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Neuland

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Neuland.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Der Dreimastschoner „Angelika“.

Eben hatte Jochem Bergel den Kindern wieder Mut zugesprochen und ihnen wie schon so oft in diesen furchtbaren acht Tagen sichere Rettung in Aussicht gestellt, als die kleine Elise zu singen begann, erst nur leise, dann immer lauter, – allerlei Kinderlieder, während ihre Augen in dem verfallenen Gesicht groß und weit mit irrem Flimmern geradeaus in den wolkenlosen, klaren Himmel gerichtet waren.

Den Matrosen überlief es trotz der glühenden Hitze, in der das Boot fast regungslos auf der ruhigen See lag, eiskalt, als ob man ihm mit einem Eiszapfen das Rückgrat entlangstreiche. – Das war das Ende – ohne Zweifel! Der jugendliche Organismus des kleinen Mädchens versagte zuerst … Der Wahnsinn des Durstes hatte seine Krallen nach dem Kinde ausgestreckt.

Geradezu schauerlich klang das feine Stimmchen in dieser trostlosen Stille, die nur ganz selten ein leises Glucksen an den Bordwänden des Bootes unterbrach.

Jochem Bergel schaute zu Luschels Bruder, dem ein Jahr älteren Martin hinüber. Der hockte dicht neben der Schwester unter dem als Sonnendach aufgespannten Segel mit geschlossenen Augen, hörte wohl kaum noch etwas oder war bereits zu erschöpft, um die Lieder öffnen zu können.

Der Matrose faltete unwillkürlich die Hände. Er betete – inbrünstig und gläubig, wie seine Mutter daheim es ihn gelehrt hatte, die ihren Einzigen so ungern den selbsterwählten, schweren Seemannsberuf ergreifen ließ, aber schließlich seinen dringenden Bitten doch nachgegeben hatte.

Dann kroch Jochem auf allen Vieren mühsam unter dem weißen Schutzdach hervor, hinaus in die Backofenglut des windstillen Tages. Aufzurichten vermochte auch er sich nicht mehr.

Mittag war’s jetzt. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, die Hitze war am fürchterlichsten. Die Holzteile des Bootes glühten förmlich.

Mit beiden Händen zog der Matrose sich an dem kleinen, in die mittelste Ruderbank eingefügten Mast in die Höhe – wollte es tun, um aufs neue einen Blick über die endlose, im Sonnenglast flirrende Wasserfläche zu werfen, – wollte …! Ein Schwindel erfaßte ihn, matt fiel er zurück. Und doch – war’s ein Trugbild seines ausgedörrten Hirns gewesen?! – glaubte er dort im Westen das undeutliche Bild eines großen Fahrzeuges wahrgenommen zu haben. Minutenlang lag er still, kämpfte mit aller Willenskraft gegen das Ohnmachtsgefühl an.

Wieder versuchte er sich auf dieselbe Weise aufzurichten, biß die Zähne zusammen: es mußte gehen, er mußte sich Gewißheit verschaffen, ob er sich geirrt hatte.

Jetzt riß er die müden, entzündeten Augen auf, ganz weit …

Wahrhaftig – ein Schiff, ein treibendes Wrack mit drei Maststümpfen …!!

Wie ein elektrischer Schlag ging’s durch Jochem Bergels Körper. Mit einem Male fiel all die trostlose Verzweiflung von ihm ab, fühlte er sich kräftiger, frischer … – Ein Wrack, in dem sich vielleicht Wasser befand, süßes Wasser, das köstlich sein würde, auch wenn es schon dumpfig roch …

Was tut nicht alles die Hoffnung …!! Wie ein Strom belebenden Weines durchfließt sie den Körper, läßt uns den Rest unserer Spannkraft sammeln, die wir nie mehr bei uns vermutet hätten.

So ging’s auch dem jungen Matrosen.

Der an einer Leine befestigte Eimer flog über Bord. Jochem schöpfte ihn voll Wasser, goß es in dickem Strahl über das kleine Mädchen, über den Knaben hin – noch einen – noch einen, bis sie vor Nässe trieften. Etwas erfrischen mußte sie dieses Bad.

Der Gesang hatte aufgehört. Das Kind war verstummt, sank nun matt zur Seite, bettete den Kopf auf die Brust des Bruders und lag still. Ihre blonden Locken, jetzt nur feuchte Strähnen, fielen wie ein heller Rahmen um ihr zartes Gesichtchen.

Dann ließ der Matrose sich dieselbe Erquickung zuteilwerden. Für den Augenblick würde es wohl helfen. – Nun griff er nach den Rudern. Die Dollen quietschten schrill, ganz allmählich kam das Boot in Fahrt, schleppte sich mühsam unter den schwachen Ruderschlägen vorwärts.

Fünf Minuten vergingen. Vor Jochem Bergels Augen sprühten bereits wieder die feurigen Sternchen. Er kämpfte schon wieder gegen die Ohnmacht an, alles drehte sich um ihn her – alles, daß es ihm bisweilen war, als ob er mit dem Kopf nach unten im Boot sitze. Aber er mußte es schaffen – mußte! Die Zähne biß er in die von der Hitze zersprungenen Lippen, daß das Blut heraustrat. Der Schmerz half … Abermals gelangen ein paar stärkere Ruderschläge …

Noch hundert, noch fünfzig – zwanzig Meter … Nun lag das Boot an der Backbordseite des Wracks im Schatten. Von oben aus den Davits (Hebekränen für die Schiffsboote) pendelte ein Tau, bis zur Wasseroberfläche[1] reichend, müde hin und her. Daran befestigte Jochem das Boot. Dann rief er, so gut er’s noch vermochte, ein paarmal Hallo … Nichts regte sich auf dem treibenden Dreimaster – nichts …

Wieder nahm der Matrose seine Zuflucht zu dem Wassereimer, begoß sich, daß die Nässe in Strömen an seinem Körper entlangrann.

Ob’s ihm trotzdem gelingen würde an dem Tau emporzuklettern …?! – Er zweifelte daran. Doch – versucht mußte es werden.

Es gelang … Es war, als ob ein todmüdes Pferd in der endlosen Wüste die Nähe von Wasser wittert und plötzlich vorwärtstrabt, obwohl es bis jetzt nur noch stolpernden Schrittes sich weiterbewegt hatte …

Jochem ahnte, daß es dort oben irgend etwas geben würde, um die ausgetrocknete Zunge anzufeuchten. Und mit einemmal stand er, sehr zu seinem eigenen Erstaunen, an Deck …

Prüfend sog er jetzt die Luft ein. Was war das nur für ein widerlicher Pestgeruch, süßlich, ekelerregend, der über dem Schiffe lagerte …?! – Er schaute sich um, prallte zurück … Zwei gräßlich entstellte Leichen lagen da vor dem niedrigen Kajütaufbau mittschiffs, – schwarz die Gesichter, aufgedunsen, – ein Anblick, der Jochem beinahe wieder vor Entsetzen in das Boot zurückgescheucht hätte.

