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Der Bimssteinberg

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Bimssteinberg.

 

W. Belka.

 

Karl Kerstens Tagebuch.

„Der Federkiel, mit dem ich schreibe, stammt von einer Wildgans, die ich vor drei Tagen erlegt habe. Die Tinte ist jedoch nicht eigenes Erzeugnis. Und das Papier …? – Es ist grobfaserig, vergilbt und gehört mit zu den Sachen, die ich …

Doch nein! Wo ich es fand, will ich erst später an geeigneter Stelle erwähnen. Alles, was ich bisher erlebt habe, soll der Reihe nach erzählt werden.

Ich bin heute – nach meiner Rechnung haben wir den 8. oder 10. Mai 1908 – genau fünfzehn Jahre zwei Monate alt. Mein Name ist Karl Gottfried Reinhold Kersten. Ich stamme aus Hamburg. Dort wohnten meine Eltern, die ein Ausrüstungsgeschäft für Seeleute besaßen, zuletzt in der Hafengasse. Dieses „zuletzt“ war der 15. April 1907, der Tag, an dem ich heimlich davonlief.

Wie bitter habe ich diesen Ungehorsam und diese Eigenmächtigkeit bereuen müssen …

In einer der ältesten deutschen Seestädte dicht an den riesigen Lagerhäusern von Weltfirmen aufgewachsen, deren Schiffe hier jeden Tag mit kreischenden und rasselnden Winden und schreienden Arbeitern ihre Ladungen löschten, von Jugend an auf der breiten Elbe im Ruder- und Segelboot zu Hause, nicht minder auf den großen, am Bollwerk vertäuten Fahrzeugen aller Art, wurde meine Phantasie bereits als Kind durch die Erzählungen der in unserem Geschäft verkehrenden Seeleute von den Schönheiten fremder Länder stark angeregt und in mir die Sehnsucht nach dem Meere geweckt.

Meine Eltern jedoch hatten anderes mit mir vor. Durch Fleiß und Sparsamkeit war mit den Jahren ein gewisser Wohlstand in unser Haus gekommen. Ich sollte studieren. Meines Vaters Herzenswunsch war es, mich dermaleinst als Richter oder Arzt zu sehen, obwohl ich nur noch eine jüngere Schwester besitze und mithin niemand da war, der die alte Firma Friedrich Kersten hätte fortführen können.

Als ich merkte, daß der Seemannsberuf mir verschlossen bleiben würde, tauchte sehr bald in mir der Gedanke auf, dem Willen meiner Eltern zu trotzen und mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich war der Schule überdrüssig geworden. Obwohl für meine Jahre sehr kräftig entwickelt, besaß ich doch noch nicht die geistige Reife um einzusehen, daß das Wort der alten Römer „Non scholae, sed vitae discimus“ (Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir) eine der vielen Wahrheiten darstellt, deren tiefen Sinn der Knabe so ungern begreifen will. Ich glaubte, daß es lediglich unseren Lehrern ein Vergnügen bereitete, unsere jungen Köpfe mit allerlei von uns für sehr unnötig erachteten Weisheiten vollzupfropfen.

Ohne daran zu denken, welchen Schmerz ich den Meinen dadurch zufügte, ging ich eines Tages auf und davon.

Heute, wo der härteste Kampf ums Dasein, den vielleicht je ein Mensch in meinen Jahren ausgefochten hat, mich innerlich schnell ausreifen ließ, begreife ich meine damalige Handlungsweise kaum mehr. Wie konnte ich nur die Tränen meiner gütigen Mutter, den Gram meines strengen, fleißigen Vaters vergessen, die ich durch meine Flucht heraufbeschwor! – Aber damals war die Abenteuerlust eben stärker in mir als alle Bedenken. Ich hatte einen Kapitän kennen gelernt, der eine eigene, schmutzige, kleine Brigg besaß. Daß dieser Portugiese, der so ziemlich sämtliche lebenden Sprachen beherrschte, größtenteils betrunken war, störte mich weder noch warnte es mich.

Jedenfalls verließ ich auf der „Isabella“ am 15. April morgens in aller Frühe Hamburg. Ein Schlepper brachte uns bis zur Elbmündung, wo wir dann unter eigenen Segeln Kurs nach Rotterdam nahmen.

So lange wir uns noch in europäischen Gewässern befanden, behandelte der Kapitän Porfirio Altesta mich noch halbwegs anständig. Als dann aber die englische Westküste hinter uns verschwand und der Atlantische Ozean uns auf seinen langen Wogen schaukelte, war ich für ihn nichts als der armselige Schiffsjunge der „Isabella“, an dem er in der Trunkenheit ungestraft seinen Hang zu Roheiten auslassen konnte.

Was ich während der vier Wochen, die wir dazu gebrauchten, um wieder Land in Sicht zu bekommen, seelisch und körperlich gelitten habe, ist kaum zu schildern. Diese Erinnerungen werden wohl stets die traurigsten meines Lebens bleiben.

Bereits nach der ersten Woche trug ich mich mit Fluchtgedanken.

Am 22. Mai kamen wir bei anbrechender Abenddämmerung ziemlich dicht an einer sandigen Landspitze vorüber, die, wie ich glaubte, zu einer der Bahama-Inseln gehörte. Wir hatten damals nur schwachen Wind, obwohl die dichten Wolken und das Wetterleuchten am östlichen Horizont das Nahen eines Sturmes ankündigten.

Am Nachmittag hatte der Kapitän einen Schaden am Stern des Schiffes ausflicken lassen. Zu diesem Zweck war die Jolle zu Wasser gelassen worden, die man aus Bequemlichkeit nach Erledigung der Arbeit nicht sofort wieder an Deck hißte.

In dem kleinen Boot entfloh ich gegen neun Uhr abends. Altesta und die meisten Matrosen, alles schlimmes Gesindel, waren wieder einmal betrunken. Nur durch diesen Umstand begünstigt, gelang es mir, in die Jolle unbemerkt hinabzuklettern und auch bald außer Sicht der Brigg zu kommen.

Eine starke Strömung führte mich dann jedoch an der Landspitze vorüber. Nachdem ich diese hinter mir hatte, sah ich erst, daß ich nicht den Teil einer Insel, sondern lediglich eine Menge ziemlich hoher, vollständig kahler Sanddünen vor mir hatte, hinter denen ich in der schnell zunehmenden Dunkelheit undeutlich zusammenhängendes Land zu erblicken glaubte. Während ich noch nach einer Durchfahrt zwischen den Sandbänken suchte, brach auch schon das Unwetter mit Regengüssen, orkanartigen Windstößen und flammenden Blitzen los. Endlich entdeckte ich die ersehnte Durchfahrt, trieb die Jolle hinein und landete zehn Minuten später, nachdem ich das kleine Boot mühsam durch sumpfiges, stellenweise auch mit einer schwimmenden Pflanzenschicht bedecktes Wasser hindurchgerudert hatte, bis auf die Haut durchnäßt, mit blasenbedeckten Händen und völlig erschöpft an dem Ufer einer aus Sandbergen bestehenden Küste, wo ich dann, die aufs Land gezogene Jolle als Schutz gegen den Regen und Sturm benutzend, bald vor Ermattung einschlief.

Als ich erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Das Unwetter war vorüber. Nur draußen hörte ich noch die Wogen donnernd gegen die Sandbänke branden, die mir jedoch die Aussicht nach dem Meere hin völlig versperrten.

Neu gekräftigt durch den langen, tiefen Schlaf sah ich mich zunächst in der Nähe des Strandes nach etwas Eßbarem um, denn Hunger und Durst quälten mich gewaltig. Am Ufer fand ich zwar eine Menge Muscheln und Schnecken, scheute mich aber doch sie zu verzehren, da ich fürchtete, daß sie giftig sein könnten.

Bei dieser Suche nach Nahrungsmitteln entfernte ich mich unwillkürlich immer weiter von der Jolle. Die Sandberge des Ufers zeigten hier und da tiefe Einschnitte und gewährten mir einen Einblick in das Innere des Küstenstriches. Was ich dort sah, war mehr als trostlos. Kein Baum, kein Strauch weit und breit. Nur bescheidene, halb verdorrte Gräser, denen erst der Regen der verflossenen Nacht einen Anflug von Grün verliehen hatte, wuchsen an einigen Stellen.

Das Land hinter den sandigen Hügeln war flach. Nur in der Ferne bemerkte ich eine Kette im Sonnenlicht hell schimmernder Erhebungen. Beachtenswerter erschien mir aber ein in der Mitte dieser Ebene emporragender einzelner Hügel, der wie ein riesiger Buckel aus der kahlen Sandtenne herauswuchs. Zu gern hätte ich ihn sofort aufgesucht, um von seiner Spitze aus einen besseren Überblick über das Land zu gewinnen. Doch der Hunger trieb mich wieder an das Ufer zurück. Hatte ich doch bemerkt, daß zahlreiche Wasservögel auf den kleinen Moorinselchen nisteten, die zwischen dem Strande und der äußeren Dünenkette lagen und die offenbar nichts anderes waren als besonders feste Teile der verfilzten Pflanzendecke, die auf dem schmutzigen, grünlichen Wasser dieser Lagune lagerte.

Eins dieser Inselchen, das keine dreihundert Meter entfernt war und auf dem sogar Schilf und weidenähnliche Sträucher wuchsen, gedachte ich nun mit Hilfe der Jolle zu erreichen.

Ich kehrte daher nach dem Punkte zurück, wo ich noch mein kleines Boot wieder vorzufinden hoffte … Aber – es war verschwunden …! – Kaum eine halbe Stunde konnte ich nach meiner Schätzung fortgewesen sein, und doch hatten mir inzwischen irgend welche Leute die Jolle entführt. Mein erster Gedanke war der, daß die Besatzung der „Isabella“ das Boot sich zurückgeholt haben könnte. Hatte ich doch diesem Platz längere Zeit aus den Augen verloren, als ich in den Uferbergen umherwanderte.

Suchend ließ ich meine Blicke jetzt umherschweifen. Waren die Leute der „Isabella“ wirklich hier gewesen und dann mit meiner Jolle im Schlepptau eiligst wieder davongerudert, so mußten sich noch irgend welche Spuren ihrer Anwesenheit, Fährten und der Eindruck der Spitze ihres Bootes im Ufersande, vorfinden.

