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Die schwimmende Insel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die schwimmende Insel.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Fritz Malchows seltsame Erlebnisse.

Die Segeljacht „Nixe“ des Hamburger Senators Behrend lag nun schon seit Tagen in einer Windstille südlich von Kap Sambar, der Südwestspitze von Borneo, auf einer flachen Stelle der Java-See vor Anker.

Das Meer erschien unter den sengenden Strahlen der Junisonne wie flüssiges Blei. Nur eine kaum merkliche Dünung hob und senkte die Jacht regelmäßig wie eine leise hin und her schwingende Schaukel. Die Hitze wirkte so erschlaffend, das Holzdeck der „Nixe“ war so heiß, daß nur die Wache auf dem Vorschiff träge im Schutze eines Sonnensegels auf und ab schritt. Sonst war das elegante Fahrzeug wie ausgestorben.

Im Rauchsalon saßen fünf in weiße Leinenanzüge gekleidete Herren, tranken eisgekühltes Zitronenwasser, rauchten und wechselten hin und wieder ein paar kurze Sätze, die zumeist wenig liebenswürdige Schmeicheleien für den Wettergott waren, der die „Nixe“ in dieser Backofenglut infolge der völlig unbewegten Luft festhielt.

Kapitän Reinhard, der Führer der Jacht, schlug einen Skat vor. Aber er fand bei den anderen wenig Anklang mit diesem Mittel zur Vertreibung der Langenweile.

„Sagen Sie mir lieber, wann wir eine Änderung des Wetters erwarten können, bester Reinhard“, meinte Doktor Volker, ein junger Privatdozent der Universität Kiel, den der Senator ebenso wie den Professor Tomsen und den Großkaufmann Allert zu dieser Fahrt nach den ostindischen Inseln eingeladen hatte.

Der Kapitän zuckte die Achseln. „Vorläufig wohl kaum, Herr Doktor“, erwiderte er, ein Gähnen unterdrückend. „Die Java-See ist ein launisches Stück Weltmeer. Ich habe hier schon Windstillen erlebt, die acht Wochen anhielten, aber auch Stürme, die tagelang dauerten.“

„Sehr aussichtsvoll!“ brummte der junge Gelehrte, der die Altertumskunde als Lehrfach erwählt und sich durch verschiedene Veröffentlichungen über die Siedlungen der alten Germanen in der Wesergegend bereits einen Namen gemacht hatte.

Georg Volker war ein schmächtiger Herr Mitte der Zwanziger, der, wie der dicke Allert stets erklärte, schon „auf einen Kilometer“ als Bücherwurm zu erkennen war.

Der Doktor erhob sich jetzt, reckte und streckte sich und sagte zu dem Senator:

„Sie haben wohl nichts dagegen, Herr Behrend, daß ich nach Sonnenuntergang in der Jolle mal zu der Insel hinüberrudere, die dort im Norden so freundlich mit ihrem farbenprächtigen Baum- und Sträucherschmuck aus der See hervorragt. Das ist dann doch wenigstens eine kleine Abwechslung.“

„Aber bitte, lieber Doktor. Nur verlangen Sie nicht, daß einer von uns Sie begleitet. Wir sind froh, daß wir stillsitzen können.“

„Keine Sorge – ich rudere die dreitausend Meter schon allein“, meinte Georg Volker. „Ich muß mir unbedingt etwas Bewegung machen. Vielleicht finde ich auf dem Eiland auch seltene Vogelarten für meine Sammlung. Meine Büchse will ich jedenfalls mitnehmen.“ –

Eine Stunde später stieß der Doktor von der Jacht ab und trieb das kleine Boot mit gleichmäßigen Schlägen der Insel zu, die er dann zunächst einmal umrundete, bevor er die Jolle in eine flache Bucht lenkte, um hier an Land zu gehen.

Das Eiland hatte eiförmige Gestalt und mochte einen größten Durchmesser von einer halben Meile besitzen. Ein dicker Grasteppich zog sich bis an das Wasser hin, so daß es hier keinen kahlen, sandigen Uferstreifen gab. Dies fiel dem jungen Gelehrten sofort auf. Aber er dachte über die immerhin seltsame Erscheinung nicht weiter nach, obwohl doch jede in der offenen See liegende Insel infolge des fortwährenden Überflutens des Strandes durch die Wellen eine bis an die Wassergrenze herabreichende Vegetation nicht aufzuweisen haben kann, zumal in einem Meere, wo durch Ebbe und Flut diese Wassergrenze eine beständige Veränderung erfährt.

Aus dem dicken Grasteppich sprossen überall blühende Blumen in allen Größen und Farben hervor, die die Luft weithin mit würzigen Düften erfüllten. Kaum zwanzig Meter nach dem Innern zu wuchsen auf dem sanft ansteigenden Strande die ersten Sträucher und Bäume: Indigo-, Baumwoll- und Tabakpflanzen, allerlei Palmenarten, Bananen, Pandanen und Rasamalabäume. Doch alle diese größeren Vertreter des Pflanzenreiches machten hier einen etwas verkümmerten Eindruck, als fänden sie im Boden nicht die genügende Nahrung, um sich zu ihrer ganzen tropischen Üppigkeit entfalten zu können.

Trotzdem bot das Eiland ein so farbenfrohes Bild dar, wie man es eben nur auf dem von der Natur so reichbegnadeten Sunda-Archipel[1] antrifft. Java, eine der vier großen ostindischen Inseln, wird ja nicht zu Unrecht stets als ein Paradies bezeichnet. Bunte Schmetterlinge, darunter blaue Riesenfalter mit zwanzig Zentimeter Flügelspannung, in allen Farben bis zu glänzendem Goldrot leuchtende Käfer, ferner nicht minder farbenprächtige Vögel, darunter zahllose Taubenarten, belebten dieses wundervolle Landschaftsgemälde.

Doktor Volker war all das nichts Neues mehr, da die „Nixe“ bereits Sumatra und Java besucht und sich gerade auf dem Wege nach Hongkong befunden hatte, als die Windstille ihr ein unerwünschtes Halt gebot. Nichts Neues – und doch ruhte sein Blick mit Entzücken auf diesen Kindern der heißen Zone, diesen Vertretern einer Pflanzen- und Tierwelt, die Deutschland nur dem Namen nach kennt.

In der Krone eines zehn Meter hohen Rasamalabaumes, der auf günstigem Boden auch das Fünffache an Höhe erreicht und dessen lederartige Blätter nie abfallen, bemerkte er jetzt auch einige goldbraun gefärbte Meerkatzen, die zur Familie der schmalnasigen Affen gehören und vorzügliche Kletterer sind.

Die Anwesenheit dieser munteren Vierhänder auf der Insel setzte ihn nun doch in Erstaunen. Haben doch die kleinen Eilande, die im Sunda-Archipel liegen, wohl eine prächtige Flora (Pflanzenwelt), aber nur eine sehr spärliche, auf Insekten und Vögel sich beschränkende Fauna (Tierwelt) aufzuweisen. Nur die großen Inseln, besonders Sumatra, Celebes, Borneo und Java, besitzen ein außerordentlich vielgestaltiges Tierleben und bestimmte Arten, wie zum Beispiel den Tiger und den Elefanten, die sonst nur auf dem Festlande vorkommen.

Georg Volker drang jetzt, die doppelläufige Büchse am Riemen über der Schulter, tiefer ins Innere ein. Grüne Haine wechselten mit kleinen Lichtungen ab, auf denen Gruppen von Riesenfarnen sich erhoben und meterhohes Alanggras wuchs.

Die Insel schien nicht eine einzige bedeutendere Erhebung zu besitzen. Nur einzelne kleine Hügel und Geländewellen gab es, hin und wieder auch einen Felsblock, der mit Grün vollständig überwuchert war.

Soeben hatte der Doktor eine Ansammlung von Riesenfarnen, aus der drei Rasamalabäume mit ihren kugelförmigen Kronen herausragten, leise ein Lied vor sich hinpfeifend betreten, als er erschreckt zusammenfuhr.

Eine menschliche Stimme war an sein Ohr gedrungen – holländische Worte.

Die Stimme kam von oben aus der Krone eines Rasamala und klang ganz schwach und matt … Er schaute empor, konnte jedoch nichts entdecken. – Da – wieder die Stimme:

„Herr – retten Sie mich – ich flehe Sie an …! Und – halten Sie Ihre Büchse bereit. Es gibt hier schwarze Panther …“

Jetzt hatte Volker den im Blättergewirr Verborgenen endlich erspäht. Er sah aber nur ein junges, blasses Gesicht, das einem Knaben gehörte, der sich offenbar dicht an den Stamm des Baumes geschmiegt hatte und auf einem der unteren Äste saß.

Der Doktor beherrschte das Holländische ebenso gut wie seine Muttersprache. Daher rief er dem Knaben jetzt auch zu, dieser solle zu ihm herabkommen. Mit den Panthern würde er schon fertig werden.

Neben dem Rasamala stand eine schräggewachsene Pandane, deren Astwerk sich an den hier so bescheiden auftretenden Riesenbaum anlehnte, so daß man sie wie eine Leiter zum Abstieg benutzen konnte.

Sehr langsam kletterte der kleine, bleiche Bursche abwärts, so, als ob er vor Mattigkeit jeden Augenblick fürchte aus der Höhe herabzustürzen. Nun stand er vor dem deutschen Gelehrten, schaute sich ängstlich um und sagte auf holländisch:

„Oh, wie soll ich Ihnen danken, daß Sie mich beschützen wollen, Herr! Ich hatte die Hoffnung ja bereits aufgegeben, mit dem Leben davonzukommen.“

Volker streckte dem Knaben, der vielleicht vierzehn Jahre alt sein mochte, freundlich die Hand hin.

„Wäre ja noch besser, wenn ich mich Deiner nicht annehmen wollte. – Wie heißt Du denn, und wie bist Du hierher gelangt? – Aus Deinen Reden schließe ich, daß Du Dich allein auf diesem kleinen Eiland befindest.“

„Ja, ganz allein. – Herr, mir ist ja so viel Wunderbares begegnet, daß ich noch heute nicht recht weiß, ob ich wache oder träume. – Aber lassen Sie uns bitte eine freiere Stelle aufsuchen. Hier zwischen den Riesenfarnen ist es zu unsicher. Die schwarzen Panther sind gefährliche Bestien, die es verstehen, ganz lautlos heranzuschleichen.“

Der Doktor hielt diese Angst für sehr übertrieben, da er noch nie gehört hatte, daß diese Katzenart bei Tage einen erwachsenen Menschen angegriffen hätte. Trotzdem willfahrte er dem Wunsche des kleinen Holländers. Schweigend schritten sie jetzt einer Lichtung zu, auf der ein paar Felsblöcke an einer Stelle einen niedrigen Hügel bildeten. Dort kletterten sie hinauf und setzten sich, so daß ihnen kaum ein Tier entgehen konnte, welches sich ihrem Ruheplatze näherte.