Aber das durfte nicht sein …! – So tastete er sich an der Reling weiter nach vorn, dorthin, wo wie ein Kasten der erhöhte Eingang zur Kombüse über die mit allerlei Trümmern von Masten und Spieren bedeckten Deckplanken hinausragte.

Auch hier merkte er den furchtbaren Leichengeruch. Und dort ganz vorn auf der Spitze zwischen dem Anker und einem Haufen Tauwerk lehnte eine dritte Gestalt, auch ein Toter …

Jochem fror plötzlich in dieser Umgebung. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Drei Jahre fuhr er nun schon als Leichtmatrose zur See, kannte die ganze Welt, kannte alle Schrecken des Meeres … Ein Bild trat vor seine Seele, ein ähnliches wie dieses hier. Nur damals vor anderthalb Jahren war’s eine Brigg gewesen, der man dort im Golf von Mexiko begegnete. Das gelbe Fieber hatte an Bord gewütet, die Besatzung hinweggerafft, so daß der Segler wie ein Gespensterschiff durch die See torkelte, bald hierhin, bald dorthin …

Das gelbe Fieber … Vielleicht hatte es auch hier gehaust, vielleicht drohte hier der Tod … Jochem besann sich noch so genau, daß man die Brigg ihrem Schicksal einfach überlassen hatte, nachdem festgestellt war, was sie durchgemacht hatte. Und er und die beiden anderen Matrosen, die der Kapitän an Bord des Totenschiffes geschickt hatte, waren sofort in eine Bütte mit Karbol vermischten Wassers mit ihren Kleidern gesteckt worden. So groß war die Angst vor der Ansteckung.

Ja, hier lauerte vielleicht anstatt belebenden Wassers nur der Tod in anderer Gestalt. Aber Jochem war das gleichgültig … Wasser – Wasser, – das war sein einziger Gedanke! So taumelte er denn in die Kombüse hinab, griff nach einem Kessel, der auf dem eisernen Herde stand, schüttelte ihn … Er war halb gefüllt … Kaffee – schwarzer Kaffee … Und Jochem trank – erst langsam, dann in langen Zügen …

Wie neugeboren fühlte er sich nun. Bald hatte er auch im Schranke neben dem Herde eine Schüssel abgekochter, geschälter Kartoffeln entdeckt … Sie waren teilweise schon mit Schimmelpilzen überzogen. Trotzdem schlang er ein paar hinunter. Nur erst den Magen füllen – irgendwie …

Dann ging er nebenan in den Vorratsraum. Hier stand der große eiserne Trinkwassertank. Jochem öffnete den Hahn ein wenig. Klare Tropfen kamen heraus. Nun schnell den Kessel gefüllt. Da war auch eine Blechbüchse mit Zwieback. Hinein in die Taschen mit dem harten Gebäck … Und jetzt zurück ins Boot zu den Kindern, die die Hilfe so nötig hatten … Schnell eilte er über das verpestete Deck hin … Da – täuschte ihn sein Gehör …?! – polterte es nicht da unten im Innern des Schiffes, als würden Kisten hin und her geschoben …? – Nun wieder alles still … Ratten können es gewesen sein, dachte er. Die vollführen ja manches Mal einen Lärm, als sei die wilde Jagd losgelassen. –

Erst gab er dem kleinen Mädchen in kleinen Schlucken den verdünnten Kaffee ein, dann dem Knaben. Nach einer Weile wieder … Und Martin Mostard schlug nun wirklich die Augen auf. Die waren matt, sonst aber klar und bewußt. – Jochem reichte dem Jungen einen Zwieback.

„Ganz langsam kauen!“ mahnte er.

Martin nickte. Und der Matrose wandte sich wieder dem Mädelchen zu, fühlte nach dem Puls, erschrak. Fieber hatte die Kleine, hohes Fieber …

Da besann Jochem sich nicht lange. Hier galt’s zu handeln. Elise, die alle Leute an Bord der jetzt auf dem Grunde des Stillen Ozeans liegenden Bark nur mit dem Kosenamen Luschel gerufen hatten, mußte sofort bequem gebettet werden – sofort …

Schnell schlang Jochem noch zwei Zwiebacke hinunter. Dann kletterte er wieder an Deck des Dreimasters. Aber alle seine Energie mußte er zusammennehmen, um sich soweit zu überwinden, die Leichen anzurühren und über Bord zu werfen – nach der Steuerbordseite hin, damit der Junge sie gar nicht zu Gesicht bekam.

Der Matrose atmete auf. Die Luft wurde reiner. Und eine kaum merkliche Brise, die vorhin aufgekommen war, wehte die furchtbaren Gerüche fort.

Nun erst begab Jochem sich in den Kajütaufbau. Dieser enthielt vier Räume. In dem bestausgestatteten hatte der Kapitän gewohnt, nebenan wohl die beiden Steuerleute. Und die Kabinen auf der anderen Seite, deren Türen nach dem Heck zeigten, waren sicher mit Passagieren besetzt gewesen.

Auf dem Schreibtisch des Kapitäns lag das Schiffstagebuch aufgeschlagen.

„Angelika“ hieß der Dreimaster. Bremen war sein Heimathafen. Am 5. Oktober 1908 war er von Mollendo in Peru nach Tsingtau mit einer Ladung Salpeter abgesegelt. Die Eintragungen in das Tagebuch boten bis auf die letzte, die das Datum des 18. Oktober hatte, nichts besonderes.

Aber gerade diese letzte überflog Jochem mit jagenden Pulsen. – Der Kapitän hatte folgendes geschrieben:

„Rätselhafte, entsetzliche Dinge geschehen hier an Bord. Gestern Abend fand ich meine Passagiere, das peruanische Ehepaar mit seinen zwei Töchtern, tot in der einen Kabine auf. Woran sie so plötzlich gestorben sind, ich weiß es nicht. Ich schickte zwei meiner Leute hinein, damit sie die Toten in Segel einnähten. Ich wollte die Leichen schnell von Bord haben. Meine beiden Matrosen erschienen nicht wieder. Sie lagen mit schrecklich verzerrten Gesichtern neben den anderen Toten. Auch an ihnen vermochte ich keine Verwundung festzustellen. Die Besatzung war bereits unruhig geworden, und es fiel schwer Männer zu finden, die so plötzlich Verstorbenen aus der Kabine des peruanischen Ehepaares in die der Töchter zu schaffen, wo die nötigen Vorbereitungen für die Bestattung in der See geschehen sollten. Endlich erboten sich der zweite Steuermann und der Zimmermann dazu, diese Arbeiten vorzunehmen. Plötzlich kam der letztere in meine Kajüte gestürmt, wollte mir irgend etwas mitteilen, brachte aber kein Wort mehr hervor, sank um und verstarb in kurzem. Ich ging nun selbst nach dem zweiten Steuermann sehen. Er war tot. Als in der Nacht dann noch drei Leute, die der Hitze wegen auf Deck geschlafen hatten, ein schnelles Ende ohne jede erkennbare Ursache fanden, flüchtete die Mannschaft in die Boote. Da auch ich jetzt die Überzeugung gewonnen habe, daß eine unbekannte Seuche an Bord ausgebrochen ist, gebe ich das Schiff notgedrungen preis. Außer den bisherigen Toten ist noch der Matrose Tallerson, wie ich eben erfahre, gegen Morgen über Bord gesprungen. Ich selbst habe die Leichen der vier Peruaner und die anderen bis auf die der drei zuletzt Verstorbenen dem Meere ohne Feierlichkeit übergeben. Weiter reichten meine Kräfte nicht. Der Anblick war zu entsetzlich. – Kapitän Ernst Rütger.“

 

2. Kapitel.

Allerlei Geheimnisvolles und ein Seebeben.