Ich bemerkte denn auch tatsächlich verschiedenes, das mich recht stutzig machte.

Der Sand war in seiner Oberschicht noch regenfeucht und hatte deshalb die Abdrücke der Füße eines zweibeinigen Wesens in scharfen Umrissen angenommen, das sich offenbar an der Jolle zu schaffen gemacht hatte. Es mußte wohl ein Mensch gewesen sein. Aber die Fährten sahen auch wieder so merkwürdig aus, hatten eine so runde, mehr bärentatzenähnliche Form, daß ich in meiner Annahme, sie könnten von einem Menschen herrühren, sehr unsicher wurde.

Diese sonderbaren Fußspuren waren es jedoch nicht allein, die mir zu denken gaben. Dort, wo ich das kleine Boot ein Stück aufs Land gezogen und darunter genächtigt hatte, fand ich sie sehr kräftig ausgeprägt. Dasselbe war mit einer tiefen Rinne der Fall, die der Kiel in den Sand nach dem Wasser zu eingeschnitten hatte. Vom Abend vorher rührte diese Rinne nicht her. Da hatte ich die auf der Seite liegende Jolle mühsam auf das Trockene gezerrt, so daß eine flache, breite Bahn entstanden war. Eins war mithin klar erwiesen: das Geschöpf mit den breiten Klumpfüßen hatte mein Boot auf dem Kiel ins Wasser geschleift, wozu eine recht erhebliche Körperstärke gehörte, und war darin davongerudert.

Schließlich fiel mir aber noch neben der Rille eine Stelle auf, wo anscheinend mit einem der Ruder der Jolle, die ein recht breites Blatt gehabt hatten, eine ganze Menge Sand ausgehoben war, so daß sich ein breites mit Grundwasser halb gefülltes Loch gebildet hatte. Unerklärlich war, wo das merkwürdige Wesen, welches dieses Loch doch nur ausgehoben haben konnte, den Sand gelassen hatte.

Mich mit dieser Frage näher zu beschäftigen, dazu hatte ich jetzt jedoch nicht Zeit. Mein leerer Magen verlangte gebieterisch nach Nahrung, und deshalb entledigte ich mich schnell meines blauen, derben Anzuges, stieg in Unterkleidern in das faulig riechende, trübe Wasser und schwamm auf eines der Moorinselchen zu, um die Nester der Wasservögel, unter denen ich viele den heimischen Wildgänsen ähnliche Tiere bemerkte, gründlich zu plündern.

Ungehindert gelangte ich auch bis an das Inselchen heran, schwang mich auf die unter meiner Körperlast hin und her schaukelnde, verkrautete Masse und schlang gierig, unbekümmert um die mich wütend umschwärmenden Vögel, eine Menge Eier hinunter, die ich allerdings vorher daraufhin untersuchte, ob sie auch nicht angebrütet waren.

Das Inselchen hatte vielleicht eine Größe von fünfzehn Schritt im Durchmesser, war beinahe kreisrund und diente einigen dreißig Wasservögeln zum Nistplatz. – Nachdem ich mich auf diese Weise gesättigt hatte, stieg ich wieder in das mit allerlei Wasserpflanzen durchsetzte Wasser und schwamm dem sandigen Strande zu.

Da, als ich gerade die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, fühlte ich plötzlich an meinem linken Fuß an der Hacke einen heftigen Schmerz, als ob ein Tier mich gebissen hätte. Entsetzt schnellte ich mich herum … das Blut erstarrte mir in den Adern. Dicht neben mir sah ich im Wasser den Kopf eines riesigen Alligators, eines Vertreters jener Krokodilart, die über die wärmeren Gegenden des westlichen Amerikas verbreitet und besonders häufig in Florida anzutreffen ist. Hier werden seit einiger Zeit die Alligatoren auf besonderen Farmen in Menge gezüchtet, da das Leder dieser gepanzerten Eidechsen sehr wertvoll ist.

Halb unbewußt schnellte ich mich nun, da der häßliche Bursche mit den kleinen tückischen Augen sicherlich sofort wieder zu einem neuen Angriff überging, nachdem der erste halb mißglückt war und mich nur eines kleinen Fleischfetzens der linken Hacke beraubt hatte, mit aller Kraft vorwärts. Ungefähr 150 Meter trennten mich noch von dem rettenden Ufer. Meine Lage war mehr als verzweifelt. Ich gab mich schon verloren, glaubte jeden Augenblick die scharfen Zähne der Bestie in irgendeine Stelle meines Körpers einschlagen zu fühlen. Wußte ich doch, daß der Alligator im Wasser ein sehr gewandter Schwimmer ist, während er auf dem Lande wegen seiner Schwerfälligkeit von den Negern Floridas, dessen weite Sumpfstrecken ihn vornehmlich beherbergen, leicht mit Beilen erschlagen wird.

Trotzdem suchte ich in einer fortwährenden Zickzacklinie den Strand zu erreichen. Ich versprach mir zwar wenig von diesem Mittel, der Rieseneidechse auszuweichen, konnte jedoch in meiner höchsten Not kaum etwas anderes zu meiner Rettung tun.

Halbtot, keuchend und mit zitternden Beinen watete ich schließlich die letzten Schritte bis aufs Trockene, fiel hier matt in den Sand und blieb eine ganze Weile regungslos liegen.

Als ich mich dann etwas erholt hatte, schaute ich mich nach meinem gepanzerten Feinde um. Auf dem fettig schillernden Wasser der Lagune bemerkte ich jetzt zu einem Halbkreis um meinen Ruheplatz gruppiert etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt mindestens vierzehn Alligatoren, die ihre hechtartigen, flachen, vorn abgerundeten Schnauzen nur wenig über die Oberfläche hinausstreckten und lüstern nach mir hinüberschauten.

Welchem Umstande ich meine Rettung zu verdanken hatte, konnte ich nur mutmaßen. Jenseits der Linie der Alligatoren warf das Wasser nämlich große, rotschimmernde Blasen, als ob sich in der Tiefe eines jener Dramen abspielte, wie sie im Leben der Kaimans (andere Bezeichnung für das nordamerikanische Krokodil) nicht gerade selten sein sollen, indem stärkere Exemplare bei der Verfolgung einer Beute die schwächeren, gleichfalls auf dasselbe Opfer erpichten wütend anfallen und … auffressen. Vielleicht hatte also ein Alligator mein Leben bedroht, ein zweiter es aber unfreiwillig gerettet.

– – – – – – – –

Das Vorhandensein der Kaimans in der Lagune war für mich insofern von großer Bedeutung, als ich es nicht wagen durfte, nochmals nach den Moorinseln hinüberzuschwimmen, um mir eine Mahlzeit zu verschaffen. Ich entschloß mich unter diesen Umständen dazu, sofort diesen ungastlichen Strand zu verlassen und landeinwärts zu pilgern, wo ich bald auf Menschen zu stoßen hoffte. Glaubte ich doch noch immer, mich auf einer größeren Insel zu befinden, die weiterhin auch fruchtbare Landstrecken und Ansiedlungen aufzuweisen haben würde. Außerdem – was sollte ich jetzt noch hier, nachdem man mir die Jolle entführt hatte, mit deren Hilfe ich bequemer auf der nach Westen und Osten im Bogen sich verlängernden Lagune freundlichere Gegenden hätte aufsuchen können.

Schnell kleidete ich mich an. Nach den Anstrengungen der Flucht vor dem Alligator hatte sich der Durst mit verdoppelter Stärke bei mir wieder eingestellt. Zudem brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel mit solcher Kraft herab, daß mir bereits nach den ersten fünf Minuten meiner Wanderung trotz des nassen Unterzeuges der Schweiß in Strömen von der Stirn lief.

Getrieben von einer unbestimmten Vorahnung, die teils Neugier, teils Erwartung war, hatte ich die Richtung auf den bereits erwähnten buckelförmigen Hügel eingeschlagen, der in der Mitte der Sandebene emporragte. Hoffte ich doch, von seiner Spitze aus einen weiten Fernblick zu haben.

Mein anfänglich so flotter Schritt wurde bald träger und langsamer. Über dem gelbweißen, feinkörnigen Sande flimmerte bis zu zwei Meter Höhe die Luft vor Hitze wie über dem Schornstein eines unter Dampf liegenden Schiffes. Und durch diese Glut mußte ich hindurch. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine derartige Wärme gespürt. Mein wetterfester blauer Tuchanzug und die gleichfarbige Schirmmütze waren jedenfalls für diese Temperatur höchst ungeeignet.

Dann begannen mir auch die Augen vor dieser Fülle blendenden Lichtes, das von den hellen Sandmassen noch verstärkt wurde, zu tränen und zu schmerzen. Das trockene Gefühl in der Kehle steigerte sich ebenfalls von Minute zu Minute. Halb im Traum wanderte ich dahin, hielt die Augen bis auf einen kleinen Spalt geschlossen, dachte an nichts, lechzte nur nach einem kühlen Trunk und wohltuendem Schatten.

Mit einem Male blieb ich dann wie angewurzelt stehen.

Zu meinen Füßen bemerkte ich dieselbe merkwürdige Fährte, die ich schon an dem Liegeplatz meiner verschwundenen Jolle gesehen hatte. Es waren dieselben runden Eindrücke, die hier in dem bereits wieder trocken gewordenen Sande jedoch weit undeutlicher ausgeprägt waren als auf dem feuchten Uferstreifen.

Ich schaute mich um. Die Spur lief hinter mir in spitzem Winkel zu meiner eigenen Fährte als eine Linie verschwommener Punkte nach dem Strande hin, nach vorwärts aber auf den Hügel zu, der auch mein Ziel war.

Während ich sie noch nachdenklich anstarrte, fiel mir ein, daß ich vorhin eine grobe Unterlassungssünde begangen hatte, weil ich nicht gleich vom Ufer aus der Spur des Jollendiebes gefolgt war, die mich dann doch notwendig hätte dorthin führen müssen, woher das unbekannte Wesen gekommen war.

Nun hatte mich lediglich der Zufall auf diesen Fehler aufmerksam gemacht. Ich war diesem Zufall zunächst von Herzen dankbar. Dann aber drängten sich mir plötzlich andere Gedanken auf.