Dann begann der Knabe zu erzählen. – Gleich seine ersten Worte brachten Volker eine freudige Überraschung, da der Junge sich als Kind deutscher Eltern zu erkennen gab, die östlich von Kap Sambar eine kleine Plantage am Ufer einer tief in das Land einschneidenden Bucht besaßen und erst vor einem halben Jahre aus Schlesien nach dieser niederländischen Kolonie (die Großen Sunda-Inseln sind holländischer Besitz mit Ausnahme des nordwestlichen Teiles von Borneo) ausgewandert waren. –

Vor vierzehn Tagen etwa hatte Fritz Malchow in Begleitung einer kräftigen, seinem Vater gehörigen Dogge einen Ausflug an dem sonst wenig besiedelten Strande der Bucht entlang bis an die Meeresküste unternommen, wo dichte Mangrovendickichte mit ihren hohen Luftwurzeln das sumpfige Ufer weithin bedeckten. Da es gerade Ebbe war und der Sumpf stellenweise trocken lag, hatte der Knabe es gewagt, in den Mangrovenwald einzudringen. Glücklich gelangte er auch bis dicht an die Seeküste. Zu seinem Erstaunen fand er hier nun gerade an dem Eingang der Bucht ein weites Landstück vor, das von Mangroven völlig frei war und eine üppige tropische Vegetation besaß. Es war nur durch eine schmale Erdbrücke mit dem sumpfigen Strande verbunden und reizte die Neugier Fritz Malchows so sehr, daß er es betrat, um es näher zu besichtigen. Kaum hatte er aber einige hundert Schritte zurückgelegt, als er aus einem Gebüsch das wütende Bellen der Dogge vernahm und gleich darauf deren klägliches Heulen. Da er nun eine Vogelflinte mitgenommen hatte, die mit Schrot geladen war, stürmte er eiligst dem Platze zu, wo er seinen vierbeinigen Freund im Kampfe mit irgend einem gefährlichen Gegner vermutete. In der Tat sah er die Dogge dann am Boden liegen, überwältigt von einem schwarzen Panther, der dem Hunde die Kehle durchgebissen hatte.

Schon wollte er einen Schuß auf das Raubtier abgeben, als aus den Büschen ein zweites hervortrat, ebenfalls ein Panther. Nun war die Angst über ihn gekommen. Blindlings war er davongerannt. Wie er sich einmal umzudrehen wagte, hatte er hinter sich zu seinem Entsetzen die beiden Panther bemerkt, war eiligst auf eine einzeln stehende Pandane geklettert und hatte hier in den Baumästen die erste Nacht zugebracht, nachdem er die mordgierigen Katzen durch einen Schuß zurückgescheucht hatte. In dieser Nacht war ein furchtbares Unwetter losgebrochen. Ungeheure Regenmassen stürzten vom Himmel herab, schwere Gewitter lösten eins das andere ab, und der Sturm heulte unheimlich in den Kronen der Rasamalabäume, die in weitem Kreise den vom Winde gleichfalls hin und her geschüttelten, luftigen Zufluchtsort des Knaben erschlossen, so daß es ihm am Morgen, wo noch immer dichtes Gewölk den Himmel bedeckte, unmöglich war festzustellen, nach welcher Richtung hin er sich wenden müsse, um wieder in den Mangrovenwald und von dort weiter nach der Plantage seiner Eltern zu gelangen. Der Hunger trieb ihn schließlich von der Pandane herab. Vorsichtig suchte er sich einige eßbare Früchte und verschlang sie. Aber nur zu bald tauchten seine geschmeidigen Feinde, die Panther, wieder auf, und nur mit genauer Not rettete er sich vor ihnen wieder auf einen Baum, verlor hierbei aber seine Flinte, so daß er zu seiner Verteidigung nur noch sein Jagdmesser besaß. Wie nötig er dies brauchte, zeigte sich bereits wenige Stunden später, als die Panther, die als vorzügliche Kletterer bekannt sind, den Baum erklimmen wollten. Erst nachdem er dem einen der Tiere einen Stich versetzt hatte, der leider nicht tödlich war, zogen die Bestien sich wieder zurück.

So war ein Tag um den anderen vergangen. Fritz Malchows Nahrung hatte nur aus Früchten bestanden. Sein Nachtlager war ein unbequemer Sitz in den Kronen der Bäume. Andauernd schlichen die Panther in der Nähe umher, so daß er nicht wagen durfte, sich weit zu entfernen, und stets dicht neben einem leicht zu ersteigenden Stamme bleiben mußte. Von Stunde zu Stunde hatte er anfänglich gehofft, sein Vater würde nach ihm suchen, ihn schließlich auch auffinden und befreien.

„Dann aber, Herr Doktor, kam ein Morgen, der mich an meinem gesunden Verstande zweifeln ließ“, fuhr er jetzt fort. „Denselben Rasamala, auf dem Sie mich heute entdeckten, hatte ich am Ende der ersten Woche meiner halben Gefangenschaft erklettert und zwar an einem regnerischen Abend. Er schien mir zu längerem Aufenthalt geeignet, da ich die Früchte der Pandane, die sich an ihn anlehnt, so bequem zur Hand hatte und nicht zu oft auf den Erdboden niederzusteigen brauchte. – Als es hell wurde, als das Gewölk sich verzog, da gewann ich zum ersten Mal seit sieben Tagen einen Überblick über dieses Landstück, dessen Betreten mir so verhängnisvoll geworden war. Und – ich vermag mein Entsetzen, meine ungläubige Verwunderung nicht mit Worten auszudrücken! – ringsum bemerkte ich nichts als Wasser – Wasser – das endlose Meer …!! Von der Bucht, den Mangrovendickichten war nichts mehr zu sehen – nichts mehr von der Küste Borneos, – nichts …! Ich befand mich auf einer Insel …!!“

Der Knabe schaute Doktor Volker jetzt unsicher an.

Der machte ein Gesicht, das nur zu deutlich zeigte, auf wie wenig Glauben diese Erzählung bei ihm stieß.

Dicke Tränen traten Fritz Malchow in die Augen.

„Sie zweifeln an der Wahrheit dieser meiner Schilderung, Herr Doktor! Ich sehe es Ihnen an“, sagte er traurig. „Und doch ist alles Wort für Wort richtig! – Ach – ich glaubte ja selbst zu träumen, als ich diese überraschende Entdeckung machte, fürchtete schon, mein Geist habe sich infolge der Entbehrungen und des Mangels an Schlaf umnachtet. Aber zum Glück war diese Befürchtung überflüssig. Bald sah ich ein, daß meine Augen mich nicht betrogen. In der Ferne zog ein Dampfer seine Bahn – ein großes Schiff mit zwei gelben Schornsteinen. Und am Nachmittag erblickte ich wieder einen Dreimaster, der stolz an meiner Insel unter der weißen Last seiner Segel vorbeiglitt.“

Volker klopfte den Knaben aufmunternd auf die Schulter.

„Ich glaube Dir, mein Junge. – Doch – nun wollen wir nach der „Nixe“ zurückkehren. Es ist bereits bedenklich dunkel geworden.“ Im Stillen aber dachte er: „Armer Bursche, welch’ schreckliche Tage müssen hinter Dir liegen, daß Dein Geist sich so völlig verwirrt hat. – Natürlich ist der Junge durch einen Schiffbruch auf diese Insel gelangt, was er aber vergessen hat, der Ärmste …!“

 

2. Kapitel.

Ein Wahrheitsbeweis.

Doktor Volker trug die gespannte Büchse jetzt im Arm. Als sie nämlich gerade den Hügel verlassen hatten, war in einem nahen Gebüsch für ein paar Sekunden der niedrige, dunkle Leib eines Tieres sichtbar geworden. – Es war ohne Zweifel ein Panther gewesen. Und das machte den jungen Gelehrten stutzig. – Hm – also hatte der Knabe doch nicht alles lediglich zusammenphantasiert …! Die Panther existierten wirklich. Aber das übrige, daß ein Stück Uferland von dieser Größe sich plötzlich auf die Wanderschaft begeben haben sollte, – das war das Produkt eines kranken Hirnes …!

Vorsichtig vermieden die beiden Landsleute, die ein seltsamer Zufall hier zusammengeführt hatte, alle dicht bewachsenen Stellen. Trotzdem war an gelegentlichem Rauschen in dem Buschwerk zu merken, daß tatsächlich mindestens zwei Panther ständig in der Nähe waren.

Der Doktor hatte vorhin die Jolle auf der Westseite der Insel auf den Strand gezogen. Als sie sich jetzt dem Ufer näherten, hatte eine dichte Nebelbank jede Aussicht über das Meer versperrt. Der durch den Sonnenuntergang in flammende Röte getauchte westliche Horizont war in diesen grauen, feuchten Schleiern ebenso verschwunden wie die Jacht. Trotzdem glaubte Georg Volker die Richtung genau eingehalten zu haben. Aber – die Bucht, in der die Jolle liegen mußte, fand er nicht. Im Gegenteil: der Strand wies hier eine ganz andere Gestaltung auf, als der Doktor sie von der Landung her in der Erinnerung hatte.

Allmählich wurde er nun doch aufgeregt, als weder die Bucht noch das Boot zu entdecken waren. Er zog seinen Taschenkompaß, den er an der Uhrkette trug, zu Rate. Vielleicht hatte er sich geirrt und eine falsche Richtung eingeschlagen. – Nein – doch nicht! Die Kompaßnadel zeigte ihm, daß sie wirklich am Weststrande waren.

Nachdem eine Stunde verstrichen war, sagte Volker ärgerlich:

„Aus der Geschichte mag ein anderer klug werden! Dieses verwünschte Eiland ist wirklich behext! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als immer am Strande nach einer Seite hin entlangzugehen, was wir gleich hätten tun sollen. Auf diese Weise müssen wir die Jolle ja finden.“

Inzwischen war es, besonders infolge des Nebels, so dunkel geworden, daß man keine fünf Schritte weit sehen kannte. Von den Panthern hatte man nichts mehr bemerkt, seit man den gebüschfreien Strand betreten hatte. Trotzdem ließ der Doktor keine Vorsicht außer acht, um nicht plötzlich von einer der Bestien angefallen zu werden.

Langsam und stets aufmerksam die Umgebung musternd schritten die beiden Landsleute nach Norden zu um die Insel herum.

Dann plötzlich aus den grauen Nebelmassen heraus der dumpfe Knall eines Schusses.

„Ah – die Signalkanone der „Nixe“!“ meinte Volker. „Man ist auf der Jacht sicherlich meinetwegen in Sorge. Nun – vielleicht schickt Behrend bald ein Boot herüber und …“

Er vollendete den Satz nicht, blieb regungslos stehen und stierte in die grauen, dichten Schleier hinein.

