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Die Grönlandfahrer

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Grönlandfahrer.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Nach England – niemals!!

Der Funkentelegraphist der „Brigitte“ stand vor Lührsen in dem kleinen, eleganten Speisesaal der Motorjacht.

Gustav Lührsen saß mit seinen Gästen beim ersten Frühstück. Erst sechs Uhr morgens war’s. Aber auf der „Brigitte“ wurde man früh munter. Das war vor Antritt der Nordlandsreise unter den sechs Herren so ausgemacht worden.

„Was gibt’s schon wieder, Müller?“ fragte der jugendliche Chef der Bremer Schiffswerft „Nautilus“ etwas unwirsch.

„Herr Lührsen, ich wette, daß die Funksprüche der deutschen Stationen absichtlich durch fremdes Dazwischenfunken gestört werden. Unser Apparat ist jetzt wieder tadellos in Ordnung, nachdem er fünf Tage, gerade so lange, als wir hier in dieser Bucht stillliegen, gestreikt hatte. Der Fehler war leicht zu beseitigen, als ich ihn erst gefunden hatte. Trotzdem – ich bekomme kein vernünftiges Wort zusammen. Seit dem 30. August nachmittags sind wir nun ohne jede Nachricht von Deutschland. Ich habe jetzt so meine Gedanken darüber …“

Lührsen lachte.

„Sie sind ein Schwarzseher, Müller! – Und um uns diese Geschichte von dem kaputten und wieder ausgebesserten und trotzdem keine lesbaren Depeschen liefernden Apparat zu erzählen, die wir übrigens schon das dritte Mal hören, setzen Sie so ein Gesicht auf, als ob die Welt aus den Angeln gehe …!! – Hier – trinken Sie einen Kognak! Das wird Ihre Seele wieder leidlich ins Gleichgewicht bringen.“

Redakteur Parlitz vom Bremer Tageblatt, ein stattlicher, graubärtiger Herr, hob jedoch abwehrend die Hand.

„Einen Augenblick, lieber Lührsen. – Sagen Sie mal, bester Müller, was haben Sie denn für Gedanken darüber …?! Raus mit der Sprache!“

Der Funkentelegraphist wandte sich Parlitz zu.

„Krieg haben wir – das ist’s“ antwortete er leise. „Es kann kein Zufall sein, daß fortwährend die deutschen Funksprüche der Nauener Station gestört werden! Schiffe sind’s, die dies tun, Schiffe, die wie die „Brigitte“ mit drahtlosen Apparaten ausgestattet sind und die sich zahlreich in der Nordsee herumtreiben.“

Die Gesichter der sechs Herren wurden plötzlich sehr ernst. Sie schauten sich gegenseitig unsicher an.

Die letzte drahtlose Depesche war am frühen Morgen des 30. August von der „Brigitte“ aufgefangen worden, die gerade zur Reparatur einer undichten Stelle eines Zuleitungsrohres der Maschine sich von der Barkasse in die entlegene Bucht zwischen den der Insel Island östlich vorgelagerten Felseneilanden hatte schleppen lassen, wo sie dann bis heute vor Anker lag, – eine Zeit erzwungener Muße, die Lührsen und seine fünf Freunde zur Enten- und Seehundjagd ausgenutzt hatten. Und diese letzte deutsche Funkendepesche war ihrem Inhalt nach recht beruhigend gewesen, brachte zum Ausdruck, daß Kaiser Wilhelm es auf keinen Fall zu einem Kriege kommen lassen werde und sich persönlich mit dem russischen Zaren zwecks Aufrechterhaltung des Friedens in Verbindung gesetzt habe. –

Müller, der Funkentelegraphist, merkte, daß seinem Worte wie eine Bombe eingeschlagen hatten. Hierdurch kühner gemacht, fügte er eifrig hinzu:

„Mir ist zum Beispiel auch aufgefallen, daß die See seit drei Tagen geradezu unheimlich leer geworden ist. Kein Fischdampfer ist mehr zu sehen. Dabei gehört doch die Ostküste von Island zu den besten Fanggründen Europas.“

Redakteur Parlitz nickte Müller freundlich zu.

„Sie meinen also, daß es feindliche Schiffe sind, die unseren Funkspruchverkehr stören, nicht wahr? – Ist dies der Fall, so könnten es doch nur englische sein, die hier in Frage kämen. Und daß England sich auch zusammen mit Rußland auf uns stürzen wird, – diese Unvorsichtigkeit traue ich den gerissenen Herren Briten nicht zu.“

Da wurde die Pendeltür des Speisesaales aufgestoßen. Kapitän Frommert, der tüchtige Führer der „Brigitte“ in so manchem heftigen Sturm, platzte herein.

„Krieg, meine Herren, – Krieg mit Rußland, Frankreich und England, Serbien schon gar nicht gerechnet!“ rief er, und sein Gesicht war dabei vor Erregung seltsam verzerrt. „Krieg …!! – Unser zweiter Maschinist, welcher Müller in der Funkerzelle vertreten hat, fing soeben eine amtliche Depesche aus Deutschland auf. Sämtliche Handelsfahrzeuge, auch Privatjachten, sollen schleunigst einen neutralen Hafen anlaufen. Die Nordsee ist von den Engländern bereits gesperrt …“

Der Telegraphist verschwand eiligst. Vielleicht gelang es ihm jetzt, noch weitere Telegramme abzulesen.

Aber diese Hoffnung war eitel. Was er an deutschen Depeschen noch erhielt, war wieder vollständig verstümmelt wie bisher. –

Im Speisesaale hatte unter den zurückbleibenden Herren eine kurze Beratung stattgefunden. Frommert erklärte hierbei, daß die Jacht mittags, falls nötig, ihren jetzigen versteckten Liegeplatz verlassen könne.

Die meisten stimmten für einen Durchbruchversuch auf Helgoland zu. Besonders Lührsen und der Ingenieur Hagen, die beide als Offiziere dem Beurlaubtenstande der Marine angehörten, betonten, daß die „Brigitte“, die bei voller Ausnutzung ihrer Motoren neunzehn Knoten zu laufen vermochte, sich schon durch die englische Meute hindurchschlängeln würde.

So wurde denn beschlossen, alles für dieses Wagnis vorzubereiten. Die Hauptsache war, daß im entscheidenden Augenblick die Motoren nicht etwa versagten. – Hagen, der bei der Nautilus-Werft gerade der Motoren-Konstruktions-Abteilung vorstand, begab sich jetzt selbst in den Maschinenraum hinab, um alles nochmals eingehend nachzusehen.

Inzwischen ließ Lührsen die Motorbarkasse, die als Rennboot gebaut war und eine Schnelligkeit zu entwickeln vermochte, gegen die ein Kriegsfahrzeug kaum aufkam, für alle Fälle mit Proviant, Wasser und anderen Dingen versehen, damit er, Hagen und die vier Marinereservisten der Besatzung das schlanke Boot jeder Zeit als letzte Aussicht auf Rettung vor drohender Kriegsgefangenschaft besteigen konnten.

Gegen zwölf Uhr mittags verließ die „Brigitte“, nachdem ein Mann mit einem Fernglas von der Mastspitze aus den östlichen und südlichen Horizont abgesucht und nichts Verdächtiges bemerkt hatte, ihren Ankerplatz und schlug nordöstlichen Kurs ein, der sie zunächst in Sicht der norwegischen Küste bringen mußte.

Aber die Jacht sollte leider nur zu bald merken, daß selbst in diesen hohen Breiten Englands flinke Torpedozerstörer scharfe Wacht hielten. Bereits nach einer Stunde meldete der Mann im Ausguck, daß der Weg versperrt sei. Vier Zerstörer näherten sich der „Brigitte“. Kurz nacheinander tauchten sie auf, und es war offensichtlich, daß sie sich durch Funksprüche verständigten und daß sie es auf die „Brigitte“ abgesehen hatten.

Die Jacht wendete schleunigst und suchte wieder in die neutrale Zone der zu Dänemark gehörigen Insel Island zurückzugelangen. Dies gelang nicht. Einer der Zerstörer hatte sich bereits zwischen die Jacht und die Küste gedrängt und zwang erstere, genau südlichen Kurs zu nehmen, mitten hinein in den Atlantik.

Und wieder zwei Stunden später waren die Zerstörer, die in der flüchtenden Jacht vielleicht eine besonders gute Beute wittern mochten und ihr daher hartnäckig folgten, so nahe gerückt, daß jede Aussicht auf ein glückliches Entkommen schwand.

Da meldete der Mann im Ausguck im Nordwesten eine lange Reihe von Eisbergen, die von den grönländischen Gewässern auf der Trift nach Süden unterwegs waren.

Das, was die „Brigitte“ jetzt unternahm, war ein verzweifeltes Wagnis: sie hielt auf die schwimmenden Eisriesen zu, um sich zwischen diesen bis Eintritt der Abenddämmerung zu verbergen. – So ging denn die Hetze in veränderter Richtung weiter.

Um die sechste Nachmittagsstunde kam die „Brigitte“ außer Sicht ihrer Verfolger und steuerte nun kühn in die schmale Bucht eines riesigen Eisberges hinein, der sicherlich mehr als eine Quadratmeile Oberflächengröße besaß und ohne Frage im hohen Norden aus mehreren anderen zusammengefroren war.

