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Kapitän Merling und seine Familie (1. Auflage)

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Kapitän Merling und seine Familie.

 

Von W. Belka.

 

„Ich habe nie gewußt, daß auch Tiere seekrank werden“, meinte Frau Merling und schaute mitleidig in den Käfig des Zwergantilopen-Pärchens hinein, in dem die beiden zierlichen Tiere matt auf ihrem Strohlager ruhten.

Kapitän Merling lächelte gutmütig. „Dir als dem Weibe eines Seemannes hätte diese Tatsache eigentlich längst bekannt sein müssen“, sagte er, indem er den Arm um sie legte und sie liebevoll stützte, da die „Wilhelminje“ in der unruhigen See hin und wieder recht gehörig schaukelte, so daß seine Gattin einmal schon ziemlich unsanft in dem engen Gange zwischen all den großen Tierverschlägen gegen eine Holzwand geschleudert worden war.

„Säugetiere leiden freilich am allermeisten unter den Folgeerscheinungen der heftigen Schiffsbewegungen“, fuhr er dann fort. „So besonders Hunde und Wiederkäuer. Bei Pferde- und Rindviehtransporten gehen stets bei ungünstigem Wetter sogar eine Anzahl Stücke der lebenden Ladung ein. Und hier, liebe Hedwig“, – er hatte sie inzwischen einige Schritte weitergeführt – „siehst Du einen unserer wertvollsten Patienten, der infolge der Seekrankheit bisher jede Nahrungsaufnahme verweigert hat.“

Er war vor einem drei Meter hohen, ebenso breiten und doppelt so tiefen Holzkasten stehen geblieben, dessen Vorderwand, aus starken Eisenstäben hergestellt, einen Blick in das Innere gestattete. Dort lag im Hintergrunde ein prachtvoller Löwe, der jetzt blinzelnd die Augen schloß, weil der grelle Schein der großen Acetylenlaterne, die Kapitän Merling in der Linken trug, ihn blendete. Das riesige Tier, das erst vor zwei Monaten in Ostafrika gefangen worden war, stieß hin und wieder ein unzufriedenes Brummen aus. Vor ihm waren auf den mit Blech benagelten Boden einige frische Fleischstücke hingelegt, ohne daß deren Anblick den Appetit des leidenden Wüstenkönigs zu reizen vermochte.

Frau Merling schmiegte sich in einem Anfall von Schwäche jetzt enger an ihren Gatten an.

„Die Luft hier ist so schlecht, Karl“, klagte sie leise. „Wir wollen wieder an Deck zurückkehren.“

Und sorgsam brachte er sie nun aus dem mit den Ausdünstungen all der verschiedenartigen Tiere angefüllten Laderaum in ihre gemeinsame Kajüte zurück, wo die hübsche, aber recht elend aussehende Frau matt auf das kleine Sofa sank. Es war dies Frau Hedwigs erster Gang zur Besichtigung der merkwürdigen Fracht des Dampfers gewesen. Nach einem zweiten gelüstete es sie nicht. Sie fühlte sich noch zu krank nach der eben überstandenen Malaria, um die schlechte Luft dort unten vertragen zu können. –

Vor zehn Jahren hatte Kapitän Merling, der aus Hamburg stammte, sich als jungverheirateter Mann in Deutschostafrika und zwar in Lindi niedergelassen, wo er als Führer eines Regierungsküstendampfers die Hafenstädte dieser deutschen Kolonie in steter, gleicher Reihenfolge besuchte. Aber seine Gattin und die beiden Kinder Gerhard und Else waren für das tropische Klima mit seinen heimtückischen Fieberkrankheiten nicht widerstandsfähig genug. Sie kränkelten fortgesetzt, bis Merling dann eines Tages einsehen mußte, daß es für die Seinen höchste Zeit war in die gesunde, wenn auch kältere deutsche Heimat rückzukehren, falls er sie nicht auf dem Friedhof in Lindi vielleicht recht bald zur letzten Ruhe bestatten wollte.

Der Zufall hatte es dann gewollt, daß er die Heimreise nicht zu bezahlen brauchte, sondern dabei sogar noch etwas verdiente. Und das war so gekommen.

Der holländischen Tierhandlung Zeergen, die ihre Hauptniederlassung in Amsterdam hatte und die fremdländische, seltene Tiere zum Weiterverkauf an Menagerien und Zoologische Gärten ebenso wie die deutsche Firma Hagenbeck in Hamburg-Stellingen nach Europa einführte, war es gegen hohe Bezahlung von dem Gouverneur von Deutschostafrika erlaubt worden, eine Jagdexpedition zur Erlangung neuer, lebender Ware in das Innere der Kolonie zu unternehmen. Ein Jahr lang hatte die vortrefflich ausgerüstete Jagdgesellschaft in den entlegensten Gegenden mit gutem Erfolg allerlei Tieren nachgestellt, die später nach der Küste geschafft wurden, von wo der Dampfer „Wilhelminje“, ein schon recht altes, eisernes Schiff, sie nach Europa bringen sollte. Durch seine Beziehungen zum Kaiserlichen Gouvernement war es Merling dann geglückt, anstelle des plötzlich erkrankten Kapitäns des Frachtdampfers einspringen zu dürfen.

Am 7. Mai 1904 hatte die „Wilhelminje“ den deutschen Hafen Dar-es-Salam mit nördlichem Kurse verlassen, um durch den Indischen Ozean, das Rote Meer, den Suezkanal und das Mittelländische Meer nach Genua zu dampfen. Von dort sollte ihr aus vierzehn Elefanten, zwei Flußpferden, einem Dutzend Löwen, achtzehn Hyänen, sechs Leoparden, mehreren Warzenschweinen und zahlreichen Antilopen, Affen, Straußen und Schlangen bestehende Ladung mit der Eisenbahn weiter nach Amsterdam überführt werden.

Doch schon am zweiten Tage der Reise war ein Sturm aufgekommen, der den Dampfer nach Osten verschlug. Zu allem Unglück wurde noch die Schraube durch treibende Tangmassen unklar, so daß Kapitän Merling die Notsegel setzen lassen und vor dem beinahe eine Woche mit unverminderter Heftigkeit tobenden Orkan weiter in derselben Richtung laufen mußte. Heute war endlich wieder etwas ruhigeres Wetter eingetreten, so daß Merling, um seiner Gattin eine Zerstreuung zu schaffen, mit ihr einen Rundgang durch die Laderäume unternommen hatte, wo die meisten Tiere untergebracht waren.

Nachdem der Kapitän sich überzeugt hatte, daß seine Frau sich schnell wieder nach dem längeren Aufenthalt in dem stickigen Zwischendeck erholt hatte, begab er sich an Deck, um nachzusehen, ob es den Matrosen inzwischen geglückt war, die Schraube von den Tangpflanzen wieder klarzumachen. Leider wollte diese Arbeit bei der noch immer recht hochgehenden See nicht gelingen. Daher entschloß sich Merling dazu, den nächsten geschützten Hafen anzulaufen, um dort die Havarie zu beseitigen und auch auf besseres Wetter zu warten.

Die „Wilhelminje“ befand sich an diesem Tage südwestlich der Inselgruppe der Admiranten. Die herrschende Windrichtung ließ es nun dem Kapitän als am vorteilhaftesten erscheinen, seinen Kurs auf die Hauptinsel dieser weit zerstreut liegenden elf Eilande zu nehmen. Er gab dem Steuermann nach kurzer Rücksprache mit dem gleichfalls an Bord anwesenden Vertreter der Firma Zeergen, der auch die ganze Jagdexpedition geleitet hatte und mit der Behandlung der Tiere gut Bescheid wußte, die nötigen Befehle und ging dann auf das Vorschiff, wo zwischen einigen der Matrosen und den Tierwärtern abermals ein heftiger Streit ausgebrochen war. Die aus zwölf Köpfen bestehende Bemannung der „Wilhelminje“, zumeist Holländer, vertrug sich mit den acht mit der Pflege und Wartung der lebenden Fracht betrauten Leuten, – drei Negern, zwei Indern und drei Franzosen, recht schlecht, da die Wärter sich stets weigerten, auch bei anderen Arbeiten noch mit Hand anzulegen.

Als Merling zu der brüllenden und sich gegenseitig roh beschimpfenden Gruppe trat, hatte Charles Ribeaux, einer der Franzosen, von einem Matrosen eine recht kräftige Ohrfeige erhalten, worauf er jetzt ein dolchartiges Messer zog und damit auf den breitschultrigen Holländer eindringen wollte. Er wurde jedoch schnell entwaffnet und erhielt dann auf Befehl des Kapitäns, der durch eine empfindliche Bestrafung des jähzornigen stechlustigen Franzosen die Ordnung auf dem Schiffe energisch wiederherstellen wollte, fünfundzwanzig mit einem Tauende aufgezählt, – ein Beruhigungsmittel, das er mit verbissener Wut und einem heimtückischen, rachgierigen Flimmern in seinen schwarzen Augen schweigend hinnahm.

Dieser Vorfall spielte sich um die Mittagszeit ab. – Gegen vier Uhr nachmittags hatte der Sturm soweit nachgelassen, daß der Vertreter der Firma Zeergen mit Zustimmung Merlings anordnete, es sollten die Raubtierkäfige für einige Stunden mit Hilfe der Dampfwinde an Deck geschafft werden, damit deren vierbeinige Insassen frische Luft schöpfen und inzwischen die Laderäume gut gelüftet werden könnten. Kurz vor Sonnenuntergang frischte der Wind dann ganz plötzlich derart auf, daß man die Tierbehälter nicht mehr unter Deck zu bringen vermochte, weil der Dampfer wieder ganz beängstigend rollte und stampfte.

Drei Tage folgten, wie wohl keiner der auf der „Wilhelminje“ befindlichen Leute sie je durchlebt hatte. Vor einem neuen Orkan flog der Dampfer mit prall gefüllten Notsegeln nach Südost zu durch die tobenden Wogen des Indischen Ozeans. Mehrere Gewitter gingen nieder, begleitet von heftigen Regengüssen, die stundenlang das Schiff wie in dichte Nebelmassen einhüllten und jede Aussicht unmöglich machten. Die Raubtiere in ihren Käfigen brüllten vor Aufregung. Die hölzernen Verschlußwände, die man längst vor den Vordergittern angebracht hatte, sperrten den Bestien fast jeden Lichtstrahl ab. Dumpf und drohend mischte sich das Geheul der noch nicht an die Gefangenschaft gewöhnten Löwen und Leoparden in den Aufruhr der Elemente. Trompetenstößen gleich erklangen die schmetternden Stimmen der auf dem Vorderdeck in besonderen Verschlägen untergebrachten Elefanten. Wenn schwere Sturzseen gurgelnd und schäumend über Bord kamen, vereinigten die halb toll gewordenen Tiere die nervenerschütternde Laute ihrer Kehlen zu einem wahrhaft grauenvollen Konzert. Und die das armselige Schiff übermütig überflutenden Wogen überschwemmten oft das Deck derart, daß die Käfige polternd aneinander stießen und die Mannschaft alle Hände voll zu tun hatte, um die großen Holzbehälter stets aufs neue mit starken Tauen festzubinden.