Wieder ein Schuß.

„Ich begreife das nicht – ich begreife das nicht!“ fuhr Volker verwirrt und unsicher fort. „Die Jacht lag doch vorhin im Süden der Insel vor Anker, und jetzt dringt der Knall der Signalschüsse von Norden her …?! – Was hat das nun wieder zu bedeuten …?! Ob denn inzwischen Wind aufgekommen ist und die „Nixe“ die Anker gelichtet hat …?! Hier ist doch aber nichts von einem Luftzug zu spüren – nichts!“

Alles Kopfzerbrechen half nichts. Diese Frage sollte erst später gelöst werden, als der Doktor einsehen mußte, daß Fritz Malchow ebenso seine gesunden fünf Sinne besaß wie er selbst. –

Fast anderthalb Stunden brauchten die beiden Landsleute, ehe sie das Eiland einmal umrundet hatten. – Die Jolle war nicht mehr da. Hieran ließ sich nicht länger zweifeln.

Volker faßte dieses Mißgeschick, wie er es nannte, ziemlich leicht auf.

„Der Senator wird uns schon zu finden wissen, mein Junge“, sagte er zu Fritz, der sich vor Müdigkeit kaum noch weiterschleppen konnte. „Setzen wir uns hier am Strande nieder. Für alle Fälle will ich aber die beiden Läufe meiner Büchse abfeuern. Vielleicht dringt der Schall trotz des dichten Nebels bis zur Jacht hin.“

Er tat’s und schob sofort zwei frische Patronen ein, von denen er sich ein Dutzend in die Tasche gesteckt hatte. Aber vergeblich warteten die beiden Gefährten auf einen Signalschuß als Antwort.

Eine halbe Stunde ging hin – noch eine. Fritz Malchow hatte sich längst in das Gras gestreckt und schlief fest. Jetzt weckte Volker ihn.

„Ich werde nochmals zwei Patronen hergeben“, sagte er. „Du solltest nicht erschrecken. Daher habe ich Dich munter gemacht.“

Doch auch diese Schüsse blieben unbeantwortet.

Jetzt wurde Volker unruhig, zog seine Taschenuhr, strich ein Zündholz an und sah nach der Zeit.

„Bereits nach Mitternacht …!“ meinte er kopfschüttelnd. „Die Geschichte wird immer unbegreiflicher …! Warum schickt Behrend kein Boot …?!“

Fritz Malchow seufzte vernehmlich.

„Ist Dir nicht gut, mein Junge?“ fragte Volker besorgt.

„Ich friere so sehr … Und der Kopf ist mir so heiß …!“ stöhnte der Knabe und legte sich wieder lang ins Gras, um sofort einzuschlafen.

Der Doktor aber brannte sich eine Zigarre an. Irgend etwas mußte er tun, um seine Gedanken abzulenken. – „Unsinn!“ sagte er plötzlich ganz laut. „Mir scheint wahrhaftig, ich beginne Angst vor etwas zu haben, das nur wie eine dunkle Ahnung durch mein Hirn zuckt …! Die „Nixe“ wird mich doch nicht im Stich lassen …! Ausgeschlossen …!! – Wenn nur erst der Morgen da wäre …! – Hm – und der arme kleine Kerl hier neben mir …?! Er hat ohne Frage Fieber. Wie wild er sich hin und her wirft …!“ –

Stunden gingen hin. Schon wurde es heller und heller. Aber der Nebel blieb, obwohl jetzt ein leichter Wind wehte, der die dichten grauen Massen nach Süden zu in Bewegung setzte.

Die „Nixe“ hatte kein Boot gesandt, kein Zeichen mehr gegeben. Nur ein Mal schien es Volker so, als ob er in weiter, weiter Ferne einen Knall hörte – ganz, ganz schwach, und … im Osten …! Jetzt verhehlte er sich nicht länger, daß er wirklich Furcht hatte, – davor, daß der Jacht etwas zugestoßen sein könne, – nein, nicht könne, sondern müsse …! Sonst hätte man ihn doch hier nicht die ganze Nacht warten lassen …! – Er dachte an alles Mögliche – an eine Feuersbrunst, an malaiische Piraten, die ja in diesen Gewässern gelegentlich noch ihr Unwesen treiben sollten …

Und müde war er zum Umsinken. Außerdem hatte er Hunger. Und dort lag der arme Junge mit fieberglühendem Gesicht …

Georg Volker erhob sich. Er wollte nicht einschlafen. Langsam schritt er auf und ab, die Büchse im Arm. Dann war’s ihm, als ob da drüben neben der Kokospalme sich ein niedriger, dunkler Schatten bewegte, – einer der Panther. Und jetzt – dort auch der zweite … Die Bestien kamen herbeigeschlichen, tief geduckt. Nur zuweilen tauchten die runden, glänzend schwarzen Köpfe aus dem Grase auf.

Der Doktor war ein leidlicher Schütze. Und mit dieser selben kleinkalibrigen Büchse hatte er auf Java sogar einen Tiger erlegt.

Langsam hob er die Waffe. Dann ein Blitz – ein Knall, kaum drei Sekunden später ein zweiter Schuß, und die beiden Panther waren abgetan. Der zuerst getroffene war mit einer Kugel durch den Schädel wie eine losgeschnellte Feder hochgeflogen, bewegte noch krampfhaft zuckend die Pranken und lag still. Desto wilder fuhr der andere hin und her, dem das Geschoß das Rückgrat zerschmettert hatte. Der Doktor trat dicht neben das schwerverletzte Raubtier und tötete es durch einen dritten Schuß vollends.

Der kranke Knabe hatte bei dem ersten Knall laut aufgeschrien, war dann aber wieder ruhig geworden. Volker suchte jetzt unter der Kokospalme nach einer abgefallenen Frucht. Eine ganze Anzahl davon fand er. Aber wie die steinharte Schale öffnen?! Mit dem Messer …? Das war ausgeschlossen. – Zunächst mußte er sich also damit begnügen, die drei weichen Keimlöcher, die jede Kokosnuß besitzt, aufzubohren, damit er dem Jungen die erquickende, süße Milch einflößen konnte.

Dann ging er ein Stück am Strande entlang, um einen Stein zum Zertrümmern der Schale zu suchen. Den Büchsenkolben wagte er als Hammer nicht zu benutzen, da er fürchtete, die Waffe zu beschädigen. Doch – nicht einen einzigen Stein gab es hier – nicht einen! Selbst als er mit Fritz Malchows großem Jagdmesser hier und da die Grasnarbe entfernte und die Erde aufwühlte, fand er merkwürdigerweise nur Stücke von Bimsstein, jenem porösen vulkanischen Produkt, das den Namen Stein eigentlich kaum verdient.

Schließlich gab er die Sache auf, hing die Büchse über die Schulter, nahm den Kranken in die Arme und schritt einer Lichtung zu, die sich vor ihm in dem grünen Strauch- und Baumbestand öffnete.

Ziemlich genau in der Mitte dieser Blöße erhob sich, beschattet von ein paar niedrigen, jungen Rasamalabäumen, ein ähnlicher, aus grünbewachsenen Felsblöcken bestehender Hügel wie der, auf dem die beiden Landsleute am vergangenen Abend gesessen hatten, als Fritz Malchow seine angeblichen Abenteuer erzählte. Dieser Hügel hier war jedoch zum Aufenthaltsort noch geeigneter. Vier von den Felsen bildeten eine Art kleine Grotte, die dem armen kleinen Burschen fürs erste eine kühle Lagerstätte bot.

Unterwegs hatte der Doktor sich einen Ast mit reifen Bananen abgeschnitten, die er nun gierig verspeiste. – Die Müdigkeit machte sich auch bei ihm immer mehr geltend. Eiligst schnitt er mit dem Jagdmesser eine Menge Gras ab, schüttete davon zwei Lager auf, bettete auf das eine den Kranken und steckte schließlich zwischen die Felsen aufrecht einen Ast, an dem er seine weiße Leinenjacke befestigte, damit, falls die Leute von der „Nixe“ ihn suchten, diese primitive Fahne sie aufmerksam machen sollte.

Schon wollte er sich gleichfalls zum Schlafe hinstrecken, als ihm noch zur rechten Zeit einfiel daß die Insel womöglich noch mehr Panther beherberge. Er mußte jedenfalls zu des Knaben und seiner eigenen Sicherheit den Eingang zu der kleinen Höhle irgendwie zubauen. Ein flaches, großes Felsstück schien ihm zu diesem Zweck vorzüglich zu passen. Die Frage war nur, ob seine Kräfte hinreichen würden, es an Ort und Stelle zu wälzen.

Zu seiner Überraschung war die Steinplatte, die er auf gut zwei Zentner Gewicht geschätzt hatte, auffallend leicht. Eine schnelle Untersuchung ergab, daß es sich um ein Stück … Bimsstein handelte. Aber Volker war zu müde und gleichgültig, um dieser Entdeckung irgendwie Beachtung zu schenken. Nachdem er die Bimssteinplatte vor den Eingang der Grotte gerollt hatte, warf er sich auf sein Lager und schlief auch sehr bald ein.

Als er erwachte, hörte er als erstes des Knaben klägliche Stimme, der um Wasser flehte.

Er richtete sich auf, schob den Stein beiseite und verließ den niedrigen Schlupfwinkel.

Draußen schien die Sonne vom klaren Himmel herab. Der Nebel war fort. Ein Blick auf seine Uhr belehrte den Doktor, daß die dritte Nachmittagsstunde eben angebrochen war.

Zunächst eilte er davon und holte ein paar Kokosnüsse, um den Durst des Fiebernden zu löschen. – Fritz Malchow war bei Bewußtsein, fühlte sich aber sehr schwach. Nachdem er die Milch zweier Nüsse getrunken hatte, verfiel er wieder in einen unruhigen Schlummer.

Der Doktor verschloß die Grotte und begann den höchsten der neben dem Hügel wachsenden Rasamalabäume zu erklettern. Bald vermochte er die Insel zu überschauen.

Ringsum das weite, endlose Meer … Nirgends ein Schiff – nichts – nichts!

Langsam stieg er wieder herab. Der „Nixe“ war also wirklich irgend etwas zugestoßen, und er mithin gezwungen, hier so lange den Robinson zu spielen, bis ein Fahrzeug sich fand, das ihn und seinen kleinen Gefährten aufnahm und wieder in bewohnte Gegenden brachte.

Volker setzte sich auf einen der Felsblöcke und überdachte seine Lage. Zufällig verglich er dabei den Stand der Sonne, die Richtung des Grotteneinganges und die der Kompaßnadel.