Die Bucht, die von zwei schmalen, aber sehr schroffen und hohen Halbinseln gebildet wurde, bot der Jacht vorzügliche Deckung. Freilich war die „Brigitte“ hier aber auch ständig einer furchtbaren Gefahr ausgesetzt. Bekanntlich ragen diese weißen Wanderer aus den Polargegenden stets nur mit einem Achtel bis einem Neuntel ihrer Gesamtmasse aus dem Wasser hervor, und dies macht den Aufenthalt auf den Eisriesen oder in ihrer Nähe so sehr gefährlich. Durch Wegschmelzen der im Wasser befindlichen Teile ändert sich nämlich nach einer längeren Fahrt gen Süden der Schwerpunkt der ganzen Eismenge, bis sie plötzlich durch irgend eine Ursache, meist stärkeren Seegang, das bis dahin noch bewahrte Gleichgewicht verliert und regelrecht umkippt, das heißt, die bisherige Oberfläche verschwindet und die unteren Teile eine neue bilden. Hierbei entsteht entsprechend der ungeheuren Masse des sich herumwälzenden Eises bis auf einige Kilometer Entfernung eine kurze, sehr heftige Bewegung des Wassers, einer sogenannten Springflut vergleichbar, wo die Flutwelle durch gleichgerichtete starke Winde zu einem wahren Wasserwall angehäuft wird, der böse Zerstörungen anrichtet, sobald er einem Schiffe begegnet oder die Küsten bis weit ins Binnenland überspült. –

Diese Flucht in die Wasserrinne des Eisberges war daher mit vollem Recht ein Wagnis zu nennen, allerdings eines, das des poetischen Zaubers insofern nicht entbehrte, als die Besatzung der „Brigitte“ hier das Schauspiel eines Sonnenunterganges erlebte, der die schroffen Spitzen und Zacken, die Täler und Ebenen des Eisriesen in die wunderbarsten Farben tauchte. Es schien, als ob dieser weiße, treibende Gebirgsstock eine einzige glühende Riesenkohle sei. Alles war in Rot getaucht. Rosig schimmerten die Gipfel der Eishügel, dunkelrot die tieferen Stellen. Und das ergab einen Anblick, der selbst die einfachen Matrosen der Jacht in Entzücken versetzte.

Leider sollten ihnen aber die englischen Zerstörer nicht Zeit lassen, die Schönheiten dieses Naturwunders in Ruhe auszukosten.

Kapitän Frommert hatte zwei Mann in der Jolle auf den Eisberg geschickt, damit sie von dessen höchster Erhebung die feindlichen Schiffe beobachten und durch genau vereinbarte Flaggensignale melden sollten, falls einer der Zerstörer sich der Einfahrt in die Bucht in besorgniserregender Weise näherte.

Plötzlich erfolgte tatsächlich das Signal: „Zwei Zerstörer suchen die Einschnitte des Eisberges mit Booten ab.“ – Gleich darauf: „die beiden anderen im Nordwesten gesichtet.“

Unter diesen bedrohlichen Umständen zögerte Lührsen keinen Augenblick länger. Er, der Ingenieur Hagen und die vier Marinereservisten begaben sich nach schnellem Abschied von den Gefährten auf die Motorbarkasse. Gerade als diese von der „Brigitte“ abstoßen wollte, erschien noch der Kajütjunge Peter Simmel auf dem Fallreep mit seiner Kiste auf dem Rücken und bat flehentlich mitgenommen zu werden.

„Mit mir werden die Engländer besonders böse umspringen, Herr Lührsen“, erklärte er erregt. „Ich bin vor acht Monaten von dem Kanaldampfer „Dover“ ausgerückt, weil der Kapitän Maneater mich so schlecht behandelte. Und aus Rache hatte ich vorher in sämtliche Aluminiumtöpfe der Kombüse Löcher eingeschlagen. Das war schlecht von mir. Aber – nur ich weiß, wie die verd… Engländer mich drangsaliert haben! – Ich muß mit, Herr Lührsen, ich muß …! Sie wissen ja, daß die Bande mich noch monatelang gesucht hat. Mir wird’s schön ergehen, wenn’s durch Zufall herauskommt, daß ich jener Peter Simmel von der „Dover“ bin.“ –

So kam es, daß der fünfzehnjährige, kleine Bursche die abenteuerliche Flucht der Barkasse mitmachte.

Diese eilte jetzt, während die Eisspitzen noch in feuriger Lohe flammten, dem offenen Meere zu.

Und nicht einen Moment zu früh …

 

2. Kapitel.

Auf die grönländische Küste zu.

Eben schoß sie pfeilschnell aus der Einfahrt hervor, als hinter dem nächsten der treibenden Eisriesen einer der Torpedojäger in etwa anderthalb Seemeilen Entfernung auftauchte und zwar mit einem Kurse, der ihn der Barkasse genau in den Weg führen mußte.

Ingenieur Fritz Hagen, der Kapitänleutnant der Reserve war, während sein Chef Gustav Lührsen es erst bis zum Oberleutnant gebracht hatte, übernahm die Führung des flinken, kleinen Fahrzeuges. Zunächst lag ihm daran, die Meute der Verfolger von der Jacht abzuziehen. Durch geschickte Manöver gelang ihm dies wirklich. Daß er dabei zweimal den Geschützen zweier Zerstörer Gelegenheit gab, die Barkasse aufs Korn zu nehmen, störte ihn nicht. Schießen und treffen ist zweierlei. Und das bewiesen auch die Herren Engländer.

Absichtlich ließ Hagen das Boot auch zuerst nicht seine volle Geschwindigkeit entwickeln. Indem er es durch schmale Durchfahrten zwischen den einzelnen Eisriesen hindurchführte, die die Zerstörer als tiefer gehende Fahrzeuge sehr vorsichtig zu passieren gezwungen waren, um nicht auf eine unter Wasser weit vorragende Eisnadel zu stoßen und sich den Schiffsboden aufzureißen, gewann er trotz halber Fahrt einen guten Vorsprung.

Als er schließlich nach Nordwesten in völlig freies Wasser hinaussteuerte, sah er zu seiner Freude, daß sämtliche vier Zerstörer hinter der Barkasse herwaren.

Inzwischen hatten die Schatten der Dämmerung sich längst über das Meer ausgebreitet. Jetzt begannen die Scheinwerfer der Feinde zu spielen, und hin und wieder fiel auch ein Schuß. Aber die Granaten sausten, hohe Fontänen aufwerfend, unschädlich vor, hinter und neben dem flüchtenden Boot ins Wasser.

„Trotzdem bleibt’s ein gefährliches Spiel!“ meinte Lührsen, der neben dem Ingenieur im Heck der Barkasse am Steuer stand. „Trifft durch Zufall so eine Pille, dann – ade du schöne Welt!“

Hagen nickte. „Sehr richtig. Aber eine Stunde müssen wir die Bande noch verleiten uns zu folgen. Ich wette, die braven Briten vermuten hier auf unserem Schifflein Personen von Stand oder aber womöglich Staatsdokumente von höchster Wichtigkeit. Sonst würden sie kaum die „Brigitte“ jetzt ganz vernachlässigen und uns so hartnäckig folgen. – Ja – noch eine Stunde …! Dann kann unsere Jacht sich entfernt haben und Zeit finden, nach Island zu dampfen und dort einen Hafen anzulaufen.“

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als ein unheimliches Sausen dicht über ihre Köpfe hinstrich und gleich darauf die Granate eines Revolvergeschützes im Vorschiff platzte.

„Da haben wir die Bescherung!“ rief Lührsen. Er wollte noch mehr hinzufügen. Aber das Wort erstarrte ihm im Munde.

Gellende Schmerzensschreie kamen vom Vorschiff her. Dort hatten drei von den Matrosen soeben in dem vordersten Verschlage einen Teil der von der „Brigitte“ mitgenommenen Sachen sicher weggestaut. Und die Splitter des krepierenden Geschosses waren zweien sofort zum Verhängnis geworden. Auch der dritte verstummte bald …

Damit aber nicht genug …! – Nein, die Granate hatte auch in die Backbordwand gerade in Wasserhöhe ein Loch von Kopfesgröße gerissen, durch das die gierige Flut nun in das Boot strömte und bewirkte, daß der Bug immer tiefer sank.

In wilder Hast war erst nach dem Verletzten gesehen worden. Der starb jedoch leider schon nach wenigen Minuten. Dann wurde das Leck verstopft, indem man eines der Kissen aus der kleinen Kajüte hineinpreßte und ein Brett darüber nagelte. Dicht war dieser Verschluß nicht. In starken Rinnsalen lief das Wasser noch in das Vorschiff hinein[1]. Aber die größte Gefahr konnte als beseitigt gelten.

Hagen hatte dem Matrosen, der den Motor bediente, sofort nach dem unglückseligen Granattreffer zugerufen, den Umschalthebel auf „Volle Fahrt“ zu stellen. Aber dies half nicht viel. Das halb voll Wasser gelaufene Vorschiff, das zum Glück durch eine wasserdichte Zwischenwand von dem kleinen Maschinenraum getrennt war, hinderte die Barkasse, ihre ganze Geschwindigkeit zu entwickeln.

Nur so konnte es auch geschehen, daß die Verfolger in gefahrdrohender Nähe blieben und daß bald ein Hagel von Geschossen sich über das von den Scheinwerfern hell beleuchtete Fahrzeug ergoß. Ein wahres Wunder blieb’s, daß keine der Granaten das Boot traf. Und doch sollte diese Beschießung noch ein weiteres Opfer fordern.

Der Matrose Jensen, derselbe, der als letzter der vier Marinereservisten noch am Leben war und den Motor bediente, erhielt, als er auf dem Kajütdach für alle Fälle die Rettungsringe bereitlegte, einen Volltreffer in den Hinterkopf … Ein Blitz, ein Krach, – Sprengstücke pfiffen umher, durchschlugen hier und da die Deckplanken … Und der arme Jensen plumpste als zerfetzte Masse über Bord – auf Nimmerwiedersehen … –

Peter Simmel schöpfte in wilder Eile das eingedrungene Wasser aus, Hagen bediente jetzt den Motor und Lührsen stand am Steuer. Das waren die drei letzten, die dem Unheil entronnen waren.

Bald darauf änderte sich die Lage zum Vorteil der Barkasse. Nachdem das Vorschiff wieder leidlich sich aufgerichtet hatte, trat sofort die überlegene Kraft des Motors zutage. Die Zerstörer, die ihre Beute bereits zu haben glaubten und schon halb eingekreist hatten, blieben mehr und mehr zurück. Aber dennoch – aufgeben wollten sie die Jagd nicht. Dicke Rauchsäulen entquollen ihren niedrigen, schrägstehenden Schornsteinen. Offenbar strengte man drüben die Kessel aufs äußerste an.

Dann ein neuer Zwischenfall. – Die Hetze war bisher in südlicher Richtung gegangen. Noch rechtzeitig bemerkte Peter Simmel, der soeben auf Lührsens Geheiß, nachdem man ein Gebet gesprochen hatte, die Toten in die See hatte gleiten lassen, um die Barkasse zu entlasten, gerade voraus ein paar weiße Lichtblitze, die aufzuckten, wieder verschwanden, bald kürzere, bald längere Zeit aufleuchteten. – Wenige Minuten später stand es außer Zweifel, daß ein fünftes feindliches Fahrzeug der Barkasse entgegenkam.