Vielleicht war es gerade die Kürze dieser Aufzeichnungen, die auf Jochem Bergel so entsetzlich wirkte, daß er am ganzen Körper zitterte.

Plötzlich richtete er sich kerzengrade auf. In sein bleiches Gesicht trat ein Ausdruck gespanntester, angstvoller Aufmerksamkeit.

Jetzt hörte er ganz deutlich auf Deck schwere Schritte. Mit einemmal verstummten sie. Dann ein eiliges, leiseres Dröhnen der Deckplanken, und alles wurde wieder still.

Da faßte Jochem sich ein Herz, verließ schnell die Kajüte und schaute sich draußen um. Niemand war zu sehen. Martin Mostard konnte es nicht gewesen sein. Der saß ja noch dort unten im Boot und legte eben seiner Schwester ein feuchtes Tuch auf die fieberglühende Stirn. – Mithin befand sich noch ein Mensch an Bord, ein Seemann ohne Zweifel. Einen so schweren Schritt kann nur einer haben, der jahrelang sich auf dem schwankenden Boden eines Schiffes bewegt hat. Aber – warum zeigte der Betreffende sich nicht, der doch sicherlich gehört haben mußte, daß das Deck der „Angelika“ nicht mehr lediglich Leichen beherbergte …?! – Dann fielen Jochem die Geräusche auf, die vorhin aus dem Schiffsinnern hervorgedrungen waren. Dies bestätigte nur noch seine Annahme.

Scheu blickte der Matrose sich immer wieder um. Es war ihm eine Beruhigung. daß dort so in nächster Nähe – unten in dem Boot der untergegangenen Bark Medusa – noch zwei wenn auch noch recht jugendliche Menschen sich befanden.

So überwand er denn seine Furcht, kehrte in die Kajüte des Kapitäns zurück und suchte hier hastig nach irgend einer Waffe, die er auch schließlich in Gestalt eines geladenen Revolvers in einer Schreibtischschublade entdeckte.

Nun fühlte er sich sicherer. Langsam wich die Erregung, und dachte er sofort auch an das Notwendigste: die Unterbringung der Geschwister, die jetzt seiner Obhut anvertraut waren. Schnell hatte er die Kabine der Steuerleute für die Kinder in Ordnung gebracht. Während er hiermit noch beschäftigt war, fiel ihm ein, daß, wenn wirklich hier an Bord eine Seuche gewütet hatte, woran ja kaum zu zweifeln war, die Ansteckungsgefahr nicht mehr so sehr groß sein könne, da ja der bisher unsichtbar gebliebene Mitbewohner des Wracks von ihr verschont worden war. Dieser Gedanke hatte für ihn so viel Tröstliches, daß seine bisher recht niedergedrückte Stimmung sich zusehends besserte. Mit dem Unbekannten hier an Bord wollte er schon fertig werden!

Als er dann wieder in das Boot hinabkletterte, um die kleine Elise nach oben zu befördern, fand er deren Bruder bereits ganz munter vor. Mit Hilfe einer Strickleiter trug er die leichte Last in die kleinere Kabine, bettete die Patientin hier sorgfältig und tat alles, um die zerstörende Wut des Fiebers zu brechen. Der Knabe hatte inzwischen schon wieder so viel Kräfte gewonnen, daß er ohne fremde Hilfe Jochem gefolgt war und diesem eifrig zur Hand ging. In der Kapitänskajüte hatten sie den Medizinkasten und das medizinische Nachschlagebuch, das auf jedem Seeschiff vorhanden sein muß, hervorgesucht und der Kleinen dann ein Pulver eingegeben, wonach sie merklich ruhiger wurde und bald einschlief.

Mittlerweile war es doch vier Uhr nachmittags geworden. Die leichte Brise hatte noch mehr aufgefrischt, so daß bereits kleine Wellen sich zeigten und der Dreimaster leise zu rollen begann.

Jochem und Martin begaben sich jetzt in die Kombüse nach vorn, um sich eine kräftige Mahlzeit zuzubereiten. Die Vorratskammer war reich mit allem versehen, wie überhaupt die „Angelika“ ein schönes, ziemlich neues Schiff gewesen sein mußte.

Nachdem der Matrose Reis und Salzfleisch auf das schnell angezündete Feuer des Herdes gestellt hatte, sahen die beiden Gefährten sich genauer auf Deck um. Ohne Frage war der Dreimaster sehr bald nach der Flucht der Besatzung in einen bösen Sturm geraten, der ihn seiner Takelage beraubt hatte. Die Mastbäume, von denen nur noch etwa drei Meter hohe Stümpfe vorhanden waren, hatten die Reling an verschiedenen Stellen zerschmettert. Jochem stellte jetzt durch Besichtigung der Reste des Tauwerks fest, daß die Taue, die die umgeknickten Masten noch als gefährliche Last mit dem Segler verbunden hatten, mit einem Beile glatt durchgeschlagen waren. Dies konnte nur der geheimnisvolle Mitbewohner getan haben, der sich jetzt im Schiffsinnern verborgen hielt.

Umsonst riefen dann Jochem und Martin durch die Ladeluken in den Raum hinab, der Unbekannte solle sich doch zeigen. Er hätte nichts zu befürchten. Aber alles blieb still.

Der Matrose schüttelte den Kopf. „Entweder hat der Mann den Verstand verloren, oder aber kein ganz reines Gewissen“, meinte er. „Merkwürdig ist doch zum Beispiel auch, daß er das Schiff von den umgebrochenen Masten befreit, aber nicht die drei Leichen über Bord geworfen hat, die ich hier auf dem Deck vorfand.“

Der Knabe, ein für seine dreizehn Jahre außerordentlich kräftig entwickelter Junge, nickte lebhaft.