Regungslos saß er eine geraume Weile ganz still. – In seinem Kopf, der doch gewiß für klares, logisches Denken geschult war, wirbelten die Gedanken wie toll durcheinander.

Am Morgen hatte er festgestellt, auch mit Hilfe des Kompasses, daß der Eingang der kleinen Höhle genau nach Osten zeigte. Und jetzt acht Stunden später sah er, daß die Grottenöffnung ihre Richtung verändert hatte und nach … Westen zu wies …

Mit einem Male fiel es ihm wie Schuppen von den Augen …

Fritz Malchow hatte nicht phantasiert: dies hier war keine gewöhnliche Insel – nein, eine schwimmende war’s, die sich nebenbei noch langsam um sich selbst drehte wie eine flache, auf dem Wasser treibende Scheibe …!

Nun hatte der Doktor auch für alles das eine einleuchtende Erklärung gefunden, was ihm bisher so rätselhaft erschienen war, nun wußte er, weshalb die Leute der „Nixe“ ihn vergeblich gesucht haben mußten …

 

3. Kapitel.

Die schwimmende Insel.

So unglaublich es auch scheinen mag, daß es der Natur möglich sein sollte, ein Gebilde wie dieses schwimmende Eiland zu schaffen: die wissenschaftliche Erklärung für seine Entstehung ist im Grunde genommen einfach genug.

Vulkanische Kräfte schaffen, wie bekannt, durch Hebung des Meeresbodens oft ganz plötzlich neue Inseln, ja ganze Inselgruppen. Auch die schwimmenden Inseln verdanken sozusagen ihr Fundament den feuerspeienden Bergen. Und dieses Fundament wird aus Bimsstein errichtet, einer schwammigen Mineralmasse, die, von Vulkanen oft in ungeheuren Mengen bei gesteigerter Tätigkeit ausgeworfen, so sehr von Blasen und Zellen erfüllt ist, daß sie auf dem Wasser schwimmt.

Bimsstein besteht in der Hauptsache aus Kieselerde, enthält aber eine Anzahl anderer Beimischungen. In starker Hitze schmilzt er zu einem grünlichen Glase zusammen.

Die ausgeworfenen Bimssteinstücke treten in den verschiedensten Größen auf. Solche von eineinhalb Meter Länge, dreiviertel Meter Breite und Dicke sind etwas Gewöhnliches. Sie wiegen jedoch, dieses Volumens ungeachtet, noch keine fünf Pfund, und man kann sie mit 200 Pfund beschweren, ehe sie im Wasser untersinken. Übrigens gibt es nicht selten Stücke von solcher Größe, daß die Wilden sich deren als Kähne bedienen, da Bimsstein sehr leicht zu bearbeiten und durch Harz auf der Außenseite ebenso leicht zu verschmieren ist.

In welch’ ungeheuren Mengen dieses vulkanische Produkt auftritt, dafür nur einige Belege. In Südamerika hat man ganze Bimssteinberge entdeckt, am Rhein in der Nähe von Koblenz wieder Flöze von 10 Meter Mächtigkeit. Daß diese Bimssteinanhäufungen nur durch den Einfluß besonderer Strömungen und Winde, die die schwimmenden Stücke zu derartigen Massen zusammengetrieben haben, entstanden sein können, liegt auf der Hand. Daß dem so ist, geht schon daraus hervor, daß vor der Entdeckung des südlichen Afrika solche im Atlantischen Ozean zusammengetriebenen Bimssteinbänke Veranlassung zu der Mutmaßung gaben, Afrika hänge mit Amerika durch weite Klippenfelder zusammen. Mithin müssen diese Bimssteinbänke den Seefahrern, die hierüber berichtet haben, recht fest und dauerhaft erschienen sein, jedenfalls nicht lediglich als schwimmende Masse. So wurde zum Beispiel auch bei einem Ausbruch des Vulkanes Goonong Kawoong auf der Insel Java im Jahre 1815 eine solche Menge Bimsstein ausgeworfen, daß er auf dem Meere ganze Inseln bildete, die von heftigen Stürmen freilich bald wieder auseinander geworfen wurden, wie der berühmte Naturforscher Alexander von Humboldt berichtet.

Treten nun aber besondere Umstände auf, die eine solche auf dem Wasser schwimmende, gewaltige Bimssteinmasse an einem günstigen Küstenpunkte für längere Zeit sozusagen vor Anker legen, so werden sich auf deren Oberfläche zunächst dünne Erdschichten ansammeln, bald auch allerlei Gräser und kleine Sträucher Wurzel schlagen, wobei die Ansiedlung dieser ersten Vegetation noch dadurch besonders gefördert wird, daß verwitterter Bimsstein einen äußerst fruchtbaren Boden abgibt, das heißt, die in der Entstehung begriffene Insel liefert sich selbst das Düngemittel.

Der sich über die Insel ausbreitende Grasteppich stellt nun auch das erste Bindemittel dar, das die lose Masse der Bimssteinstücke zusammenhält. Mit dem Auftreten der ersten Sträucher, die ihr Wurzelwerk tief in die unteren Schichten des Inselfundamentes hinabtreiben, wird diese Verbindung der einzelnen Stücke immer fester. Bald erscheinen auch die ersten Bäume, die mit ihren noch kräftigeren und noch ausgedehnteren Wurzeln wieder das ihrige dazu beitragen, dem Ganzen mehr Festigkeit zu geben. Nun aber tritt infolge der zunehmenden Belastung des schwimmenden Fundamentes notwendig ein tieferes Einsinken des Eilandes in das Wasser ein. Die Uferränder tauchen unter, und jetzt wieder sorgt die reiche tropische Wasserpflanzenwelt der Küsten dafür, daß gerade diese Ränder durch die Ansiedelung von Algen, Seemoosen und ähnlichen Arten immer mehr zu einem festen Ganzen zusammengekittet werden.

Aber der Vegetationsentwicklung ist gerade infolge der besonderen Beschaffenheit der neuen Insel, zu deren Bildung Jahrhunderte nötig sein werden, ein bestimmtes Ziel gesetzt, insofern nämlich, als die Bäume über eine gewisse Größe deshalb nicht hinauskommen können, weil ihren tieferen Wurzeln die Nahrung und die Möglichkeit fehlt, sich beliebig nach unten auszudehnen. Tropische Bäume, die anderswo riesige Abmessungen annehmen, werden auf der schwimmenden Insel stets auffallend niedrig bleiben. –

Eine solche Insel hat der ahnungslose Fritz Malchow bei seinem Ausfluge in dem Glauben betreten, es mit festem Lande zu tun zu haben. Doktor Volker, wohlvertraut mit den Eigentümlichkeiten einer derartigen Inselbildung, zweifelte nicht daran, daß das mit der Mangrovenküste ursprünglich durch einen Streifen festen Bodens verbundene schwimmende Eiland infolge des heftigen Sturmes, den der Knabe in der ersten Nacht dort miterlebte, von dieser seiner Verankerung losgerissen und durch eine Strömung langsam ins offene Meer und an die Stelle getrieben war, in deren Nähe später die Jacht des Senators Behrend vor Anker ging, als die Windstille einsetzte. An dieser Stelle hatte sich eine ausgedehnte Untiefe befunden, die es der „Nixe“ erst ermöglicht hatte, hier den Eintritt günstigen Windes abzuwarten. Auf dieser Untiefe mußte sich auch den ganzen Umständen nach die schwimmende Insel, deren Bimssteinfundament sicherlich eine erhebliche Ausdehnung nach unten besaß, irgendwie festgerannt haben, so daß ihre wahre Natur von der Jacht aus nicht erkannt werden konnte. Sie hatte sich erst wieder freigemacht, als Volker gelandet war. In dem dichten Nebel entführte die Strömung das Eiland nun weiter nach Süden an der Jacht vorüber, wobei es sich um sich selbst drehte. Deshalb hatte der Doktor auch die Signalschüsse aus einer Richtung gehört, in der er die „Nixe“ nicht vermuten konnte.

Nur ein Punkt blieb dem jungen Gelehrten noch unklar: wo die Jolle geblieben war. – Erst später sollte er auch hierüber Aufschluß erhalten.

* * *

Eine geraume Weile hatte er, den Kopf in die Hände gestützt, still dagesessen und über all diese Dinge nachgedacht.

Nun, so wenig angenehm ihm auch das Bewußtsein war, hier für einige Zeit den Robinson spielen zu müssen, so freute es ihn wieder, daß er ganz überflüssigerweise an Fritz Malchows gesundem Verstande gezweifelt hatte.

Den Wahrheitsbeweis für die Angaben des Knaben hatte jetzt die Insel selbst erbracht.

So wurden seine Gedanken wieder auf den kleinen Patienten gelenkt. Diesen möglichst schnell gesund zu machen, mußte seine Hauptaufgabe sein. Da er von irgend welchen Raubtieren jetzt nichts mehr gemerkt und auch Fritz stets nur von zwei Panthern gesprochen hatte, glaubte er sich schon weniger vorsichtig bewegen, und sich auch weiter von der kleinen Höhle und dem Kranken entfernen zu dürfen, zumal er ja wieder die Platte als Verschluß vor den Eingang stellen konnte, so lange er wegblieb. Nachdem er seinem teilnahmslos daliegenden Gefährten schnell noch Kokosmilch zu trinken gegeben hatte, machte er sich auf die Suche nach einer ganz bestimmten Baumart, und zwar einem Vertreter der vielseitigen Eukalyptus-Familie, der von den Eingeborenen der Heilkraft seiner Blätter wegen geradezu „Fieberbaum“ genannt wird.

Nach einer Viertelstunde fand er auch wirklich ein Exemplar dieser Art, kaum vier Meter hoch und recht verkümmert aussehend, während die Fieberbäume es sonst bis zu dreißig und mehr Meter Höhe bringen, der Rieseneukalyptus sogar bis zu 120 Meter. Wie bescheiden mögen sich wohl neben einem solchen Tropenriesen unsere höchsten Bäume Deutschlands, die Schwarzwaldkiefern, mit ihren 40 Metern ausnehmen …!

Schnell eilte er nun nach dem Hügel zurück, zündete ein Feuer an und ließ dann die Spitze einer Kokosnuß, deren harte Schale er anders nicht zu sprengen wußte, über den Flammen verkohlen. Nachdem er die Nuß so geöffnet und das weiße, sehr ölhaltige Fleisch daraus entfernt hatte, tat er die Milch aus einer zweiten Nuß hinein, außerdem auch Blätter des Fieberbaumes, und stellte dieses primitive Gefäß in die heiße Asche. Auf diese Weise erhitzte er die Kokosmilch so weit, daß er einen Aufguß der heilkräftigen, schweißtreibenden Blätter erhielt, den er dem Kranken nachher einflößte. Bereits eine Stunde später verfiel der Knabe zu Volkers großer Freude in einen gelinden Schweiß, schaute nachher mit klaren Augen um sich, erhielt ein paar Bananen, aß mit bestem Appetit und schlief ziemlich frei von Fieber wieder ein.