Eine kurze Beratung zwischen Hagen und Lührsen. Letzterer erklärte sehr ernst, daß er es für ausgeschlossen halte, noch nach Deutschland zu gelangen. „Wir haben jetzt schon den Beweis erhalten, daß die Engländer überall auf dem Atlantik umherschwärmen. Die Zerstörer werden durch Funksprüche weithin jedes britische Schiff alarmieren. Selbst nach neutralen Häfen ist uns der Weg abgeschnitten. Nur eine Rettung gibt’s noch: nach Norden zu – nach der grönländischen Küste! – Dort wird man uns nicht suchen …!“

* * *

Vier windstille, warme Tage waren vergangen.

Die Barkasse der „Brigitte“ näherte sich jetzt, mit halber Kraft die langen Wogen des Atlantik durchschneidend und mancher Eisscholle, manchem Eisberge ausweichend, Kap Farewell[2], der Südspitze von Grönland.

Dieses Polargebiet ist dänischer Besitz. – Unwillkürlich verbindet man mit dem Namen Grönland die Vorstellung von toten, starren Eiswüsten, öden Felsenhügeln, auf denen vielleicht ein paar Moose und Flechten ein kümmerliches Fortkommen finden, und eisiger Kälte.

Dies trifft nun in keiner Weise zu, wenigstens nicht für die südliche Westküste dieses arktischen Gebietes während der Sommermonate.

Grönland, grünes Land, erstreckt sich in Form eines ungefähr gleichschenkligen Dreiecks zwischen Amerika und Europa von Norden nach Süden bis zum 59. Grad nördlicher Breite. Die Frage, ob es mit dem Kontinent von Nordamerika zusammenhänge also keine selbständige Insel ist, wurde durch den Polarforscher Dr. Kane dahin gelöst, daß sich im Norden von Grönland ein weites, offenes Meer befindet und daß keine Landverbindung mit Amerika besteht. Die Küsten Südgrönlands zeigen den ausgeprägten Charakter der Steil- und Klippenufer. Das Innere ist ein Hochland, reich an hohen Bergen und Gletschern, und das ganze Jahr über von Schnee- und Eismassen bedeckt. Auch die Ostküste ist für eine Besiedelung kaum geeignet. Anders dagegen die Westseite. Hier gibt es viele vorgelagerte Felseninseln, bis zu zwanzig Meilen in das Land einschneidende Fjorde und an deren Ufern niedrige Ebenen, die im Sommer grüne, sumpfige und wiesenartige Stellen in großer Ausdehnung aufweisen, ebenso zahlreiche Blumen, niedrige Sträucher, unter denen die Weide und die verkrüppelte Fichte besonders häufig vertreten sind. Selbst die Uferberge besitzen in der heißesten Jahreszeit, in den Monaten Juli und August, infolge der Gräser und frischgrünenden Moose einen Schimmer von Vegetation. Steigt doch im Juli zum Beispiel in Südgrönland das Thermometer nicht selten bis zu 20 Grad. – Freilich, diese Herrlichkeit ist nur von kurzer Dauer, hält kaum acht Wochen an. Dann setzen wieder die Schneestürme ein, die Kälte kommt, und alles Leben erstarrt bis zum nächsten Juli. – Doch nicht alles … Unter den meterhohen Schneedecken, die sich schützend über die fruchtbaren Flächen legen und den Frost abhalten, wachsen einige Pflanzen und Moose fröhlich weiter, ja, blühen sogar, und bieten dem Renntier willkommene Nahrung.

Diese Westküste von Grönland beherbergt heute denn auch eine kleine Kolonie, die sich auf verschiedene Ortschaften verteilt. Die Hauptniederlassung ist Julianehaab, fast ein Städtchen zu nennen, und dieses zu erreichen war die Absicht der drei Flüchtlinge auf der Barkasse der „Brigitte“. –

Fritz Hagen, ein untersetzter, breitschultriger Mann in den besten Jahren mit dunklem Haar und Spitzbart, hatte soeben mit dem Fernglas die auftauchende Küste gemustert. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sich auch hier englische Dampfer, die schnell als Hilfskreuzer in Dienst gestellt waren, aufhielten, um deutschen Schiffen aufzulauern, die aus den grönländischen Häfen Tran, Räucherfische und Erze holen und dafür andere Handelsartikel einführen.

Doch der Horizont war leer. Kein Schiff war zu sehen. So wurde denn ein mehr westlicher Kurs eingeschlagen, um schnellstens nach Julianehaab zu gelangen, das am Ausgang eines großen Fjordes etwa fünfzig Meilen nordwestlich von Kap Farewell liegt, seiner Zeit als Missionsstation gegründet wurde und die südlichste Niederlassung der Kolonie ist, während als die nördlichste das dem Namen nach weit bekanntere Upernavik angesehen werden kann.

Zwei Stunden später, der Ingenieur hatte sich inzwischen wiederholt davon überzeugt, daß der Weg frei sei, tauchte um die Mittagszeit aus der Vorderluke, die in die kleine Kombüse (Küche) führte, der mit einer blauen Schirmmütze bedeckte Kopf Peter Simmels auf.

Der Junge zog die Nase kraus. – Hier wehte wahrhaftig schon ein recht kühles Lüftchen über die See hin …! – Peter wollte schon wieder unter Deck verschwinden, nachdem er einen kurzen Blick auf die zur Rechten liegende Küste von Grönland geworfen hatte, als er mit seinen scharfen Augen einen Dampfer wahrnahm, der soeben hinter einer der Felseninseln hervorkam.

Peter machte Lührsen, der am Steuer saß und behaglich eine Zigarre rauchte, sich allerdings auch recht warm angezogen hatte, sofort auf das Schiff aufmerksam.

Der Ingenieur hatte gerade den Motor frisch geölt und erschien nun gleichfalls an Deck. Bald meldete der Besitzer der Nautilus-Werft, der mit dem Fernrohr nach der Flagge des Dampfers gesehen hatte, daß es ein schwedisches Fahrzeug sei, wahrscheinlich ein Robbenfänger, der hier nach guten Jagdgründen suchte.

Unbekümmert setzte die Barkasse daher ihren Kurs fort. Dann rief Peter Simmel wieder:

„Herr Lührsen, der Dampfer gibt Notsignale. Da – die Flagge geht beständig rauf und runter …“

Der Bremer Großindustrielle sah Hagen fragend an. Der nickte. Und daher legte Lührsen die Ruderpinne um, so daß das Motorboot nun auf den Dampfer zulief.

Fünf Minuten später befand sich die Barkasse dicht neben dem angeblichen Schweden. Da verschwand plötzlich die schwedische Handelsflagge und eine andere entfaltete sich in der kalten Brise: die des meerbeherrschenden, nein, des Meertyrannen England! –

Hagen stieß eine Verwünschung aus, sprang in den kleinen Maschinenraum hinab und riß den Hebel auf „Volle Fahrt“. Oben an Deck hatte Lührsen ebenfalls die Lage sofort richtig erkannt. In kurzem Bogen suchte er die Barkasse aus der Nähe des Feindes schleunigst wieder fortzubringen, denn daß dieser Dampfer, der so frechen Flaggenmißbrauch getrieben hatte, Böses im Schilde führte, unterlag keinem Zweifel.

Da kam aber auch schon von drüben durch das Sprachrohr der Befehl herüber:

„Stoppt sofort, oder wir feuern!“

Lührsen lachte grimmig vor sich hin. Mochte die Bande schießen …!! Vielleicht trafen sie nicht – vielleicht …!

Um dem Gegner das Zielen zu erschweren, ließ er jetzt das davonsausende Motorboot eine fortwährende Zickzacklinie beschreiben.

Gewehrschüsse knatterten … Lührsen duckte sich unwillkürlich zusammen. Dann ein lauter, harter Knall … Das Revolvergeschütz begann zu sprechen. Drei Granaten gingen vorbei. Die vierte riß das Kajütdeck ein Stück auf, ohne zu krepieren.

In einem Hagel von Geschossen flüchtete die Barkasse weiter. Lührsen steuerte jetzt absichtlich wieder nach Osten, auf Kap Farewell zu, um hinter einer langgestreckten Gruppe hoher Felseilande verschwinden zu können.

Der Dampfer blieb zurück. Mit dem Motorboot konnte er’s nicht aufnehmen. Aber seine beiden Revolverkanonen feuerten unablässig … Und gerade als Lührsen in eine enge Einfahrt zwischen zwei der ersten Inseln einlenkte, wohin der Dampfer unmöglich folgen konnte, durchschlug eine Granate die Kajüte, explodierte, machte die Barkasse schwer leck und zerstörte eins der Lager der Schraubenwelle, so daß das Boot schnell an Fahrt verlor. Immerhin genügte die Vorwärtsbewegung noch, um es in dem schmalen Kanal zwischen den haushohen Steilufern gut zweihundert Meter weiterzubringen. Dann legte es sich immer mehr infolge der einströmenden Wassermassen auf die Seite und begann zu sinken.

Lührsen gelang es nur noch, die dem Untergang geweihte Barkasse dicht an eine vorspringende, niedrige Platte heranzudrücken. Die drei Insassen schwangen sich auf den kahlen Fels …: Dann unter ihnen ein Gurgeln und Brausen … Ihr Boot schoß in die Tiefe …

Hagen schaute sich suchend um.

„Sie sollen uns doch nicht fangen, die falschen Schurken!“ rief er den beiden Gefährten zu. „Folgt mir! Wir verstecken uns irgendwo …“

Eine enge Schlucht zog sich in das Felsmassiv dieser Insel hinein, auf der die drei Deutschen sich jetzt befanden. Die Kluft erweiterte sich jedoch bald, und mühselig konnten die Flüchtlinge durch eine nicht ganz ungefährliche Kletterpartie die Höhe der Steilküste erreichen, wo eine Menge einzeln stehender Granitblöcke von den abenteuerlichsten Formen ihnen gute Deckung bot.

So hasteten sie weiter. Hagen machte auch hier den Führer. Immer mehr aufwärts strebte er, dorthin, wo ein wildzerrissener Berg die Insel krönte.

Jetzt hatten sie eine Stelle erreicht, von der aus sie die See überschauen konnten.