So verging auch der dritte Tag. Und wieder schlich eine Nacht herbei, die mit ihrer Dunkelheit all das Fürchterliche dieser bangen Stunden noch verdoppelte. Halbtot lagen Frau Merling und die beiden Kinder angekleidet auf den schmalen Betten der Kajüte. Der Kapitän selbst durfte sich keine Ruhe gönnen. Mit eiserner Willenskraft hielt er sich aufrecht und verließ kaum einmal für ein paar Stunden die Kommandobrücke, um schnell irgendwo ein paar Bissen hinunterzuschlingen und in bleiernem Schlaf einige Erholung zu suchen.

Der Morgen des vierten Tages dämmerte herauf. Merling erquickte sich gerade in der Kajüte an einer Tasse heißen Kaffees und sprach dabei den seinen in liebevollster Weise Mut zu, als er auf Deck wüsten Lärm hörte, – Schreien und Rufen, dazwischen wieder die schallende Stimme des Steuermannes.

Im Nu hatte er den behaglichen, kleinen Raum verlassen, da er Böses ahnte. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Tierwärter waren in den Vorratsraum eingedrungen, über ein dort lagerndes Faß Rum hergefallen und nun sämtlich betrunken. Der Tierbändiger, jener kleine, jähzornige Franzose, hatte dem verderblichen Alkohol am meisten zugesprochen und verlangte jetzt von dem Steuermann, man solle die sämtlichen Käfige von Deck über Bord werfen, da deren schwere Last allein an dem heftigen Stampfen des Schiffes schuld sei und Merlings Erscheinen steigerte noch des trunkenen Franzosen durch Wut und Todesangst bis zum äußersten gesteigerte Erregung. Er hatte die Züchtigung noch lange nicht vergessen, und in seinen tückischen Augen flimmerte ein rachedrohendes Leuchten auf, als der Kapitän ihm jetzt barsch befahl, sich sofort unter Deck zu scheren.

In dem ungewissen Licht des heraufziehenden Tages standen die beiden Männer sich wie erbitterte Feinde gegenüber. Nochmals wiederholte Merling seinen Befehl. Seine kraftvolle, schlanke Gestalt überragte den einstigen Dresseur um gut zwei Kopfeslängen. Der Blick seiner Augen, deren freundliches Blau der aufsteigende Grimm dunkler zu färben schien, mahnte den Trunkenen noch im letzten Augenblick zum Nachgeben. Wie ein geprügelter Hund schlich dieser klägliche, verkommene Vertreter der „grande Nation“ („große Nation“, so pflegen die eitlen Franzmänner sich nur zu gern selbst zu bezeichnen) mit einer unverständlichen Verwünschung davon. Und ihm folgten die übrigen, alkoholbenebelten Tierwärter, von denen keiner mit dem Deutschen anzubinden wagte.

Wieder ging ein wolkenbruchartiger Regen hernieder, der gut eine halbe Stunde anhielt. Eingehüllt in ihre Ölmäntel standen der Kapitän und der Steuermann auf der Kommandobrücke. Kaum einige Meter konnten sie mit den Blicken die dichten Regenschleier durchdringen.

Dann des Steuermanns argwöhnische Stimme, die Merling auf ein paar Gestalten aufmerksam machte, die sich bei den Käfigen herumdrückten.

„Die Nigger sind’s und der Franzose …! – Kapitän, die Halunken – wahrhaftig! – die Halunken öffnen die Transportbehälter …“

Er brüllte die Worte mit voller Lungenkraft heraus, als könne er das Unheil dadurch noch abwenden.

Da – das Sprachrohr des Mannes im Ausguck … Dumpf und klar kamen die Worte von vorn, durch den Trichter verstärkt, bis zur Brücke trotz des Donnerns und Brausens der Wogen herüber:

„Geradeaus starke Brandung …!“

Merling wich jeder Blutstropfen aus dem Gesicht. Fester, wie im Krampf, umklammerten seine Hände das Geländer. – Das war das Ende … Er hatte es geahnt … –

Die Saya de Malha-Bänke …! – Welcher Seemann kennt sie nicht, diese gefährlichen Untiefen, dieses ungeheure Gebiet von heimtückischen, zum Teil dicht unter der Oberfläche lauernden Korallenbauten, die sich südlich der Inselgruppe der Admiranten weit nach Süden hinziehen und in den Nazareth-Bänken ihre Fortsetzung finden … Kein Schiff wagt sich unnötig in diese Meeresgegend, wo das Verderben lauert, wo ständig über unsichtbare Riffe die Wellen schäumend dahinschießen, wo ganz unberechenbare Meeresströmungen die Fahrzeuge vom Kurse ablenken und wie mit Geisterarmen dem Unheil zutreiben … –

Nur einen Augenblick dauerte Merlings todesbange Erstarrung. Aber in diesem Augenblick durchlebte er alle Qualen eines Mannes, der ein geliebtes Weib und bisher so treu behütete Kinder dem Untergange geweiht sieht. Dann wieder trat die Pflicht des Schiffsführers in ihr Recht, dem zahlreiche Menschenleben und eine wertvolle Ladung anvertraut sind.

Ein lauter Befehl, und in scharfem Bogen suchte der Dampfer der drohenden Brandung auszuweichen, soweit dies, ohne die Stellung der Segel zu verändern, möglich war. Riesige Sturzseen gingen jetzt über das Vorschiff hin, und beängstigend tief grub die „Wilhelminje“ ihr Heck in die See ein.

Auf dem schlüpfrigen, nassen Deck aber schlichen unruhig fahlgelbe Tierleiber umher, tauchten in den stürzenden Regenmassen bald hier, bald dort auf … Angstschreie aus menschlichen Kehlen ertönten wie aus weiter Ferne. Alles flüchtete unter Deck. Und der Ruf: „Die Raubtiere sind los!“ verbreitete sich mit Blitzesschnelle bis hinab ins Mannschaftslogis (Schlaf- und Wohnraum der Matrosen) wo die meisten Leute gerade den tiefen Schlaf der Erschöpfung schliefen.

Nur auf der Brücke, die wie eine Luftschaukel dauernd auf und niederging, standen zwei Männer, die das eherne Muß gewissenhafter Pflichterfüllung hier festhielt.

Der Steuermann, unterstützt von Merling, drehte soeben das Steuer um ein Viertel nach links, und der Dampfer lief nun wieder vor dem Winde, wodurch die gefährlichen Sturzseen, die die Elefantenställe zu zertrümmern trachteten, vermieden wurden.

Wie im Traum harrten die Beiden auf ihrem Posten aus. Die neue Gefahr, die ihnen von den freigelassenen Bestien drohte, hatte ihr Denken förmlich gelähmt. Rein mechanisch waren ihre Bewegungen, ihr ganzes Tun … Mit fest zusammengepreßten Lippen und starren Augen, in denen das Entsetzen wohnte, beobachteten sie ihre Umgebung, glaubten jeden Augenblick eines der Tiere auf der Brücke auftauchen zu sehen …

Und abermals die durch das Sprachrohr dröhnende Stimme des Ausguckmannes wie ein Geisterruf:

„Brandung auf der Steuerbordseite und voraus …!“ –

Was dann folgte, spielte sich alles so schnell ab, daß Merling sich später kaum auf die einzelnen Vorgänge besinnen konnte.

Zweimal warfen die haushohen Wogen die „Wilhelminje“ krachend auf schmale Korallenriffe, hoben sie wieder empor und trieben sie mit geknickten Masten, steuerlos jetzt dem Orkane preisgegeben, weiter wie ein armseliges Stückchen Kork … Und nun ein dritter Anprall gegen die zackigen Spitzen der Korallenbänke, erneutes Krachen und Splittern, als wolle der Dampfer auseinanderbersten.

Das Schiff saß fest … Und Welle auf Welle ging darüber hin, spülte die Raubtiere über Bord, zerschlug die Bretterhäuser der Elefanten und nahm auch die vor Angst und Entsetzen halb wahnsinnigen Menschen mit fort, die entgegen dem Verbot Merlings das Langboot flott zu machen suchten.

Dann fand sich der Kapitän bei den Seinen in der Kajüte wieder. Halb ohnmächtig ruhte sein Weib auf dem schmalen Lager, und tief hatten die Kinder ihre Köpfe vor banger Todesfurcht in die Decken gewühlt.

Da – eine neue Riesenwoge mußte den Dampfer freigemacht haben … Ohne Frage glitt er jetzt wieder taumelnd, führerlos und mit schwerer Backbordschlagseite (nach links schräg liegend) dahin. Knirschend rieben sich sein Kiel, seine eisernen Wände an den Korallenriffen. Plötzlich ein Stoß, der Merling fast zu Boden geschleudert hätte. Wie in eisernen Klammern lag das Schiff regungslos still. Nur ein Zittern ging durch seinen dem Verderben geweihten Leib, wenn die Wellen mit Riesenfäusten an den Eisenplanken hämmerten. – – –

Stunden waren vergangen. Um die Mittagszeit sprang der Wind plötzlich nach Ost um, der Himmel klärte sich auf und die See beruhigte sich fast zusehends. Jetzt erst wagte Merling es, die Seinen für einige Minuten zu verlassen, um von der halb zerstörten Kommandobrücke aus Umschau zu halten.

Die „Wilhelminje“ saß mitten auf einem Riffgürtel fest, der sich um ein niedriges, langgestrecktes und dicht bewaldetes Eiland von recht erheblicher Größe herumzog. Diese Insel war von dem gestrandeten Dampfer durch einen Wasserstreifen von etwa 300 Meter Breite getrennt. – Nach dieser Feststellung, die des Kapitäns Sorge um die Rettung seiner Familie wesentlich verringerte, begab er sich auf das schräg liegende Deck hinab und besichtigte sowohl hier wie im Schiffsinnern den angerichteten Schaden. Vorsichtig bewegte er sich zwischen den Resten der zertrümmerten Käfige hindurch, stets den schweren, großkalibrigen Revolver schußfertig haltend, den er zu seiner Sicherheit mitgenommen hatte. Doch von dem Raubtieren war nicht eines mehr an Bord. Nur im Vorschiff fand er noch sämtliche Elefanten vor. Die gewaltigen Dickhäuter, denen auch die schweren Sturzseen nichts hatten anhaben können, lagen unter den Resten ihrer Ställe halb begraben da, und ihre dicken Rüssel wanden sich zwischen den zerschlagenen Brettern und Balken wie Schlangen hin und her. Hier entdeckte Merling auch die Leichen von drei Matrosen, die unter den Überbleibseln eines der zerschellten Boote eingeklemmt und in grauenvoller Weise verstümmelt waren. – Der unterste Raum des Schiffes und auch der Teil des Ladedecks, in dem man die Reptilien untergebracht hatte, standen völlig unter Wasser. Von den hier außerdem noch befindlichen Tieren lebte nur ein Teil. Auch die beiden Flußpferde, die von der Firma van Zeergen gut mit 40 000 Mark bezahlt worden wären, waren tot. Sie hatten schon seit Beginn der Fahrt jede Nahrungsaufnahme verweigert.