„Stimmt, Jochem, stimmt! Jedenfalls ist’s ratsam, wir nehmen uns vor dem Fremden in acht. Das Bewußtsein, daß er jeder Zeit hier oben bei uns auftauchen kann, ist nicht gerade sehr beruhigend.“

„Oh – daran habe ich schon gedacht, wie wir dem Manne dies unmöglich machen können. Wir brauchen ja nur die drei Ladeluken zuzunageln, dann ist er unten eingesperrt. Andere Ausgänge aus dem Laderaum dürfte es kaum geben. Zur Sicherheit wollen wir aber schnell mal nachsehen.“

In Betracht kamen hier nur die Kombüse mit dem Vorratsraum und das ebenfalls im Vorschiff liegende Mannschaftslogis. Aber es zeigte sich bald, daß diese unter Deck befindlichen Räume wie auf den meisten Segelschiffen so auch hier durch feste Holzwände abgeteilt waren und keinerlei Verbindung mit den tieferen Schiffsräumen besaßen.

Große Nägel sperrten gleich darauf die drei Luken sowie die Tür zum Mannschaftslogis sicher ab – sehr zu Martins Befriedigung, der sich nun erst an Bord der „Angelika“ behaglich fühlte.

Nachdem die beiden Leidensgefährten gegessen hatten, mußte der Junge auf Jochems Geheiß sich gleichfalls niederlegen, um erst einmal tüchtig auszuschlafen. Der Matrose selbst zündete sich als Nachtisch eine von den Zigarren des Kapitäns an und begann dann auf Deck etwas Ordnung zu schaffen, wobei er auch mit reichlich Wasser und einem Schrubber die Planken säuberte. Nachher öffnete er doch nochmals die Tür zum Mannschaftslogis und holte aus der Segelkammer, die mit den Wohnraum der Besatzung durch eine Lattentür verbunden war, verschiedene Segel und auch Tauwerk heraus. In kurzem hatte er zwei der Maststümpfe mit Notsegeln versehen, so daß der Dreimaster, nachdem das Steuer in einer bestimmten Lage festgebunden worden war, bald in Fahrt kam und gemächlich vor dem Winde nach Süden trieb.

Die Sonne sank tiefer und tiefer. Jochem hatte inzwischen verschiedentlich nach dem kleinen Mädelchen gesehen und ihr hin und wieder etwas Zitronenwasser eingeflößt. Von diesen Früchten gab es in der Vorratskammer eine ganze Menge. Zu des Matrosen großer Freude konnte er gegen Abend feststellen, daß die zarte Patientin in einen wohltuenden, leichten Schweiß verfiel. Gegen acht Uhr wurde sie völlig munter und verlangte etwas zu essen. Jochem hatte für alle Fälle aus Konservenfleisch schon eine Fleischbrühe bereitgehalten, die er der Kleinen nun löffelweise eingab.

Luschel lächelte ihn dafür dankbar an. Sprechen konnte sie noch nicht. Gleich darauf war sie wieder eingeschlafen.

Martin wollte jetzt nichts mehr von Ruhe und Schonung wissen. „Ich fühle mich ganz frisch“, sagte er zu Jochem. „Jetzt sollen Sie sich niederlegen. Ich werde bis Mitternacht an Deck wachen. Geben Sie mir den Revolver. Sie wissen ja, daß ich damit umzugehen verstehe.“

Jochem stimmte nach einigen Bedenken diesem Vorschlage zu, nahm noch schnell gemeinsam mit dem Knaben die Abendmahlzeit ein und zog sich dann in die Kajüte des Kapitäns zurück. Er fühlte selbst, daß er zum Umsinken müde war und sich nicht länger auf den Beinen halten konnte.

Martin ging erst eine Weile auf dem Deck auf und ab und setzte sich dann auf den Aufbau des Kombüseneingangs.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken jetzt in die jüngste Vergangenheit zurück.

Er und die kleine Elise waren die einzigen Kinder eines Hamburger Kaufmannes, der im Februar 1908 in Begleitung seiner Frau nach Valparaiso in Chile ausgewandert war, um dort sein Glück zu versuchen. Ende Juli desselben Jahres ließ er die Kinder dann nachkommen und zwar unter der Obhut des ihm befreundeten Kapitäns der Bark „Medusa“, die gerade Fracht für Chile angenommen hatte, so daß diese gute Gelegenheit benutzt werden sollte. Die „Medusa“ war durch das Mittelmeer, den Suez-Kanal und über Hongkong in den Stillen Ozean gelangt, hatte unterwegs schon Teile ihrer Ladung gelöscht und neue Frachtgüter erhalten. Alles war bisher ohne Unfall abgelaufen, bis sie dann nördlich der Paumoto- oder Niedrigen Inseln von einem Orkan überrascht wurde, der ihr den Untergang brachte. Jochem, dem der Kapitän die Sorge für die beiden Kinder anvertraut hatte, gelang es, mit diesen in dem kleineren Boote der Bark von dem sinkenden Schiffe freizukommen – mehr durch ein Wunder als durch des Matrosen Geschicklichkeit. Sehr bald flaute der Sturm darauf merklich ab und ging in eine völlige Windstille über, die acht Tage anhielt und die drei Insassen des Bootes, nachdem der Proviant und das Trinkwasser verbraucht waren, allen Qualen der Hitze, des Hungers und des Durstes aussetzte, bis die Begegnung mit dem Dreimaster den schon halb dem Tode Verfallenen das Leben rettete. – Am 25. Oktober hatten sie das Wrack betreten, das, wie Jochem dem Knaben zu sagen wußte, bisher mit der Westwind-Trift, einer aus den Südpolargegenden in großem Bogen an der Westküste Südamerikas vorbeiführenden Strömung, etwa bis zum Äquator nördlich der Marquesas-Inseln gelangt war, als der Matrose der untergegangenen „Medusa“ es sichtete. – –

Die Einzelheiten dieser langen Seereise waren es, die der Knabe sich soeben in das Gedächtnis zurückgerufen hatte. Jetzt empfand er so recht, wie wunderbar Gottes schützende Hand sich über Jochem Bergel, die kleine Elise und ihn selbst ausgebreitet hatte und wie dankbar man auch dem Matrosen sein mußte, der mit größter Opferfreudigkeit seine letzten Kräfte hergegeben hatte, um diese Rettung zu ermöglichen.

Martin verließ jetzt seinen Platz auf dem Kombüsendach und begann wieder auf- und abzugehen. Plötzlich blieb er dann stehen. Aus dem Innern des Dreimasters kamen allerlei polternde Geräusche herauf, die jedoch schnell wieder verstummten.

„Unser Mitbewohner rührt sich“, dachte der Knabe und griff unwillkürlich in die Tasche seines blauen, derben Jackenanzuges, in der der Revolver steckte. – Nun setzte er seine Promenade auf Deck wieder fort, wobei er sich alle Mühe gab, möglichst leise aufzutreten. Der Widerhall seiner eigenen, einsamen Schritte auf den Planken störte ihn. Außerdem: es wäre ihm ganz recht gewesen, wenn der Unbekannte gerade während seiner Wache versucht haben würde auszubrechen. War dieser jetzt doch wie in ein schwimmendes, dunkles Gefängnis eingesperrt. Er wollte den Fremden schon zurücktreiben in den Laderaum, ihn durch ein paar Schüsse erschrecken und nachher Jochem gegenüber stolz den Sieger spielen.