Peter stieß einen Ruf der Überraschung aus. Als erster hatte er den englischen Hilfskreuzer erspäht, der auffallenderweise mit qualmendem Schlot nach Süden zu davondampfte. Er zeigte mit der Hand auf das ferne Schiff und sagte aufatmend:

„Sie haben die Verfolgung aufgegeben! Nun sind wir gerettet!“

Aber der Ingenieur lachte bitter, drohte mit der Faust hinter dem Engländer drein und meinte:

„Gerettet?! – Mein Junge – bedenke, wo wir uns befinden! In wenigen Tagen schon kann hier der Schnee meterhoch liegen, wird die Kälte kommen und …“

Er führte den Satz nicht zu Ende. „Ah – sehen Sie dorthin, Lührsen, – nach Nordwest …!“ rief er. „Nun haben wir ja die Erklärung, weshalb der Engländer auskneift!“

Ein zweiter Dampfer war dort sichtbar geworden, ohne Zweifel ein neutrales Schiff, dem der Hilfskreuzer ausweichen wollte, da er sich schwer gegen das Völkerrecht vergangen hatte, als er innerhalb der dänischen Hoheitsgrenze kriegerische Handlungen gegen ein feindliches Fahrzeug unternahm.

 

3. Kapitel.

Polarfahrer wider Willen.

Beide Schiffe waren nach einer Viertelstunde verschwunden.

„Was nun?“ fragte Lührsen kleinlaut „Unsere Lage ist verzweifelt. Der arktische Winter steht vor der Tür. Und wir besitzen keinerlei Hilfsmittel, um hier in dieser traurigen Felsenwildnis unser Dasein zu fristen.“

„Sehr richtig – wenn’s auch nicht ganz stimmt“, erwiderte Hagen mit Nachdruck. „Etwas besitzen wir doch. Zunächst als bestes unsere Verstandskräfte, dann aber auch so mancherlei, was für uns sehr wertvoll sein kann. Jedenfalls dürfen wir nicht untätig bleiben, wenn wir nicht verhungern und erfrieren wollen. Mit einem Wort: Beginnen wir sofort den Kampf ums Dasein unter diesen für uns zwar ungünstigen, aber doch nicht ganz hoffnungslosen Umständen! – Vorwärts! Suchen wir als erstes ein Unterkommen für die Nacht. Vielleicht zeigt sich morgen ein Schiff hier in der Nähe, das wir herbeirufen können – vielleicht! Die Aussicht ist zwar gering, da diese Inselgruppe weitab von der Dampferroute nach den dänischen Niederlassungen Grönlands liegen muß.“

Nochmals schaute der Ingenieur sich um. – Nach Südosten zu erstreckte sich Eiland an Eiland längs der Küste hin, von dieser durch einen Streifen freien Wassers von gut einer halben Meile Breite getrennt. Nach Nordwest gab es ein Stück der endlosen See, dann in der Ferne wieder Inseln und den dunklen Strich der westgrönländischen Steilufer, hinter dem sich die weißen Gipfel von Bergen und tote, vereiste Hochebenen auftürmten.

Dann begannen die drei Gefährten die Suche nach einem Unterschlupf für die erste Nacht.

Hagen hatte nur so getan, als ob er seine und seiner Unglücksgefährten Lage nicht für völlig hoffnungslos ansah. In Wahrheit glaubte er bestimmt, daß sie hier baldigst jämmerlich umkommen würden. Aber es war nicht seine Art, ohne weiteres zu verzweifeln. Und deshalb wollte er seinen Leidensgenossen wenigstens zunächst noch die Aussicht auf Rettung als im Bereiche der Möglichkeit liegend hinstellen. Besonders Lührsen, der ja ohne Frage ein tüchtiger Geschäftsmann war, sich aber durch Widerwärtigkeiten und Fehlschläge nur zu leicht niederdrücken ließ, mußte bei Laune erhalten werden. Leichter würde er es ja mit dem Kajütjungen haben. Der war so recht aus dem Holze geschnitzt, das stets oben schwimmen bleibt. Das hatte Hagen längst erkannt. Und deshalb sagte er jetzt auch zu Peter Simmel:

„Hör’ mal, mein Junge, ich denke, es ist besser, wenn wir in zwei Abteilungen auf Suche nach einem passenden Unterschlupf ausgehen. Es ist jetzt vier Uhr nachmittags. Du kannst die Ostseite der Insel absuchen, und wir tun dasselbe auf der Westseite. Hier hast Du meinen Revolver – für alle Fälle! Ich glaube ja nicht, daß es auf diesen Eilanden Eisbären gibt – aber sicher ist sicher!“

Lührsen hatte gleichfalls seinen Revolver in der Tasche, so daß auch er und Hagen über eine Waffe verfügten.

Man trennte sich also und ging in entgegengesetzter Richtung auseinander. – Peter Simmel fühlte sich durch diesen ihm zuteilgewordenen Auftrag sehr geehrt. Nachdem er die Schlucht, die die Insel etwa in zwei gleiche Hälften teilte, überschritten hatte, wandte er sich zuerst dem schmalen Kanal zu, in dem die Barkasse gesunken war. Zu seinem Erstaunen sah er, daß das Motorboot in klarem, flachem Wasser kaum anderthalb Meter unter der Oberfläche lag. Der Kanal war eben von sehr unregelmäßiger Tiefe, und die Barkasse gerade an einer seichten Stelle auf Grund geraten. Sofort zuckte dem Jungen der Gedanke durch den Kopf, ob es nicht möglich sein würde, das Boot zu heben und dann vielleicht auszubessern.

Während er dieses noch hin und her überlegte, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen kleinen Bach gefesselt, der als Kaskade über das hohe Ufer des Kanals in diesen sich ergoß und zwar auf der gegenüberliegenden Insel. In der Hoffnung, daß der Bach süßes, trinkbares Wasser enthalten könne, dessen Auffindung Ingenieur Hagen als so überaus wichtig erklärt hatte, eilte er weiter, um nach einer schmalen Stelle des die beiden Inseln trennenden Sundes zu suchen, die er denn auch sehr bald fand. Ein etwas gewagter Sprung brachte ihn glücklich auf die andere Seite. Wie gut es gewesen, daß er dem Bächlein solche Beachtung geschenkt hatte, sollte sich sehr bald zeigen.

Indem er dem Laufe des Baches folgte, der seinen Weg durch zahlreiche Schluchten nahm, die untereinander in Verbindung standen, gelangte er nach zehn Minuten an den Fuß einer felsigen Höhenkette, die den Mittelpunkt dieser Insel zu bilden schien.

Der Bach verschwand hier in einer kaum ein Meter breiten Felsspalte, die er fast völlig ausfüllte. Aber einige große, bemooste Steine, die in seinem Bett lagen, ermöglichten es dem Kajütjungen, trockenen Fußes in diesen Schlund einzudringen, der sich sehr bald erheblich verbreiterte und ein Tal von fünfzig Meier Breite und doppelter Länge bildete. Darüber wölbten sich die Felsmassen zu einer Decke, welche in der Mitte und zwar in der Längsrichtung eine vielleicht fünf, stellenweise auch sieben bis acht Meter breite Öffnung besaß, durch die Peter über sich den klaren, blauen Himmel erblickte.

Weit mehr als diese merkwürdige Gestaltung dieses Felskessels interessierte den Knaben jedoch die Tatsache, daß es hier auffallend warm war und daß den Boden des Tales eine Vegetation bedeckte, wie er sie draußen auf den Hochflächen der Inseln noch nicht beobachtet hatte. Moose, Flechten und Gräser gediehen an diesem Orte in seltener Üppigkeit; außerdem gab es aber noch eine ganze Anzahl von blühenden Blumen am Ufer des Baches, ferner zahlreiche Gruppen verkrüppelter Fichten.

Um zu sehen, wo der Bach eigentlich entsprang, verfolgte er ihn weiter aufwärts und gelangte so immer unter der offenen Spalte der Deckenwölbung entlanggehend, an ein dunkles, gähnendes Loch, aus dem das Wasser heraustrat. In diese Grotte einzudringen getraute er sich jedoch nicht, da allerlei Spuren ihm verraten hatten, daß dieser Felskessel von Eisbären besucht würde.

In der Nähe des Grotteneingangs war die hohe Temperatur besonders stark fühlbar. Ein warmer Luftstrom schien aus dem gähnenden Schlund der Höhle hervorzudringen.

Peter Simmel bückte sich jetzt, um festzustellen, ob auch das Wasser des Baches vielleicht wärmer sei, als zu erwarten stand. Schnell zog er die Hand jedoch wieder zurück.

Das Wasser war heiß – so heiß, daß es auf der Haut Schmerzen verursachte. – Hiermit war sowohl die Erklärung für die linde Luft in dem Kessel als auch für die fast üppige Vegetation an diesem halbdunklen Orte gefunden.

In dem Bewußtsein, eine äußerst glückliche Entdeckung gemacht zu haben, eilte Peter Simmel jetzt wieder auf die Nachbarinsel hinüber und den beiden Gefährten nach.

Als er diesen dann, nachdem er sie durch laute Pfiffe herbeigerufen hatte, eingehend schilderte, welch’ warmem angenehmen Aufenthalt jenes Tal abgeben müsse, drückten sowohl Hagen als auch Lührsen ihm dankbar die Hand und belobten ihn für seine Umsicht mit anerkennenden Worten.

Der Ingenieur sah sich nun zunächst die Stelle an, wo die gesunkene Barkasse lag.

„Um sie ohne technische Hilfsmittel zu heben, dafür ist sie zu schwer“, erklärte er dann zu des Knaben Enttäuschung. „Vielleicht können wir später einmal dieser Frage nähertreten, falls wir eben nicht das Glück haben, sehr bald von hier fortzukommen.“ –

Es sei hier gleich erwähnt, daß diese Hoffnung sich nicht erfüllte. Alles Ausspähen nach einem Schiff oder auch nur nach einem Eskimofahrzeug war vergeblich. –

Dann wurde der Talkessel in Augenschein genommen. Hagen, der in früheren Jahren zweimal in Upernavik gewesen war, um dort Eisenerze für die Nautilus-Werft einzukaufen, meinte jetzt, daß das Vorkommen von heißen Quellen in Grönland durchaus keine Seltenheit sei und erzählte von ein paar Landstrichen im hohen Norden der arktischen Kolonie, die infolge des warmen Quellwassers die Gründung von Niederlassungen auf diesem so begünstigen Boden herbeigeführt hätten.