Trotzdem dauerte es noch drei Tage, ehe der kleine Patient sich zum ersten Mal von seinem Lager erheben und sich im Freien ergehen konnte, gestützt von dem Doktor, der schon mit Sehnsucht auf den Augenblick wartete, wo Fritz völlig hergestellt sein würde.

Inzwischen hatte sich nichts von Wichtigkeit ereignet. Die Insel trieb jetzt mit einer südöstlichen Strömung langsam weiter mitten in die Java-See hinein, die von Sumatra und Java im Westen und Süden und von Borneo im Norden begrenzt wird, während sie im Westen ohne bestimmte Grenzlinie in die Sunda-See zwischen Celebes und den Kleinen Sunda-Inseln übergeht, Schiffe waren, so oft der Doktor auch einen Baum erstiegen und Ausschau gehalten hatte, nicht in Sicht gekommen. Hiermit war freilich in diesem Teile der Java-See auch kaum zu rechnen, da die Routen des Schiffsverkehrs hier nicht vorüberführten. Das Wetter war gleichmäßig schön geblieben: Sonnenschein, klarer Himmel und ein leichter Wind, der die Hitze angenehm milderte. – In diesen Tagen hatte der Doktor sich und den Kranken lediglich von Früchten ernährt und nichts getan, um die Grotte etwas wohnlicher zu gestalten. Hierzu fehlten ihm eben der praktische Sinn und jener Blick, der in einer Lage, wie die der beiden Robinsons es war, jeden Gegenstand daraufhin mustert, ob er sich nicht irgendwie nutzbringend verwenden ließe. Nur an eins hatte Volker gedacht: er hatte die beiden Panther abgehäutet, da es ihm leid tat, die schönen Felle verderben zu lassen. Sehr sauber waren von ihm alle Fleischteile entfernt worden, ebenso wie er die Innenseite dann auch mit Erde und Seewasser noch ausgescheuert hatte. Besser zu gerben verstand er die Wilddecken nicht, die denn auch zwei Tage darauf steinhart zusammengetrocknet waren und wenig schön dufteten. –

Die Genesung Fritz Malchows machte jetzt sehr schnelle Fortschritte. Am fünften Tage fühlte er sich wieder vollkommen gesund und begann nun sogleich regen Anteil an allem zu nehmen, was das einsame Dasein auf der schwimmenden Insel an kleinen Verrichtungen erforderte.

Von ihm gingen eine Menge Vorschläge aus, die alle so einfach, zweckmäßig und beinahe selbstverständlich waren, daß der Doktor sich fast schämte, nicht allein an alle diese leicht zu beschaffenden Annehmlichkeiten gedacht zu haben.

So entstanden nacheinander: eine Hütte aus Baumzweigen, deren Dach Fritz Malchow mit Hilfe von großen Stücken Rinde des sogenannten Mannabaumes, dessen Blätter einen süßen, sich schnell zu haselnußgroßen Perlen verhärtenden Saft ausschwitzen, vollkommen wasserdicht herzustellen wußte; ein Herd aus Bimsstein, über dem man am Spieß Tauben, die der Knabe in Schlingen fing, briet; allerlei Einrichtungsgegenstände für die neue Behausung, durch die Fritz eine außerordentliche Geschicklichkeit im Schnitzen verriet; ferner aus den von Termiten (großen Ameisen) sauber abgenagten Knochen der Panther verschiedene Geräte, auch Spitzen zu Pfeilen; nur dauerhafte Kochgeschirre wußte Fritz seinem erfinderischen Geiste zunächst nicht abzuringen, bis er dann, nachdem die beiden Landsleute genau eine Woche auf ihrem wandernden Eiland weilten, zufällig bemerkte, daß die Bimssteine des Herdes sich stellenweise infolge der Hitze mit einer grünlichen Glasur überzogen hatten. Diese Entdeckung wurde nun sofort praktisch ausgenutzt, indem man aus Bimsstein mit Hilfe der Knochenmeißel allerlei Gefäße anfertigte, die dann in einem Riesenfeuer einen ganzen Tag lang gebrannt wurden. Der Erfolg blieb nicht aus: die meisten der äußerlich zwar etwas plump geratenen Schüsseln, Kochtöpfe und Becher hatten eine feine Glasur erhalten und eigneten sich in jeder Weise für die ihnen zugedachten Zwecke. Nun gab es bald allerlei kräftige Brühen aus Tauben- und auch Schildkrötenfleisch, denn diese gepanzerten Tiere kamen recht zahlreich in einer auf dem Lande lebenden Art auf dem Eilande vor.

Wie wertvoll ihm der kleine Gefährte war, sah der Doktor von Tag zu Tag mehr ein. Wenn ihre Lebensführung jetzt beinahe eine behagliche genannt werden konnte, so hatte Volker dies allein Fritz Malchow zu danken, der, von Hause aus stets an Tätigkeit gewöhnt, den Eingeborenen in der Nähe der väterlichen Plantage schnell allerlei Kunstgriffe abgelauscht hatte, die er jetzt hier aufs beste zu seinem eigenen Vorteil verwerten konnte. Kein Wunder, daß das Verhältnis zwischen den beiden Robinsons bald ein überaus herzliches wurde. Glaubte doch auch Fritz dem Doktor zu großem Dank verpflichtet zu sein, da dieser ihn vor den weiteren Nachstellungen der blutdürstigen Bestien geschützt und nachher während der Krankheit so treu gepflegt hatte.

Unwillkürlich brachte dieses merkwürdige Zusammenleben zweier an Alter und Bildung so verschiedener Menschen, bei dem der kaum den Kinderschuhen entwachsene Knabe der eigentliche Hausvater, wenn man so sagen darf, war, es mit sich, daß der Doktor allerlei praktische Sachen von seinem jungen Freunde lernte, während dieser wieder von dem so vielseitigen Gelehrten, der neben der Altertumskunde auch in anderen Wissenszweigen gründliche Kenntnisse besaß, geistige Anregung erhielt und in zwangloser Weise durch Gespräche über Botanik, Zoologie, Chemie, Astronomie und besonders Geologie (Erdgeschichte) unterrichtet wurde. Auf diese Weise zogen beide aus dem Aufenthalt auf ihrer schwimmenden Insel Nutzen. Diese hatte nun, wie Volker mit Hilfe des Kompasses feststellte, in den letzten Tagen erst eine genau südliche, dann wieder eine westliche Richtung eingeschlagen, mithin bisher eine offene Schleife beschrieben, eine Entdeckung, die den Doktor zu der Bemerkung veranlaßte, das Eiland sei in der Tat der richtige Vagabund, da es ganz planlos durch die Java-See irre. Dann fügte er allerdings hinzu, daß hieran natürlich nur eine Meeresströmung die Schuld trage, von der die Insel mit fortgeführt werde.

Fritz, der gerade die beiden Pantherfelle vor der Hütte kunstgerecht gerbte, wobei er als Gerbstoff die Rinde des sog. roten Gummibaumes, ebenfalls einer Eukalyptusart, gebrauchte, schlug jetzt vor, man solle doch auf einem der höchsten Bäume der Insel eine Stange mit einer Fahne anbringen, damit vorüberfahrende Schiffe aufmerksam gemacht würden und man nicht wie bisher nötig habe, während des Tages so und so oft in die Krone eines Baumes zu klettern und Ausschau zu halten.

Der Doktor war sofort einverstanden. Als Flaggentuch wurde Volkers buntes Oberhemde verwandt, welches dieser gern hergab, da er darunter noch ein leichtes seidenes trug. Am zwölften Tage ihres gemeinsamen Aufenthaltes auf der Insel flatterte die Fahne zum ersten Mal lustig im Winde. Sie mußte weithin zu sehen sein, da Fritz den Flaggenstock an einen der höchsten Äste eines Rasamala festgebunden hatte.

 

4. Kapitel.

Die malaiische Prau.

Verschiedentlich hatten die beiden Robinsons ihre Insel schon nach allen Richtungen hin durchstreift, ohne hierbei wichtigere Entdeckungen zu machen. Nur gleich zu Anfang waren sie auf eine spaltenartige Vertiefung gestoßen, die mit süßem, aber etwas fade schmeckendem Wasser gefüllt war, welches der Doktor für eine Ansammlung von Regenwasser erklärte. Das Tierleben des Eilandes beschränkte sich, abgesehen von Insekten, hauptsächlich auf Vögel. Die einzigen Vertreter der Säugetiere waren ein paar Riesenfledermäuse, fliegende Hunde und eine Herde von einigen dreißig Meerkatzen, die bald jede Scheu vor ihren menschlichen Mitbewohnern verloren hatten. Außerdem kam noch ein recht schädlicher Vierfüßler auf der Insel vor: die indische Ratte, die auf dem Sunda-Archipel bisweilen geradezu zur Landplage wird.

Auch hier traten diese Nager in großer Menge auf. Fritz stellte ihnen, wie er dies auf Borneo kennen gelernt hatte, eifrig durch Auslegen von Kuchen nach, die aus dem Mehl der Sagopalme gebacken und mit dem Saft der Beeren des Birilla-Strauches vergiftet wurden. Diese Kuchen schob er in die Schlupflöcher der Ratten, die die Brocken um so gieriger fraßen, als der Knabe sie noch mit der süßen Ausscheidung des Manna-Baumes schmackhafter machte. Bei Gelegenheit eines solchen Ausfluges zum Verteilen der Giftkuchen stießen die beiden Gefährten nun zu ihrer nicht geringen Überraschung auf zwei noch recht kleine Panther, offenbar die Sprößlinge der beiden von Volker erschossenen ausgewachsenen Tiere.

Leider entkamen die jungen Räuber, die etwa die Größe von kräftigen Katzen hatten. Fritz dachte nun sofort daran, sie lebend zu fangen und dann zu zähmen. Er versprach sich von der Dressur eine angenehme Zerstreuung, und mit dem ihm eigenen Eifer baute er noch an demselben Tage aus Bambusstangen, die dicht bei der natürlichen Regenwasserzisterne wuchsen, eine große Falle, die später auch gleich als Käfig benutzt werden konnte. Als lebenden Köder band er darin ein paar Tauben an, die er mit seinem Bogen, in dessen Handhabung er eine seltene Fertigkeit besaß, flügellahm geschossen hatte.

Der Doktor war sehr gespannt, ob die Panther sich in die Falle, die auf einer Lichtung am anderen Ende der Insel aufgestellt war, hineinwagen würden. Abends hatte man den Käfig, der aus fünf einzelnen, leicht zu verbindenden Bambusgittern bestand, zusammengesetzt, und gleich am nächsten Morgen eilten die Gefährten neugierig quer durch das Eiland der Lichtung zu, um sich zu überzeugen, welchen Erfolg ihre Mühe gehabt hatte.