Eben schritt er an dem Eingang zum Mannschaftslogis vorüber – inzwischen mochte wieder eine halbe Stunde vergangen sein, in der nun neben all den unzähligen Sternen auch der Mond aufgetaucht war –, als er ein kratzendes Geräusch vernahm, das ohne Zweifel aus dem Wohnraum der Besatzung hervordrang. – Martin stand eine Weile regungslos da. Nein – er hatte sich nicht getäuscht. Dort unten arbeitete jemand mit einer Säge. Das hörte er jetzt ganz deutlich, als er das Ohr an die vernagelte Tür des Logis legte.

Nun wurde es ihm doch unheimlich zumute. Mit seiner Kühnheit war es schnell vorbei. Am liebsten hätte er den Matrosen geweckt. Aber – das kam ihm auch wieder feige vor. – Was also tun …? – Da fiel ihm ein sehr einfaches Mittel ein, den Unbekannten zu verscheuchen. Er klopfte mit dem Hacken ein paarmal ordentlich auf die Planken, und – sofort verstummen die bezeichnenden Töne der sich durch die Bretter durchfressenden Säge. Nochmals stampfte er mit dem Fuße auf und begann dann mit schweren Tritten neben dem Eingang des Logis auf- und abzugehen.

Diese Warnung an den bisher unsichtbar gebliebenen Mitbewohner half wirklich. Unten blieb alles still. Der Mann mochte eingesehen haben, daß er auf diese Weise nicht an Deck gelangen könne.

Martin schaute nach der billigen Nickeluhr, die er vorhin wieder aufgezogen und nach Jochems Uhr gestellt hatte, der die seine bis zuletzt in Gang zu halten nicht vergessen hatte. Ein halb zwölf war’s. Seine Wache war also bald zu Ende.

Ihm erschien es jetzt notwendig sich wieder einmal davon zu überzeugen, ob sein Schwesterchen auch fest schlief. Leise schlich er auf Spitzen nach der Kajüte der Steuerleute hin, öffnete die nur angelehnte Tür und trat ein. Jochem hatte hier eine kleine Petroleumlaterne brennen lassen, so daß der Raum mäßig hell war. Mit einemmal stutzte der Knabe. War es ihm doch so vorgekommen, als ob sich unter dem kleinen runden Mitteltisch etwas bewege. Nun sah er auch, wie irgend etwas blitzschnell unter den Kleiderschrank huschte.

Es war wohl eine Ratte, die sich aus den unteren Räumen hierher verirrt hatte. In diesem Gedanken beruhigte sich Martin schnell. Was sollte es sonst auch gewesen sein …?! Trotzdem – gleich morgen früh wollte er auf diesen lästigen Eindringling Jagd machen. – Ratten gibt es ja auf jedem Kauffahrteischiff, sei es Dampfer oder Segler, in oft so großer Anzahl, daß man gezwungen ist, die Fahrzeuge hin und wieder auszuräuchern, was zumeist in der Weise geschieht, daß das Schiff, nachdem die Ladung gelöscht ist, möglichst luftdicht verschlossen und ein besonderes Gasgemenge durch Schläuche in sämtliche Räume gepreßt wird, wodurch die schädlichen und gefährlichen Nager – gefährlich als Verbreiter der Pest und anderer ansteckender Krankheiten – restlos getötet werden.

Die kleine Luschel schlief fest und atmete tief und regelmäßig. Beruhigt kehrte der Knabe an Deck zurück, wo er jetzt erst gewahr wurde, daß der Wind wieder völlig abgeflaut war und die Notsegel schlaff herabhingen.

Dann fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Gerade in der Fahrtrichtung des jetzt nur noch langsam mit einer nach Westen gehenden Strömung dahintreibenden Wrackes erhob sich plötzlich aus der See eine ungeheure Wolke dichten Rauches, die, offenbar aus den Tiefen des Meeresbodens kommend, mit großer Gewalt in die Höhe schoß. Gleich darauf erklang’s wie Donnergrollen, vermischt mit dumpfen Kanonenschüssen. Aber das laute, dröhnende Rollen drang nicht aus dem Äther hervor, nein, es schien vom Grunde der Wassermassen heraufzusteigen, nahm jetzt immer mehr an Stärke zu. Und nun bauschte sich unfern des Dreimasters die See zu einem wahren Riesenberge auf. Ein ohrbetäubender Krach folgte, blendend weißer Dampf quoll aus dieser ungeheuren Woge empor, die, sich zerteilend und sich nach allen Seiten fortpflanzend, bald auch das Wrack erreicht hatte und es grimmig hin und her schüttelte.

Ganz starr vor Schrecken stand Martin da. Und erst Jochems Stimme, den der letzte furchtbare Krach geweckt hatte, brachte ihn wieder zu sich.

„Gott sei uns gnädig!“ hatte der Matrose gerufen. „Ein Seebeben – wir sind verloren!“

Er wollte noch mehr hinzufügen, vermochte aber mit der Stimme gegen diese unterirdische Kanonade nicht mehr aufzukommen. Im Nu hatte das Meer weithin sich in einen wahren Hexenkessel verwandelt. Und ohne Unterlaß drang aus den Tiefen des Ozeans Explosion auf Explosion mit nervenerschütternder Stärke hervor, bald Rauch-, bald Dampfwolken hochschleudernd, die schnell in dichtem Gemenge über den aufgepeitschten Wassern lagerten. Wie Nebelmassen breitete es sich um das Wrack aus, das wie ein Kork auf den Wogen hin und her tanzte. Und so unregelmäßig waren diese Bewegungen, daß die beiden Gefährten alle Mühe hatten, sich bis zur Kajüte zurückzutasten, wobei der Knabe mehrmals lang hinschlug. War doch das Deck längst von den überkommenden Brechern völlig überspült worden, und mancher grobe Spritzer hatte Martin und den Matrosen bis auf die Haut durchnäßt, ehe sie die Kabine der Steuerleute erreichten, wo sie das kleine Mädelchen mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in dem Kojenbett aufrecht sitzend vorfanden.

Immer gefährlicher wurde das Toben der unterirdischen Gewalten. Bisweilen stand das Wrack förmlich Kopf, sank dann wieder pfeilschnell in einen Abgrund hinab, so daß das Wasser bis zur Kabinentür hochschoß.

Der Knabe war leichenblaß geworden. Angstvoll schaute er auf den Matrosen, der sich krampfhaft an dem Türpfosten festhielt.

Dann urplötzlich eine fast atembeklemmende Stille. Das Donnern und Krachen hatte aufgehört; selbst das Geräusch der über das Wrack hinwegstürzenden Wogen war verstummt. Noch schaukelte der Dreimaster träge hin und her, dann neigte er sich etwas nach Backbord über und … lag ohne jede Bewegung da, als ruhe er auf festem Boden …

 

3. Kapitel.

Neuland.