In kurzem hatten die Gefährten dann aus Fichtenzweigen Fackeln hergestellt, die genügten, um bei ihrem Schein nun auch die Grotte zu untersuchen. Zündhölzchen besaßen Hagen und Lührsen jeder eine halbvolle Schachtel, mit deren Inhalt man recht sparsam umgehen wollte.

Die Grotte lief zunächst als von dem Bache durchflossener Felsengang einige zehn Meter in das Bergmassiv hinein und mündete in eine niedrige, dafür aber sehr ausgedehnte Höhle mit zahlreichen Seitengängen.

Gleich neben dem Eingang fanden die drei Deutschen den Kadaver eines uralten, offenbar aber erst vor kurzem verendeten Eisbären von geradezu riesigen Abmessungen. Da das Raubtier keinerlei Verletzungen aufwies und sein schadhaftes Gebiß auf ein wahres Methusalemalter hindeutete, war anzunehmen, daß der Eisbär an Altersschwäche eingegangen sei.

Dies blieb jedoch nicht der einzige wichtige Fund. In dem Felsenboden und den Wänden der Höhle traten nicht nur Mineraladern, so besonders Kupfer- und Eisenerze, sondern auch ein Kohlenflöz von mächtiger Breite zutage, wie ja Grönland überhaupt über reiche Bodenschätze, auch Blei und Zink, verfügt, deren Abbau nur des rauhen Klimas wegen auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Auch metamorphische Schieferschichten gab es hier, in die der sogenannte Topfstein eingebettet ist, aus dem der Eskimo seine Gefäße fertigt, da diese Gesteinart sich mit Messern bearbeiten läßt und nachher über dem Feuer glashart wird. Außerdem entsprangen hier aber noch dem Gestein drei heiße Quellen, die ihr leicht dampfendes Wasser in einer Rinne vereinigten und es als Bach dann in den Kanal zwischen den beiden Inseln schickten.

Des Ingenieurs ernste Züge hatten sich in dieser von der Natur so vielseitig ausgestatteten Höhle immer mehr aufgeklärt.

„Jetzt brauchen wir den Winter nicht mehr zu fürchten“, meinte er zu Lührsen. „Die Vorsehung hat uns durch die Entdeckung dieses unterirdischen Raumes gezeigt, daß sie uns nicht verderben lassen will. Wenn wir uns draußen in dem Talkessel dicht am Grotteneingang eine Hütte errichten, werden wir’s hier stets ganz behaglich haben. Freilich bin ich dafür, daß immer einer von uns zwei Stunden lang etwa von der höchsten Spitze der Insel aus das Meer beobachtet, damit uns kein Schiff entgeht, das wir vielleicht zu unserer Hilfe herbeiwinken können. Inzwischen sollen die beiden anderen sofort mit den nötigen Arbeiten beginnen, unter denen als nächste die Abhäutung des Eisbären und der Bau der Hütte in Betracht kämen.“

Doch bereits am nächsten Morgen stellten sich schwere Schneestürme ein, die fast eine Woche bei starkem Frost anhielten. Mit dem kurzen grönländischen Sommer war es vorbei, ebenso aber auch mit der Aussicht der drei Deutschen, noch in diesem Jahre bewohnte Gegenden zu erreichen. Die jetzt einsetzenden Herbststürme und das viele Treibeis hielten selbst den in seinem Kajak (einsitziges Fellboot) auf den Robbenfang ausgehenden Eskimo auf dem Festlande zurück.

Inzwischen hatten die drei unfreiwilligen Polarfahrer eifrigst die Hände gerührt. Die Hütte aus Felstrümmern war fertig geworden und darin ein Herd, der tüchtig mit Kohlen geheizt wurde, da die Temperatur in dem Talkessel jetzt doch auf wenige Grad Wärme gesunken war. Außerdem hatte der Ingenieur aber auch das Bärenfell gegerbt und das Fleisch des Tieres, das nach längerem Kochen ganz genießbar war, außerhalb des Tales in einer Spalte gefrieren lassen, um es auf diese Weise vor dem Verderben zu schützen.

So waren die drei Deutschen vor der ärgsten Not wenigstens einigermaßen geschützt. Am schlechtesten stand es um ihre Kleidung. Hagen und Lührsen besaßen zwar lange Mäntel, aber auch diese schützten gegen die Witterungsunbilden der arktischen Zone so gut wie nichts. Noch übler war Peter Simmel daran. Er hatte nichts als seinen blauen Tuchanzug mit der doppelreihigen Jacke.

Deshalb mußte er sich auch nach Hagens Anweisung aus dem Bärenfell einen Pelz anfertigen. Als Nadeln dienten zurechtgeschnitzte Knochenstücke desselben Tieres, als Zwirn lange Sehnen. Die größeren Knochen wieder hatte der erfindungsreiche Ingenieur zu allerhand notwendigen Geräten umarbeiten lassen, zu Löffeln, Eßstäbchen und Töpfermessern. Mit Hilfe der letzteren waren aus dem reichlich vorhandenen Topfstein die nötigen Gefäße hergestellt worden, ebenso ein Rauchfang für den Herd.

Die größte Sorge der drei Gefährten galt jetzt der Beschaffung von Winterkleidung. Am achten Tage ihres Aufenthaltes auf der Insel erlegten sie dann in dem Kanal acht Robben, deren Felle schleunigst zu Anzügen verarbeitet wurden. Zum Glück besaßen sie für ihre Revolver zusammen etwa hundert Patronen, so daß sie vorläufig imstande waren, die Jagd weiter auszuüben und sich auch im Notfalle gegen das einzige gefährliche Raubtier der Polarländer, den Eisbären, zu verteidigen. Trotzdem ging der Ingenieur mit dem Gedanken um, auch andere Waffen anzufertigen. Hierzu fehlte ihm jedoch zunächst das notwendige Holz. Erst als Peter Simmel dann an einem windstillen, aber recht kalten Tage an der Westküste der Insel eine Menge Wrackstücke, Planken und auch einen ganzen Schonermast mit Tauwerk und Spieren fand, die eine Strömung hier an den Strand geworfen hatte, konnte man daran denken, sich auch Lanzen mit eisernen, langen Spitzen herzustellen.

Hagen gelang es, durch ein freilich sehr primitives Verfahren, aus den Eisenerzen genügend Eisen zu gewinnen, um daraus Hämmer, Beilschneiden, Lanzenspitzen und manches andere Gerät zu schmieden. In der Höhle war jetzt eine vollständige Werkstatt eingerichtet worden, in der sogar ein Amboß und ein Blasebalg nicht fehlten. Als Beleuchtung dienten zahlreiche Tranlampen, deren Gefäße aus Topfstein bestanden, während zu den Dochten Stücke der wollenen Mäntel Hagens und Lührsens verwendet wurden.

An das tranig schmeckende Robbenfleisch mußten die Gefährten sich allerdings erst sehr gewöhnen. Im übrigen hatten sie sich ihre neue Behausung und ihr ganzem Dasein so behaglich und zweckentsprechend eingerichtet, daß ihnen dieses Robinsonleben kaum als eine Last erschien. Im Gegenteil, es bot ihnen, gerade weil sie so vollständig für sich sorgen mußten, so viele Anregungen, wie sie es zunächst kaum für möglich gehalten hätten.

Ende der ersten Septemberwoche erlebten sie dann eines Morgens die Überraschung, daß die See bis nach der grönländischen Küste hin fest zugefroren war. Ein Thermometer besaßen sie nicht. Aber Hagen schätzte die Kälte auf fünfzehn Grad. Auch der die beiden Inseln trennende schmale Sund bildete jetzt eine feste Eisdecke, jedoch nicht an der Stelle, wo die Barkasse gesunken war. Hier bewirkte das in den Kanal abfließende warme Wasser des Baches, daß sich auf sechzig Meter Breite selbst bei strengster Kälte eine eisfreie Wasserfläche befand, die von Robben und zuweilen auch von Walrossen gern besucht wurde.

Jetzt erwiesen sich auch gegenüber dem eisigen Winde die bisherigen Fellanzüge als ungenügend. Ebenso war es nötig, sich warme Fußbekleidung, Handschuhe und Pelzkappen zu besorgen. Woher aber die notwendigen langhaarigen Felle nehmen …?! Bisher hatte sich ja auf der Insel weder ein Eisbär noch ein Polarfuchs gezeigt.

Dieses Mal war es Peter Simmel, der auf einen guten Gedanken kam. An einer geeigneten Stelle wurde eine kleine, aber sehr feste Steinhütte errichtet, die der Sturm bald mit Schnee bedeckt hatte, so daß sie von der Umgebung nicht abstach. Die aus angetriebenen Planken gefertigte Tür war so konstruiert, daß sie von selbst zufiel, wenn ein Tier sich an dem in dieser praktischen Falle ausgelegten Köder, einer toten Robbe, zu schaffen machte.

Als nun gleich in der zweiten Nacht nach der Fertigstellung der Fanghütte ein Polarfuchs als Beute mit heimgebracht werden konnte, wurden auch auf der Nachbarinsel an verschiedenen Stellen drei weitere Fallen dieser Art gebaut, die im Laufe einer Woche als Ergebnis zwei Eisbären und fünf Polarfüchse lieferten, so daß die Gefährten nun genügend Pelzwerk besaßen, um sich die noch fehlende Winterbekleidung arbeiten zu können.

Bis diese fertig war, mußten die drei Deutschen notwendig in dem Talkessel oder in der Höhle sich aufhalten und durften sich nur für kurze Zeit ins Freie hinauswagen. Die Kälte war noch ärger geworden. Dazu kam der heftig Sturm, der den Körper schon nach wenigen Minuten bis auf die Knochen durchkältete. Das wurde erst anders, als man Pelzanzüge besaß. Nur Peter Simmel verrichtete in dieser Zwischenzeit die im Freien vorzunehmenden Arbeiten, zu denen in erster Linie allmorgendlich das Nachsehen der Fanghütten gehörte. Fand er eine der Falltüren geschlossen, so wurde die Beute stets auf dieselbe Art und Weise abgetan. Ein an einer Seite offener Käfig aus Holzstäben, die innen mit zahlreichen Eisenspitzen versehen waren, paßte genau vor den engen, viereckigen Eingang, an dessen Holzrahmen er durch Haken festgeklemmt werden konnte. Steckte das geängstigte Tier dann den Oberkörper heraus, so genügte ein gut gezielter Stich mit einer Lanze des über dem Eingang lauernden Jägers, um selbst einen Eisbären zu töten, dem ja der lange Schaft der Waffe das Zurückkriechen in die Fanghütte unmöglich machte.