Zu lange durfte sich Merling bei dieser Untersuchung des Schiffes nicht aufhalten. Vielmehr mußte er daran denken, möglichst bald mit den Seinen das Wrack zu verlassen und auf der Insel Zuflucht zu suchen, da ein neuer Sturm die bereits schwer beschädigte „Wilhelminje“ unfehlbar gänzlich zerstören würde. Daher schaffte er zunächst die drei Leichen der Seeleute in einen Verschlag des Vorschiffes, um seiner Frau und den Kindern diesen Anblick zu ersparen. Sodann eilte er nach der Kombüse (Schiffsküche), zündete im Herd ein Feuer an und brühte Tee auf. Inzwischen hatte der jetzt aus Südwest kommende Wind das Meer soweit geglättet, daß der Kapitän sich vornahm, sehr bald mit dem Bau eines Floßes[1] zu beginnen, mit dessen Hilfe er die Insel zu erreichen gedachte. –

Frau Merling und die Kinder schöpften neuen Mut, als er ihnen die tröstliche Nachricht brachte, daß man auf dem von allerlei Baumarten bedeckten Eiland vorläufig ganz behaglich werde leben können, bis ein Schiff sie von hier der deutschen Heimat wieder zuführen würde. Da das fürchterliche Toben der See, das Heulen der Raubtiere und die schwankenden Bewegungen des Dampfers jetzt aufgehört hatten, erholten sich die vor Angst und Schrecken gänzlich Erschöpften nach einer kräftigen Mahlzeit recht schnell. Besonders der elfjährige Gerhard, ein strammer, munterer Bursche, dem bisher nur die Seekrankheit böse zugesetzt und seine natürliche Lebhaftigkeit völlig unterbunden hatte, war sofort bereit, dem Vater bei dem Bau des Floßes hilfreich zur Hand zu gehen. Mittlerweile sollten Frau Merling und die zehnjährige Else aus dem Vorratsraum des Schiffes möglichst viel Nahrungsmittel aller Art an Deck schaffen, die der Kapitän ebenfalls nach der Insel hinüberbringen wollte.

Da Holz, Balken und das nötige Handwerkszeug vorhanden waren, gelang es Merling in zwei Stunden ein Floß von ziemlicher Größe zusammenzuzimmern, und um vier Uhr nachmittags am 20. Mai 1904 verließen die vier Schiffbrüchigen dann das Wrack. Der Kapitän hatte das plumpe Fahrzeug sogar mit einem Segel und einer Art Steuer versehen, so daß die Überfahrt nach der Insel ohne Schwierigkeiten von statten gehen mußte.

Merling hatte nun schon vorher mit dem Fernglase von dem Dampfer aus einen buchtartigen Einschnitt des Strandes entdeckt, der ihm als Landungsplatz besonders geeignet schien, weil keinerlei Riffe dort zu bemerken waren, die dem Floße hätten verderblich werden können. Auf diese Bucht hielt er zu. Langsam trieb der Wind das Floß durch das hier innerhalb des Riffgürtels völlig ruhige Wasser vorwärts.

Gerade als es sich dem Lande näherte, trat die bereits im Westen stehende Sonne hinter dem immer lichter werdenden Gewölk hervor und goß ihr freundliches Licht über die Insel aus, die eine gütige Vorsehung der Familie Merling als Zufluchtsstätte in den Weg geschickt hatte.

Stumm wies der Kapitän auf das strahlende Tagesgestirn. Seine Frau verstand ihn, und zum ersten Male seit langer Zeit flog über ihr Gesicht ein leises, glückliches Lächeln.

„Karl, wir müssen Gott aus tiefstem Herzen dankbar sein, daß er gerade uns bei diesem furchtbaren Schiffbruch gerettet hat“, sagte sie schlicht. „Du und die Kinder, – Ihr seid mir erhalten geblieben.“

Ganz heiter nickte Merling seiner Gattin zu.

„Gewiß, Hedwig, was macht es uns aus, wenn wir hier vielleicht auch für längere Zeit Robinson spielen müssen! Daß die Insel bewohnt ist, halte ich nämlich für ausgeschlossen. Wir besitzen genügend Hilfsmittel, um uns auf dem Eiland ganz behaglich einzurichten.“ –

Da man jetzt in die Bucht einbog, die vielleicht hundert Meter Breite hatte, allmählich aber schmäler wurde, mußte der Kapitän seine ganze Aufmerksamkeit dem nicht leicht zu steuernden Floße widmen. Schritt für Schritt schob es sich weiter vor. Nun machte der Einschnitt eine Biegung, deren Vorhandensein durch die die Ufer dicht bedeckenden Bäume, zumeist Palmen von verschiedener Art, verborgen geblieben war. Als kaum dreißig Meter breiter Wasserarm zog sich die Bucht von hier weit in das Innere der Insel hinein. Bilder von üppigster tropischer Vegetation boten sich nach Überwindung des weniger fruchtbaren Sandstreifens den freudig überraschten Augen der vier Schiffbrüchigen dar. Zwischen Palmenhainen, Gruppen von Baumfarnen und weiten Beständen von Bambus-Pflanzen, die teilweise bis zu zwölf Meter Höhe ihre harten, gelblichen Triebe in die Höhe reckten, zeigten sich grünende, von einzelnen Gebüschstreifen durchzogene Flächen. Die Luft war angefüllt mit den gewürzigen Gerüchen von allerlei blühenden Pflanzen, dabei aber doch infolge der Nähe des Meeres erfrischend und kühl. Ganze Schwärme von Papageien und anderen buntschillernden Vögeln flatterten in den Bäumen hin und her, kreischten und lärmten, so daß es für die Kinder mehr als genug zum Schauen und Bewundern gab.

Dann bemerkte der Kapitän am rechten Ufer der Bucht eine flache, sandige Stelle, die ihm die Möglichkeit zum bequemen Landen bot. Hier wurden nun zunächst ein weites Stück vom Ufer entfernt die mitgebrachten Ballen und Kisten, die außer Nahrungsmitteln in Konservenform auch die verschiedenartigsten anderen, in der Eile zusammengepackten Dinge enthielten, vorläufig niedergelegt. Durch zwei weitere Fahrten nach dem Wrack vermehrten sich diese Vorräte noch um ein Beträchtliches. Und erst die dem westlichen Horizont sich nähernde Sonne mahnte den Kapitän daran, daß er für die Seinen jetzt ein Unterkommen für die Nacht suchen müsse. Ein Zelt aus Bambusstangen und ein paar mitgebrachten Segeln war bald errichtet. Dann wurde ein Feuer in der Nähe angezündet, über dem Frau Merling in den auf einem eisernen Gestell stehenden Kochtöpfen der Schiffsküche eine wohlschmeckende Mahlzeit zubereitete.

Während das Essen kochte, unternahm der Kapitän in Begleitung seines kleinen Sohnes einen kurzen Ausflug nach einer felsigen Hügelkette, die er in einer weiten Lichtung der im übrigen zumeist dicht bewaldeten Insel erspäht hatte. Hoffte er doch, von einem dieser Hügel einen Überblick über das ganze Eiland zu erhalten.

Nach einem Marsche von kaum zehn Minuten war der Fuß dieser nackten, ganz plötzlich aus der Ebene herauswachsenden Felsen, die stellenweise sich bis zu einer Höhe von vielleicht fünfzig Meter auftürmten, erreicht. Eine recht anstrengende Kletterpartie brachte den Kapitän und seinen Jungen dann auf die Spitze eines Felskegels, von wo sie nun tatsächlich beim letzten Lichte der Sonne, die gerade hinter einer am westlichen Horizont stehenden schwarzen Wolkenwand verschwand, die Insel vollständig überschauen konnten.

Diese zog sich in Form einer riesigen Bohne fast genau von Nord nach Süd hin und besaß nach Merlings Schätzung eine Länge von drei Meilen bei etwa fünf Kilometer Breite. Rings umgeben von einem Korallenriff-Gürtel, der strahlenförmige Ausläufer unendlich weit in das Meer hinausschickte, die ständig von einer wütenden Brandung umtobt waren, bildete sie anscheinend das südlichste einer Reihe bedeutend kleinerer, vegetationsloser Eilande, die durch das Fernrohr gesehen, wie schwarze, unregelmäßige Flecken in einer Entfernung von vielleicht zwei Meilen aus der See herausragten.

Jetzt konnte der Kapitän auch feststellen, daß die Bucht, in der sie gelandet waren, so tief gerade in der Mitte der Insel in das Land einschnitt, daß diese dadurch fast in zwei gleich große Teile auseinandergetrennt wurde. Weiter bemerkte er, daß dieser Wasserarm hier und da zu seeartigen Becken sich erweiterte, von denen eines einen Durchmesser von gut fünfhundert Meter zu haben schien.

Nach der Rückkehr zum Lagerplatz beeilte Merling sich sehr bei der Mahlzeit, da er trotz der inzwischen hereingebrochenen Dämmerung nochmals nach dem Wrack hinüberzufahren beabsichtigte. Die im Westen stehende dunkle Wolke kündigte offenbar ein neues Unwetter an. Und bevor dieses hereinbrach, wollte er noch schnell noch einen Teil der Tiere nach dem Eiland schaffen und einige Gegenstände holen, die er gut verwenden zu können glaubte. Zwar erhob Frau Hedwig aus Sorge um ihren Gatten gegen dieses bei der bevorstehenden Dunkelheit immerhin nicht ganz ungefährliche Vorhaben allerlei Einwendungen, aber der Kapitän wußte diese schnell zu zerstreuen. So blieben denn die kleine Else mit ihrer Mutter, die eine recht mutige Natur war, in dem Zelte zurück, während die beiden männlichen Mitglieder der Familie das Floß bestiegen und dieses jetzt auch mit Hilfe langer Bambusstangen sowie des inzwischen schon kräftiger gewordenen Windes nach dem Wrack in verhältnismäßig kurzer Zeit hinsteuerten. An Bord angelangt, sorgte Merling zuerst für die bei Eintritt der Nacht notwendige Beleuchtung, indem er die vorhandenen Acetylenlaternen in Ordnung brachte und deren Füllung, das in großer Menge vorhandene Karbid, welches in verlöteten Blechbüchsen aufbewahrt wurde, zum Mitnehmen bereitlegte.

Die Elefanten mußte man notwendig ihrem Schicksal überlassen. Immerhin aber löste Merling die Ketten, mit denen je ein Hinterfuß der jetzt völlig erschöpften Tiere an die Deckplanken gefesselt war, stellte ihnen Trinkwasser hin und schichtete große Haufen Futter in ihrer Nähe auf, damit die riesigen Dickhäuter wenigstens nicht unter Durst und Hunger litten. Mit den übrigen Tieren, die er gern auf der Insel als Mitbewohner haben wollte, machte er sich die Arbeit recht leicht. Die Vögel ließ er fliegen, und die Warzenschweine und Antilopen schaffte er in ihren Behältern einzeln mittelst eines Flaschenzuges an Deck, wo er sie dann dazu zwang ins Wasser zu springen. Mittlerweile hatte sich nämlich die dem Lande zugekehrte Seite des gestrandeten Dampfers soweit übergeneigt, daß zwischen dem Deck und der Wasseroberfläche nur noch eine Entfernung von etwa einem halben Meter bestand. Der Instinkt veranlaßte die Tiere, dem nahen Ufer zuzuschwimmen, das sie auch mit Ausnahme weniger, bereits zu stark von den Sturmtagen mitgenommener Zwergantilopen glücklich erreichten.