„Jochem, was bedeutet das?!“ – Ohne es recht zu wissen war Martin diese Frage über die Lippen gekommen.

Der Matrose schaute verstört um sich. „Ich begreife das nicht“, erwiderte er leise, als ob er sich scheue, ein lautes Wort auszusprechen. „Ich begreife das nicht …!“ wiederholte er, noch ganz benommen von all dem Furchtbaren, das sie soeben durchgemacht hatten. „Das Wrack muß auf eine Klippe geraten sein … Anders ist die plötzliche Stille nicht zu erklären. – Nein“ – fügte er schnell hinzu, „das kann es auch nicht sein …! – Aber – wozu zögern wir?! Sehen wir doch nach, was geschehen ist.“

Er trat auf das Deck hinaus, gefolgt von Martin, der sich dicht hinter ihm hielt.

Noch immer lagerten die Rauch- und Dampfwolken um das armselige Schifflein, mit dem die Mächte der Tiefe eben noch förmlich Fangball gespielt hatten. Trotzdem hatten diese Dunstschleier sich doch schon so weit gelichtet, um von der Reling aus die Umgebung einige Meter weit erkennen zu können. Und hier vernahmen die Gefährten nun auch das Brausen einer nichts allzu fernen Brandung wie das Rauschen eines vom Sturme gepeitschten Waldes.

Jochem hatte sich weit über die Reling gebeugt. Gut zwei Meter unter der gewöhnlichen Wasserlinie des Seglers gewahrte er eine dunkle, leicht schillernde Masse. Jetzt trieb ein Windstoß die Nebel auseinander. Der von diesem Vorhang befreite Himmel spendete mit seinen Sternen ein mäßiges Licht, das gerade genügte, um die Lage des Wrackes noch rätselhafter erscheinen zu lassen.

Kein Zweifel: es befand sich auf Grund, und die dunkle, schimmernde Masse, in der sich nun das Sternenlicht widerspiegelte, war … Wasser, so flaches Wasser, daß es nicht mehr genügte, den Dreimaster zu tragen.

Mehr und mehr verzog sich der schwere Dunst. Die frische Luftströmung, die gewöhnlich gegen Morgen über dem Meere eintritt, tat das ihrige, um die Atmosphäre zu reinigen. Bald war es möglich, alle Einzelheiten ringsum zu unterscheiden. Da zeigte sich, daß die Vermutung, die Jochem bereits Martin gegenüber ausgesprochen hatte, zutraf: das Schiff lag auf einer durch das Seebeben erst entstandenen langgestreckten Insel in einer mit Wasser ausgefüllten Vertiefung, durch die sich aber wie Strahlen schmale Landstreifen bis zu dem Wrack hinzogen.

Den ganzen Umständen nach mußte also der Dreimaster zugleich mit einem Teile des Meeresgrundes durch die vulkanischen Kräfte während des Seebebens gehoben worden sein.

Derartige Neubildungen von Land durch zu den geognostischen (die Erdschichtenbildung betreffende) Erscheinungen gehörige Veränderungen der Erdrinde infolge vulkanischer Vorgänge sind durchaus nichts seltenes.

Erdbeben, die man, sobald sie unter den von den Ozeanen bedeckten Teilen der Erdoberfläche auftreten, Seebeben nennt, sind bekanntlich auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Temperatur unserer Planeten in größeren Tiefen stetig wächst und daß der feuerflüssige Erdkern starke Mengen von Gasen entwickelt, die, unter ungeheurem Druck eingeschlossen, sich hin und wieder einen Ausweg suchen und dabei jene Erschütterungen weiter Gebiete verursachen, die man dann als Erdbeben bezeichnet. Die Vulkane hat man daher auch mit Recht die Sicherheitsventile der Erde genannt, da sie ständig den Gasen Abzug verschaffen und verhüten, daß es an solchen Stellen zu größeren Erdbebenkatastrophen kommt. Gegen diese Bezeichnung der feuerspeienden Berge als Sicherheitsventile spricht auch nicht der Umstand, daß z. B. der Vesuv, der Ätna und andere Vulkane in ihrer Nähe schon schwere Verwüstungen durch ihre Auswurfstoffe, Lava, Asche und Gase, angerichtet haben. Gäbe es keine Vulkane, so würden sich in den Gebieten, in denen sie sich befinden, sehr häufig infolge des unausgeglichenen Gasdruckes äußerst nachhaltige Erderschütterungen, begleitet von verderblichen Nebenerscheinungen, einstellen, deren Wirkung sich auf sehr große Strecken fühlbar machen müßte.

Was nun die Erdbewegungen selbst anbetrifft, so unterscheiden die Gelehrten wellenartige, horizontal sich fortpflanzende, ferner stoßartige und schließlich die merkwürdigsten, die wirbelnden Erschütterungen. Diese letzteren bringen häufig die seltsamsten Wirkungen hervor. In Katania wurden Statuen und ganze Häuserblocks von Südwesten nach Nordosten gedreht, in Piemont wieder ganze Äcker, die, mit verschiedenen Getreidearten bestellt, in langen Schlägen nebeneinander gelegen hatten, vollkommen verschoben und fast zu Kreisen verdreht, Chausseen erhielten eine andere Krümmung und ähnliches mehr.

Die Dauer der Erdbeben ist sehr verschieden. Oft erfolgen in wenigen Sekunden nur mehrere überaus starke Erdstöße, oft dauern die Erschütterungen monatelang, so z. B. 1822 bei Aleppo in Kleinasien zwei Monate, während mit dem Jahre 1783 für Kalabrien eine Zeit dauernder Beunruhigung durch Erdbeben auf die Dauer von vier Jahren begann. Den etwa kreisförmigen Bereich, innerhalb dessen die Erdbewegungen sich bemerkbar machen, nennt man Erschütterungskreis. Seine Ausdehnung ist sehr verschieden je nach der Stärke des aus den Tiefen der Erde sich ausbreitenden Gasdruckes.

Während nun manche Gegenden von Erdbeben fast ganz verschont bleiben, sind andere wieder ständig von dieser unheimlichen Naturerscheinung bedroht. Hier braucht man nur Sizilien zu nennen, ferner bestimmte Teile von Spanien, weiter Kalifornien und verschiedene außereuropäische Inselgruppen, so die Antillen, Japan und Neu-Seeland. Auch die Südsee, das heißt, der von den beiden Wendekreisen begrenzte Teil des Stillen Ozeans, hat häufig unter Erdbewegungen zu leiden. Und gerade hier ist schon oft die Entstehung von neuen vulkanischen Inseln beobachtet worden, ebenso oft jedoch auch das spätere Verschwinden derselben Inseln nach abermaligen Erschütterungen der Erdrinde. – –

Im Osten begann sich der Horizont zu röten. Ein neuer Tag brach an.