Der Kajütjunge besaß in der Handhabung der Lanze eine große Gewandtheit, so daß das Tier zumeist ohne Qualen verendete.

 

4. Kapitel.

Ungebetene Gäste.

Anfang Oktober trat überraschenderweise für vier Tage wieder gelinderes Wetter ein. Wenn die Kälte in dieser Periode auch zehn Grad betrug, so machte sie sich doch wegen der Windstille weniger fühlbar. Da mittlerweile die warmen Pelzsachen sämtlich fertig geworden waren, wurden diese Tage zu Ausflügen nach den benachbarten Eilanden und nach der grönländischen Küste benutzt.

Leider hatte das Tageslicht jetzt jedoch schon so sehr abgenommen, daß man bereits einen Vorgeschmack der Polarnacht erhielt, die in Südgrönland die Sonne für den Monat Dezember vollständig verschwinden läßt. Auch im Oktober erschien das Tagesgestirn nur noch für knappe fünf Stunden über dem Horizont, beschrieb einen sehr flachen Bogen und verschwand wieder.

Diese Stunden mußten daher nach Möglichkeit ausgenutzt werden.

Am 7. Oktober, gegen zwei Uhr nachmittags, kehrten die Gefährten von einem Besuch des Festlandes zurück, wo sie einen ungeheuren, der Insel gegenüberliegenden Gletscher besichtigt hatten, der seine enormen Eismassen über die an dieser Stelle gut hundert Meter hohe, steile Uferwand bis in das Meer wie eine gewaltige Zunge herabhängen ließ. Jetzt bildeten Meer und Gletscherzunge ein durch die Kälte miteinander verbundenes Ganzes. Ingenieur Hagen machte seine beiden Begleiter aber darauf aufmerksam, daß dieser überhängende Gletscherteil demnächst in der warmen Jahreszeit wahrscheinlich abbrechen, in die See stürzen und dann in der Form eines Eisberges seine Wanderung nach Süden antreten würde.

Tatsächlich entstehen diese gefährlichen Wanderer aus dem hohen Norden entweder auf die von Hagen angedeutete Weise oder aber durch Zusammenfrieren von Treib- und Preßeis. –

In angeregter Unterhaltung schritten die drei jetzt wieder ihrer Insel zu. Morgens war ein wenig frischer Schnee gefallen, so daß sie wiederholt ganz neue Fährten von Füchsen und Eisbären fanden. Dieses Raubzeug hatte längst gemerkt, daß in der Nähe des Kanals an der offenen Stelle stets Beute anzutreffen war. Daher kam es auch, daß die Fanghütten oft genug von einem wild darin umhertobenden Fuchse oder Eisbären besetzt waren und daß der Kleidervorrat der drei arktischen Robinsons immer reichhaltiger wurde.

Man befand sich gerade auf dem zugefrorenen Meeresteil zwischen der Insel und der grönländischen Küste an einer Stelle, wo die Eisschollen sich zu ganzen Hügeln zusammengedrängt hatten und dann erstarrt waren, als der Kajütjunge eine Spur von vier Hundeschlitten und fünf Menschen entdeckte, die, wie sich bald zeigte, auf das Eiland der drei Deutschen zulief.

Daß es sich hier nur um Eskimos handeln könne, war klar. In Grönland wohnen nach ungefährer Schätzung 8000 Eskimos, von denen etwa 6000 infolge der zahlreichen Missionsstationen zum Christentum übergetreten sind, lesen und schreiben können und in festen Ansiedlungen zumeist an der Westküste hausen. Der Rest, die wilden Eskimos, haben sich an unzugängliche Plätze des teilweise noch unerforschten Inneren und der rauhen Ostküste zurückgezogen. Auffallend ist es, wie der amerikanische Polarforscher Preastor berichtet, daß gerade diese jeder Zivilisation feindlich gesinnten Ureinwohner sich äußerlich ganz wesentlich von den anderen unterscheiden. Sie sind größer und besitzen vielfach blondes Haar, auch soll ihr Gesichtsschnitt mehr dem der kaukasischen als wie bei den „zahmen“ Eskimos dem der mongolischen Rasse gleichen. Preastor erklärt diese Abweichungen geschichtlich folgendermaßen. – Die Westküste Grönlands wurde von einem norwegischen Seeräuber namens Gunbiörn bereits um das Jahr 950 nach Christi Geburt entdeckt. Bald darauf gründete ein isländischer Flüchtling Erik Rauda dort eine Kolonie, die sehr schnell zu hoher Blüte gelangte. Um das Jahr 1000 besaß Grönland bereits einen norwegischen Bischof und zahlreiche Kirchen. 1406 gab es nicht weniger als zwölf Kirchspiele und 190 Dörfer. Von da an ist die Kolonie in der Geschichte verschollen. Jedenfalls dürfte die Mehrzahl der Kolonisten durch die Blattern hinweggerafft worden sein. Zu derselben Zeit waren dann auch die Eisverhältnisse um Grönland jahrelang so ungünstig, daß kein Schiff an die Küste herankonnte. Aus alten Urkunden geht hervor, daß der 17. Bischof von Grönland tatsächlich durch Eis verhindert wurde, an Land zu gehen. Bis zum Jahre 1720 erfuhr man in Norwegen nichts über das Schicksal der einst so blühenden Niederlassung. Dann wurde von Dänemark aus durch den Missionar Hans Egede eine neue Kolonie gegründet. Jetzt stieß man überall auf Spuren alter Bauten, auf Runensteine, Reste von altertümlichen Fahrzeugen und andere Beweise dafür, daß die frühere grönländische Kolonie nicht etwa nur der Sage angehört habe. Aber erst der dänische Leutnant Graah entdeckte 1830 an der Ostküste ein paar Eskimodörfer, in deren Bewohnern er die Überlebenden jener alten Ansiedlung, die sich inzwischen mit den Ureinwohnern vermischt hatten, vor sich zu haben glaubte, eine Annahme, die der Amerikaner Preastor dann später auf Grund eingehender Untersuchungen bestätigte. – Merkwürdig, ja völlig unerklärlich bleibt es, daß gerade dieses Mischvolk von Norwegern und Eskimos sich allen Zivilisationsversuchen gegenüber hartnäckig ablehnend verhält und den Europäern ängstlich ausweicht. – –

Aus welchen Gründen hier die Geschichte der ersten grönländischen Kolonie so eingehend behandelt worden ist, wird der Leser sehr bald herausfinden.

Die Schlitten- und Menschenfährte beunruhigte den Ingenieur mehr, als er dies seinen Gefährten gegenüber zeigte. Hatte er doch in der Höhle allerhand Beweise für den Abbau der Erzschichten angetroffen. Und diese Spuren menschlicher Tätigkeit waren verhältnismäßig frisch gewesen.

Jetzt kam ihm sofort der Gedanke, daß die Eskimos sich auf dem Wege nach den Erzlagern befinden könnten, um neue Vorräte zur Herstellung eiserner Werkzeuge zu holen.

Nach kurzem Überlegen glaubte er dann doch seinen Begleitern von den soeben in ihm aufgestiegenen Bedenken Mitteilung machen zu müssen, wobei er nicht verhehlte, daß man immerhin mit einer feindlichen Gesinnung dieser Leute rechnen könne und daher Vorsicht geboten sei.

Lührsen zuckte gleichmütig die Achseln. Eskimos als Gegner schienen ihm kaum der Erwähnung wert. Besaß man doch zwei Revolver, Lanzen und kleine Wurfbeile, – alles Waffen, die in einer geübten Hand recht gefährlich für einen Widersacher werden konnten.

Hagen schlug nun vor, man solle sich dem Talkessel von der anderen Seite der Insel her nähern, um nicht etwa in einen Hinterhalt zu fallen.

Kaum hatte er jedoch das letzte Wort ausgesprochen, als der Kajütjunge ganz erregt ausrief:

„Dort – dort – die Eskimos – sie fliehen!“

Es war tatsächlich so. Kaum vierhundert Meter seitwärts von den Deutschen jagten die jetzt auf ihren Schlitten sitzenden Polarbewohner über die Eisdecke dem Festlande zu, indem sie durch Stockschläge die vorgespannten Hunde zur größten Eile antrieben.

Lührsen und Peter Simmel, die heute zum erstenmal Eskimos auf ihren Hundeschlitten sahen, waren erstaunt, mit welcher Geschwindigkeit die niedrigen Schlitten vorwärts kamen. Zusehends wurden die Gestalten der Menschen und Tiere kleiner und kleiner. Bald verschwanden sie ganz hinter einer langgestreckten Hügelkette von übereinandergehäuften Eisschollen.

Daß die Eskimos in dem Talkessel und in der Höhle gewesen waren, verrieten allerlei Spuren und das Fehlen verschiedener eiserner Geräte der Schmiedewerkstatt. Diese ließen sich jedoch unschwer neu herstellen, und somit schien der Besuch der Fremden weiter keine nachteiligen Folgen für die drei Polarfahrer zu haben. Die Eskimos hatten offenbar gemerkt, daß hier Europäer hausten, und mochten aus Furcht schleunigst wieder das Weite gesucht haben. Selbst der sonst so mißtrauische und vorsichtige Ingenieur rechnete nicht mit der Möglichkeit, daß die Eskimos zurückkehren könnten.

Dieses allzu große Sicherheitsgefühl sollte sich schon in der kommenden Nacht bitter rächen.

Nach dem anstrengenden Marsche schliefen die Gefährten in ihrer angenehm warmen Hütte auf ihren fellbedeckten, weichen Mooslagern so fest, daß sie erst munter wurden, als bereits auf jedem von ihnen ein halbes Dutzend Angreifer kniete. Besonders der kräftige Hagen wehrte sich wie ein Verzweifelter. Aber der Übermacht mußte auch er unterliegen.

Nun waren die drei Deutschen mit Lederriemen gefesselt und wurden ziemlich roh aus der Hütte in den Talkessel getragen. Hier erst konnten sie beim Scheine der Harzfackeln, die einige Eskimos in Händen hielten, feststellen, mit wieviel Feinden sie es zu tun hatten, sahen jetzt auch, daß ihre Besieger recht große, schlanke Gestalten waren und eigentlich nur in der Kleidung an die kleinen, breitgesichtigen Eskimos erinnerten.