Feige bin ich nie gewesen. Nein, ich hatte mich sogar stets für einen äußerst mutigen Jungen gehalten. Daß dieser Mut, der oft bei mir sogar in Waghalsigkeit ausgeartet war, lediglich auf Unkenntnis der Gefahr oder besser auf der Unfähigkeit zum Abwägen der Folgen meines Handelns beruht hatte, sah ich erst später ein – wie so manches andere, was ich vordem als vortreffliche Eigenschaft an mir gutgeheißen hatte.

Jetzt beschlich mich mit einemmal ein unbehagliches Empfinden. Die Einsamkeit, die Stille um mich her und das Bewußtsein, hier die Fährte eines rätselhaften Geschöpfes vor mir zu haben, bedrückten mich gleichzeitig. Zögernd nur setzte ich meinen Marsch fort, indem ich genau auf der eigenartigen Spur weiterschritt. Die Augen hielt ich jetzt unwillkürlich zumeist auf den Boden geheftet und grübelte darüber nach, welcher Art nur das Wesen sein könne, das diesen selben Weg gegangen war, den ich jetzt zurücklegte.

Nur durch dieses im übrigen nutzlose Anstarren der merkwürdigen Fußtapfen stellte ich fest, daß ich nicht eine einfache, sondern eine Doppelspur vor mir hatte: das unbekannte Geschöpf war, wie ich bei genauem Hinsehen an einzelnen Abdrücken feststellte, sorgfältig auf dem Rückwege stets in dieselben Fußtapsen getreten.

Diese Entdeckung erhöhte nur noch meine innere Unruhe. Ich konnte mir nicht erklären, wie ich mir diese Doppelspur zu deuten hatte. Waren etwa zwei von diesen mit Elefantenbeinen scheinbar ausgestatteten Wesen zum Strande gegangen, von denen das eine dann in der Jolle davonfuhr, während das zweite nach ihrem gemeinsamen Schlupfwinkel zurückkehrte?

Als ich mir diese Frage stellte, ersah ich bald, daß sich aus ihr eine solche Menge anderer ergab, vor denen mir ganz wirr im Kopfe wurde. – Traf nämlich meine Vermutung zu, so hatte ich ja keine zweifache, sondern eine dreifache Spur vor mir. Und weiter: aus welchem Grunde suchten die seltsamen Geschöpfe nur eine einzelne Fährte zurückzulassen …?! – Schließlich aber: mußte ich nicht jetzt mit der Möglichkeit rechnen, mit einem dieser sonderbaren Wesen baldigst zusammenzutreffen?!

Dieser letztere Gedanke besonders wirkte wie ein Hemmschuh. Hatte die Hitze schon ein wahres Schneckentempo bei mir hervorgerufen, so ruhte ich mich jetzt immer häufiger aus und ließ meine Augen dann argwöhnisch in die Runde schweifen. Hauptsächlich der Hügel vor mir, der gut achtzig Meter breit und einige dreißig hoch war, wollte mir wenig gefallen.

Schließlich begann ich mich aber über meine eigene Zaghaftigkeit zu ärgern. Ich hatte doch ein gutes, starkes Matrosenmesser in der Tasche! Das gab eine gar nicht zu verachtende Waffe ab. – Also vorwärts, Karl Kersten, – sei kein Feigling, sagte ich zu mir selbst. – Und dieser moralische Rüffel, den ich mir erteilte, half wirklich. Etwas wie trotzige Kühnheit überkam mich. Ich beschleunigte meine Schritte. Und bald hatte ich den Fuß des kleinen Berges erreicht, der wie ein faltiges Gewand mit vom Winde zusammengewehten Sandwellen in die Ebene überging.

Die Fährte lief um den Hügel nach Osten zu herum. Ich benutzte sie weiter als Wegweiser, um dann aber sehr bald wieder stehen zu bleiben. Sie war nämlich plötzlich verschwunden.

Ungläubig schaute ich mich um. Ich befand mich gerade an einer Stelle, wo der Sturm den Sand leicht gekräuselt hatte. – Dort war noch der letzte Fußeindruck. Dann nichts mehr – nichts!

Eigentlich war ich enttäuscht. Ich hatte bestimmt gehofft, demnächst mich von Angesicht zu Angesicht von der Natur dieser Rätselgeschöpfe überzeugen zu können. Und jetzt …?!

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich: nur ein einzelnes elefanten- oder bärentatzenbeiniges Wesen hatte hier kehrtgemacht und war dann auf seiner Spur Schritt für Schritt achtsam zurückgewandert! –

– – – – – – – –

Dies nahm ich damals an. Und so fest glaubte ich, nunmehr eine Erklärung für dieses „Bis hierher und nicht weiter!“ gefunden zu haben, daß ich mir die Umgebung gar nicht genauer anschaute, sondern nun nach links abschwenkte und den Hügel zu erklimmen begann.

Dies kostete abermals reichlich Schweiß. Ich merkte, daß der Sandberg doch nicht ausschließlich aus lockerem Material bestand, wie es von weitem den Anschein hatte. Der Sand bildete nur eine dünne Deckschicht über einer Geröllmasse, die sich aus großen und kleinen Stücken Bimsstein zusammensetzte. Bimsstein kannte ich ja nur zu gut. Auch in meines Vaters Geschäft in Hamburg hatten wir ihn vorrätig gehabt.

Von der Schule her wußte ich, daß dieses Produkt vulkanischen Ursprungs ist und aus feuerspeienden Bergen bei starken Ausbrüchen in Unmenge ausgeworfen wird. Der Vulkan Goonong Kawoong auf der Insel Java schleuderte 1815 so viel von diesem blasigen, schwammigen Mineral in die Lüfte, daß das Meer nachher mit ganzen Inseln von Bimsstein bedeckt war. In Südamerika findet man wahre Bimssteinberge, und auch in der Nähe von Koblenz am Rhein hat man eine Schicht Bimsstein in der Erde entdeckt, die sieben bis acht Meter dick ist. Dieses merkwürdige Mineral, das in der Industrie heutzutage hauptsächlich in pulverisierter Form zum Schleifen benutzt wird, besteht in der Hauptsache aus zusammengeschmolzener Kieselerde, die so sehr von Blasen und Zellen infolge des Gasdruckes bei Vulkanausbrüchen erfüllt ist, daß sie auf dem Wasser schwimmt. –

Eine solche Anhäufung von Bimsstein, die im Laufe der Zeit durch den Sand halb verschüttet worden war, stellte also auch der Hügel dar, den ich jetzt erstieg. Alle Unebenheiten seiner ursprünglichen Form hatte der feine weißgelbe Sand ausgefüllt und schließlich das buckelähnliche Gebilde geschaffen, das glatt und kahl wie eine Düne am Meeresstrande aussah. Stellenweise trat aber doch der Bimsstein frei zutage, und an solchen Punkten konnte ich sehen, daß der Berg nicht lediglich aus Geröll dieses Minerals sich gebildet hatte, sondern offenbar Bimssteinblöcke von riesigem Umfang in sich barg.

Höher und höher kam ich, bis ich die flache Kuppe endlich erreicht hatte. Meine Blicke eilten sofort in die Runde, in die Ferne …

Im Süden lag die Kette von hohen Sandbänken, durch die ich erst eine Durchfahrt in die Lagune hatte suchen müssen. Diese Sandbänke vereinigten sich zu einem Kreise, der um eine kahle, öde, vegetationslose Insel wie ein Schutzwall herumlief.

Und in der Mitte dieser runden Insel, deren Durchmesser ich auf gut eine Meile schätzte, und die rings von hohen Stranddünen eingerahmt war, befand ich mich jetzt. Der Bimssteinberg stellte so ziemlich den Mittelpunkt dieses traurigen Eilandes dar.

In der Ferne aber lag das Meer, – unendlich groß, weit und leer. Kein anderes Land war sichtbar, kein Segel, kein Dampfer mit rauchendem Schlot, – nichts – nichts …

Dieser Anblick entsetzte mich so, daß es mich wie ein Schwindelanfall überkam.

Also keine bewohnte größere Insel war es, auf der ich blühende Niederlassungen und freundliche Bewohner zu finden gehofft hatte …! Sand – nur Sand, so weit das Auge schweifte, nur hie und da ein paar jämmerliche Grasflecken, die kaum diesen Namen verdienten.

Ich hatte mich auf den Boden gesetzt, der hier oben aus der Kuppe mehr denn anderswo das sattsame Gestein sehen ließ, kleine Klüfte bildete, einzelne Blöcke zeigte und streifenweise völlig frei von Sand war.

Eine müde Trostlosigkeit löste den Schwächeanfall ab. Daß ich hier in dieser Einöde kein trinkbares Wasser finden würde, war mir schnell klar geworden. Mein Boot hatte man mir genommen. Mithin schien ich notwendig zum Tode des Verdurstens verurteilt zu sein …

Mit dem Rücken gegen einen Bimssteinwürfel gelehnt, saß ich fast regungslos wohl eine halbe Stunde mit geschlossenen Augen da. Öffnete ich die Lider, so drehte sich alles um mich her im Kreise. Ich fühlte, daß meine Widerstandskraft, mein Wille zum Leben nachließen. Schließlich trieben mich doch die Qualen des Durstes wieder hoch. Ich taumelte mehr als ich ging den Hügel hinab.

Die Hoffnung, eine törichte Hoffnung, trieb mich vorwärts, – hin nach dem größten der Grasflecken. Dort wollte ich mit den Händen den Sand aufwühlen, wollte ich nach Wasser graben …

Ich tat’s … Aber ach – meine Kräfte versagten nur zu schnell. Und dann verlor ich das Bewußtsein.

– – – – – – – –

Es war mir, als ob ich in einen tiefen, tiefen Abgrund hinabstürzte. Unendlich lange Zeit sauste ich durch die Luft, schlug dann mit dem Kopf auf irgendeine weiche Masse auf und … wußte nichts mehr, nichts … Als ich wieder erwachte, waren viele Stunden vergangen, – mußten vergangen sein, da die Sonne jetzt im Westen stand und sich bereits anschickte, in die See hinabzutauchen.

Ich lag am Oststrande hinter einer steilen Düne auf einer trockenen, dicken Pflanzenfaserschicht, die sich vom Strande bis zu meinem Ruheplatz wie eine breite Zunge durch den Sand hinzog. Augenscheinlich hatte das pflanzenreiche Lagunenwasser früher einmal bis zu dieser Stelle sich erstreckt und dann bei seinem Rückzuge diesen weichen, natürlichen Teppich zurückgelassen.

