich darauf standen vier vor Nässe triefende Gestalten in dem Wohnraum. Einer der Engländer, der die Abzeichen eines Maschinistenmaates trug, machte jetzt für die übrigen den Sprecher. Er versicherte wiederholt, daß er und seine Kameraden sich in alles fügen würden, man solle ihnen nur etwas Warmes zu trinken und wenn möglich trockene Kleider geben.

Die Leute waren vorläufig wirklich ungefährlich. Das sah auch der stets mißtrauische Bootsmann ein. So half man ihnen denn mit den Sachen der Leuchtturmwächter aus, gab ihnen zu essen und zu trinken und ließ sie sich dicht an den noch heißen Ofen setzen.

Mittlerweile war es Karstedt eingefallen, daß man die neuen Gefangenen schlechterdings nicht in das kalte zweite Kellergelaß einsperren könne. Peter Zander mußte also sofort an die Arbeit gehen und einen weiteren Ofen zurechtbauen, womit er erst gegen Abend fertig wurde. Ebenso hatte er auch ein Gitter für das Fenster der zweiten Zelle hergestellt.

Die Engländer benahmen sich durchaus verständig. Allerdings wurden sie nicht einen Augenblick allein gelassen. Offenbar waren sie froh, dem Tode so glücklich entronnen zu sein.

Der Maschinistenmaat, ein gebildeter, junger Mensch, erzählte Karstedt dann genaueres über den Kampf, den das jetzt auf dem Grunde der Nordsee ruhende U-Boot mit zwei deutschen Hilfskreuzern ausgefochten hatte. Als es eines der deutschen Schiffe torpedieren wollte, war sein Sehrohr bemerkt worden, und gleich die erste Granate der Deutschen traf den Kommandoturm, tötete den Führer und verletzte zwei Matrosen schwer. Das Wasser stürzte sofort durch das Schußloch herein, trotzdem aber gelang es dem Zweiten Offizier, schnell aufzutauchen und die beiden Geschütze in Feuerbereitschaft zu bringen. Doch von einem Hagel von Geschossen überschüttet, hatte das U-Boot, nachdem es noch drei Volltreffer in das Deck erhalten hatte, schleunigst die Flucht ergriffen, ohne von den Kreuzern auffallenderweise verfolgt zu werden. Dies könne er sich nur erklären, meinte der Maat, daß die Deutschen das Nahen anderer englischer[5] Fahrzeuge festgestellt haben mußten, denen sie ausweichen wollten. –

Der Engländer war es dann auch, von dem Karstedt einiges über die Kriegslage erfuhr – natürlich nur für Deutschland Ungünstiges. Aber die Tatsache blieb doch bestehen, daß die deutschen Heere ein gutes Stück von Frankreich besetzt hatten, daß Antwerpen erobert war und die Russen in Ostpreußen eine böse Schlappe erlitten hatten. – Karstedt frohlockte. Das war ja nur der Anfang! Die Zentralmächte würden schon diesem Kreis von Feinden gegenüber standhalten …! –

Nachdem abends die neue Zelle ordentlich durchwärmt war, mußten die vier Engländer hinab in ihre enge Behausung. Sie taten es gutwillig, zumal sie vorher noch eine reichliche Mahlzeit von gekochtem Pökelfisch, Schiffszwieback und auch einen Schluck Grog erhalten hatten. – –

Zwei Tage später traten dann Ereignisse ein, die Peter Zanders Mißtrauen gegen Burwell und Zarvori nur zu sehr rechtfertigten. Die beiden hatten natürlich damals gehört, daß über ihnen besondere Dinge sich abspielten und vermuteten wohl auch das Richtige, da sie fremde Stimmen und die Tritte mehrerer Männer an jenem Tage oben in dem Wohnraum vernommen hatten. Irgend welche Aufklärung erhielten sie jedoch nicht, obwohl besonders der Italiener immer wieder jede Gelegenheit wahrnahm, sowohl Karstedt wie den Kajütjungen mit Fragen zu bestürmen. An den Bootsmann traute er sich nicht heran. Der hatte ihm schon zu oft gezeigt, wie wenig er ihn schätzte. –

Der 21. November brachte hellen Sonnenschein, klare, leidlich warme Luft und geringe Windstärke. Morgens um acht Uhr wurde Zarvori ins Freie gelassen, nachdem vorher Burwell sich hatte auf der Sandbank bewegen dürfen. Beide wurden jetzt, wo man noch vier weitere Gegner zu beobachten hatte, wieder strenger behandelt, worüber sie ihren Ärger jedoch schlauerweise verbargen.

Der Italiener stand gerade neben Heinrich, der seine Angelschnüre einzog, als Zander von der Plattform aus herunterrief, sie sollten sofort nach oben kommen und Zarvori habe sich unverweilt in seine Zelle zu begeben. – Offenbar waren also wieder Schiffe in Sicht. Tatsächlich konnte man auch im Osten Rauchwolken bemerken, die über den Horizont dick und schwarz aufstiegen.