Nun – sie sahen schon von weitem, daß die beiden jungen Raubtiere wie wild in der Falle umhertobten, um wieder ins Freie zu gelangen. Dies war jedoch ausgeschlossen.

Fritz hatte ein paar von ihm selbst geflochtene Kokosfaserstricke mitgebracht, um die Panther gegebenenfalls fesseln zu können. Nur bewaffnet mit einem festen Knüttel betrat er jetzt den Käfig und suchte das eine Tier zu packen. Er hatte sich dies aber leichter vorgestellt, als es in Wirklichkeit war. Die behenden kleinen Bestien entschlüpften ihm immer wieder, bis er auf den Gedanken kam, aus einem der Stricke einen Lasso mit einer Schlinge zu formen. Nach einigen Fehlwürfen hatte eines der Pantherjungen die Schlinge über dem Halse sitzen und war nun bald gebunden, wobei es jedoch ohne ein paar Kratzwunden für den zukünftigen Raubtierdresseur nicht abging. Nachdem auch das zweite Tier auf dieselbe Weise unschädlich gemacht war, wurden die beiden Gefangenen und die Käfigteile nach dem Hügel geschafft, neben dem im Schatten der Rasamalabäume sich die Hütte erhob.

Hier ward nun auf der anderen Seite des Hügels der Käfig wieder aufgestellt, mit den unteren Gitterenden tief in die Erde eingegraben und dann seiner Bestimmung übergeben, indem man die Panther losband und in ihre Behausung hineinließ. Durch zweitägiges Fasten und Dürsten gewöhnte Fritz ihnen schon einige ihrer Untugenden ab, und nach fünf Tagen hatte er sie so weit, daß sie ihm entgegengelaufen kamen, sobald er ihnen Futter und Wasser brachte. In der Hauptsache wurden sie mit Ratten ernährt, die Fritz mit dem Bogen erlegte. Nebenbei gewöhnte er sie aber auch an gekochtes Fleisch und Sagomehlbrei, um ihre natürlichen Raubtierinstinkte durch die veränderte Kost zu mildern.

An demselben Tage, an dem man die Panther gefangen hatte, waren nun im Westen, also in der Richtung, in der das Eiland sich jetzt fortbewegte, eine Reihe niedriger Felsenriffe und kahler Inselchen aufgetaucht, die, ohne Frage vulkanischen Ursprungs, völlig öde und einsam aus dem Meere herausragten. Der nächste Morgen zeigte diese langgestreckte Riffreihe bereits in nächster Nähe, und mittags erklärte der Doktor seinem kleinen Freunde, daß ihre Insel sich offenbar auf einem Ausläufer dieser Klippen festgefahren habe. Fritz konnte dann ebenfalls leicht feststellen, daß das schwimmende Eiland hier wieder einmal Rast gemacht hatte.

Die Riffe breiteten sich von Nordost nach Südwest jetzt wie ein grauer Steinwall im Westen der Insel aus und waren etwa zweihundert Meter entfernt. Am Abend dieses Tages, an dem das Eiland zum zweitenmal nach Beginn seiner Meereswanderung vor Anker gegangen war, brach ein heftiger, von Gewittern und Regengüssen begleiteter Sturm aus, der, von Nordwest kommend, die Klippen mit einer Brandung tosender Wellen umsäumte, der Insel aber nicht viel anhaben konnte, da die Riffe sich schützend vor dieser ausbreiteten.

Der Doktor erklärte bei dieser Gelegenheit seinem kleinen Gefährten, daß er überzeugt sei, dieser Orkan hätte dem Inselgebilde sicherlich schweren Schaden zugefügt, wenn er es auf dem offenen Meere überrascht haben würde.

„Damit werden wir überhaupt zu rechnen haben“, fuhr er fort, „daß über kurz oder lang unsere künstliche Insel in einzelne Stücke auseinanderbricht. Nur ist es die Frage, ob wir uns noch hier befinden, wenn diese Katastrophe eintritt, die stets durch ein Unwetter veranlaßt werden wird.“

Nun – diesen ersten Sturm während ihrer Pilgerfahrt überstand die Insel dank der vorgelagerten Riffe sehr gut. Am nächsten Tag flaute der Orkan wieder ab, die See beruhigte sich recht schnell, und damit war jede Gefahr vorüber.

Fünf weitere Wochen vergingen, und noch immer lag das Eiland hier vor Anker. – Wieder brach ein sonnenklarer Morgen an. Die beiden Robinsons hatten bemerkt, daß ein neuer Sturm aus Nordwest die Fahne umgeknickt hatte. Um diesen Schaden zu beseitigen, begaben sie sich von ihrer Hütte, die jetzt im Süden der festgefahrenen Insel lag, nach dem Rasamalabaum hin. Fritz kletterte hinauf, kam aber sofort wieder herunter und rief Volker schon von oben zu:

„Herr Doktor – ein Schiff – eine malaiische Prau – im Süden – ganz dicht am Strande …!!“

Er war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte.

Als er dann neben Volker stand, meinte er freudig:

„Nun können wir unserer Insel Lebewohl sagen …! Es war ja ganz schön hier, aber mit der Zeit wird auch das Robinsonspielen langweilig.“

Dann eilten sie, damit der Segler nur nicht ohne sie wieder davonfahre, im Laufschritt auf dem kürzesten Wege nach der jetzigen Nordseite ihres Eilandes. Jetzigen! – Denn bisher hatte die Insel sich bei ihrer Wanderung stets weiter um sich selbst gedreht, so daß bald diese, bald jene Strandseite nach Norden zeigte.

Keuchend und in Schweiß gebadet langten sie nun bei den letzten Büschen an, die ihnen das Fahrzeug noch verbargen. Fritz war gute zehn Schritte voraus, bog nun um eine Gruppe von Farnen und … prallte förmlich zurück, warf sich lang zu Boden und winkte dem Doktor eifrig zu.

Der begriff zunächst nicht, was der Knabe eigentlich meinte. Dann aber flüsterte Fritz, indem er nach dem Strande deutete:

„Es sind keine harmlosen Fischer, wie ich dachte, sondern zweifellos Piraten. Soeben setzen sie in einem Boot Europäer ab, denen die Hände auf den Rücken gebunden sind. Auch Damen befinden sich darunter.“

Schleunigst zogen die beiden Gefährten sich nun tiefer ins Innere der Insel zurück, beschrieben dann einen Bogen und näherten sich von Westen mit aller Vorsicht dem Ankerplatz der Prau, indem sie sich dicht am Ufer hielten und jeden Busch als Deckung benutzten. Schließlich krochen sie auf allen Vieren weiter, bis sie den Segler erblickten.

Eine malaiische Prau ist ein scharfgebautes, niedriges Schiff mit ein oder zwei Masten, zumeist recht hohen Kajütaufbauten und einer Takelung, die man bei uns „lateinisches“ Segel nennt. Obwohl diese Fahrzeuge ziemlich plump wirken, entwickeln sie eine erhebliche Geschwindigkeit und sind völlig seetüchtig. Noch vor dreißig Jahren betrieben die Malaien in der Java-See und den umliegenden Gewässern den Seeraub im großen, wagten sich sogar bis nach Indien hin und ließen manchen Dampfer, manche große Brigg spurlos verschwinden, indem sie die Besatzung niedermetzelten und das ausgeplünderte Schiff versenkten. Erst als England und Holland durch schnelle Kreuzer erbarmungslos auf die Piraten Jagd machten, verlor die Java-See den Ruf eines gefährlichen Fahrwassers.

Die Prau, die hier etwa hundert Meter [vom Strande][2] entfernt vor Anker lag, zeichnete sich durch zierliche Formen, sauberen Anstrich und blendend weiße Segel aus. Das fiel Fritz Malchow sofort auf.

Aber noch etwas erschien ihm recht seltsam: Die Malaien, die jetzt die fünf Gefangenen am Ufer umringten, waren recht gut gekleidet und anscheinend vorzüglich bewaffnet. Jedenfalls machten sie nicht den Eindruck von Seeräubern, wie sie sich denn auch offenbar gegen die Europäer durchaus nicht roh oder gewalttätig betrugen.

Nach einer Weile bestiegen die Malaien bis auf zwei ein Boot und ruderten nach der Prau zurück. Den männlichen Gefangenen waren jetzt auch die Fesseln abgenommen worden. Die Damen – ihre Kleidung verriet die Zugehörigkeit zu den wohlhabendsten Kreisen – hatte man mit dieser Vorsichtsmaßregel überhaupt verschont.

Gleich darauf verschwanden die sieben Personen vom Strande und schlugen die Richtung nach einer großen Waldblöße ein, die den beiden Robinsons recht gut bekannt war, wobei die drei Weißen, die sämtlich Leinenanzüge und breite Hüte mit Nackenschleiern trugen, mehrere große Bündel schleppen mußten, die vorhin aus dem Boote der Prau ausgeladen waren. Diese lichtete sofort den Anker, setzte sämtliche Segel und verschwand schnell nach Nordosten zu. –

* * *

Zwei Stunden später – inzwischen hatten Volker und Fritz die Fremden, die sich auf der Lichtung gelagert hatten, beständig heimlich beobachtet – blieb einer der Malaien bei den Gefangenen, die jetzt das mitgebrachte Zelt aufschlugen, zurück, während der andere seine Büchse schulterte und nach Süden zu davonschritt, offenbar in der Absicht, die Insel näher zu besichtigen.

Daß die Malaien zur Bewachung der Europäer hiergelassen waren, ging aus ihrem ganzen Verhalten hervor. Ein Entschluß war daher nicht schwer. Die Gefährten folgten dem schlanken, braunen Eingeborenen, der bald die kleine Niederlassung an dem Hügel entdecken, dadurch mißtrauisch werden und schwieriger zu überwältigen sein würde. Sie vereinbarten genau, auf welche Weise sie den Mann überfallen wollten, damit er keinerlei Lärm schlagen konnte. Alles gelang nach Wunsch. Während der Doktor mit dem Gewehr im Anschlag ganz überraschend aus einem Gebüsch dem Malaien in den Weg trat, schlich Fritz von hinten auf den Eingeborenen zu und verhinderte, daß dieser sein über die Schulter gehängtes Gewehr herabnehmen konnte.

Der Malaie war zu bestürzt, um an Gegenwehr zu denken. Der Knabe hing ihm wie eine Klette auf dem Rücken, und als Volker ihm jetzt auf Englisch befahl, die Arme hochzuheben, tat er es mit einem Gesichtsausdruck, der seine ohnmächtige Wut nur zu deutlich widerspiegelte. Er wurde mit zähen Lianenranken gefesselt und nach dem Hügel geschafft, wo der Doktor dann sofort ein eingehendes Verhör mit ihm anstellte.