Daß ich mich nicht selbst bis an diesen Ort, wo ich vor den Sonnenstrahlen geschützt war, geschleppt hatte, unterlag keinem Zweifel. Fremde mußten dies getan haben, die Mitleid mit mir empfanden und mich nicht elend hatten umkommen lassen wollen. Bemerkte ich doch neben meinem Lager außer einem Dutzend langer, starker Stangen auch ein seltsam geformtes Gefäß aus einer steinartigen Masse, das mit einem Deckel versehen war und … Wasser enthielt, – reines, kühles Trinkwasser. Das Gefäß war mindestens ein Meter hoch und ein Stück in den Boden eingegraben. Daneben lag ein Becher aus demselben Material.

Wer mein Retter gewesen, sollte mir bald klar werden. Als ich die nähere Umgebung meines Ruheplatzes jetzt durchstreifte, fand ich im Sande wieder die undeutliche, rätselhafte Spur, die abermals in Richtung auf den Bimssteinberg verlief. Und dann ging es plötzlich wie ein Ruck durch meinen Körper …

Neben der Fährte bemerkte ich im Sande Buchstaben eingegraben, – vier deutsche Worte, die ich später noch oft entdeckte und die wie ein geheimnisvolles Verbot mich überall hin verfolgten: „Hüte Dich zu suchen!!“, – das stand da groß und deutlich mit zwei Ausrufungszeichen dahinter in deutscher Schrift.

Jetzt wußte ich Bescheid. Das merkwürdige Geschöpf mit den Bärentatzen war also wirklich ein Mensch! Im Grunde hatte ich ja auch nie recht daran gezweifelt! – Es war mehr meine lebhafte Phantasie gewesen, die mir so etwas wie ein vorweltliches Ungeheuer vorgespiegelt hatte. –

„Hüte Dich zu suchen!!“ – Das konnte doch nur heißen: „Suche nicht nach mir, sonst entziehe ich Dir meine Hilfe!“ – Nun – ich wollte das Verbot schon im eigenen Interesse befolgen …! War ich doch auf den Beistand des Unbekannten angewiesen, so besonders, was das Trinkwasser anbetraf. –

All das Geheimnisvolle, das mich hier umgab, verlor für mich nunmehr jeden Anlaß zu ängstlichen Empfindungen. Die Gewißheit, „man“ meine es gut mit mir, war mir eine große Beruhigung. – –

– – – – – – – –

Da der Abend nahte, mußte ich jetzt daran denken, für mich einen Unterschlupf für die Nacht zu schaffen. Die Stangen wiesen mir den richtigen Weg. Sie konnten nur in der Absicht hingelegt worden sein, damit ich sie bei der Errichtung eines Zeltes benutzte. Waren sie doch auch mit einem starken Bindfaden in Spiralen umwickelt. Nachher merkte ich, daß diese Schnüre mit einer teerähnlichen Masse eingerieben waren, um sie haltbarer zu machen.

Zeltstangen besaß ich also. Aber wo ein Zelttuch hernehmen?

Unwillkürlich schaute ich mich suchend um. Da fiel mein Blick auf den dicken, verfilzten Pflanzenfaserteppich zu meinen Füßen. Beinahe hätte ich laut aufgejubelt. Diese zusammenhängende Schicht gab ja ein vorzügliches Dach ab …! – Kaum war dieser Gedanke in mir aufgeblitzt, als ich auch schon an die Ausführung ging. Aus acht Stangen setzte ich das Gerippe für ein zuckerhutförmiges Zelt zusammen, bohrte sie in einem geschützten Winkel der steilen Düne möglichst tief in den Sand, band sie oben zusammen und schnitt dann, nachdem ich mir genau überlegt hatte, welche Form die Zeltdecke haben müsse, mit dem Messer ein passendes Stück heraus. Dieses über den Stangen zweckmäßig zu befestigen, war nicht ganz leicht. Schließlich gelang es aber doch. Als Verschluß hängte ich vor den Eingang ebenfalls ein Stück Pflanzenteppich, und ebenso polsterte ich das Innere meiner Behausung damit aus. Hierauf grub ich das schwere Wassergefäß, das ich kaum anheben konnte, in der Hütte in den Sand ein, damit es kühl bliebe und recht wenig von dem kostbaren Naß verdunste.

All diese Arbeiten machten mir viel Freude. Der Gedanke, hier auf der öden Insel den Robinson spielen zu müssen, hatte für mich nichts Schreckliches an sich. Im Gegenteil: nach den an Mißhandlungen und Demütigungen so reichen Tagen auf der Brigg „Isabella“ dünkte mich die Einsamkeit wie eine Erlösung. Ich war ja auch zum Glück nicht einer von jenen verzärtelten Muttersöhnchen, die, umgeben von steter Fürsorge und Obhut, kaum einen Nagel einzuschlagen wissen und später dann als unpraktische Menschen dem Leben hilflos gegenüberstehen.

Inzwischen hatte sich die Sonne bereits unter die Spitzen der westlichen Dünenkette geschoben. Prachtvoll rot wie der Schein eines Riesenfeuers erstrahlte der Abendhimmel. – Meine ersten Arbeiten, die notwendigsten, waren jetzt erledigt. Der Hunger meldete sich wieder. Schnell eilte ich daher zu dem vielleicht achtzig Meter entfernten Lagunenstrande hinab, um nach etwas Genießbarem zu suchen.

Drüben auf den kleinen Moorinselchen kreischten und schrien die Wasservögel. Ja – wenn ich eine Schußwaffe gehabt hätte …! Wenn …!! Vor mir am Ufer flatterten jetzt träge ein paar Wildgänse auf, strichen niedrig nach ihren Nestern hin und fielen auf einem der Inselchen ein. Sehnsüchtig schaute ich ihnen nach. Und der Wunsch nach einem Braten gab mir den Gedanken ein, zu versuchen, ob ich mir nicht vielleicht einen Bogen und Pfeile herstellen könnte. Gleich morgen wollte ich mir die Sache näher überlegen.

Dicht am Strande fand ich dann in muldenartigen Löchern zu 20 bis 30 Stück vereinigt Gänseeiern ähnliche Eier mit einer elastischen, lederartigen Schale. Es waren Eier von Alligatoren, was ich daraus ersah, daß neben jedem Nest die Schnauze eines Kaimans wie die drohende Waffe einer Schildwache aus dem Wasser herausragte. Tatsächlich behüten ja die Alligatorenmütter ihre Eier auf das sorgfältigste, da diese von verschiedenen Tieren gern gefressen werden. So sorgen zum Beispiel in den Gewässern Afrikas die sogenannten Nileidechsen und die Ichneumons dafür, daß das afrikanische Krokodil nicht überhand nimmt, während in Florida Ratten und Möwen den Alligatoreneiern eifrig zu Leibe gehen.

Zu meiner Freude bemerkte ich nach einer Weile am Ufer auch zwei junge Kaimans von etwa ein Meter Länge. Daß Krokodilfleisch manchen Naturvölkern, so den Negern besonders, als Leckerbissen trotz seines moschusartigen Geruches gilt, war mir bekannt. – Hunger ist der beste Koch –, das sah ich heute so recht an mir selbst. Einer der jungen Alligatoren fiel meinem Messer zum Opfer, und, da ich noch eine volle Zündholzschachtel mit einer Umhüllung aus Aluminiumblech mit dem Hamburger Stadtwappen darauf besaß, hatte ich mir bald aus Pflanzenteppichstücken ein Feuer angezündet, über dem ich einen Teil des feisten Kaimanrückens briet. Als Bratspieß benutzte ich ein Ende einer der übriggebliebenen Zeltstangen. Der Geschmack des Fleisches war ein wenig scharf, aber nicht gerade unangenehm.

Vor meiner Hütte sitzend, aß ich mit Behagen, dankbar dabei der gütigen Vorsehung gedenkend, die so wunderbar meine Geschicke geleitet hatte und mich gerade auf dieses Eiland fliehen ließ, wo ein seltsames Geheimnis waltete und ein Fremder, der sich mir offenbar nicht zeigen wollte, menschenfreundlich für mich sorgte. Auch der fernen Heimat und meiner armen Eltern gedachte ich mit Wehmut im Herzen. Bittere Selbstvorwürfe bestürmten mich. Ich fühlte, wie schon die bisherigen Erlebnisse seit meiner Abreise aus Hamburg mich reifer gemacht hatten. Meine Handlungsweise erschien mir plötzlich so verwerflich, daß ich nicht begriff, wie ich die Meinigen derart hatte kränken können.

Die Nacht war da. Die zweite, die ich als Robinson auf meiner Sandinsel verlebte. Über mir funkelte das unzählige Heer der Sterne. Neben mir schwelte qualmend das kleine Feuer. Draußen jenseits der Sandbänke sang die Brandung ihr brausendes Lied, und von den Moorinselchen drang zuweilen der Schrei und das Flügelschlagen der Vögel herüber.

Obwohl ich in den letzten Stunden dieses Tages wacker gearbeitet hatte, fühlte ich doch keine Müdigkeit. All das Neue, Ungewohnte regte mich auf und hielt mich munter.

Dann erhob sich plötzlich auf einem der Inselchen lauter Lärm. Die Nacht war hell genug, um eine Schar von Wasservögeln zu erkennen, die wild um ihren Nistplatz kreiste. Bald waren die ganzen Vogelkolonien lebendig. – Ich erklärte mir diesen allgemeinen Aufruhr so, daß vielleicht ein Alligator versucht hatte, eine der brütenden Gänse oder Möwen zu überraschen. Meines Erachtens durfte der Kaiman hierbei jedoch kaum auf eine Beute rechnen. Niemand ist wachsamer als ein Vogel, der mit seiner Leibeswärme die Eier zum Ausreifen bringt.