Viel Kopfzerbrechen bereiteten dem Kapitän die Strauße, vierzehn an der Zahl, die er nicht gern töten mochte, die anderseits aber auch sehr schwer an Land zu schaffen waren. Dann dachte er daran, daß die Ebbe hier im Indischen Ozean um diese Abendstunde etwa beginnen müsse und daher die zwischen dem Riffgürtel und der Insel liegende Wasserfläche, die ohnehin kaum zweieinhalb Meter Tiefe besaß, in kurzem flach genug sein würde, um den Riesenvögeln ein Durchwaten zu gestatten.

„Lieber Gerd“, wandte er sich nun an seinen Jungen, der ihn brav bei allen Arbeiten unterstützt hatte, „nach Verlauf von einigen Stunden wird das Wasser gut um anderthalb Meter gefallen sein, so daß wir es mit den Straußen genau so wie mit den Antilopen und den Warzenschweinen machen können, die wir zu einer Schwimmtour nach unserem Eiland gezwungen haben. Du weißt wohl schon, daß das Steigen und Fallen der Wasserfläche der großen Meere, das von der Anziehung des Mondes und der Sonne herrührt, mit Ebbe und Flut bezeichnet wird. Während in allen übrigen Meeren die sogenannten „Gezeiten“ – so nennt man diesen Wechsel der Wasserhöhe – zwei Mal in 24 Stunden auftreten, ergibt sich für den Indischen Ozean und die chinesischen Gewässer infolge besonderer Umstände nur eine sogenannte „Eintagsflut“, d. h., die Gezeiten stellen sich nur ein Mal ein. Da nun in Kapstadt an der Südspitze Afrikas die Flut um 1 Uhr 27 Minuten nachmittags ihren höchsten Punkt erreicht, wird hier, wo wir uns auf derselben Höhe mit der Nordspitze Madagaskars befinden dürften, dieselbe Erscheinung etwa eine Stunde später eintreten. Mithin ist an der Küste unseres Eilandes sechs Stunden später mit dem Beginn der Ebbe zu rechnen, das heißt, zur Zeit müßte die Wasserhöhe schon im Abnehmen begriffen sein. Warten wir noch drei Stunden, so wird die Tiefe des Wasserkranzes, der diese Insel umgibt, mindestens um anderthalb Meter abgenommen haben, was vollständig genügt, um den hochbeinigen Straußen einen Spaziergang nach dem Ufer zu erlauben.“

Dann wurden die Affen in vier größere Käfige zusammengesperrt und diese auf das Floß geschafft. Von den Reptilien war, wie schon erwähnt, kein einziges Exemplar dem Tode des Ertrinkens entronnen. Die lebende Fracht der „Wilhelminje“ war also, soweit noch vorhanden, jetzt mit Ausnahme der Strauße geborgen. Nachdem Merling nochmals genau das ganze Schiff nach Dingen, die des Mitnehmens wert und die leicht fortzubringen waren, durchsucht hatte, maß er vom Floße aus mit Hilfe einer Bambusstange an verschiedenen Stellen die Wassertiefe und stellte fest, daß er es jetzt schon ganz gut wagen könne, die Riesenvögel den Fluten zu übergeben. Inzwischen war es so dunkel geworden, daß man nur noch beim Schein der Acetylenlaternen, von denen der kleine Gerhard je eine in jeder Hand trug, arbeiten konnte. Die Strauße mit ihren Käfigen an Deck zu winden, machte bedeutend weniger Mühe als sie dazu zu bewegen, über Bord ins Wasser zu springen. Endlich hatte auch der letzte der Riesenvögel, die ebenso wie die Vierfüßler der Instinkt dem nur noch als dunklen Streifen erkennbaren Lande zutrieb, das Wrack verlassen, und der Kapitän konnte nun selbst an die Rückkehr nach dem Lagerplatz denken, die er nach Kräften beschleunigte, da mittlerweile der Wind an Stärke beängstigend zugenommen und der ganze Himmel mit drohenden, schwarzen Wolkenmassen sich bedeckt hatte.

Freudig begrüßten Frau Hedwig und die kleine Else die glücklich Heimgekehrten, die sofort, nachdem in Eile die Ladung des Floßes weggestaut war, sich auf ihre im Zelte aus Decken bereiteten Lagerstätten ausstreckten und auch bald vor Ermüdung fest einschliefen.

Leider sollte diese erste Nacht auf dem Eiland für die vier Schiffbrüchigen eine recht unruhige und angstvolle werden. Drei Stunden später entlud sich nämlich über der Insel ein Gewitter von einer Heftigkeit, wie man dies nur in den Tropen durchmachen kann. Ungeheure Regenmassen, die die Stelle, auf der das Zelt stand, sehr bald in einen See verwandelten, strömten herab; Donnerschläge, anzuhören wie eine fortdauernde Kanonade aus den schwersten Geschützen, erschütterten die Luft und entlockten den armen Kindern laute Schreckensrufe. Mit umgehängten Decken saß Merling mit den Seinen, da man das Zelt fluchtartig hatte verlassen müssen auf einem nahen Hügel und wartete frierend das Ende des Unwetters ab.

Der Morgen begann zu grauen, und zu gleicher Zeit klärte sich die mit Elektrizität überladene Atmosphäre auf, der Himmel wurde heller und heller, und eine Stunde später begrüßten die schwergeprüften Eltern dankbar die ersten Strahlen der am östlichen Horizont auftauchenden Sonne. Die beiden Kleinen waren inzwischen vor Erschöpfung trotz des unbequemen, feuchten Lagers in das unwirkliche Land der Träume hinübergeschlummert.

Das Schicksal hatte jedoch auch jetzt noch mit dem treusorgenden Familienvater kein Erbarmen. Als der Kapitän dem Orte zuschritt, wo er die von dem Wrack geborgenen Gegenstände aufgestapelt und mit einem großen Segel zugedeckt hatte, sah er schon von weitem, daß nicht der Regen allein sein Habe beschädigt hatte, sondern daß von ihm feindlich gesinnten Menschen in der Dunkelheit der Nacht, wahrscheinlich vor dem Losbrechen des Gewitters, ein großer Teil der wertvollsten Dinge gestohlen worden war. So fehlten sämtliche Kisten mit Konserven bis auf eine, die Fässer mit Schiffszwieback, weiter die drei Gewehre und die Patronenschachteln, der Kasten mit dem Handwerkszeug, die Pakete mit den Nägeln von verschiedener Größe, die beiden Sägen, die Äxte und Beile und die vier Acetylenlampen. Zurückgelassen hatten die Diebe nur zwei Kisten mit Schiffszwiebacken, die Karbid-Blechdosen, drei Säcke mit Reis und einige weitere Säcke, die andere Hülsenfrüchte enthielten, ebenso einen großen Schiffskompaß und verschiedene Instrumente, die der Seemann auf dem Meere notwendig braucht, die dem Kapitän jetzt aber kaum von Nutzen sein konnten.

Die Auswahl, die die Diebe getroffen hatten, bewies Merling, daß es sich hier nicht etwa um unzivilisierte Wilde, sondern vielmehr um Menschen handeln müsse, die ihn gerade der Dinge hatten berauben wollen, mit deren Hilfe er sich hier auf dem Eiland sein Robinsondasein hätte wesentlich erleichtern können. Sofort dachte er an die Tierwärter, von denen er nur zu gut wußte, daß sie ihn wie einen Todfeind, aufgehetzt durch den Franzosen Ribeaux, haßten. Sollten etwa doch einige dieser Leute an jenem furchtbaren Morgen mit dem Leben davongekommen sein und die Insel erreicht haben?! So unwahrscheinlich dies auch den ganzen Umständen nach war, – dieser Diebstahl ließ es nunmehr fast als gewiß erscheinen. – Die Gegenwart der rohen Gesellen auf dem Eiland lud dem Kapitän leider eine neue, schwere Sorge auf. Was er von diesen Menschen zu erwarten hatte, die ihn und die Seinen offenbar heimlich am Tage beobachtet und dann erst in der Nacht ihren Streich auszuführen gewagt hatten, zeigte schon dieses eine Beispiel. In Feindschaft wollten sie mit ihm leben, wollten ihm Schaden zufügen, wo sie dies nur zu tun vermochten. Mithin war er gezwungen, sich fortan vor diesen Elenden, die nicht einmal die Rücksicht auf die beiden Kinder und die leidende Frau von ihrem schändlichen Vorhaben zurückgehalten hatte, sorgfältig in acht zu nehmen, zumal sie jetzt die besten Schußwaffen und die Munition in Besitz hatten, während Merling nur der eine Revolver, den er zum Glück mit ins Zelt genommen hatte, sowie etwa dreißig dazu passende Patronen geblieben waren.

Kein Wunder, daß des Kapitäns Stimmung nunmehr eine recht düstere war. Und sie wurde noch verzweifelter, als er noch das Fehlen des Floßes bemerkte. Dieses konnte sich unmöglich vom Ufer losgerissen haben und davongetrieben sein. Dazu hatte er es zu gut mit einem Tau an einer nahen Palme befestigt. – Freilich – dieser Verlust ließ sich am leichtesten ersetzen, da die Bambusstangen, die in Unmenge auf der Insel wuchsen, das beste Material für ein neues ergaben. – Hiermit suchte er sich selbst zu trösten.

Als er nachher Frau Hedwig die eben gemachte Entdeckung von dem nächtlichen Besuch der heimtückischen Feinde mitteilte, nahm das tapfere junge Weib, dem die Rettung des Gatten und der Kinder aus der Todesnot des Schiffbruches die Hauptsache blieb, diese böse Kunde mit großer Fassung hin. Und sie war es auch, die den bedrückten Sinn ihrs Mannes durch zuversichtliche Worte wieder aufrichtete und nicht etwa durch wehleidigen Kleinmut seine Sorgen noch vergrößerte.

Während der Morgenmahlzeit berieten sie dann, was nun zunächst zu tun sei. Hier am Ufer der Bucht konnte man nicht bleiben. Dazu bot der Ort zu wenig Schutz vor den Unbilden der Witterung und vor rachegierigen Menschen. So mußte es denn Merlings Hauptaufgabe sein, so schnell als möglich für sich und die Seinen einen sicheren Schlupfwinkel zu finden. Bei dem Hin und Herüberlegen fiel dem Kapitän die felsige Hügelkette ein, die mit ihren tiefen Schluchten, schwer ersteigbaren Felsblöcken und zerrissenen Wänden vielleicht ein geeignetes Versteck aufzuweisen haben würde. Und Merling, der überhaupt ein Mann des schnellen Entschlusses war, zauderte auch nicht lange, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Nachdem die Familie sich gesättigt hatte, wurde aus dünneren Bambusstangen, die man mit den bei dem Zeltbau verwendeten Leinen zusammenband, eine Art Schleife hergestellt und darauf der Rest der aus dem Wrack geborgenen Sachen verladen. Nur die vier leeren Affenkäfige – die Tiere selbst hatte der Kapitän gleich nach der Rückkehr von dem Dampfer in Freiheit gesetzt – ließ man vorläufig stehen. Dann spannten sich Eltern und Kinder vor die Schleife und zogen diese mit vereinten Kräften den Hügeln zu.