Diese, im ganzen achtzehn Männer, unterhielten sich lebhaft in ihrer Sprache und berieten anscheinend, was mit den Gefangenen geschehen solle. Ihr Anführer war ein finsterblickender, blondbärtiger Mensch, der die Weißen mit wenig Gutes verratenden Blicken musterte.

Nach einer Weile schleppte man die drei dann in einen Seitengang der Höhle und stellte vor diesem eine Wache auf. Gleich darauf ertönte lautes Hämmern und Pochen, welches darauf schließen ließ, daß die Eskimos Eisenerze lossprengten. Mithin war Hagens Vermutung über den Zweck dieses Besuches der unerbetenen Gäste richtig gewesen.

Die Gefährten, die sich so plötzlich in eine recht bedenkliche Lage versetzt sahen, konnten jetzt wenigstens flüsternd miteinander sprechen. Da sie ihre warme Kleidung nachts stets ablegten und die Temperatur in der Höhle in dieser Jahreszeit kaum vier Grad Wärme betragen mochte, froren sie in kurzem, zumal sie auf den kalten Felsen lagen, derart, daß ihnen die Zähne klappernd zusammenschlugen.

Der Ingenieur sah ein, daß, wenn sie nicht bald etwas für ihre Befreiung täten, sie sich hier unfehlbar eine schwere Erkrankung zuziehen würden. Auf sein Geheiß begannen sie daher alle drei die Riemen ihrer auf dem Rücken gefesselten Hände an scharfen Felskanten zu reiben. Ihr Wächter konnte hiervon nichts merken, da sie völlig im Dunkeln sich befanden und nur ein schwacher rötlicher Lichtschein die etwa zehn Schritt vor ihnen auf dem Boden hockende[3] Gestalt des Eskimos beleuchtete.

Peter Simmel zeigte sich am geschicktesten. Als erster hatte er seine Riemen durchfeilt. Nun rieb er sich tüchtig die Handgelenke, bis diese wieder geschmeidig geworden waren. Dann kroch er zu Lührsen hin, nachdem er mit einem bald gefundenen scharfen Steinsplitter seine Füße frei gemacht hatte. Gleich darauf waren auch seine beiden Gefährten wieder im ungehinderten Besitz ihrer Gliedmaßen.

Eine kurze, leise Beratung folgte. Hagens ganzer Befreiungsplan baute sich darauf auf, daß die Eskimos die Revolver und die Patronen wohl kaum in der Hütte gefunden haben dürften, da man die wertvollen Waffen stets bei Nacht in einem Versteck zwischen den Steinen der einen Wand in einem Ledersäckchen aufbewahrte.

Der Ingenieur war es denn auch, der jetzt lautlos sich am Boden entlangschob, um den Wächter, der die Arbeit seiner Stammesgenossen beobachtete und den Gefangenen daher den Rücken zudrehte, unschädlich zu machen.

Hagens kräftige Hände legten sich urplötzlich um den Hals des Mannes, der ahnungslos dasaß und nun sehr schnell geknebelt und gefesselt war, ohne daß er auch nur den geringsten Laut ausgestoßen hätte.

Peter mußte dann bei ihm zurückbleiben und erhielt ganz genaue Verhaltungsmaßregeln. Der Ingenieur und Lührsen aber schlichen am Westrande der Höhle auf allen Vieren, sich stets hinter Unebenheiten des Bodens vorsichtig deckend, dem Ausgange zu.

Die Eskimos waren bis auf zwei auf der anderen Seite bei dem Erzgange beschäftigt. Diese zwei Leute hatten die Aufgabe, die gewonnenen Erzstücke in Fellen aus der Höhle hinaus und nach den Schlitten zu schaffen, die in dem Talkessel in der Nähe der Hütte standen. Die Hunde waren ein Stück weiter an eine Reihe von Fichten angebunden.

Hagen und Lührsen paßten den Augenblick ab, wo die beiden Eskimos die Ledersäcke an der Arbeitsstelle ihrer Gefährten mit Erzen füllten, kamen ungesehen aus der Höhle heraus und hatten kaum zwei Minuten später ihre Revolver in den Händen.

Der Ingenieur stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er den kalten Kolben der Schußwaffe mit den Fingern umspannte.

„Wartet, Burschen, Euch wollen wir lehren, mit Deutschen anzubinden!“ murmelte er ingrimmig, indem er eine Handvoll Patronen in die Tasche schob. Dann tastete er sich beim Scheine des halb erloschenen Herdfeuers nach der linken Hüttenwand hin, wo einige Reservelanzen hingen.

„Da – nehmen Sie, Lührsen! Eine ist für unseren braven Peter bestimmt. – Und nachher bleibt die Hauptsache: Schnellfeuer – und immer nach den Beinen zielen! – Ein paar Denkzettel müssen wir der Bande mit auf den Weg geben, damit sie das Wiederkommen hübsch bleiben lassen …!“ –

Für die Eskimos gab’s eine böse Überraschung, als dann ganz unerwartet aus kaum zwanzig Schritt Entfernung Schuß auf Schuß fiel. In der niedrigen Höhle verstärkten sich die Detonationen zu einem ohrbetäubenden Getöse, in das sich bald gellende Schmerzensschreie mischten.

Erst feuerte Hagen seine sechs Schuß ab, dann kam Lührsen an die Reihe, so daß der Ingenieur Zeit fand, wieder zu laden.

Da die Eskimos die auf dem Boden liegenden Angreifer nicht sehen konnten und nur das Aufblitzen der Schüsse wahrnahmen, mußten sie auf die Vermutung kommen, es mit weiteren Landsleuten der vorhin gefangen genommenen Europäer zu tun zu haben.

Ihre erste Erstarrung wich bald, und sie trachteten jetzt nur danach, sich schleunigst in Sicherheit zu bringen. Zwei der ihrigen, die Kugeln in die Unterschenkel erhalten hatten, schleppten sie mit sich. Und schreiend vor Angst und Entsetzen drängten sie nun dem Höhleneingang zu. Absichtlich hatten Hagen und Lührsen ihre Stellung so gewählt, daß dieser Rettungsweg den Flüchtenden nicht versperrt war. Und hinter dem Haufen sich stoßender Menschenleiber knallte es lustig weiter, während Peter Simmel mit Steinwürfen nachhalf.

So ging die Jagd, beim Scheine von drei Fackeln, die die Eskimos mitgenommen hatten, auch durch den Talkessel hindurch, bis auch der letzte Feind draußen verschwunden war.

Nun wurde Lührsen als Wache vor den engen Zugang des Tales gestellt, während Hagen und Peter alles gründlich absuchten, ob auch nicht einer der Feinde sich irgendwo versteckt habe.

Doch bis auf den gefesselten Wächter war man die unwillkommenen Gäste losgeworden. Auch dieser wurde freigelassen. Um ihm Beine zu machen, feuerte Lührsen hinter ihm einen Schuß ab – hoch in die Luft.

Nun waren nur noch die Schlitten – zehn an der Zahl – und einige sechzig heulende, kläffende Hunde übrig. Diesen gab man, da man all diese Fresser unmöglich ernähren konnte, ebenfalls bis auf zwölf die Freiheit wieder und jagte sie mit Stockhieben in die Nacht hinaus, die heute infolge klaren Mond- und Sternenlichtes und durch prachtvolle Nordlichter fast taghell erleuchtet war.

 

5. Kapitel.

Ingenieur Hagens glänzendster Gedanke.

Am Morgen nach dieser aufregenden Nacht, die schließlich die drei Deutschen noch in Besitz von zehn Schlitten und einigen Zugtieren gebracht hatte, überzeugte man sich zuerst, ob die Eskimos auch wirklich auf das Festland hinübergeflohen waren. Bald hatte man die Spuren des so leicht geschlagenen Feindes entdeckt. Die breite Fährte, der sich bald eine Unmenge von Eindrücken von Hundepfoten zugesellte, lief über den zugefrorenen Meeresarm auf die grönländische Küste zu.

Jetzt erst waren unsere Polarfahrer beruhigt. Auf dem Rückwege wurden dann noch die drei Fanghütten nachgesehen. In einer steckte wieder ein Eisfuchs, und zwar ein noch ganz junges Tier, dem man großmütig das Leben schenkte.

„Ich bin heute in Geberlaune“, meinte Hagen scherzend, indem er dem Fuchse nachdeutete, der blitzschnell hinter den nächsten vereisten Felsen verschwand.

Dann schritt man dem Kanale zu. An der Stelle, wo die Barkasse in dem hier offenen Wasser lag, blieb Lührsen stehen.

„Wie gut wär’s, wenn wir unsere Gewehre hätten!“ sagte er nachdenklich. „Aber die ruhen da unten in der Kajüte – mit drei Meter Wasser über sich!“

Hagen glättete sich mit der Hand den jetzt recht ungepflegten Vollbart. Seine Augen ruhten wie gebannt auf den schattenhaften Umrissen des Motorbootes.

„Der Mastbaum – man müßte ihn aufspalten“ … murmelte er vor sich hin.

Lührsen lachte. „He, – träumen Sie etwa, Hagen?“

„Ich war nie wacher als jetzt!“ erwiderte der Ingenieur und richtete sich straff auf. „Wir werden die Barkasse heben, bevor noch der Motor verrostet! Es muß gehen – es muß und wird!“

Lührsen und Peter schauten ihn ungläubig an.

„Ich scherze nicht“, fuhr Hagen leicht erregt fort. „Soeben ist mir ein guter Gedanke gekommen. – Der Kanal ist hier so schmal, daß man darüber ein dreibeiniges Gestell für einen Flaschenzug errichten kann. Das Holz liefert uns der Mastbaum, den Peter am Strande fand und den wir zum Glück samt dem daranhängenden Tauwerk gut aufgehoben haben. Den Flaschenzug stellen wir uns selbst her. Und es müßte doch ein ganz besonderes Pech sein, wenn wir drei Mann nicht allmählich die Barkasse hochwinden könnten …!“ –

Noch an demselben Tage wurde eifrig mit den Vorarbeiten begonnen. Der Ingenieur hatte die Größe des Gestells vorher genau berechnet. Während er die nötigen Eisenteile anfertigte, spalteten Lührsen und Peter den Mast mittels Keile auseinander.