Langsam trat wieder Ruhe ein. Darauf abermals eine Störung, jetzt mitten in der Lagune, wo ein Aufschäumen und Umherspritzen des Wassers auf einen Kampf zwischen den Kaimans schließen ließ. – Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, wovon die Alligatoren, die doch recht zahlreich in der Lagune lebten, ihren Hunger stillten. Wieviel von diesen Rieseneidechsen es hier gab, merkte ich ja an dem leichten Moschusgeruch, der fast ständig über dem trüben Wasser lagerte. Sämtliche Arten von Krokodilen besitzen im Unterkiefer zwei Drüsen, in denen ein stark nach Moschus riechender Stoff erzeugt wird. Strecken die Alligatoren auch nur die Köpfe aus dem Wasser hervor, so verbreitet sich sofort dieser unverkennbare Geruch, der das beste Warnungszeichen vor diesen gefräßigen und angriffslustigen Bestien ist.

Der Kampf dort drüben machte mich neugierig. Ich erhob mich und ging bis zum Strande hinunter, vermochte jedoch auch von hier nichts Genaueres zu erkennen. Um mir noch etwas Bewegung zu schaffen, schlug ich nachher die Richtung nach dem Bimssteinberg ein. Dies erschien mir nicht als Übertretung des an mich ergangenen Verbotes. Daß mein Beschützer nicht auf dem Hügel wohnte, nahm ich mit Bestimmtheit an. Daher wanderte ich auch ohne die geringsten Gewissensbisse nach dem Bimssteinberg, hielt mich aber absichtlich von der auch jetzt deutlich erkennbaren Fährte fern und näherte mich dem Hügel von der Nordseite her.

Bis auf hundert Meter mochte ich ihm nahegekommen sein, als der Vollmond über die Kuppen der Dünenkette heraustrat und sein weiches Licht über die Ebene und den Berg ausstreute. Plötzlich stutzte ich. Gegen den halbhellen Himmel hob sich auf der flachen Spitze des Hügels deutlich eine menschliche Gestalt ab. Näheres vermochte ich nicht zu unterscheiden. Nur vom Kopfe der Gestalt fiel etwas wie ein blendend weißes Tuch weit bis auf den Rücken herab.

Regungslos stand sie da oben auf einer kleinen Erhebung und schaute unverwandt nach Westen. Dort mußte, soweit ich es beurteilen konnte, die Küste von Nordamerika, wahrscheinlich die Halbinsel Florida, liegen. – Jetzt fuhr ein stärkerer Windstoß über das Eiland hin. Da hob sich das, was ich für ein weißes Tuch gehalten hatte, und flatterte leicht und schimmernd einen Augenblick in der Luft.

Es war Haar, langes, dichtes, silberweißes Haupthaar …

So hatte ich also doch den geheimnisvollen Unbekannten, wenn auch nur aus der Ferne, zu Gesicht bekommen.

Schon wollte ich umkehren, als etwas anderes aufs neue meine Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht zehn Schritte links von der regungslosen Gestalt drang scheinbar aus dem Boden der Kuppe eine feine Rauchsäule hervor, um schnell im Nachtwinde zu verwehen.

Wo kam dieser Rauch her? Hatte der Greis da oben ein Feuer angezündet? Und wenn, – zu welchem Zweck?! – – Ich besitze sehr gute Augen, vermochte aber auch nicht die geringste Spur eines Feuerscheines zu bemerken. Dabei nahm der graue Qualm jetzt sichtlich an Stärke zu. So vertieft war ich in diese Beobachtung, daß ich ein paar Sekunden den Alten völlig vergaß. Als ich wieder hinschaute, war er verschwunden.

Ich blieb dann noch eine ganze Weile stehen und starrte nach dem Bimssteinberge hinüber. Nichts regte sich dort mehr. Nur die bald in alle Winde zerflatternde Rauchsäule stieg nach wie vor aus dem Boden auf. – Mir war dies unerklärlich. Ein im Verlöschen begriffenes Feuer konnte es nicht sein. Hierfür war die Rauchentwicklung zu gleichmäßig und zu stark. – Was war es überhaupt? Wo war der helle Schein, der nun einmal zu jedem offen brennenden Feuer gehört …?!

Endlich gab ich das Grübeln auf und ging zu meiner Hütte zurück. Die Stille um mich her, die hier in der weiten, flachen Ebene herrschte, bedrückte mich plötzlich. Im Schimmer des Mondlichtes sah alles so gespenstisch aus, so unwirklich, und so endlos schienen die Entfernungen, daß ich durch ein verhextes Land zu schreiten glaubte. Dazu noch mein seltsamer Mitbewohner dieses öden Eilandes, der Greis mit den lang herabwallenden, weißen Haaren, der da oben wie eine Bildsäule gestanden hatte und den dann die Erde verschluckt zu haben schien …!! – Jedenfalls war mir nicht ganz behaglich zumute. Wie ein Frösteln lief es mir trotz der warmen Nacht über den Rücken. Ich beschleunigte meine Schritte und war froh, als ich den Strand und meine Zeltbehausung erreicht hatte. Fest schlief ich bis in den hellen Morgen hinein. Ich hatte lebhaft geträumt. Merkwürdigerweise aber nicht von der Insel, dem Alten oder den Kaimans, sondern von daheim. Und gerade diese Traumgesichte, in denen die Tränen meiner Eltern über den ungeratenen Sohn eine so große Rolle gespielt hatten, ließen mich in recht trüber Stimmung erwachen. Erst als ich mir dann Beschäftigung machte, wurde mir wieder freier ums Herz.

Ich aß einen Teil des übriggebliebenen, gebratenen Krokodilfleisches als Frühstück und überlegte mir dabei, welche Arbeit ich zuerst vornehmen sollte. Mein Blick fiel auf den jungen Alligator, der unweit meiner Feuerstelle im Sande lag. Die Haut des Tieres konnte ich sicherlich gut gebrauchen. Wollte ich sie aber gerben, so mußte dies bald geschehen, ehe der Kadaver in Verwesung überging.

Mit meinen Eltern war ich einmal in einer kleinen Sommerfrische an der Elbe gewesen. Der Hausbesitzer, bei dem wir wohnten, verstand etwas von der Gerberei und hatte für sich und einige Bekannte Kaninchen- und Katzenfelle damals gerade zurechtgemacht. Nur aus diesem Grunde wußte ich so ungefähr, wie man Tierhäute präpariert. Ich begann zuerst damit, die Haut loszulösen und sie von allen anhaftenden Fleischresten zu befreien, wobei ich mein Messer zum Schaben benutzte. Dann rieb ich sie innen noch sorgfältig mit Sand aus und bestrich sie schließlich mit dem gelblichen Rückenfett des jungen Kaimans, dessen bereits stark duftende Reste ich in die Lagune warf, wo sofort zwei seiner Artgenossen auftauchten und sich gierig um die Beute stritten.

Ich will hier gleich bemerken, daß diese erste Alligatorenhaut später nicht zu gebrauchen war. Sie wurde steinhart und brüchig. Ich hatte, wie mir erst nachträglich einfiel, beim Gerben einen Fehler gemacht. Nachher, als ich erst kühn genug geworden war, nach den Moorinselchen hinüberzurudern (mein merkwürdiges Fahrzeug beschreibe ich an anderer Stelle), rieb ich die Innenseite der Häute mit frischem Vogeldünger ein, ließ sie ein paar Tage so liegen, entfernte dieses eigenartige Gerbmittel wieder und erlebte die Freude, schließlich ein weiches, starkes und schönes Leder zu erhalten.

Bis zum Mittag hatte ich mit der Alligatorenhaut zu tun. Nachdem ich abermals ein Stück Kaimanbraten genossen hatte, brachte ich die Zeit der größten Hitze in meinem Zelte zu. Um aber nicht müßig zu sein, führte ich jetzt einen Gedanken aus, den mir der Anblick einer großen, am Strande liegenden Muschel, die gut ein halb Meter lang war und zwei hornartige, gewundene Wirbel besaß, eingegeben hatte. Diese Wirbel gedachte ich nämlich zu Lanzenspitzen zu verwenden. Und tatsächlich gelang es mir, aus den übriggebliebenen Zeltstangen und den harten, spitzen Wirbeln zwei Stoßwaffen herzustellen, die mir noch gute Dienste leisten sollten.

Da ich die Muschel für meine Zwecke hatte zertrümmern müssen, was bei der Dicke ihrer Kalkschale gar nicht so leicht war, erhielt ich von ihr auf diese Weise auch zwei Stücke, die sich leidlich als flache Gefäße benutzen ließen. Sie wurden die ersten Gegenstände meiner später auf mannigfache Weise ergänzten Kücheneinrichtung.

Als die größte Tageshitze vorüber war, rüstete ich mich zu einem Rundgang um die Insel. Ich kannte bisher ja nur den Süd- und den Oststrand und war neugierig, ob ich vielleicht auf den anderen Uferstrecken irgend etwas Wichtiges oder für mich Wertvolles entdecken würde. Um nun einmal meinen Anzug für die kühlere Jahreszeit zu schonen, dann aber auch leichter bekleidet zu sein, behielt ich nur mein Unterzeug an und wanderte in diesem Aufzuge, meine beiden Lanzen über der Schulter, am Strande entlang nach Norden zu.

Das Ergebnis dieses Ausfluges war recht gering. Überall sah ich die gleichen sandigen Dünen, dasselbe trübe Wasser der Lagune, darin kleine Inselchen mit zahlreichen Vögeln – alles wie auf meiner Ostseite. Die einzige Beute dieses zweistündigen Spazierganges bestand in drei großen Muscheln, die ich am Ufer fand und als nicht geringe Last mit nach meiner Hütte nahm. Von dem Unbekannten, der mit mir hier hauste, bemerkte ich nichts, nicht einmal Fußspuren. Ich kam auch an der Stelle vorüber, wo meine Jolle gelegen hatte. Nichts hatte sich hier verändert. Nur die Fährten im Ufersande waren teilweise bereits wieder verschwunden.

Gegen Abend ging ich dann auf die Kaimanjagd. Ich hoffte, wieder ein junges Tier überraschen zu können. Aber die Nacht brach an, ehe ich fern von meinem Lager auf einen ziemlich ausgewachsenen Alligator stieß, der sich einige zwanzig Meter weit auf den Strand gewagt hatte. Das unbeholfene Tier fiel als erstes meinen Lanzen zum Opfer, die leicht in die weiche Bauchhaut eindrangen.