Drei Stunden später hatte Merling wirklich einen Ort entdeckt, der einen allen Anforderungen entsprechenden Wohnplatz abzugeben versprach. Es war dies ein enormer Felsblock von fünfeckiger Form mit jäh ansteigenden, etwa acht Meter hohen Wänden und einer platten, gut dreißig Quadratmeter großen Spitze, der am Fuße der Hügelkette in der Nähe einer schroffen, aber mit zahlreichen Spalten durchsetzten, etwas niedrigeren Felswand sich erhob, die von der Seite her sich unschwer erklimmen ließ, was der Kapitän auch bei der Suche nach einem passenden Schlupfwinkel getan hatte. Zwischen der Felswand und der Plattform des mächtigen Gesteinblockes lag ein Abgrund von fünf Meter Breite. Diesen gedachte Merling durch eine Art einziehbarer Laufplanke aus Bambusstangen zu überbrücken und aus demselben Material oben auf dem Felsen eine Hütte zu errichten.

Nachdem die gesamte Habe der Schiffbrüchigen in einer nahen Schlucht gut versteckt worden war, begaben sie sich abermals nach der Bucht hin, um aus einem der Bambuswälder möglichst zahlreiche, an den Wurzeln bereits abgefaulte Stangen zu holen. Gleichzeitig suchte Merling loszubrechende Schlingpflanzen, die sich zur Herstellung von festen Tauen eigneten. Mehrmals mußte er mit den Seinen den etwa zehn Minuten weiten Weg zwischen den Felsen und dem Bambusgehölz zurücklegen, ehe man die genügende Anzahl Stangen und Schlinggewächse beisammen hatte.

Bei der Herstellung der Laufplanke half der kleine Gerhard eifrig mit. Um die Mittagszeit war sie fertig, und bei aller Festigkeit und trotzdem sie sogar ein Geländer besaß, war sie infolge des leichten Baumaterials doch von so geringem Gewicht, daß der Kapitän sie nachher an den ihm gebliebenen Leinen bis zur Höhe der Felswand hochziehen und von dieser über den Abgrund auf die Plattform stützen konnte, indem er sie am Rande der Wand aufrichtete und langsam nach vorn umkippen ließ. Als erster ging er dann auf die Plattform hinüber, die er zu einer kleine Festung auszugestalten beabsichtigte. Zu seiner freudigen Überraschung entdeckte er hier, daß sich an einer Seite in dem Gestein ein schräg nach unten gehendes, breites Loch befand, das sich sehr bald zu einer höhlenartigen Ausbuchtung verbreiterte. In gebückter Haltung vermochte man ohne Schwierigkeiten diese Grotte, deren wagerechter Boden bei unregelmäßig viereckiger Gestalt reichlich achtzehn Quadratmeter Flächeninhalt hatte und die mindestens zwei Meter hoch war, zu betreten. Der Kapitän erkannte sofort, daß diese Höhle ein trockenes, geschütztes Schlafgemach abgeben mußte, sobald er über dem Eingang ein den Regen abhaltendes Dach erbaute.

Die Arbeiten, die der Kapitän mit den Seinen an diesem Tage noch verrichtete, im einzelnen zu schildern, würde zu weit führen. Jedenfalls hatte die Familie bei Einbruch der Dunkelheit einen immerhin leidlich behaglichen, dabei aber völlig sicheren Schlafraum zur Verfügung. Ebenso war die Plattform rings mit einem durch schwere Felsstücke gestützten Geländer von Bambusstangen umgeben worden, während die Zugbrücke von dem äußerst praktisch veranlagten Kapitän durch Anbringen von Gegengewichten so eingerichtet war, daß auch der kleine Gerhard sie ohne große Mühe von dem gewaltigen Gesteinblock auf den Rand der Felswand herunterlassen konnte. Selbst einen Herd hatte Merling neben der aus Bambusstangen gebauten Hütte, die für den Aufenthalt während des Tages bestimmt und die mit einem Segel wasserdicht gemacht war, aufgestellt, ebenso wie er es vorsichtigerweise nicht unterlassen hatte, nach der Seite der Felswand hin einen festen Wall aus Steinen aufzuschichten, der die Bewohner dieser Festung genügend gegen heimtückisch abgefeuerte Schüsse deckte.

Den ganzen Tag über hatte die von dem Gewittersturm aufgeregte See ihre schweren Wellenmassen wie Sturmböcke gegen das Wrack der „Wilhelminje“ anprallen lassen. Mit dem Fernrohr, das den Dieben ebenso wie eine der Acetylenlaternen und der Revolver deshalb entgangen war, weil der Kapitän sie die Nacht über im Zelte aufbewahrt hatte, konnte er feststellen, daß der Dampfer noch weiter nach einer Seite umgekippt war und daß bereits ein Teil des Decks im Wasser lag. Die gänzliche Zerstörung des Schiffes konnte daher nur noch eine Frage der Zeit sein.

Nach der gemeinsamen Abendmahlzeit begaben Frau Hedwig und die beiden Kinder sich sofort zur Ruhe. Merling wollte den Rest des Tageslichtes dagegen noch dazu benutzen, die Vorräte sorgfältig wegzustauen. Hierbei hielt er sich jedoch länger auf, als er anfänglich beabsichtigt hatte. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Gerade wollte der Kapitän sich in die Grotte, über deren Eingang jetzt ein auf Stützen ruhendes Dach lag, zurückziehen, als ein heller Feuerschein, der nördlich ihrer Felswohnung am Fuße der Hügel aufleuchtete, seine Aufmerksamkeit erregte. Das Feuer war etwa achthundert Meter entfernt und wurde von Minute zu Minute heller und größer. Nach kurzem Überlegen weckte Merling seine Gattin und den kleinen Gerhard und teilte ihnen mit, daß er vermute, jenes Feuer sei von den Dieben angezündet worden, die ihnen soviel Schaden zugefügt hätten. Er wollte deshalb jetzt gleich jene Leute zu beschleichen suchen, um zu sehen, wer dieselben eigentlich seien.

Trotz der Bitten Frau Hedwigs blieb er bei seinem Entschluß. Bewaffnet mit dem Revolver verließ er über die herabgelassene Zugbrücke das Kastell, wie Gerd den Felsblock poetisch getauft hatte. Hinter ihm wurde die Laufplanke sofort wieder hochgezogen, und Frau Merling und der Knabe wollten bis zu seiner Rückkehr wach bleiben, damit er auf einen vereinbarten Pfiff falls nötig schnell wieder über die bewegliche Brücke den Schlupfwinkel erreichen könne.

Doch drei für Mutter und Sohn endlos erscheinende Stunden verstrichen, ehe der Kapitän, bei dem hellen Sternenschimmer des südlichen Nachthimmels deutlich zu erkennen, auf dem Rande der gegenüberliegenden Felswand wieder auftauchte. Eilig überschritt er jetzt die unter seiner Last sich leicht durchbiegende Zugbrücke. Er hatte drei Gewehre über die Schulter gehängt und trug in der Hand ein paar flache Pappschachteln, die Gerhard an ihrer Form sogleich als die Patronenbehälter erkannte.

Freudig erregt berichtete Merling dann seine Erlebnisse.

„Ohne Mühe gelangte ich bis in die[2] Nähe des Feuers, das auf einer breiten, etwas erhöhten Felsplatte brannte. Schon von weitem bemerkte ich zwei Männer, die sich dort gelagert hatten und immer wieder neues Holz in die Glut warfen. Zu welchem Zweck die Leute – es waren Charles Ribeaux, der Franzose, und der Neger Banso – einen so riesigen Scheiterhaufen unterhielten, ist mir noch jetzt unklar. Endlich streckten sie sich dann, nachdem sie nochmals ein paar halbfaule, dicke Baumstämme nachgelegt hatten, zum Schlafe nieder. Ich wartete geduldig, bis rasselnde Schnarchtöne mir anzeigten, daß ich es wagen durfte, noch weiter vorzudringen. Behutsam schlich ich auf allen Vieren ganz nahe heran und sah nun neben ihnen die Gewehre und die Munition liegen. Die mußte ich wiederhaben! Und wirklich – der Streich gelang! Hier sind die Waffen, die uns jetzt die Schurken schon vom Halse halten werden. – Doch noch weitere Beute brachte mir dieser nächtliche Gang ein. Neben dem Haufen Holz, den die beiden dem Schiffbruch entronnenen Tierwärter zusammengeschleppt hatten, lagen zwei Äxte und zwei Beile, die ich ebenfalls mitnahm, nachher jedoch dort unten am Fuße der Felswand verbarg, da sie mich zu sehr beim Klettern behindert hätten. – So, – nun aber zu Bett! Ich bin todmüde. Und auch Euch, meine Lieben, dürfte die Ruhe sehr nötig sein.“

Kaum hatte Merling das letzte Wort ausgesprochen, als aus der Ferne dumpfe, grollende Laute herüberklangen, die von einer anderen Stelle sofort, aber weit kräftiger, erwidert wurden.

Völlig entgeistert starrte Frau Merling ihren Gatten an. Und nur das Wort „Löwen“ rang sich zitternd über ihre blassen Lippen.

Der Kapitän war schnell an das Geländer der Plattform getreten und schaute suchend in die Ebene hinab, die der inzwischen aufgegangene Mond fast taghell erleuchtete. – Kein Zweifel – es war Löwengebrüll gewesen, was sie eben gehört hatten. Mithin hatten sich mindestens zwei dieser Raubtiere auf das Eiland hinübergerettet, die jetzt, von Hunger getrieben, beutesuchend umherschweiften. – Doch vergeblich strengte er seine Augen an, um etwas von den Bestien zu entdecken. – –

Der Kapitän lag nachher noch lange Zeit wach. Sorgende Gedanken verscheuchten ihm den Schlaf. Er hatte es also nicht allein mit menschlichen, sondern auch mit weit gefährlicheren vierfüßigen Feinden zu tun. Und seine erste Aufgabe mußte es sein, die Löwen möglichst schnell unschädlich zu machen. Zum Glück besaß er ja jetzt die Gewehre, vortrefflich gearbeitete Kugelbüchsen, auf die er sich ebenso wie auf seine sichere, oft erprobte Hand verlassen konnte. – –

Am nächsten Morgen war das Wrack tatsächlich verschwunden. Nur noch Teile der Reling ragten aus dem Wasser hervor. Durch das Fernrohr konnte der Kapitän erkennen, daß der Dampfer offenbar in zwei Teile auseinander gebrochen war. – Da man annehmen konnte, daß die Wellen noch eine ganze Menge von brauchbaren Gegenständen an Land gespült hätten, wollte Merling sogleich mit dem Bau eines neuen Floßes beginnen, um dieses Strandgut bergen zu können. Zusammen mit Gerhard, der eine Axt und ein Beil tragen mußte, begab er sich an die Bucht, deren nächster Punkt von dem Kastell in fünf Minuten zu erreichen war. Mit größter Vorsicht näherte der Kapitän sich, eine der Büchsen stets schußfertig haltend, nach Durchquerung der Ebene einem Palmenwäldchen, das dicht am Ufer der Bucht sich entlangerstreckte. Von den Löwen war jedoch ebenso wenig etwas zu bemerken wie von den beiden Tierwärtern. Unangefochten kamen Merling und der kleine Junge bis an das Wasser.