Erst war der Malaie nicht zum Reden zu bewegen. Dann aber merkte er wohl, daß er es nicht mit Engländern zu tun habe. Volker erklärte denn auch, wer sie seien und wie sie auf die Insel gelangt wären.

Da änderte der intelligent aussehende braune Bursche fast augenblicklich sein Verhalten. Als er jetzt zu sprechen begann, erkannte der Doktor sofort, daß er es mit einem gebildeten und offenbar den höchsten Ständen angehörenden Manne zu tun hatte.

„Herr, Ihr seid Deutsche“, sagte der Malaie, der sich Sarapana nannte. „Dann traue ich Euch so viel Gerechtigkeitsgefühl zu, daß Ihr mich bald wieder freilassen werdet. – Ich bin der jüngste Sohn des entthronten Sultans von Schirpam. Dieses Gebiet liegt im nordwestlichen Teile von Borneo, der unter englischer Herrschaft steht. Bis vor zehn Jahren hatten die Engländer meinem Vater eine gewisse Selbständigkeit belassen. Aber den Gouverneur Sir Howard Graham gelüstete es nach den Reichtümern meiner Familie, besonders nach unserer kostbaren Edelsteinsammlung. Unter der Behauptung, mein Vater habe eine Verschwörung gegen England angezettelt, nahm Graham ihn gefangen und beschlagnahmte sein Eigentum. Mir und zwei anderen meiner Brüder gelang es zu entfliehen. Seitdem haben wir hartnäckig nur den einen Gedanken verfolgt, meinen Vater zu befreien. Vor einer Woche endlich gelang es uns, Sir Graham bei einer Vergnügungsfahrt auf seiner Jacht zu überfallen. Er ist der blondbärtige Mann, den Ihr gesehen habt. Die beiden anderen sind sein Sekretär und der englische Oberrichter von Englisch-Borneo. Sie sind ebenso schuldig wie Graham selbst, haben aus Habgier mit ihm gemeinsame Sache gemacht. Die Frauen, Grahams Gattin und Tochter, verdienen ebenfalls keine Schonung. Trotzdem soll den fünf Gefangenen nichts geschehen. Wir werden sie hier nur so lange zurückhalten, bis des Gouverneurs schriftlicher Befehl, den wir ihm abgezwungen haben, ausgeführt ist. Wir verlangen die Herausgabe meines Vaters und unseres Familienschatzes. Meine Brüder sind jetzt bereits unterwegs, um mit einem Manne, den Graham als seinen Vertrauten bezeichnet hat, zu unterhandeln. Wir vertreten also eine durchaus gerechte Sache, und Ihr würdet nur das Unrecht unterstützen, wenn Ihr uns daran hindern wolltet, unsern Befreiungsplan glücklich zu Ende zu führen.“

Der Malaie machte einen durchaus glaubwürdigen Eindruck. Außerdem hatte auch Fritz Malchow gelegentlich seinen Vater davon sprechen hören, daß der Gouverneur von Englisch-Borneo ein schamloser Erpresser sei.

Trotzdem war der Doktor so vorsichtig, Sarapana zunächst in die Grotte einzusperren. Er versprach ihm aber, ihn sofort wieder freizulassen, sobald er festgestellt habe, daß die Angaben des Malaien auf Wahrheit beruhten.

Darauf begab er sich in Begleitung des Knaben nach dem Lagerplatz der Engländer, wo der andere Malaie zunächst beiseite genommen und in die Sachlage eingeweiht wurde.

Dann wandte der Doktor sich an Sir Graham, der nichts anderes dachte, als daß Volker ihm und seinen Gefährten beistehen würde, die beiden Eingeborenen zu überwältigen. Als er aber merkte, daß der Doktor mit ihm ein förmliches Verhör anstellte, erging er sich sofort in den ärgsten Schmähreden gegen die Deutschen. Jedenfalls wußte Volker sehr bald, was er von diesem hochgestellten englischen Beamten zu halten hatte. Im übrigen erzählte ihm dann auch der zweite Malaie genau dieselbe Geschichte, die auch Sarapana als Grund für die Gefangennahme der Engländer angegeben hatte.

Volker erklärte dem Gouverneur darauf sehr kühl, er habe keine Veranlassung, sich in diese Privatstreitigkeiten einzumischen, und verließ mit Fritz wieder den Lagerplatz, um dem Sultanssohn die Freiheit wiederzugeben. Dieser berichtete dann noch, daß diese einsamen Riffe im Westen ihm und seinen Brüdern schon häufig als Schlupfwinkel gedient hätten und daß sie daher nicht wenig erstaunt gewesen wären, hier plötzlich eine grüne Insel vorzufinden.

Man kam dann überein, daß die Malaien mit ihren Gefangenen weiter im Nordteil des Eilandes bleiben, während die beiden Deutschen die Südhälfte zur Verfügung haben sollten.

Sarapana verabschiedete sich aufs freundschaftlichste und versprach noch, daß er die Deutschen auf der Prau, die in vierzehn Tagen zurückerwartet würde, nach Batavia (Hauptstadt von Niederländisch-Indien auf Java) bringen würde, wo sie leicht Gelegenheit fänden, mit einem Dampfer die Heimreise anzutreten.

 

5. Kapitel.

Das Ende der schwimmenden Insel.

Zwölf Tage waren seit der Landung der englischen Gefangenen verstrichen. Volker und sein kleiner Freund hatten das Lager nicht wieder besucht, waren nur ein paarmal mit Sarapana zusammengekommen, der sich immer mehr als ein Mann entpuppte, in dem trotz der braunen Haut eine weit vornehmere Seele als in manchem Europäer wohnte.

Das Wetter hatte sich jedoch, nachdem es anfänglich die Wanderung des schwimmenden Eilandes so sehr begünstigt hatte, jetzt sehr zum Nachteil der Insel verändert. Häufige Regengüsse setzten weite Strecken unter Wasser, lockerten das Erdreich und belasteten das Eiland so stark, daß der Doktor feststellen konnte, wie beträchtlich sich die jetzige Ostseite gesenkt hatte. Außerdem erkannte er jetzt, wo die Insel sich nicht mehr bewegte, aber auch auf Grund verschiedener Beobachtungen, daß die Insel an heißen Tagen höher aus dem Wasser herausragte, als an kühleren und während der Nacht. – Tatsächlich zeigt der Bimsstein sich hinsichtlich seiner Schwimmfähigkeit sehr abhängig von der Wasserwärme, was von verschiedenen namhaften Physikern einwandfrei nachgewiesen ist. Sind die Oberschichten einer Wasserfläche durch Sonnenbestrahlung erwärmt, so ist die Auftriebskraft dieses vulkanischen Minerals erheblich größer. Bei der schwimmenden Robinsoninsel betrug der Unterschied der Wasserhöhe infolge des vollständig aus Bimsstein bestehenden Unterbaues während des Tages und der Nacht etwa vierzig Zentimeter. Hierdurch war nun auch das Verschwinden der Jolle aufgeklärt. Als damals der Nebel auftrat, erfolgte eine ziemlich plötzliche Abkühlung der Wasseroberfläche. Das Eiland sank daher tiefer, so daß das bis dahin auf dem Ufer liegende Boot wieder vom Wasser bespült, gehoben und von der Strömung entführt wurde. –

Bei dem Regen, der die Senkung der einen Inselhälfte veranlaßt hatte, blieb es jedoch nicht. Am zwölften Tage nach dem Besuche der malaiischen Prau brach ein heftiger Sturm los, der, diesmal von Nordost kommend, das Meer in einen wahren Hexenkessel wild daherschießender, schaumgekrönter Wogen verwandelte, die der Insel böse mitspielten.

Die beiden Deutschen hatten gerade an einem Nachmittag die inzwischen völlig zahm gewordenen und schon recht kräftigen Panther ins Freie gelassen, damit die Raubtiere sich einmal austoben konnten, als Sarapana am anderen Rande der Lichtung auftauchte. Fritz brachte schnell die Panther, die jedem Fremden gegenüber äußerst angriffslustig waren, in den Käfig zurück.

Der Sultanssohn berichtete dann fliegenden Atems, daß die See an der Nordseite des Eilandes, wo die Wellen dieses besonders stark trafen, große Stücke losgerissen habe, und daß der ganze Nordteil dauernd auf und abschaukele. Außerdem habe er auf dem Wege hierher bemerkt, daß sich mitten durch die Insel eine wassergefüllte Rinne von ungleichmäßiger Breite hindurchziehe, die er kaum noch habe passieren können. Er wolle daher auch die Gefangenen sofort von dem schwer gefährdeten Nordteil wegbringen und frage an, ob die deutschen Sahibs (Herren) etwas dagegen hätten, wenn das Lager nach hier verlegt würde.

Volker erklärte, er sei ganz damit einverstanden. Um zu sehen, wie es jetzt im Norden des Eilandes stehe, wollten die Gefährten Sarapana begleiten.

Plötzlich stieß Fritz jedoch einen Schrei hellen Entsetzens aus und deutete mit der Hand durch eine Lücke in den Bäumen nach Westen hin.

Dort hatten soeben noch die von einer tobenden Brandung umschäumten Riffe gelegen. – Sie waren verschwunden …! Und nur eine Erklärung gab’s hierfür: Die Insel war wieder flott geworden, trieb jetzt vor dem Sturme nach Süden zu …

Was dies zu bedeuten hatte, wußten Volker und Fritz nur zu gut: Das Ende ihres Eilandes, das ihnen nun schon länger als zwei Monate eine ihnen liebgewordene Zufluchtstätte gewesen war …

Zu dritt eilten sie nun, so schnell sie ihre Füße forttrugen, nach dem Lagerplatze hin. Als sie dort anlangten, fanden sie alles schon in wildester Aufregung. Die beiden Damen weinten vor Angst, und Sir Graham stieß recht zwecklose Drohungen gegen die Malaien aus, die an diesem Unheil Schuld hätten. – Niemand hörte auf ihn. Sarapana gab kurz und bestimmt seine Befehle, und Volker und Fritz griffen von selbst mit zu, um das Zelt der beiden Engländerinnen und die anderen wichtigsten Gegenstände zusammenzupacken.

Die Lage war in der Tat außerordentlich bedrohlich. Die Wogen hatten sich einen Weg ins Innere der Insel gebahnt und die tieferen Stellen weithin unter Wasser gesetzt, wodurch das Abbröckeln größerer Stücke nur beschleunigt wurde. Jetzt merkte der Doktor auch, daß das Eiland sich zu drehen begann, so daß nunmehr langsam die bisherige Westseite dem Anprall der Wellen stärker als früher preisgegeben war. Gerade diese stete Umdrehung aber mußte es den gierigen Wogen möglich machen, den ganzen Strand der Insel allmählich zu zerstören, sozusagen abzuknabbern, so daß sie beständig kleiner wurde. Der sicherste Zufluchtsort war unter diesen Umständen die Mitte des Eilandes, – falls eben nicht, worauf die entstandene Rinne hinzudeuten schien, die Insel auseinanderriß.