Heute schmeckte mir das moschusduftende Fleisch jedoch schon weniger gut. Während ich mit recht langen Zähnen, wie man zu sagen pflegt, meine Mahlzeit einnahm, grübelte ich darüber nach, wie ich es nur anstellen sollte, ungefährdet nach den Moorinselchen hinüberzugelangen, damit ich mir Vogeleier beschaffen konnte. Auf die Dauer war es unmöglich, sich ausschließlich von Kaimanfleisch zu ernähren. Das hatte ich jetzt eingesehen.

Dann fiel mir der Bimsstein ein, der wie Kork auf dem Wasser schwimmt. Wenn ich davon genügend große Stücke von dem Hügel holte, diese miteinander durch Riemen aus Alligatorenhaut fest verband und dann das Ganze mit kleineren Bimssteinstücken bedeckte, konnte ich mir vielleicht eine Art Floß bauen, das mich tragen würde. Ich beschloß denn auch, gleich morgen einen Versuch zu machen, ob meine Idee sich praktisch verwerten ließ.

Jetzt, wo meine Gedanken sich so viel mit dem seltsamen, vulkanischen Mineral beschäftigten, dachte ich auch daran, den Bimsstein noch zu anderen Zwecken zu verwerten. Fand ich genügend große Blöcke, so wollte ich mir daraus auch einen Herd und eine kleine Küche errichten, vielleicht sogar ein Häuschen.

Am nächsten Morgen war ich bereits recht früh munter. Auf dem Wege nach dem Hügel traf ich dann abermals auf die merkwürdige Fährte, die noch ziemlich neu zu sein schien, nach meinem Lager hinlief und von dem Bimssteinberge herkam, an dessen Fuße sie jedoch plötzlich verschwand. – Nein, „verschwand“ ist zuviel gesagt. Heute schaute ich schärfer hin als damals, wo ich gleichfalls vor einer plötzlich endigenden Spur ratlos stehen geblieben war, heut sah ich, daß sie sich doch fortsetzte, freilich so undeutlich, als ob der Fußgänger über eine dicke Decke dahingeschritten war, die schärfere Eindrücke im Sande verhüten sollte. – Mit einem Wort: mein geheimnisvoller Mitbewohner der Insel hatte eine ziemlich oft benutzte List angewandt, um seine Fährte zu verwischen. – Eines der Rätsel, die mich umgaben, war also schon gelöst.

Dann fiel mein Blick etwas nach seitwärts. Dort war der Sandboden eben wie eine Tenne, und da las ich zum zweiten Mal die Worte: „Hüte Dich zu suchen!“

Wie Schuldbewußtsein kam es jetzt über mich. Dadurch, daß ich der Spur bis zu diesem Punkte gefolgt war, hatte ich das Verbot ja eigentlich schon übertreten. – Schnell wandte ich mich daher seitwärts, um an einer anderen Stelle meine Suche nach Bimssteinblöcken zu beginnen. Ich fand denn auch eine ganze Menge größerer und kleinerer loser Stücke, mußte aber doch viele erst lossprengen, nachdem ich den umgebenden Sand entfernt hatte. Dann fing ich mit dem zeitraubenden Transport des gewonnenen Materials nach meinem Lager an. Während der Mittagshitze stellte ich diese Arbeit ein und errichtete mir in diesen Stunden einen Herd. Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Steinen füllte ich mit Schlamm aus der Lagune aus, der bald in der Wärme zu einer lehmartigen Masse zusammentrocknete.

Erst am nächsten Morgen konnte ich mit dem Aneinanderfügen der einzelnen Bimssteinblöcke beginnen. Bald merkte ich, daß die aus der Haut des zweiten erlegten Alligators geschnittenen Riemen nicht ausreichten. Ich mußte also den Bau des Floßes[1] unterbrechen, bis ich wieder einen Kaiman getötet hatte. – Meine Werft, wenn ich den Platz, wo ich die Bimssteinstücke zusammenband, so nennen darf, war ein seichter Arm der Lagune, der etwa dreißig Meter weit in die Insel einschnitt. Hier fügte sich im Verlaufe einer Woche ein Teil des zukünftigen Floßes an den anderen, hier stand ich jeden Tag mehrere Stunden bis zu den Hüften im Wasser und arbeitete an dem plumpen Fahrzeug, das mir den Weg zu den Nistplätzen der Wasservögel bahnen sollte. Endlich war es fertig. Vier Tage hatte ich dazu gebraucht und vieles ausprobieren müssen, ehe es meinen Wünschen entsprach.

Dann wagte ich eines Vormittags die erste Fahrt. Als Ruder benutzte ich eine meiner Lanzen, an deren Schaft ich die breiten Hüftknochen eines Kaimans angebunden hatte. Die zweite Lanze nahm ich als Waffe mit. Unendlich langsam kam ich vorwärts. Aber die Hauptsache: das Floß trug mich und ließ sich leidlich steuern. Nacheinander stattete ich mehreren der Inselchen einen Besuch ab und sammelte eine ganze Menge Eier ein. Außerdem schnitt ich von den weidenähnlichen Sträuchern aber auch dünnere und stärkere Äste ab, soviel ich nur bekommen konnte.

Hochbefriedigt von diesem ersten Ausflug zu Wasser kehrte ich nach drei Stunden wieder nach der „Werft“ zurück, wo ich mein Floß an einem in den Sand tief eingegrabenen Bimssteinblock festlegte.

Mein Leben gestaltete sich nun weit abwechslungsreicher, ebenso mein Speisenzettel. Nach mehreren mißglückten Versuchen stellte ich mir auch einen brauchbaren Bogen und Pfeile her; letztere erhielten Spitzen aus scharfen Muschelsplittern. Bald besaß ich eine solche Fertigkeit im Schießen mit dieser primitiven Waffe, daß ich selten mein Ziel verfehlte. Manche Wildgans mußte ihre geringe Scheu vor dem menschlichen Nachbarn mit ihrem Leben bezahlen. Diese Jagdausflüge auf dem Floß, die ich sogar bis nach dem Westteile der Lagune ausdehnte, bildeten meine beste Zerstreuung. Inzwischen beschäftigte ich mich aber auch mit anderen wichtigen Arbeiten. Hierzu zähle ich den Bau einer kleinen Küche aus Bimsstein, ferner die Anlage einer richtigen Ziegelei, in der ich, natürlich auch erst nach vielem Probieren, aus dem Lagunenschlamm geformte, an der Luft getrocknete und später im Feuer gehärtete Ziegel herstellte, aus denen ich mir im dritten Monat meines Aufenthaltes auf der Insel ein Häuschen errichtete, welches zwei kleine Räume und ein Dach aus den Stangen des jetzt überflüssig gewordenen Zeltes besaß, die ich mit dachziegelähnlichen, sehr großen Platten belegte, über die wieder als Überzug der Pflanzenteppich gebreitet wurde.

Im Laufe der Zeit war ich, ohne mich selbst loben zu wollen, ein kleines Genie in der Kunst geworden, sozusagen aus dem Nichts allerlei zu schaffen. Als ich die Insel betrat, glaubte ich, daß man hier wie ein völlig unzivilisierter Wilder leben müsse. Ein Vierteljahr später führte ich bereits ein ganz behagliches Dasein und kam mir überaus reich vor.

Meinen Mitbewohner, den weißhaarigen Greis, hatte ich in dieser ganzen Zeit nicht mehr gesehen, dafür aber mit um so größerer Dankbarkeit die Zeichen seines Wohlwollens und seiner Fürsorge hingenommen. Als mein Trinkwasservorrat nämlich zu Ende war, hatte ich das leere Gefäß eines Nachmittags am Fuße der Ostseite des Bimssteinberges niedergesetzt. Am nächsten Morgen fand ich es bis oben gefüllt wieder vor. Daneben aber standen im Sande wieder die vier Worte: „Hüte Dich zu suchen!“

Nun – ich war gehorsam, obwohl die Neugierde mir bisweilen sehr zusetzte. Hatte ich doch nicht die geringste Ahnung, wo der Greis wohnen mochte.

An einem stürmischen Septemberabend, – mein Kalender waren kleine Bimssteinstücke, von denen ich täglich eins neben das andere unweit meiner Behausung in den Dünensand legte, bis ein Monat voll war –, erblickte ich den Alten dann wieder oben auf dem Hügel. Wieder verschwand er nach einer Weile spurlos, als habe ihn die Erde verschluckt. – Was die damals von mir beobachtete Rauchsäule anbetrifft, so muß ich zugeben, daß ich mich hierum nicht mehr gekümmert hatte. Ich war stets so beschäftigt und daher abends so müde, das ich die Nacht zum Schlafen sehr nötig brauchte.

Jener Septemberabend zeigte mir nun nicht nur abermals den geheimnisvollen Greis, sondern auch wiederum Spuren von Rauch, die bei dem lebhaften Winde jedoch schnell zerflatterten. Jetzt ging mir eine Erleuchtung auf: der Alte bewohnte ohne Zweifel den Bimssteinberg, in dessen Innerem es Hohlräume geben mußte, die ihm zum Versteck dienten.

Diese Überzeugung war’s, die mich fortan den Hügel möglichst meiden ließ. Daß aber meine Neugierde jetzt ins Ungemessene gesteigert war, wird jeder leicht begreifen. Doch ich bezwang mich. Ich war ja auf den Alten als den Spender des Trinkwassers angewiesen.

Wieder verging Monat um Monat. Für die rauhe Jahreszeit hatte ich mich mit Brennmaterial gut eingesorgt. Auf der Insel gab es ja genug von den verfilzten Pflanzenteppichen, außerdem auch das Gestrüpp auf den kleinen Moorinselchen. Doch richtig kalt wurde das Wetter nie. Nur viel Regen und heftige Stürme gab es. In meinem Hause hatte ich es jedoch recht gemütlich. An den langen Abenden des Dezember und Januar brannte ich meine mit Krokodilfett gespeiste Lampe, die aus einer Muschel und einem Docht bestand. Letzteren gewann ich aus den Resten meiner Strümpfe, die schließlich nur noch aus „Löchern“ bestanden. In dieser Zeit gestaltete sich die Ernährungsfrage recht schwierig. Die Wasservögel waren größtenteils verschwunden. Inzwischen hatte ich jedoch festgestellt, daß die Lagune trotz der zahlreichen Kaimans auch von mancherlei Arten von Fischen bewohnt wurde. Daher fertigte ich mir eine Angel mit einem Haken aus dem Aluminiumblech meiner Zündholzschachtelumhüllung an. Vom Floße aus fing ich stets so viel Fische, das ich keine Not litt.