Hier wartete ihrer eine Überraschung, an die sie auch nicht im entferntesten gedacht hatten. – Mitten in der Bucht lag ihr altes, mit all den gestohlenen Ballen und Kisten beladenes Floß vor Anker. Wie sich später herausstellte, waren als Anker zwei schwere, an Steine gebundene Felsstücke benutzt worden. Auf dem plumpen Fahrzeug aber saß der Neger Banso, ihnen den Rücken zukehrend, und stierte unausgesetzt nach einem Gebüsch hin, das sich am entgegengesetzten Ufer ganz dicht bis an das Wasser heranzog.

Lautlos beobachteten Vater und Sohn den Schwarzen, aus dessen ganzem Benehmen deutlich hervorging, daß dort in jenen Büschen irgend etwas verborgen war, wovor er die größte Furcht empfand.

Jetzt bewegten sich drüben die Zweige, und gleich darauf erschien der Kopf eines männlichen Löwen zwischen den grünen Blättern.

Mit einem Schrei des Entsetzens war der Neger hochgefahren. Da – hinter ihm der scharfe Knall einer Büchse. Merling hatte dem Raubtier auf die geringe Entfernung von etwa dreißig Meter über das Wasser hinüber eine Kugel zugeschickt. – Die Büsche rauschten und brachen. Dann wurde es wieder still. Der Löwe, der unfehlbar getroffen sein mußte, hatte die Flucht ergriffen.

Der Kapitän rief jetzt dem Schwarzen einen Befehl zu, wobei er drohend die Büchse erhob. Und Banso, ein jüngerer Mann von wahrhaft athletischem Gliederbau, gehorchte sofort, zog die beiden Ankersteine empor und brachte das Floß, mit einer Bambusstange schiebend und stoßend, an das Ufer heran, wo Merling und Gerhard ihn erwarteten.

Kaum hatte es am Lande angelegt, als Merling zwischen den Kisten einen menschlichen Körper liegen sah, der mit einem Stück Segeltuch halb bedeckt war. – Banso, im allgemeinen gar kein übler Bursche, der nur allzu sehr unter dem schlechten Einfluß Ribeaux’ gestanden hatte, flehte jetzt zunächst wortreich um Verzeihung wegen des Diebstahls, an dem teilzunehmen er sich lediglich von dem Franzosen hätte verleiten lassen. Demütig versprach er, für die Zukunft der folgsamste Diener zu sein, und berichtete dann die Vorgänge der verflossenen Nacht, die Ribeaux das Leben gekostet hatten.

Die beiden Wärter waren sehr bald gewahr geworden, daß einige der Raubtiere, deren Käfige der Franzose aus blinder Rache geöffnet hatte, unversehrt auf das Eiland gelangt waren. Obwohl sie nun die Gewehre in ihrem Besitz hatten, suchten sie sich bei Eintritt der Dunkelheit doch durch ein Feuer vor einem plötzlichen Überfall durch die Bestien zu schützen. Aber gerade durch den hellen Schein waren zwei Löwen, kurz nachdem Merling die Büchsen wieder an sich gebracht hatte, herbeigelockt worden und unternahmen, durch den Hunger halb toll gemacht, einen Angriff auf die beiden Männer, bei dem Ribeaux sofort von einem der Tiere niedergerissen wurde, während es dem Neger noch gelang einen starken Feuerbrand aus der Glut zu reißen und damit die zwei großen, gelben Katzen zu verscheuchen. Freilich – den Franzosen, dem ein Tatzenschlag die linke Schulter völlig zerfleischt hatte, vermochte er nicht mehr zu retten. Als der Morgen zu grauen begann, schleppte Banso den Schwerverwundeten nach dem Floße hin, das sie in einer der seeartigen Erweiterungen der Bucht unter überhängenden Zweigen versteckt hatten. Doch die Löwen waren ihm schon wieder auf der Spur, und aus Furcht vor den Bestien brachte er das Floß dann eine Strecke weiter in den schmäleren Teil der Bucht hinein. Inzwischen war Ribeaux, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, infolge des starken Blutverlustes verschieden. –

Man merkte dem Neger deutlich an, daß er froh war, sich jetzt dem Kapitän anschließen zu dürfen, der ihm nach sehr ernster Verwarnung das Geschehene nicht weiter nachzutragen versprach.

Zunächst wurde nun die Leiche des Franzosen schnell beerdigt. Nachher sollte der Neger noch Steine auf das Grab schichten, damit die Löwen nicht etwa den Körper wieder herausscharrten. Dann wagte man, jetzt zu dreien, auf dem Floße die Fahrt nach der Strandungsstelle der „Wilhelminje“.

Dicht neben dem tatsächlich mitten durchgebrochenen Dampfer, dessen Trümmer von dem Riff abgerutscht und nach dem Meere hin in tieferes Wasser versunken waren, lagen die Kadaver von drei Elefanten, die in der durch den Gewittersturm erzeugten hohen Brandung umgekommen waren. Im übrigen bot die Strandungsstelle nichts bemerkenswertes dar, und der Kapitän ließ nun das Floß wieder der Küste zutreiben, um hier nach angeschwemmten Gegenständen zu suchen. Man entdeckte dann auch mancherlei, was nachher nach dem Kastell geschafft werden sollte, so zum Beispiel mehrere Matrosenkisten, die allerhand Kleidungsstücke enthielten, weiter die halb im Wasser liegenden, von den Masten losgerissenen Notsegel und eine große Anzahl von Brettern, halb zertrümmerte Türen und Teile der Kommandobrücke.

Dann entdeckte der Neger, der ein recht aufgeweckter Bursche war und der Jagdexpedition der Firma van Zeergen als erprobter Elefantenjäger wertvolle Dienste geleistet hatte, dicht am Strande mehrere tiefe Eindrücke, von denen er sofort mit größter Bestimmtheit behauptete, daß sie nur von den walzenförmigen Füßen von Elefanten herrühren könnten. In seinem verdorbenen Englisch erklärte er Merling ganz aufgeregt, daß diese Spuren den untrüglichen Beweis dafür lieferten, daß nach seiner Ansicht an dieser Stelle mindestens vier der riesigen Rüsselträger das Eiland betreten hätten.

„Wir werden sie einfangen, Massa Merling, und dann müssen sie uns arbeiten helfen“, meinte er ganz begeistert. „Ich verstehe mich auf ihre Dressur. Sie sind leichter zu zähmen als jedes andere in der Freiheit aufgewachsene Tier.“

Etwas weiter nördlich der Bucht fand man nachher noch weitere Elefantenfährten. Mithin schien es so, als ob wirklich mit Ausnahme der drei ertrunkenen Dickhäuter alle übrigen trotz des hohen Seeganges auf die Insel gelangt waren.

Als man dann auf Bansos Vorschlag einigen der Spuren nachging, nachdem das Floß gut am Ufer festgemacht war, stieß man in einem dichten Gebüsch etwa zweihundert Meter von der Küste entfernt auf zwei der gewaltigen Tiere, die offenbar in der Brandung schwer verletzt worden waren und sich jetzt hier krank niedergetan hatten. Sie waren so schwach, daß sie beim Nahen der Menschen kaum die dicken Köpfe erhoben. Furchtlos trat der Neger an sie heran und besichtigte sie ganz eingehend.

„Wenn wir ihnen Wasser und Futter geben, werden sie bald wieder gesund sein und zugleich völlig zahm werden“, behauptete er frohlockend. „Der Elefant ist dankbar und hängt an seinem Pfleger mit größter Treue. Für uns ist es ein Glück, daß diese beiden Tiere vorläufig willenlos in unsere Hand gegeben sind, Massa Merling. Ich will ihre Wartung übernehmen, und Sie werden sehen, daß ich sie am Leben erhalte.“

Der Kapitän hatte hiergegen nichts einzuwenden, drängte jetzt aber doch zur Heimkehr nach der kleinen Felsenfestung, da er befürchtete, daß seine Gattin sich seinet- und Gerhards wegen vielleicht schon Sorgen mache, zumal sie doch sicherlich den einen auf den Löwen abgegebenen Schuß gehört hatte.

Der Rückweg wurde nun ohne Zwischenfall zurückgelegt, das Floß am Ufer der Bucht an einen Baum angebunden und dann der kurze Marsch über die Ebene angetreten. Als man sich dem Felsblock näherte, schwenkte Merling schon von weitem seine Mütze, und sogleich flatterte oben auf der Plattform ein weißes Tüchlein als Antwort.

Banso hatte bereits am Tage vorher beobachtet, wie der Kapitän sich mit den Seinen hier häuslich einrichtete, war aber doch recht erstaunt, als er nun aus nächster Nähe bewundern durfte, was Merling in so kurzer Zeit hier zur Sicherheit seiner Familie geschaffen hatte. Besonders die hochziehbare Laufplanke fand seine höchste, wortreiche und fast komisch wirkende Anerkennung.

Gleich nach der Mittagsmahlzeit brachten Merling und der Neger den beiden Elefanten das nötige Trinkwasser und Futter. Ersteres entnahmen sie einer Quelle, die etwa zweihundert Meter südlich des Kastells aus den Hügeln in Gestalt eines kleinen Bächleins heraustrat. Nachdem vier der Fässer, die bisher Schiffszwieback enthalten hatten, mit dem erfrischenden Naß gefüllt und mehrere große Bündel Gras ausgerauft und zusammengebunden waren, luden sie alles auf das Floß und traten die Fahrt nach der Küste an. Als sie hier ihr Fahrzeug verließen, hörten sie plötzlich die seltsam kreischenden Wutschreie der Elefanten aus dem Gebüsch hervordringen.

Banso lauschte einen Augenblick und flüsterte dann dem Kapitän leise zu …: „Massa – Löwen! – Schnell, sonst kommen wir zu spät!“

Im Laufschritt eilten die beiden dem dichten Buschwerk zu, in das die mächtigen Leiber der Dickhäuter eine breite Bresche gebrochen hatten. Noch wenige Schritte, dann bot sich ihren Blicken ein Bild dar, wie es eigenartiger, anderseits aber auch bezeichnender für die Klugheit der Elefanten kaum sein konnte.

Die beiden kranken Rüsselträger hatten sich dicht nebeneinander, die unförmigen Schädel nach verschiedenen Seiten gerichtet, niedergesetzt, so daß jeder von ihnen imstande war, auch einen Angriff auf die Rückseite des Artgenossen abzuwehren. – Von den Raubtieren war zunächst nichts zu sehen. Regungslos blieben Merling und der Neger daher etwa zehn Meter von der Gruppe entfernt stehen und warteten die weitere Entwicklung der Dinge ab, indem sie die Büchsen schußfertig in den Händen hielten.

So verstrichen einige Minuten. Immer aufs neue ließen die Elefanten ihr markerschütterndes, wütendes Gekreisch hören, während ihre Rüssel sich unruhig hin und herbewegten. Dann schnellten urplötzlich aus dem Gesträuch von der Seite her zwei gelbe Tierkörper in weitem Sprunge hervor, erreichten die beiden Dickhäuter, krallten sich in deren Rücken fest und … bezahlten sofort diesen leichtsinnigen Angriff mit dem Leben.