Nachdem die Gefangenen auf einer niedrigen Erhebung, die in einem kleinen Urwald lag, ungefähr im Mittelpunkte des Eilandes untergebracht waren, eilten die beiden Deutschen ihrer Hütte zu, um auch ihre eigenen geringen Habseligkeiten fortzuschaffen und die Panther mitzunehmen. Als sie sich nun, die jungen Raubtiere an Stricken wie Hunde führend, der Rinne näherten, auf deren anderer Seite der neue Lagerplatz sich befand, hörten sie plötzlich kurz hintereinander zwei Schüsse fallen. Gleich darauf erschien jenseits der inzwischen merklich breiter gewordenen Rinne Sarapana in voller Flucht, gefolgt von dem Sekretär Sir Grahams, der jetzt eine Büchse in der Hand trug.

Der Malaie watete eiligst zu den beiden Robinsons hinüber, indem er sie durch lebhaftes Winken auf den Engländer aufmerksam machte. Der war jetzt ebenfalls bis an den Rand des Wassergrabens gelangt, blieb stehen, hob sein Gewehr und zielte auf Sarapana, dem Volker jedoch schnell ein paar Worte zurief, worauf der Malaie sofort hinter einen Baum schlüpfte.

Der Sekretär brüllte dem Doktor ein schweres Schimpfwort zu. Er schien so außer sich vor Wut zu sein, daß er die Mündung der Büchse jetzt sogar auf Volker richtete. Zum Abdrücken kam er jedoch nicht.

Fritz Malchow, der seine beiden schwarzen Kätzchen, wie er die beinahe ausgewachsenen Panther stets scherzend nannte, gerade an einen Baum hatte festbinden wollen, ließ jetzt die Stricke los, zeigte auf den Engländer und schnalzte leicht mit der Zunge. Es war dies dieselbe Art, wie er die Panther stets auf die flüchtenden Ratten gehetzt hatte. Die geschmeidigen Bestien begriffen, was ihr Herr verlangte.

Mit langen Sätzen schnellten sie sich auf den Engländer zu, sprangen in weitem Bogen in das aufspritzende Wasser der Rinne und schwammen hindurch.

Der Sekretär hatte kaum die beiden Bestien erspäht, als er auch schon die Büchse absetzte und hinter dem Gesträuch verschwand.

Ein gellender Pfiff des Knaben rief die Panther zurück, die nur widerstrebend gehorchten. –

Sarapana erzählte dann, was sich inzwischen auf dem Lagerplatz ereignet hatte. Die Engländer, anstatt anzuerkennen, wie sehr die Malaien um das Leben ihrer Gefangenen sich besorgt gezeigt hatten, waren in der allgemeinen Verwirrung hinterlistig genug gewesen, die Gewehre Sarapanas und des zweiten Wächters, die diese einen Augenblick beiseite gestellt hatten, an sich zu nehmen. Ohne weiteres hatte Sir Graham dann den einen Malaien über den Haufen geschossen, während die Sarapana zugedachte Kugel zum Glück fehlging.

Der Doktor war über diese durch nichts gerechtfertigte Handlungsweise der Engländer so empört, daß er beschloß die fünf Personen ihrem Schicksal zu überlassen. Hatte der Sekretär doch auch ihm gegenüber eine Gesinnung an den Tag gelegt, die keinerlei Teilnahme für die fünf Personen mehr in Volker aufkommen ließ.

Nach einer kurzen Beratung zogen die beiden Deutschen und der Malaie sich in ein Gehölz neben der natürlichen Regenwasserzisterne zurück und begannen sofort nach Sarapanas Angaben aus Bambusstangen und Baumästen ein Floß zu bauen, während man die Panther freiließ, damit sie einen heimtückischen Überfall durch die Engländer verhüten sollten. Diese ließen sich jedoch nicht sehen. Als Fritz dann nach einer Stunde, in der auch der Teil der Insel, wo die Hütte der beiden Robinsons lag, bereits von den Wogen übel zugerichtet war, von dem Doktor nach der Rinne geschickt wurde, um festzustellen, ob sie sich noch mehr erweitert hatte, kehrte der Knabe sehr bald mit der Alarmnachricht zurück, daß die andere Inselhälfte sich offenbar schon ganz losgelöst habe und nun ein zweites schwimmendes Eiland bilde. Der trennende Wasserarm besitze bereits einige fünfzig Meter Breite. Darin schwämmen eine Unmenge großer Bimssteinblöcke umher, außerdem ganze Bäume, Sträucher und Rasenstücke.

Auf diese Meldung hin eilten auch der Doktor und Sarapana dorthin, wo der eben entstandene Kanal zwischen den beiden Inseln jetzt gerade der Länge nach von den anstürmenden Wellenbergen durchflutet und hierdurch zusehends breiter und breiter wurde.

Drüben standen die Engländer. Sir Graham drohte in ohnmächtiger Wut mit der Faust, als er den Doktor und den Malaien bemerkte. Neben ihm lehnten die beiden Frauen eng umschlungen an den Stamm einer Palme.

Volkers Gutmütigkeit siegte. Der ritterliche Sinn des Deutschen gewann die Oberhand. Die Damen sollten nicht mit für die Schandtaten der Männer büßen. – Er formte die Hände zum Sprachrohr und rief hinüber:

„Bauen Sie ein Floß – schnell – schnell, – ein Floß!“

Sir Grahams Sekretär, halb verborgen hinter den Büschen, hatte heimlich auf den Doktor angeschlagen. Ein Schuß knallte … Aber die Kugel pfiff unschädlich über Volkers Kopf hinweg.

Da zog der Malaie ihn eiligst mit sich fort. „Komm’, Sahib, – wir haben an uns selbst zu denken …!“

Eine Stunde später …

Die Inselhälfte, auf der die beiden Deutschen mit ihrem braunen Gefährten sich befanden, war bis auf ein Inselchen von kaum noch dreihundert Quadratmeter Oberfläche zusammengeschmolzen. Die andere Hälfte trieb etwa eine Seemeile östlich auf der wildbewegten See. Wie es dort stand, wußten die drei Schicksalsgenossen nicht. Aber das eine war sicher: hatten die Engländer Volkers Rat nicht befolgt, so lebten sie keine halbe Stunde mehr.

Immer weiter zerbröckelte das Eiland … Stück auf Stück wurde losgerissen. Schon leckten gierige Wellen bis zu der Stelle hin, auf der die drei Leidensgenossen das Floß errichtet hatten. Wo eben noch eine hohe Palme gestanden hatte, war gleich darauf nichts mehr als die grünlich schillernde, gefräßige Flut. Baum auf Baum verschwand. In jeder Minute verkleinerte sich das Inselchen.

Unruhige Taubenscharen, jetzt verdrängt von ihren jahrelangen Nistplätzen, umflatterten diesen traurigen Rest der einstigen grünen, reichen Insel, auf dem sich auch alles an Vierfüßern zusammengeschart hatte, was rechtzeitig vor dem Wasser geflüchtet war. Die Panther hatten vollauf damit zu tun, die zahllosen Ratten durch Tatzenhiebe niederzustrecken. Der reine Massenmord war’s. Und in den Gipfeln der noch verschont gebliebenen Bäume hockte dicht aneinandergedrängt die Herde der Meerkatzen. Das ängstliche Aufkreischen der Affen mischte sich in das Brüllen des Meeres, in die schrillen Schreie der Seevögel …

Die drei armseligen Menschlein auf dem dem Untergange geweihten Stückchen Land sprachen kaum noch ein Wort. Sie warteten stumm das Ende ab …

Der Malaie gab den beiden Deutschen einen Wink.

„Es wird Zeit! – Binden wir uns auf dem Floße fest …“

Fritz bat, die Panther mitnehmen zu dürfen. Er hing an den Tieren, die ihn stets wie Hunde umschmeichelt hatten.

Aber Sarapana schüttelte den Kopf. „Wir dürfen das Floß nicht unnütz belasten. Es hat ohnehin außer uns noch die eingesammelten Früchte, unseren Proviant, zu tragen.“

Soeben hatte sich ein klaffender Riß in dem Inselrest gebildet. Der letzte Baum, ein Rasamala, neigte sich langsam vor dem Sturm, sank schneller und schneller … Herzzerreißend war das Kreischen der dem Tode geweihten Affen. Nun trieb der Stamm davon. Sein runder Gipfel ragte zur Hälfte über die Wogen hinaus. Dorthin war ein Teil der flinken Meerkatzen geflüchtet. Aber eine nach der anderen rissen die Wellen aus den Zweigen herab …

Und dann begann auch das Floß zu schwimmen. Im letzten Augenblick hatten sich noch die Panther hinaufgeschwungen. Keiner von den drei Gefährten verscheuchte sie …

Auf und ab wurde das durch Lianenranken zusammengehaltene flache Fahrzeug gerissen … Schwere Brecher fluteten darüber hinweg.

Mensch und Tier krallte sich an den Bambusstangen mit verzweifelter Anstrengung fest …

So verging eine Ewigkeit – – eine Ewigkeit für die mit dem Tode Ringenden, und doch war’s nur eine Stunde gewesen … Plötzlich sprang der Wind um. Er kam jetzt aus Südwest und wurde zusehends schwächer …

Das war die Rettung …! – Die Gefährten atmeten auf … Und unwillkürlich faltete Fritz Malchow die Hände und schickte ein heißes Dankgebet zum Himmel empor.

Am nächsten Morgen hatte das Floß, getrieben von dem noch immer aus Südwest wehenden Winde, die Riffe beinahe wieder erreicht, in deren Nähe die schwimmende Insel über einen Monat vor Anker gegangen war. Da wurde im Norden ein weißes Segel gesichtet, – die Prau, die mit dem in Freiheit gesetzten Sultan von Schirpam und dem größten Teil der Familienschätze zurückkehrte, um den als Geiseln festgehaltenen Engländern die Freiheit wiederzugeben.

Eine halbe Stunde später kletterten drei völlig erschöpfte Menschen und zwei pudelnasse Panther an Bord des malaiischen Schiffes, das sofort den Kurs nach Batavia einschlug … – –

Der Geschichte der schwimmenden Insel ist vielleicht nur noch hinzuzufügen, daß man von den fünf Engländern nie wieder etwas gehört hat.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Das Geheimnis von Kap Hoorn.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Sundaarchipel“ / „Sunda-Archipel“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Sunda-Archipel“ geändert.
  2. Diese Stelle ist in der Vorlage unleserlich; Text sinngemäß ergänzt.