Man ließ sich bei der Herstellung der einzelnen Teile Zeit. Alles wurde aufs sorgfältigste überlegt und ausprobiert. Die Taue wurden mit Tran getränkt, um sie geschmeidiger und haltbarer zu machen.

Nach fünf Tagen war man mit den Zurüstungen zu dem großen Werk fertig. Inzwischen hatte Hagen seine ursprüngliche Idee insofern geändert, als er noch eine starke Winde mit drei Speichen entworfen und fertiggestellt hatte, mit der man eine bedeutend größere Zugkraft auf das Tau ausüben konnte, das, mit einem eisernen Haken versehen, zunächst das Heck des Bootes hochbringen sollte. Die Winde wurde mit eisernen Bolzen in den Felsboden verankert. Gerade diese Arbeiten im Freien bei etwa achtzehn Grad Kälte gestalteten sich äußerst schwierig.

Dafür erlebten die Gefährten nachher aber auch die Genugtuung, daß „alles tadellos klappte“, wie man zu sagen pflegt. Der Bug der Barkasse fand auf dem Kanalboden, nachdem das Heck erst einen Meter gehoben war, einen Stützpunkt. Langsam tauchten zunächst das Steuer, dann die Schraube auf, bis man das Hinterschiff auf die Uferfelsen stützen und hier befestigen konnte. Dann begann man den Bug zu lüften. Trotz der Kälte lief den drei Deutschen vor Anstrengung und Aufregung der Schweiß über die Gesichter. Endlich lag die Barkasse dann am Ufer des Kanals. Hiermit war aber erst die halbe Arbeit getan. Schleunigst mußte sie von dem noch nicht ausgelaufenen Wasser befreit werden, ehe dieses gefror. Dann wurde aus dem Flaschenzuggestell ein Schlitten hergestellt und unter das Motorboot gebracht, um es in die Höhle zu schaffen. Drei Tage vergingen wieder, bevor es dann dicht neben der Schmiedewerkstatt stand, wo nun mit den Ausbesserungsarbeiten begonnen wurde. Gleichzeitig mußte man aber auch versuchen, die Schäden wieder gut zu machen, die die in der Barkasse befindlichen Gegenstände durch das lange Liegen im Wasser erlitten hatten. Jedenfalls wurde es Mitte Dezember, bevor der Ingenieur probeweise den Motor anlaufen ließ. Benzin war noch für eine Fahrt von acht Stunden vorhanden.

Es war ein Augenblick höchster Spannung für die drei Deutschen, als der Motor zu knattern begann. Arbeitete er nicht mehr nach Wunsch, so war eigentlich alle bisherige Mühe umsonst gewesen. – Diese Sorge war überflüssig. Bald konnte Hagen ihn wieder hochbefriedigt abstellen.

Jetzt erst wurden auch die letzten Umbauten, die für eine Winterfahrt nach Julianehaab nötig waren, vorgenommen: der eiserne Ofen aus der Kombüse kam in die Kajüte, ein Kohlenbehälter wurde neben dem kleinen Maschinenraum errichtet und, um das Mehrgewicht der Kohlen auszugleichen, alles aus der Barkasse entfernt, was zu entbehren war.

Inzwischen hatte es noch mancherlei anderes zu tun gegeben. Peter Simmel und Lührsen übten sich darin, die Hunde beim Schlittenziehen zu lenken. Weiter lag ihnen die Beschaffung von Fleischvorräten ob, die den in dem Boot noch vorhanden gewesenen Proviant ergänzen sollten. Dieser Proviant, alles in Konservenform, hatte den Gefährten endlich auch wieder eine Abwechslung in der Kost gebracht. Ferner mußten Lührsen und der Kajütjunge einen Weg durch die Insel nach deren Westküste aussuchen, auf dem sich später das auf dem Schlitten ruhende Boot ohne größere Schwierigkeiten bis an die offene See schaffen ließ.

Über alledem kam der Weihnachtstag 1914 heran. Hagen war es dank seiner chemischen Kenntnisse gelungen, eine Menge Kerzen herzustellen, so daß am Heiligen Abend in der Hütte eine mit brennenden Lichten besteckte Fichte trauliche Weihnachtsstimmung verbreitete.

Die Eskimos hatten sich bisher nicht wieder blicken lassen. Am 26. Dezember morgens aber entdeckte Peter, da wundervolle Nordlichter bei der jetzt herrschenden Polarnacht das Verschwinden der Sonne wirksam ausglichen, am Kanal im frischen Schnee Spuren von drei Eskimos, die offenbar als Kundschafter ausgeschickt worden waren. Diese hatten sich bis an den Eingang des Talkessels geschlichen und waren dann wieder nach dem Festland zurückgekehrt.

Die Fährten mahnten zur Vorsicht, obwohl den Eskimos ein Überfall jetzt noch schlechter als das erste Mal bekommen wäre, da man nun noch drei Gewehre zur Verfügung hatte.

Um nichts zu verabsäumen, wurde jetzt der Zugang zu dem Felsenkessel ständig bewacht. Man wartete nur auf günstiges Wetter, um die Barkasse wieder ihrem Element zu übergeben und den Weg nach Julianehaab einzuschlagen.

Am Neujahrstage wurden wieder verdächtige Spuren gefunden, diesmal von acht Eskimos. Unter diesen Umständen beschloß Hagen, sofort aufzubrechen.

Zunächst wurde der mit niedrigen, abnehmbaren Rädern versehene Schlitten, auf dem die Barkasse ruhte, ins Freie geschafft. Es war gerade eine windstille, sternenklare Nacht, als die Kufen des Schlittens, vor den die Hunde gespannt waren und den die Gefährten von hinten schoben, über den Schnee der vorher ausgewählten Bahn in Richtung auf die Westküste hinwegzugleiten begannen. Am 2. Januar 1915 gegen fünf Uhr morgens war das letzte Hindernis, eine breite Spalte, zu überwinden. Wieder stand ein herrliches, flammendes Nordlicht als Leuchte am Himmel.

Da bemerkte Peter auf einem nahen Hügel plötzlich einen ganzen Haufen von Eskimos, die wütend und rachelüstern ihre Waffen schwangen.

Hagen überschaute mit einem Blick die Lage. – Es ging nicht anders: der Feind mußte durch ein recht nachhaltiges Mittel verscheucht werden.

Gleich darauf knallten drei tief gezielte Gewehrschüsse. Drüben wildes Rufen, Schmerzensschreie, – dann war der Gegner blitzschnell verschwunden.

In aller Eile wurde die Barkasse nun über die Spalte gebracht, die man schon halb mit Schnee ausgefüllt gehabt hatte. Jetzt ging es abwärts dem Strande zu. Auch hier war die See noch gut einen Kilometer nach Westen hin zugefroren. Aber der Boden besaß nur geringe Unebenheiten, so daß der Schlitten gut weiterkam.

Dann trat abermals eine Stockung ein, an die niemand gedacht hatte. Plötzlich ertönte nämlich im Rücken der Vorwärtshastenden ein besonderer, gellender Pfiff, der mehrfach wiederholt wurde.

Die Eskimohunde, die bisher brav gezogen hatten, stutzten, heulten auf und wollten nun mit aller Gewalt zu ihren früheren Herren zurück. Es entstand eine heillose Verwirrung. Peter schlug mit dem Stock auf die Tiere ein, Hagen wetterte und schalt, und Lührsen stand ratlos da.

Gewiß, man hätte die Zugriemen durchschneiden und die Hunde einfach laufen lassen können, – wenn eben nicht der Schlitten so sehr belastet gewesen wäre, daß man die Zugkraft der Tiere nicht entbehren konnte. Sind doch nach den Erfahrungen der Polarforscher, besonders Nansens, schon sechs Hunde imstande, einen mit zehn Zentnern und zwei erwachsenen Männern beschwerten Schlitten auf einigermaßen guter Bahn meilenweit zu schleppen.

Hagen sah ein, daß hier nur ein zweiter Angriff auf die hinter Eisblöcken verborgenen Eskimos helfen konnte. Dieser wurde denn auch ohne Zögern unternommen, wobei die drei Gefährten in einem weiten Halbkreis vordrangen und wiederholt Schreckschüsse abgaben.

Dieses Mittel half. Der Feind stürzte in wilder Flucht von dannen, so daß man nun Zeit fand, die Hunde wieder zur Vernunft zu bringen. Inzwischen war jedoch der Schlitten auf dem Eise festgefroren, und es bedurfte einer langwierigen Arbeit mit den Handbeilen, ehe die Barkasse mit ihrem Untergestell sich wieder in Bewegung setzte.

Inzwischen hatte Lührsen einige hundert Meter rückwärts die Eskimos weiter durch gelegentliche Schüsse in Schach gehalten. Jetzt zogen die Hunde an, und mit Hurra ging es weiter. Peter gebrauchte unbarmherzig seinen Stock, so daß der Schlitten schnell in Fahrt kam.

Endlich war das offene Wasser und eine Stelle, wo das Eis flach sich in die Tiefe erstreckte, erreicht. Nun brauchte man die Hunde nicht mehr. Ein paar Messerschnitte genügten. Die Tiere rasten davon.

Gleich darauf wurde der Schlitten ins Wasser geschoben, wo er auf dem schlüpfrigen, geneigten Eise von selbst weiterglitt. Die drei Gefährten schwangen sich auf das Deck, und kaum drei Sekunden später schwamm das Motorboot leise schaukelnd auf dem Meere.

* * *

Der Benzinvorrat reichte gerade bis zur Missionsstation Julianehaab. Hier wurden die Deutschen dann aufs gastfreundlichste aufgenommen. Als sie dem Geistlichen ihre seltsamen Abenteuer erzählt hatten, klärte er sie über die „wilden“ Eskimos, dieses Mischvolk von grönländischen Ureinwohnern und Norwegern, eingehend auf.

Nach Monaten gelangten unsere Polarfahrer dann zunächst nach Christiania und von da weiter über Schweden nach Deutschland, wo sie erfuhren, daß die „Brigitte“ noch jetzt in dem neutralen Hafen von Reykjavik auf Island lag.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „ihnein“.
  2. Heutiger Name: „Kap Farvell“.
  3. In der Vorlage steht: „hockenden“.