Blitzschnell hatten die Elefanten sich nämlich lang hingeworfen und rollten mit ihren gewaltigen Leibern sich jetzt über die Löwen hin. Dumpfes Krachen von Knochen, furchtbares, schnell ersterbendes Stöhnen, und alles war vorüber. Die Löwen bildeten nur noch eine breitgedrückte, blutige Masse. Und über ihnen saßen jetzt wieder die schiefergrauen, riesigen Ungeheuer, ließen die Rüssel fast behaglich hin und herpendeln und bewegten wie höhnend die kurzen Quastenschwänze.

Gierig tranken die Elefanten dann das ihnen von den beiden Männern vorgesetzte Wasser, schoben ganze Arme Gras in die Mäuler, kauten gemächlich und ließen sich von Banso, der dabei laut zu ihnen sprach, die Rüssel streicheln.

Der Neger frohlockte. „In acht Tagen habe ich sie völlig zahm, Massa. Jetzt werde ich ihnen noch die Wunden reinigen, die ihnen die Krallen der Bestien gerissen haben. Dann können wir gehen. Aber zur Nacht müssen sie nochmals Wasser und Futter erhalten.“

Auf der Rückfahrt legte Merling an jener Stelle der Bucht an, wo der Löwe, der es auf das Floß abgesehen gehabt hatte, durch seinen Schuß verjagt worden war. Die Fährte des Raubtieres, auf der sich reichlich schaumiger Schweiß (Blut) vorfand, war leicht zu verfolgen. Dreihundert Meter von dem Ufer der Bucht entfernt sahen die beiden Männer dann den Löwen verendet liegen. Die Kugel hatte ihm etwas von seitwärts die Lunge durchbohrt und auch das Rückgrat gestreift. Daß die Lunge getroffen war, hatte Merling schon an dem hellfarbigen, blasigen Schweiß erkannt, trotzdem aber kaum erwartet, die Bestie bereits tot vorzufinden, da Lungenschüsse bei den großen Katzenarten nur höchst selten eine entscheidende Wirkung haben. Bei der weiteren Untersuchung des Kadavers fand er dann jedoch, daß dem Löwen, offenbar beim Durchschwimmen der Brandung, schon vorher ein paar Rippen gebrochen und dadurch die Leber und die Nieren mit verletzt worden waren. – Die Felle der drei Löwen brachte Banso dann noch an demselben Nachmittag in Sicherheit, bevor die zahlreich auf der Insel vorhandenen Ameisenarten sich über die Kadaver hermachen konnten, reinigte sie sorgfältig, gerbte sie kunstgerecht und überreichte sie Frau Hedwig nachher als Geschenk.

Gleich am folgenden Tage wurde dann, nachdem man annehmen konnte, daß die auf das Eiland gelangten Raubtiere beseitigt waren, mit dem Bau eines bequemen Wohnhauses begonnen. Dieses errichtete man aus Bambusstangen und Brettern auf einem Hügel in der Nähe der seeartigen Erweiterung der Bucht, umgab es mit einem festen Zaun und versah es mit der Zeit mit allen notwendigen Einrichtungsgegenständen, bei deren Herstellung der Neger ein besonderes Geschick verriet. Diese Arbeit nahm eine volle Woche in Anspruch. Dann konnte das neue Heim, neben dem auch ein kleiner Vorratsspeicher sich erhob, bezogen werden. An demselben Tage bereitete Banso der Familie Merling insofern noch eine unerwartete Überraschung, als er um die Mittagszeit plötzlich verschwand und mit den beiden inzwischen ganz zahm gewordenen Elefanten eine Stunde später vor der kleinen Niederlassung, stolz auf einem der Tiere reitend, erschien.

In den folgenden Wochen beschäftigten sich unsere Ansiedler mit einer ganzen Reihe von Arbeiten, die notwendig waren, um sich ihre Lebensführung behaglicher und bequemer gestalten zu können, dann aber auch, um dem Mangel an bestimmten Lebensmitteln vorzubeugen. So wurde aus dem Floß ein tragfähiges, leichter zu lenkendes Flachboot gezimmert, ferner aus Bambusstangen, bei denen man die Aststellen durchbrannte und die man so zu haltbaren Röhren umgestaltete, eine Wasserleitung angelegt, die das gesunde Wasser der Quelle bis zu dem Wohnhause hinleitete. Dann mußte der Neger wieder mit Hilfe der Elefanten, die vor zwei starke, aus eisernen Schiffsplatten geschmiedete Pflüge gespannt wurden, einen Teil der Ebene in ein bestellbares Feld verwandeln, das nachher in einzelne Schläge zerlegt und mit verschiedenen Getreidearten und Hülsenfrüchten besät wurde.

So lebten die fünf Menschen, die das Schicksal auf dieses einsame, fernab von jedem Verkehr liegende Eiland verschlagen hatte, in ungestörtem Frieden zwei Monate dahin. Banso, der zuerst in dem Vorratsspeicher hatte wohnen müssen, war mittlerweile, da er sich als ebenso fleißig wie anhänglich erwies, ein kleiner Raum in dem Wohnhause angewiesen worden, eine Anerkennung seiner Leistungen und seiner guten Charaktereigenschaften, über die er sich gar nicht genug freuen konnte. Frau Merling und die Kinder hatten sich hier in dem gesunden, wenn auch heißen Klima – das Thermometer schwankte zumeist zwischen 22 und 30 Grad – recht bald erholt. Besonders der kleine Gerhard, der sich vor keiner Arbeit scheute und sich den ganzen Tag über im Freien bewegte, gedieh prächtig. Er war der ausgesprochene Liebling der beiden Elefanten, die er täglich aus ihrem neben dem Vorratshause errichteten Stalle auf die Weide führte, wobei er stets abwechselnd einmal den größeren Hans, dann wieder den zierlicheren Fritz ritt. Die mächtigen Dickhäuter gehorchten ihm aufs Wort, hoben ihn mit dem Rüssel auf den eigenen, breiten Nacken und trompeteten fröhlich, wenn er ihnen hin und wieder einen Leckerbissen in Gestalt einer Hand voll Reiskörner hinhielt.

Von einheimischen Tieren hatten die Einsiedler bisher nur verschiedene Vogelarten, Geckos und Chamäleons feststellen können; Säugetiere fehlten bis auf Fledermäuse gänzlich. Dann entdeckte der Kapitän einmal bei einem Ausfluge nach dem Südufer der Insel am dortigen Strande eine ganze Menge von Schildkröten, von denen später mit dem Boot eine Anzahl nach der Bucht geschafft wurde, um diese mit den ihres Fleisches wegen geschätzten Tieren zu bevölkern. – –

Ende August waren dann die Felder zum ersten Mal erntereif. Der Ertrag der Äcker übertraf des Kapitäns kühnste Erwartungen. Auch dieses günstige Ergebnis hatte man zum großen Teil dem Neger zu verdanken, der in seinem Leben schon sehr weit herumgekommen war und für die Felder eine sehr einfache, aber außerordentlich wirksame Bewässerungsmethode mittels großer Schöpfräder eingerichtet hatte, die von den Elefanten spielend leicht gedreht werden konnten. Den zuerst recht primitiven Mechanismus dieser Schöpfanlage hatte Merling sehr bald wesentlich verbessert, nachdem es ihm mit Bansos Hilfe gelungen war, beim tiefsten Stand der Ebbe von dem Wrack die Zahnräder der Anker- und der Dampfwinde loszubrechen und in die Schöpfanlage einzubauen.

Die reiche Ernte machte ein zweites Vorratshaus nötig, das in einer Woche fertiggestellt war. Inzwischen hatte der Kapitän auch eine Getreidemühle errichtet, die ebenfalls von den Elefanten in Gang gesetzt wurde, ferner einen Backofen und am Strande eine Anlage zur Salzgewinnung. Diese bestand lediglich aus einem sehr großen, flachen Holzkasten, der mit Seewasser gefüllt wurde. Unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen verdunstete das Wasser sehr schnell, und auf dem Boden des Kastens blieb dann regelmäßig eine dünne Schicht von Salzkristallen zurück, die sorgfältig gesammelt wurden. Freilich, das so erlangte Salz war keineswegs rein, besaß viel mehr eine ganze Anzahl chemischer Beimischungen entsprechend der Zusammensetzung des Meereswassers, wodurch der Geschmack wesentlich beeinträchtigt wurde. Doch die Ansiedler gewöhnten sich schließlich daran, da diese Speisenwürze noch immer besser als gar keine war.

Bei steter, nicht allzu anstrengender Arbeit fühlte sich der Kapitän mit den Seinen auf dem Eiland recht wohl. Trotzdem vergaß er nicht dafür zu sorgen, daß etwa vorrüberkommenden Schiffen angezeigt würde, daß sich auf der Insel Leute befänden, die gern in bewohnte Gegenden zurückkehren wollten. Zu diesem Zweck hatte er an verschiedenen, von weitem gut sichtbaren Stellen des Strandes und auch der höchsten Erhebung der Hügelkette Flaggenmasten aufgestellt, deren aus Segeltuch von Frau Hedwig genähte Fahnen notwendig die Aufmerksamkeit vorbeifahrender Schiffe erregen mußten. Bisher war ein Erfolg jedoch ausgeblieben. So oft Merling auch mit dem Fernrohr den ganzen Horizont absuchte, – nicht einmal die Rauchsäule eines fernen Dampfers hatte er zu erspähen vermocht.

Anfang Oktober trat dann ein Ereignis ein, das beinahe die traurigsten Folgen für die Familie Merling gehabt hätte.

Nachdem tagelang ein schwerer Sturm gewütet hatte, der das Wrack völlig zerschlug und wieder eine große Menge von allerlei Gegenständen an das Ufer schwemmte, klärte sich das Wetter eines Morgens auf, so daß der Kapitän in Begleitung seines Sohnes mit dem Boot nach der Brandungsstelle zu fahren beschloß, um die Küste nach angetriebenen Brettern abzusuchen und diese zu bergen.

Gegen elf Uhr vormittags langten sie bei dem Wrack an, sahen, daß von diesem eigentlich nur noch die zertrümmerten, eisernen Bordwände und die dick mit Rost überzogene, jetzt in dem klaren Wasser deutlich sichtbare Maschine vorhanden war, und machten sich dann, nachdem sie das Boot am Strande gut festgelegt hatten, an die Arbeit, schleppten Balken, Bretter, losgerissene Türen, zerbrochene Tische, – kurz, alles was sie fanden, ein Stück ins Innere des Eilandes hinein und schichteten es dort zu einem Haufen auf. All diese Dinge sollten die Elefanten nachher auf einer großen Schleife nach der Ansiedlung bringen. Und so eifrig waren Merling und Gerhard tätig, daß sie gar nicht darauf achteten, wie die See heute längst über den höchsten Punkt der gewöhnlichen Fluthöhe gestiegen war. Erst ein das Brandungsgeräusch übertönendes donnerndes Brausen ließ den Kapitän plötzlich aufschauen.

Matt sanken ihm da die Arme herab, und jeder Blutstropfen wich aus seinem Gesicht; denn dort von Südost näherte sich eine schäumende, riesige Wasserwand, die kaum noch vierhundert Meter entfernt war, mit unheimlicher Geschwindigkeit der Insel. Und dieser Wasserberg, der in langer Linie von Horizont zu Horizont zu reichen schien, mußte gut eine Höhe von zwölf bis fünfzehn Meter haben.