Im Februar bereits machte sich das Nahen des Frühjahres bemerkbar. Die Vogelscharen tauchten wieder auf, und von Tag zu Tag wurde es wärmer. Ich trug jetzt einen selbstgefertigten Anzug aus Alligatorenhaut, der recht praktisch war. Selbst Sandalen hatte ich mir genäht. Ich war nun bereits auch äußerlich ein richtiger Robinson geworden. Meinen blauen Anzug schonte ich absichtlich. Hoffte ich doch bestimmt, daß ich baldigst von dieser Gefangenschaft erlöst werden würde. Oft genug war ich zu den Sandbänken hinübergerudert und hatte vom Meeresstrande sehnsüchtig über die See hin in die Ferne gespäht. Zuweilen bemerkte ich auch am Horizont Segelschiffe und Dampfer. Aber um sie herbeizurufen war die Entfernung zu groß. – Einmal mußte jedoch ein Fahrzeug hier in größerer Nähe vorüberkommen. Und dann wollte ich ein mächtiges Feuer auf der Düne über meinem Hause anzünden als Notsignal … –

– – – – – – – –

Im April erlebte ich dann insofern einen kleinen Schreck, als mein geheimnisvoller Greis mich zwei volle Tage ohne Trinkwasser ließ. Erst am dritten Morgen war das Gefäß gefüllt. Ich reimte mir dies so zusammen, daß der Alte vielleicht krank und daher nicht imstande gewesen war, den Wasservorrat zu ergänzen.

Anfang Mai trat dann ein Ereignis ein, das alle Rätsel mit einem Schlage löste. Wieder spielte das Trinkwasser hierbei eine Rolle. Wieder wanderte ich an drei Tagen frühmorgens umsonst nach dem Bimssteinberg. Das Gefäß blieb leer. Es herrschte gerade eine drückende Hitze, so daß ich bereits schwer unter Durst litt. Dieser steigerte sich am 4. oder 6. Mai 1908 derart, daß ich mich entschloß, jetzt zum erstenmal das Verbot des Greises zu übertreten. Jetzt wollte ich ihn und seine verborgene Behausung suchen, bevor ich so erschöpft war, daß ich nicht mehr die Kraft dazu hatte. Ich gehorchte also lediglich der Not. Ohne Trinkwasser war ich verloren. – Der 4. oder 6. Mai war also der bedeutsame Tag. Genau vermag ich das Datum nicht anzugeben, da meine Zeitrechnung nicht mehr ganz stimmt. Ich hatte eben ein paar Mal vergessen, ein Steinchen meinem Kalender hinzuzufügen.

Gegen Mittag war es, als ich auf der Spitze des Bimssteinberges anlangte. Schritt für Schritt untersuchte ich hauptsächlich die Stellen, wo der Bimsstein als graue, rissige Masse frei von darübergewehtem Sand zutage trat. Dieses eine Jahr, das ich in steter Berührung mit der Natur verlebt hatte, war meinen Sinnen sehr zugute gekommen. Meine Augen hatten gelernt, alles irgendwie Auffallende sofort zu erfassen. Daher entdeckte ich auch bald eine Stelle, wo ein paar Blöcke eine Vertiefung bildeten. Sie waren an den Wänden dieser Vertiefung rauchgeschwärzt. Als ich dann meine Lanze in dieses enge Loch hinabließ, fand ich, daß es sehr weit hinabreichte. Jedenfalls fand ich mit der Lanze nicht den Grund. Ich hatte also den Rauchfang der Wohnung des Greises vor mir. – Dieser Erfolg spornte meinen Eifer noch mehr an. Trotzdem war es nicht leicht, den Eingang zu der unterirdischen Behausung zu finden. Nur weil an einer Stelle ein paar Bimssteinblöcke dunkler als die Umgebung gefärbt waren, als hätten die Hände eines Menschen sie oft berührt, packte ich diese natürlichen Handgriffe und zog daran, – zog und hob eine quadratische, genau in den Boden eingepaßte Platte von ein Viertel Meter Dicke hoch, die nun einen dunklen Schacht freilegte, in dem eine in den porösen Stein ausgehauene Treppe abwärts lief.

In der Tiefe bemerkte ich einen schwachen Lichtschimmer. Zögernd nur stieg ich die Stufen hinab. Der Schacht erweiterte sich nach unten zu wie eine Esse und bildete schließlich ein viereckiges Gemach, dessen Wände aus glatt behauenem Bimsstein bestanden. Zwei einander gegenüberliegende Türen aus Holz erregten sofort meine Aufmerksamkeit. An der Wand hing neben der einen eine kleine Lampe mit einem Metallspiegel hinter der niedrig brennenden Flamme. Der Ölduft verriet mir, mit welchem Brennstoff ihr Docht gespeist wurde. – Die Türen hatten Metalldrücker und waren mit stumpfen Farben bunt bemalt. Als Mittelschild besaßen sie das sauber ausgeführte Bild einer Schildkröte, die von einander in den Schwanz beißenden Alligatoren umrahmt war.

Vergeblich klopfte ich immer stärker erst an die eine, dann an die andere Tür. Niemand meldete sich. Schließlich öffnete ich die Tür, neben der das Öllämpchen hing. Sie war unverschlossen.

Tiefe Dunkelheit starrte mir entgegen. Ich nahm die Lampe von der Wand und leuchtete zunächst einmal in das Gemach hinein. Es war recht geräumig und enthielt die allernotwendigsten Einrichtungsstücke. Links neben einem gefüllten Bücherständer saß mit dem Oberkörper über einen Tisch gesunken regungslos der Greis. Sein schneeweißes, langes Haupthaar leuchtete wie ein heller Fleck in dem Halbdunkel.

Der Alte war tot. Das hatte ich bald festgestellt. Mitten bei seiner Schreibarbeit, über die er jetzt wie schützend die erstarrten Hände breitete, war er verschieden. Vor ihm auf dem Tische stand noch ein Tintenfaß, und in den Fingern seiner Rechten hielt er noch einen Gänsekiel. Eine Stehlampe dicht vor ihm war völlig ausgebrannt.

Die anfängliche Scheu vor der Leiche hatte ich schnell überwunden. Ich schaute mich jetzt genauer in dem unterirdischen Gemache um. Über dem niedrigen, mit wollenen Decken belegten Bett hingen an der Bimssteinwand allerlei indianische Waffen, auch Federkopfputz und Pfeifen mit langem Rohr und geschnitztem, rotem Tonkopf. Der ganzen Einrichtung merkte man an, daß der Greis hier lange Jahre gehaust haben mußte.

Da dieser Raum keinen weiteren Ausgang hatte, ging ich mir nun erst den zweiten auf der anderen Seite des Treppenflurs ansehen.

Er war etwas kleiner und diente als Küche und Vorratskammer. Hier waren eine Menge von Dingen aufgestapelt, die bewiesen, wie gut der Greis sich für sein Einsiedlerdasein vorbereitet hatte. Zu meinem Erstaunen fand ich aber auch einen Stoß amerikanischer Zeitungen, von denen eine Nummer erst ein halbes Jahr alt war. Mithin hatte der geheimnisvolle Mann doch noch mit der Außenwelt in Verbindung gestanden, und zwar mußte jemand ihm die Zeitungen und wahrscheinlich auch allerlei Vorräte überbracht haben, während ich bereits auf der Insel weilte.

Aus diesem Raum führte eine schmale, hinter aufgeschichteten leeren Kisten halb verborgene Tür in einen zweiten Schacht, der mit einer langen Leiter versehen war. Ich kletterte diese hinab und gelangte nun in eine natürliche Grotte von ziemlicher Ausdehnung. Hier entdeckte ich zunächst eine Quelle, die in der Nähe des Schachtes aus einer Spalte hervorsprudelte, bald aber wieder in einer zweiten verschwand. Zu meiner Überraschung bemerkte ich, daß der Boden der Grotte aus einem dunklen Gestein bestand.

Im Hintergrunde aber sah ich bei dem undeutlichen Licht meiner Öllampe etwas, das mich im ersten Augenblick erschreckt zurückprallen ließ. Dort erhob sich ein aus Bimssteinplatten errichteter großer, viereckiger Aufbau. Und auf diesem lagen drei menschliche Gestalten, umgeben von allerlei indianischen Waffen und kunstvoll geschnitzten Hausgeräten. Reichgestickte Gewebe bedeckten den Aufbau und verhüllten zum Teil auch seine Seitenwände.

Die drei Leichen waren infolge der trockenen Luft dieser Grotte vollständig erhalten geblieben, aber zu Mumien zusammen geschrumpft. Sie trugen indianische Lederanzüge. Zwei waren Männer, und zwar ohne Frage Häuptlinge, wie die Adlerfedern in ihren Haarschöpfen bewiesen. Die mittlere Leiche war die einer Frau.

Die Mumien besaßen sämtlich dasselbe reiche, schneeweiße Haar wie der Greis in dem oberen Gemach. Sie gewährten einen seltsamen, aber keineswegs irgendwie schauerlichen Anblick. Trotzdem verließ ich die Grotte sofort wieder, nachdem ich festgestellt hatte, daß es weitere unterirdische Räume hier nicht gab.

Jetzt erst wagte ich es, den Alten von seinem Stuhl hochzuheben und auf das Bett zu schleppen. Er war so mager, daß ich seinen Körper bei einiger Anstrengung unschwer tragen konnte. Nun blickte ich ihm auch zum ersten Mal in das faltige, abgezehrte Antlitz, – traute meinen Augen nicht: ich hatte keinen Indianer, wie ich nach seinem Lederwams vermutet hatte, sondern einen Weißen vor mir …!