In ehrfürchtigem Staunen standen die Gefährten noch immer an der Reling und starrten auf die seltsame Insel hin, auf der das Wrack des Dreimasters so unverhofft einen Liegeplatz gefunden hatte.

Große Wasserlachen blinkten noch überall auf, manche davon so ausgedehnt, daß man sie als Seen bezeichnen konnte. Die trockenen Strecken wieder waren stellenweise mit Algen oder Tangarten, der einzigen Vegetation des Meeresbodens, bedeckt, die indes einen so außerordentlichen Formenreichtum entwickeln, daß eine Landschaft auf dem Grunde des Meeres kaum weniger mannigfaltig ist als eine mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckte Gegend der Tropen. Riesige Algen von abenteuerlichen Formen lagen flach ausgebreitet mit ihren braungrünen Verzweigungen da, dicke Teppiche von Tang waren hier und da zu bemerken, dazwischen wieder Muscheln, Krebstiere und andere Wasserbewohner, selbst einzelne Fische. An anderen Stellen schimmerte der Boden der neuen Insel leuchtend weiß. Hier war er von derselben gipsartigen Masse bedeckt, die auf der ganzen Strecke zwischen Nordamerika und Irland zu finden ist, während wieder der Golfstrom z. B. über schlammige Schichten hinwegfließt, die so tief gehen, daß man mit dem Lot noch bei zehn Meter in diesem Schlamm keinen Grund bekommt.

Jochem brach jetzt endlich das Schweigen.

„Die Vorsehung hat nicht gewollt, daß wir verderben“, sagte er leise. „Aus Schiffbrüchigen sind wir zu Robinsons geworden. – Ich möchte nun gerne feststellen, welche Ausdehnung unsere Insel hat, für die „Neuland“ der richtige Name wäre. Von einem der Maststümpfe aus hoffe ich das ganze Gebiet überblicken zu können.“

So kletterte er denn bis zur Spitze des höchsten der Maststümpfe hinauf und erstattete nachher seinem kleinen Freunde folgenden Bericht.

„Die Insel dürfte eine Länge von einer halben Meile bei etwa 2000 Meter größter Breite haben. Sie erstreckt sich genau von Nord nach Süd. Ihre Ränder bestehen aus felsigen Hügelreihen, die sich im Süden zu einem kleinen Berge auftürmen, den Du dort vor Dir siehst. Unser Wrack liegt ziemlich genau in der Mitte dieses Eilandes, das noch vor wenigen Stunden einen Teil des Meeresbodens bildete. Das ist alles, was ich von oben feststellen konnte. Später werden wir uns auf Neuland genauer umschaun. Jetzt wollen wir zunächst an unsere Morgenmahlzeit denken. Ich habe tüchtigen Hunger, und Dir wird es wohl nicht anders gehen. Auch müssen wir für unsere liebe Patientin sorgen. – Komm’, überzeugen wir uns erst, wie es unserer Luschel geht.“

Das Mädelchen war zu ihrer Überraschung längst wieder eingeschlafen. – Jetzt erinnerte Martin sich auch an die Ratte, die er in der Nacht bemerkt zu haben glaubte. Als er Jochem hiervon erzählte, schüttelte der zweifelnd den Kopf und meinte, er könne sich nicht recht denken, daß eines dieser Tiere bis auf das Deck und weiter bis in die Kajüte sich verirrt haben sollte.

„Während ich unser Frühstück in der Kombüse zubereite, kannst Du ja auf das Nagetier Jagd machen. – Sieh, dort an der Wand hängen ein paar Lanzen, die anscheinend von Australnegern angefertigt sind. Nimm eine davon und spieße das langschwänzige Vieh auf.“

Damit verließ er die Kabine der Steuerleute. Kaum war er hinaus, als die Kleine erwachte. Sie war ganz munter und erklärte „furchtbaren“ Hunger zu haben. – Martin war mehr als froh, daß sein Schwesterchen so schnell das Fieber überwunden hatte. – „Jochem spielt schon den Koch, Luschel. Gleich wirst Du eine kräftige Brühe auslöffeln können“, sagte er. Dann berichtete er ihr auch, was inzwischen geschehen war. Er hatte sich zu ihr auf den Rand des Bettes gesetzt, und in den Gesichtern der Geschwister spiegelte sich deutlich die Freude wider, daß sie nun glücklich festen Boden unter den Füßen hatten. Der brave Jochem würde ja schon zusehen, wie er es möglich machen könne, sie auch ihren Eltern zuzuführen. Die Kinder hatten eben zu dem Matrosen, den sie wie einen älteren Bruder liebten, uneingeschränktes Vertrauen.

Während sie noch ganz fröhlich miteinander plauderten, packte das kleine Mädelchen plötzlich mit ganz entsetzter Miene den Arm des Bruders und deutete nach der Mitte der Kajüte hin.

„Martin – eine Schlange!“

Der Knabe fuhr bei diesem halblauten Ausruf mit dem Kopf herum. – Wirklich – die Schwester hatte recht. Dort unter dem Tisch schob sich lautlos ein graugelbes Reptil von etwa ein Meter Länge mit auffallend abgeplattetem[2] Kopf nach der Tür hin.

Also das war die Ratte …!! Jetzt sah der Junge ein, daß die unsichere Beleuchtung ihn in der Nacht getäuscht hatte. Merkwürdig war ihm das davonhuschende Tier ohnehin vorgekommen, eigentlich viel zu lang für eine Ratte. Und nun stellte es sich heraus: eine Schlange war’s gewesen, ein häßliches, schleichendes Gewürm, das vielleicht sogar Giftzähne besaß.

Martin überlegte nicht lange. Vorhin hatte er schon eine der Lanzen, die eine Spitze von Stein besaß, von der Wand herabgenommen. Diese ergriff er nun und führte zwei schnelle Schläge nach dem Reptil, von denen der eine den Kopf traf, so daß die Schlange, wild sich bäumend, nicht mehr weiter konnte. Ein dritter Hieb, der ihr das Rückgrat brach, machte sie völlig wehrlos.

In diesem Augenblick erschien der Matrose mit einem großen Anrichtebrett in beiden Händen in der Tür. Beim Anblick der Schlange, die sich noch in machtlosen Zuckungen wand, prallte er zurück.

„Eine Maxatilla!“ rief er entsetzt. „Wo kommt diese giftigste aller Schlangen her …?! Martin – hat sie Euch auch nichts zu Leide getan …?“

Der Knabe lachte sorglos. „Sie ist erledigt, Jochem! Hier mit dieser Lanze habe ich sie böse zugerichtet …!“

Der Matrose stellte schnell das mit Tellern und Schüsseln eng bedeckte Brett auf die Schwelle und ließ sich dann von Martin die Lanze reichen, spießte das Reptil mit gutgezieltem Stoße auf und trug es an die Reling, wo er ihm mit seinem großen Taschenmesser gewandt den Kopf abschlug. Beide Teile des Schlangenkörpers schleuderte er dann ins Wasser.