Jetzt kam ein gellender Schrei über Merlings Lippen …

„Die Springflut …!!“ – Und schon hatte er die Hand seines Kindes ergriffen und rannte mit diesem in wilder Flucht dem Inneren des Eilandes zu.

Es war eine Jagd um das Leben. Das wußte er nur zu gut. Blindlings durchbrachen sie das Gebüsch, durcheilten ein Palmenwäldchen, durchquerten in mächtigen Sätzen eine Lichtung und strebten einem Hügel zu, der mit riesigen Kokospalmen dicht bestanden war.

Hinter ihnen aber wälzte sich die Wassermasse der Springflut immer näher mit Toben und Brüllen wie eine Legion wilder Bestien heran.

Jetzt hatten sie den Hügel erreicht, jetzt duckten sie sich hinter drei dicht nebeneinander stehenden Bäumen zusammen, umklammerten diese mit den Armen.

Da hatte die Wasserwand, die inzwischen durch die sich ihr auf dem Lande entgegenstellenden Hindernisse bereits um ein Beträchtliches abgeflacht worden war, sie erreicht. Gurgelnd hüllte das gierige Element sie ein, drohte sie mit fortzureißen. Endlos lange bedeckte das Wasser sie vollkommen. Schon drohten ihnen die Sinne zu schwinden, schon lockerten sich ihre Arme, als ein frischer Luftzug über ihre nassen Gesichter hinwehte und sie die Augen wieder zu öffnen wagten. Noch reichte ihnen das Wasser bis an den Hals; aber ebenso schnell wie es gekommen, verlief es sich auch wieder. Und keine zehn Minuten später deuteten hier nur noch die in weite Seen verwandelten Niederungen auf das furchtbare Naturereignis hin, unter dem gerade dieser Teil des Indischen Ozeans besonders schwer, wenn auch selten, zu leiden hat.

Und wieder eine halbe Stunde nachher machten Vater und Sohn nach innigem Dankgebet für ihre glückliche Errettung sich voll neu erwachter Sorgen um die in der Niederlassung Zurückgebliebenen zu Fuß auf den Rückweg. – Soweit es sich übersehen ließ, waren die Zerstörungen, die die Springflut angerichtet hatte, lange nicht so bedeutend, als Merling es gefürchtet hatte. Gewiß, geknickte Bäume traf er in Menge an, aber das war auch der einzige Schaden, den die schnell vorbeiziehende Flutwelle in diesem Teile des Eilandes verursacht hatte.

Als Seemann war der Kapitän mit den Eigentümlichkeiten einer Springflut genügend vertraut, um den kleinen Gerhard kurz darüber aufklären zu können.

„Die von der Anziehung von Mond und Sonne herrührende Gezeitenwelle, durch die der Unterschied zwischen Ebbe und Flut entsteht, fällt am höchsten aus, mein lieber Junge, wenn beide Gestirne in gemeinsamer Richtung wirksam sind. Dies ist der Fall zur Zeit des Voll- und Neumondes. Treten nun in diesen kritischen Tagen, wo die Flut ohnehin stärker als sonst ist, noch besondere Windverhältnisse ein, die das Wasser in Richtung der Gezeitenströmung zusammentreiben, so werden die Wassermassen zu einem förmlichen Wall, wie wir ihn eben gesehen haben, aufgetürmt, der sich mit großer Schnelligkeit vorwärtsbewegt und den man „Springflut“ nennt. Diese erreicht zuweilen eine Höhe bis zu zwanzig Meter und hat schon namenloses Unglück angerichtet. Besonders die französische Insel Reunion, die etwa 120 Kilometer südwestlich von unserem Eiland liegen dürfte, ist dadurch schon wiederholt aufs schwerste heimgesucht worden. Hoffen wir, daß das Unheil unsere Ansiedlung verschont hat und daß wir die Mutter, Else und auch den braven Banso gesund und munter vorfinden.“

Unwillkürlich beschleunigten sie jetzt ihre Schritte noch mehr. Als sie sich nun dem See näherten, auf dessen anderer Seite die Baulichkeiten der kleinen Niederlassung lagen, atmete Merling wie von einer furchtbaren Last befreit erleichtert auf. Sah er doch, daß die Springflut nur noch mit ihren letzten Ausläufern bis hierher gelangt war. – Gleich darauf holte der Neger sie auf einem Bambusfloß herüber, und mit einem Jubelruf schloß der Kapitän sein Weib und sein Töchterchen in seine Arme. – –

Die nächsten Monate vergingen ohne besondere Ereignisse. Im Dezember begann die Regenzeit, die bis März anhielt und unsere Ansiedler zumeist in dem Wohnhause zu bleiben zwang. Diese ungemütliche Zeit, die hier den deutschen Winter vertrat, benutzte Merling dazu, seine Kinder regelmäßig an jedem Tage zu unterrichten, wobei als Schreibtafeln flache, auf Brettchen gegossene Wachsscheiben (wilde Bienen gab es sehr zahlreich auf der Insel) Verwendung fanden. Auch Banso nahm an diesen Schulstunden teil, um seine Kenntnisse zu erweitern.

Das Frühjahr brachte dann neue Arbeit. Da auf dem Eiland außer Kaffee- auch Vanille-, Kakao-, Tabak- und Gewürznelkenpflanzen vorkamen, beschloß der Kapitän, all diese Produkte plantagenmäßig anzubauen, zumal er von seinem Aufenthalt in Deutschostafrika her mit der Anlage solcher Pflanzungen einigermaßen vertraut war. Auf diese Weise erweiterte sich die Tätigkeit der unfreiwilligen Kolonisten um ein Bedeutendes. Arbeit gab es jetzt in Hülle und Fülle. Aber reicher Segen lohnte dafür auch die fleißigen Ansiedler, deren Vorratshäuser bei Beginn der nächsten Regenzeit mit sorgfältig aufbewahrten, wertvollen Ernteerzeugnissen ihrer Felder und Kulturen gefüllt waren.

Zwei weitere Jahre verstrichen so. Inzwischen hatte es sich als notwendig erwiesen, die Warzenschweine, die sich stark vermehrt hatten und durch Aufwühlen der Äcker viel Schaden anrichteten, sämtlich abzuschießen. Auch die Elefanten, bei denen sich gleichfalls Nachwuchs eingestellt hatte, wären aus Nützlichkeitsgründen beinahe demselben Schicksal verfallen, als am 16. Oktober 1907 ein holländischer Kreuzer, der eine Vermessungsfahrt unternahm, vor der Insel erschien und damit in die bisherigen Verhältnisse der Ansiedler einen völligen Umschwung hineinbrachte.

Der Kapitän des Kriegsschiffes, der aus den Seekarten feststellte, daß bisher keine Nation Eigentumsrechte an der kleinen, entlegenen Insel erhoben hatte, nahm von ihr im Namen seiner Regierung Besitz und schloß mit Merling als deren Entdecker einen lebenslänglichen Vertrag ab, demzufolge dieser das alleinige Nutzungsrecht des Eilandes gegen eine geringe Pacht erhielt. Jetzt schon nach Deutschland zurückzukehren, lag nämlich keineswegs in Merlings Absicht, da er eingesehen hatte, daß er, wenn ihm genügend Arbeiter zur Ausnutzung des fruchtbaren Landes zur Verfügung standen, in kurzer Zeit ein reicher Mann werden müsse.

Zwei Monate später trafen dann auf einem Dampfer fünfzig schwarze Arbeiter mit ihren Familien, die Merling zunächst für zwei Jahre verpflichtet hatte, auf dem Eiland ein. Dasselbe Schiff brachte außerdem eine Menge der verschiedenartigsten Dinge, – Maschinen, Kleidungsstücke, Ackergeräte usw. mit, die der Kapitän bestellt hatte, und nahm dafür als Ladung sowohl die inzwischen eingefangenen wilden Elefanten und Strauße, als auch die eingeernteten Vorräte mit, wodurch Merling sofort ein schönes Stück Geld verdiente.

Die Kolonie blühte, ohne von schweren Katastrophen je heimgesucht zu werden, in kurzem in einer Weise auf, daß Merling sich genötigt sah, auch Europäer als Aufseher, Buchhalter und Maschinisten anzustellen. Schon im Jahre 1909 besaß er zwei eigene Frachtdampfer, die den Verkehr mit Europa vermittelten. Und wieder vier Jahre später trat er seine Rechte an der Insel und seinen gesamten Plantagenbetrieb gegen eine hohe Summe an einen Holländer ab, da er jetzt vermögend genug war, um nach dieser Zeit angestrengtester Arbeit in der deutschen Heimat behaglich weiterleben zu können.

Zielbewußte Schaffensfreude, auf der der Segen Gottes ruhte, hatte so den Untergang der „Wilhelminje“ für den Kapitän und seine Familie zum Ausgangspunkt eines neuen, erfolgreichen Lebensabschnittes werden lassen.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Verlagswerbung:

 

Urteile maßgebender Personen über die „Erlebnisse einsamer Menschen“.

Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:

„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“

Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:

„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“

Herr Rechtsanwalt H. in F.:

„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“

Herr Direktor G. in W.:

„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“

Herr Lehrer B. in B.:

„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“

Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:

„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“

 

 

Das Leben und Treiben derjenigen Menschen, welche durch das Schicksal in einsame Gegenden verschlagen wurden, hat von jeher das Interesse der Mitmenschen erregt. Mit welcher Begeisterung sind nicht die Erlebnisse eines Robinson Crusoe, eines Nordenskjöld u. a. von Millionen Menschen gelesen worden. Und mit vollem Recht, denn derartige Erzählungen wirken durch ihren gehaltvollen Inhalt stets befruchtend auf den Geist der Leser.

Bei der Herausgabe unserer

Erlebnisse einsamer Menschen

leiten uns ähnliche Motive. Die Notwendigkeit eines gehaltvollen, billigen, spannenden und trotzdem nach jeder Richtung einwandfreien Lesestoffes kann nicht bestritten werden. Unsere „Erlebnisse einsamer Menschen“ sollen auf die Phantasie durch eine lebhafte Handlung bildend wirken, dann aber den praktischen Sinn wecken und in nie ermüdender Weise die Kenntnis fremder Länder und seltsamer Naturerscheinungen erweitern. Wir glauben unsere Aufgabe voll und ganz gelöst zu haben wie uns die Urteile einer ganzen Anzahl wirklich urteilsfähiger Personen vieler Berufe und Stände, denen wir einige Hefte vorlegten und von denen wir einige umseitig abdrucken, bestätigen.

Die „Erlebnisse einsamer Menschen“ erscheinen wöchentlich in abgeschlossenen Bändchen mit künstlerischem, dreifarbigem Umschlagbild zum Preise von nur 10 Pfg. Sie sind durch jede Buchhandlung zu beziehen, bei Voreinsendung des Betrages auch durch den

Verlag moderner Lektüre, Berlin, Dresdenerstraße 88/89.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S 14.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Flosse(s)“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher alle Vorkommen geändert auf „Floße(s)“.
  2. In der Vorlage steht: „der“.