Da, als der Italiener nach der Leiter hineilen wollte, schrie er plötzlich auf und sank auf einem Stein zusammen. Angeblich hatte er sich bei einem Fehltritt den linken Fuß verstaucht. Wie sich später herausstellte, war dies jedoch alles nur Spiegelfechterei von ihm. Er wollte lediglich Zeit gewinnen, um die Schiffe näherkommen zu lassen. Seine Absicht erreichte er auch. Ehe Karstedt und der Bootsmann hinabeilten, um ihm behilflich zu sein, waren die Masten und Schornsteine zweier Dampfer aufgetaucht, die südwestlichen Kurs steuerten. Und ganz plötzlich stieß dann Zarvori einen dreimaligen, gellenden Pfiff aus, dessen wahre Bedeutung als verabredetes Signal den Deutschen sehr bald klar werden sollte.

Burwell hatte das Zeichen sehr gut gehört, da Zarvori genau unter dem Fenster ihrer Zelle die Pfiffe erschallen ließ. Er wußte, was er jetzt zu tun hatte, riß das Ofenrohr heraus, so daß in dem Fenstergitter ein genügend großes Loch entstand, durch das er mit der Hand hindurchlangen konnte. Und gleich darauf stieg zischend eine Rakete, die die beiden heimlich aus dem Feuerwerkskasten des Magazins in ihre Zelle eingeschmuggelt hatten, in die Luft und zerplatzte dann, eine Unmenge kleiner, hellleuchtender Kugeln ausstreuend. –

Peter Zander riß jetzt den hohnlächelnden Italiener hoch und schleppte ihn nach der Leiter. Karstedt war ganz bleich geworden. Mit der Hoffnung, daß die Schiffe die Rakete nicht bemerkt haben würden, konnte er nicht rechnen. Und – waren es nun Engländer, so war alles verloren … –

Eine halbe Stunde später hatte sich das Schicksal der drei vorläufig entschieden. Die beiden als Wachtschiffe armierten englischen Fischdampfer brachten in ihren ausgesetzten Booten sowohl ihre befreiten Landsleute als auch Zarvori und die Deutschen an Bord des größeren Schiffes und suchten dann durch Granaten die Ruine des Leuchtturms völlig zu zerstören.

Gerade als der englische Marineoffizier, der den Fischdampfer jetzt befehligte, Karstedt oben auf der Kommandobrücke verhörte und gerade als eine Granate in dem Wohnraum krepierte und die Turmwand weit aufriß, rief der Ausguckmann seinem Kommandanten zu, daß von Osten her sich sechs dünne Rauchwolken schnell näherten.

Sofort stellten die Dampfer das Feuer ein, nahmen ihre Boote schleunigst an Bord und jagten auf die ferne englische Küste zu. Aber die deutsche Torpedoflottille, die, auf einer Patrouillenfahrt begriffen, auf den Geschützdonner zugesteuert war, hatte die fliehenden Feinde schnell überholt.

In der allgemeinen Aufregung dieser verzweifelten Jagd achtete niemand auf die drei Deutschen, die nebeneinander an der Steuerbordreling standen. Klopfenden Herzens verfolgten sie die Vorgänge, und eine Zentnerlast sank ihnen von der Brust, als der Kreis der sechs schwarzen, flinken Schiffe sich immer enger um die Feinde schloß.

Der Kampf, der dann folgte, war kurz genug. Ein gutgezielter Torpedo schickte den anderen Fischdampfer, dessen Besatzung schleunigst in die Boote kletterte, nach wenigen Minuten in die Tiefe. Und der wieder, auf dem Karstedt und seine Gefährten sich befanden, mußte, von Geschossen überschüttet, ebenfalls sehr bald die Flagge streichen. – Der Zufall wollte es, daß eine der ersten deutschen Granaten die Kommandobrücke gerade dort traf, wo Zarvori, den die Engländer mit ausgesuchtester Höflichkeit behandelt hatten, sich bleich und mit verängstigtem Gesicht aufgestellt hatte. Sein zerfetzter Körper hing nachher, grausig anzusehen, über dem verbogenen Geländer der Brücke.

Und wieder fünf Minuten später betraten die drei glücklich Geretteten deutschen Boden – ein deutsches Kriegsschiff. In demselben Augenblick versank der zweite Engländer gleichfalls, nachdem sein Kessel explodiert war und ihn halb auseinander gerissen hatte. –

Der Leuchtturm von Aldeburgh aber bewahrte auf diese Weise einen deutschen Seeoffizier vor langwieriger Gefangenschaft.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Serajewo“ – zu der damaligen Zeit völlig korrekte Schreibweise für „Sarajevo“, da Bosnien damals noch zur K. u. K. Monarchie gehörte.
  2. In der Vorlage steht: „arf“.
  3. Die Vorlage ist an dieser Stelle unleserlich. Die fehlenden drei Worte wurden sinngemäß ergänzt.
  4. In der Vorlage steht: „eine“.
  5. In der Vorlage steht: „englischen“.