Bald erfuhr ich dann auch näheres über die merkwürdige Lebensgeschichte dieses Einsiedlers und zwar durch ein in deutscher Sprache abgefaßtes Schriftstück, welches zu vollenden der unerbittliche Tod ihm nicht gestattet hatte. Dieses Schreiben lag auf dem Tische vor dem Tintenfaß und war offenbar an mich gerichtet. Es trug kein Datum. Die Buchstaben waren zum Teil recht schwer zu lesen. Man sah es ihnen an, daß der Greis sie mit letzter Kraft hingemalt hatte …

„Ich fühle, daß der Tod mir nahe ist. Zwei Tage habe ich meine Wohnung nicht verlassen können. – Mein kleiner Gefährte, vielleicht leidest Du bereits an den Qualen des Durstes! Nun – ich halte Dich für umsichtig genug, um den Zugang zu meinem Heim im Notfalle zu finden. Ich habe Dich heimlich oft genug beobachtet und mich gefreut, wie vortrefflich Du Dir Dein Leben eingerichtet hast. – Du wirst Dich wundern, weshalb ich, selbst ein geborener Deutscher, Dir so ängstlich aus dem Wege ging und Dich nicht in meine Behausung mit aufnahm. Dies hatte verschiedene Gründe. Du wirst sie am besten würdigen können, wenn ich Dir meine Lebensschicksale ganz kurz berichte. – Ich heiße Friedrich Meister, stamme aus Schlesien, habe Naturwissenschaft studiert und schon in jungen Jahren weite Forschungsreisen unternommen. Hierbei geriet ich 1841 in die Gefangenschaft der Seminolen, des mächtigsten Indianerstammes der Halbinsel Florida. Damals hatte dieser sich gerade gegen die amerikanische Regierung empört. Bei den Seminolen lernte ich meine spätere Gattin, die Tochter des Oberhäuptlings Große Schildkröte kennen. Ihr zuliebe vergaß ich meine Heimat, in der ich freilich nähere Angehörige nicht zurückgelassen hatte. So wurde ich selbst eine Rothaut und brachte es bald zu der Würde eines Häuptlings. Zehn Jahre haben die Seminolen mit kaum 1800 Kriegern einer ganzen Armee der Amerikaner getrotzt. In diesem Verzweiflungskampf wurde ich berühmt. Man wußte, daß ich den Widerstand der Seminolen stets aufs neue aufstachelte, man setzte einen Preis auf den Kopf Matu-Matu’s, des weißen Seminolenanführers, aus. Endlich mußten wir uns ergeben. Ich sollte erschossen werden. Vorher aber hoffte man aus mir das Geheimnis herauszupressen, das, wie die Amerikaner nur zu gut wußten, nie über die Lippen der drei Personen gekommen wäre, denen es außer mir noch bekannt war und von denen ich es erst anvertraut erhalten hatte. Diese drei waren die Große Schildkröte, dessen Sohn und mein Weib. Fünfzehn Jahre schleppte man mich von Gefängnis zu Gefängnis. Schließlich versprach man mir sogar Leben und Freiheit, wenn ich den Ort verriet, wo der alte Königsschatz der Seminolen, die früher einer der mächtigsten Stämme ganz Nordamerikas gewesen waren, verborgen lag. Mein Mund blieb stumm. Und dann gelang es mir eines Tages zu entfliehen. Inzwischen hatte ich nichts mehr von meinen roten Stammesbrüdern gehört. Jetzt erst erfuhr ich, daß sie in dem Indianer-Territorium angesiedelt worden waren, also nicht mehr die endlosen Wälder Floridas bewohnten. Im Territorium traf ich dann nur noch ein Volk an, das mit den früheren Seminolen nichts mehr gemein hatte, einen durch Ausschweifungen und Trunksucht herabgekommenen Stamm von kaum noch 2000 Seelen. Die Große Schildkröte, dessen Sohn, die Kleine Schildkröte, und Raumatea, mein Weib, waren jedoch nicht in der neuen Niederlassung. Man erzählte mir, daß sie bald nach der Überführung der Seminolen nach dem Territorium verschwunden seien. Ich glaubte jedoch zu wissen, wo ich sie zu suchen hatte. Und tatsächlich – hier auf dieser öden Insel, deren Lage ich längst kannte, fand ich sie wieder, trauernd um das Geschick ihres Volkes und entschlossen, nie mehr das Festland von Amerika zu betreten. Mein Erscheinen änderte vieles. Ich war jetzt so weit Rothaut geworden, daß ich allerlei Pläne zu einem allgemeinen Aufstand der nordamerikanischen Indianer gegen die Weißen, in denen auch ich meine bittersten, verhaßtesten Feinde sah, entwarf, daß ich heimlich in Verbindung mit den Häuptlingen der bedeutendsten Stämme trat und mit Hilfe des mir zur Verfügung stehenden Goldes alles für die mir vorschwebende Wiedergeburt der roten Rasse vorbereitete. Doch diese hatte ihre Rolle, wie ich bald merkte, vollständig ausgespielt. Zu einem einheitlichen Vorgehen, zu einer Rückeroberung ihres Stammlandes vermochte sie sich nicht mehr aufzuraffen. Außerdem fanden sich überall Verräter, die der amerikanischen Regierung mein Tun und Treiben hinterbrachten. Zum Glück kannte niemand meinen Schlupfwinkel, diese Insel, von der aus ich stets unter größten Vorsichtsmaßregeln nach dem nahen Florida übergesetzt war. Ich sah meine stolzen Pläne in nichts zerrinnen, durfte mich auch von hier nicht mehr fortwagen, da ein ganzes Heer von Verfolgern gegen mich aufgeboten worden war. Dann starben auch kurz hintereinander meine drei Gefährten. Dies geschah im Jahre 1878. Seitdem habe ich das Eiland nicht mehr verlassen. Trotzdem blieb ich mit der Welt in Verbindung durch eine zuverlässige Seminolenfamilie, die noch in Florida als friedliche Ackerbauer lebten. Jedes halbe Jahr erschien einer meiner Stammesbrüder hier und versah mich mit allem Nötigen. Doch diese Besuche müssen jetzt ebenfalls aufhören. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß die amerikanische Regierung oder doch zum mindesten einzelne Personen abermals hinter mir her sind. – Nun wirst Du verstehen, weshalb ich nicht wollte, daß Du mich näher kennen lerntest. Niemand sollte in die Lage kommen, mich verraten zu können. Meine Person und mein Geheimnis ist ja Millionen wert! – Noch einige Aufklärungen, die Deine Person angehen. Daß Du ein Deutscher warst, ersah ich aus einem Notizbuch, das ich in Deiner Tasche fand, als ich Dich ohnmächtig nach dem Oststrande trug. Dein Boot habe ich mit Sand gefüllt und in der Lagune gegenüber der Stelle versenkt, wo Du es auf Land gezogen hattest. – Warum ich dies tat? – Ich muß zugeben: aus allgemeinem Haß gegen die weiße Rasse! Ich wollte Dich hier kläglich zugrunde gehen lassen. Und nur das Notizbuch mit seinen Eintragungen in deutscher Sprache hat Dich gerettet. Schließlich noch etwas über meine merkwürdige Fußspur. Da ich damit rechnen mußte, daß zufällig einmal Leute auf der Insel landeten, sollten sie nicht durch meine Spuren darauf aufmerksam gemacht werden, daß hier Menschen hausen. Ich trug deswegen außerhalb meiner Wohnung, die bereits seit einem Jahrhundert besteht und ein Familiengeheimnis der Oberhäuptlinge der Seminolen war, stets runde, Mokassins[2], die ich mir selbst gefertigt hatte. – – Meine Kräfte schwinden immer mehr. – Ich bin jetzt hinsichtlich des Königsschatzes der Seminolen zu einem bestimmten Entschluß gelangt. Er soll Dir, meinem Landsmanns gehören. Die Seminolen selbst, jetzt nichts mehr als entartete Nachkömmlinge eines großen Volkes, wüßten damit doch nichts anzufangen, verdienen es auch nicht, daß man ihnen Millionen anvertraut. Die Tätowierung auf der Brust d…“

Hier hatte der Tod den weißen Häuptling abgerufen.

Ich habe ihn dann nachher in die Grotte hinabgeschafft und neben die drei Mumien gelegt. Drei Tage sind seitdem verflossen, – drei Tage, in denen ich ständig darüber nachgegrübelt habe, ob der letzte, unvollendete Satz des Schriftstückes mir nicht den Weg zu dem Aufbewahrungsort des Schatzes weisen könnte. Auf der Brust jeder der drei Mumien fand ich das Bild einer Schildkröte in blauer und roter Farbe – weiter nichts. Meine Vermutung, der weiße Häuptling könnte eine der Mumien gemeint haben, trifft also nicht zu. Jetzt habe ich alles nutzlose Nachdenken aufgegeben, habe mir eine Menge von Gegenständen, die ich gut brauchen kann, in meine Hütte am Oststrande gebracht und oben auf dem Bimssteinberge die rauchgeschwärzte Öffnung sowohl als auch die Platte mit Geröll bedeckt. Die vier Toten dort unten sollen in ihrer Ruhe von Fremden nie wieder gestört werden. Nur wenn ich Trinkwasser brauche, steige ich in die Grotte hinab.

Heute, am 8. oder Mai 1908 bin ich mit der Aufzeichnung meiner bisherigen Erlebnisse fertig geworden.

* * *

15. Mai 1908 morgens. – Ich habe die Jolle glücklich gehoben und wieder instandgesetzt. – Nachmittags kurz vor Sonnenuntergang. – Alle meine Glieder zittern vor freudiger Erregung. Ein Dampfer ist am Horizont aufgetaucht. Sein Kurs muß ihn in der Nähe des Eilandes vorüberführen. Ich werde ihm entgegenrudern. Die See ist glatt wie ein Spiegel. Die Freiheit winkt … Wie werden meine Eltern jubeln, wenn ich als reumütiger Sohn vor sie hintrete …! – Leb’ wohl, meine einsame Insel, – leb’ wohl!! Ich habe Dir viel zu danken! Du hast mich reifer gemacht, hier ist aus dem leichtsinnigen Knaben ein ernster Jüngling geworden …!“

* * *

Karl Kerstens Hoffnung auf eine baldige Heimkehr ins Elternhaus war verfrüht.

Das Schicksal wollte es anders! Erst elf Monate später landete er in Hamburg. Was er inzwischen noch erlebt hat, läßt sich hier in Kürze nicht einmal andeuten. Ein neues Bändchen „Erlebnisse einsamer Menschen“ wird dazu nötig sein. Es wird demnächst erscheinen und den Titel „Drei Mumien“ führen.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Drei Mumien.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Flosse(s)“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher alle Vorkommen geändert auf „Floße(s)“.
  2. In der Vorlage steht: „Mokasins“.