„Wir müssen sofort die beiden Kajüten, die wir bewohnen, auf das sorgfältigste durchsuchen“, wandte er sich nun an den Knaben, der ihm gefolgt war. „Soeben ist mir eine furchtbare Ahnung aufgestiegen. Die rätselhaften Todesfälle hier an Bord, – besinne Dich auf die Tagebuchaufzeichnungen des Kapitäns, Martin! –, – ob sie nicht durch Schlangenbisse verursacht worden sind …?! Vielleicht ist noch mehr von diesem Gewürm vorhanden …! Wir wollen sofort nachsehen! Früher habe ich keine ruhige Minute.“

Ganz genau wurde nun in beiden Kajüten jeder Winkel abgeleuchtet, jeder Gegenstand, in den sich möglicherweise eine Maxatilla verkrochen haben konnte, durchstöbert.

Und wirklich: in der Kajüte des Kapitäns fand man zwei weitere Exemplare dieser gefürchteten Art von Reptil. Sie hatten sich eine halboffene Wäschekiste als Schlupfwinkel ausgesucht. Ihre Länge betrug nur ein halb Meter. Trotzdem seien sie aber, so erklärte Jochem, genau so gefährlich wie ausgewachsene Tiere. Ja selbst kaum ausgeschlüpfte Junge von der Größe eines starken Regenwurmes hätten in den Wäldern Perus schon vielen Menschen den Tod gebracht, wie ihm nur zu gut bekannt sei. Dabei wirke das Gift der Maxatilla so schnell, daß sich schon nach wenigen Minuten die ersten Lähmungserscheinungen einstellten.

Zur Sicherheit wurde dann nochmals alles in den beiden Kajüten genau durchsucht, selbst Orte, wo man ein Reptil kaum vermuten durfte. Aber der Matrose wollte sicher gehen. – Man entdeckte jedoch keine einzige Schlange mehr, und nun erst gab Jochem sich zufrieden, wärmte die Speisen nochmals auf und ließ inzwischen von Martin auch die Kombüse und den Vorratsraum sorgfältig durchstöbern, wobei er ihm die allergrößte Vorsicht anempfahl.

Wie nötig dies gewesen, zeigte sich sehr bald. Der Knabe hatte gerade beim Scheine einer großen Schiffslaterne eine Kiste in der Vorratskammer von der Wand abgerückt, als wie ein Blitz eine große Maxatilla vorschnellte und Martin auch sicher gebissen haben würde, wenn er sich nicht durch einen Sprung nach rückwärts gerettet hätte.

Nach dem mißglückten Angriff war das Reptil wieder verschwunden. Der Junge rief nun Jochem zu Hilfe. Gemeinsam suchten sie weiter, bis auch diese Schlange unschädlich gemacht war.

Der Matrose, ein heller Kopf, wurde abermals durch diesen neuen Fund sehr nachdenklich. Aber jetzt teilte er seine Gedanken dem Knaben nicht mit, sondern behielt sie für sich. Ein unbestimmter Argwohn war in ihm aufgezuckt und zwar gegen den noch immer unsichtbar gebliebenen Mitbewohner des Wrackes.

Nachher beeilte er sich sehr, als erster mit der Mahlzeit fertig zu werden, und begab sich dann in die Kombüse, um hier die Holzwände einer sehr eingehenden Besichtigung zu unterziehen. Ein offenbar mit einem sog. Zentrumbohrer gebohrtes, frisches Loch von drei Zentimeter Durchmesser etwa, das noch mit einem Messer erweitert worden war, gab ihm die Gewißheit, wie das Reptil erst in die Kombüse und dann in die Vorratskammer gelangt war. –

Der Unbekannte hatte sich auch in der Nacht, als das Seebeben mit dem Dreimaster Fangball spielte, nicht bemerkbar gemacht. Jedenfalls mußte man ihn jetzt auf irgend eine Weise an Deck locken, da das Leben, wie man es nunmehr zu führen gezwungen war, eben dieses fortwährende Aufderhutsein, für die Dauer unerträglich werden würde.

Wie aber den Mann aus seinem dunklen Gefängnis herausbekommen? – In die unteren Räume hinabzusteigen, das war ein zu großes Wagnis. Dort unten konnte der Tod ja in der verschiedenartigsten Gestalt lauern …! – Da kam Jochem ein guter Gedanke. Vielleicht ging’s auf diese Art …! Freilich, zu diesem Zweck war er genötigt, den Kindern seinen Argwohn gegen den Fremden mitzuteilen, was jedoch nichts schadete, da er seine kleinen Leidensgefährten ohnehin noch eindringlichst vor dem Auftauchen neuer Reptile warnen wollte.

Gerade als er die Kombüse wieder verließ, kam ihm Martin entgegengeeilt, der soeben – hieran hatte der Matrose bisher gar nicht gedacht! – festgestellt hatte, daß das Boot während der Schreckensnacht sich von dem Dreimaster losgerissen haben mußte und verschwunden war.

Jochem nickte bei dieser unangenehmen Nachricht jedoch ziemlich gleichgültig mit dem Kopf. „Ich habe damit gerechnet, allerdings mich bisher auch nicht um unser Boot gekümmert“, meinte er. „Das sind jedoch Dinge, die erst in zweiter Linie mitsprechen. Für uns gilt es jetzt, wichtigeres zu erledigen. – Komm’ in die Kajüte der Steuerleute, Martin“, fügte er leise hinzu. „Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen, wie wir uns des Unbekannten bemächtigen können.“

Die Geschwister waren recht gespannt, was ihr großer Freund und Beschützer ihnen wohl mitzuteilen hätte. Atemlos lauschten sie, als er nun mit gedämpfter Stimme begann:

 

4. Kapitel.

Der geheimnisvolle Mitbewohner.

„So furchtbar die Vorstellung auch sein mag, daß die hier an Bord so schnell hintereinander verstorbenen Personen einem kaltblütigen Verbrecher zum Opfer gefallen sein könnten: verschiedenes deutet mit größter Wahrscheinlichkeit darauf hin. Zunächst das Verhalten des Unbekannten, der doch recht schwerwiegende Gründe gehabt haben muß, uns derart ängstlich zu meiden. Weiter die Tatsache, daß wir, falls auf dem Dreimaster wirklich eine Seuche gewütet hätte, von dieser so völlig verschont geblieben sind – ebenso wie der Fremde selbst, der doch schon vor uns auf irgend eine Weise an Bord gelangt ist und der die Leichen trotzdem auf Deck liegen ließ. Was dies letztere anbetrifft, so kann er das Fortschaffen der Toten deshalb unterlassen haben, um jedem den längeren Aufenthalt auf dem Wrack zu verleiden, wozu auch nicht wenig die Tagebuchaufzeichnungen des Kapitäns beigetragen hätten. Mit einem Wort: Der Unbekannte wollte auf der „Angelika“ allein bleiben. – Uns gegenüber verfingen diese Schreckmittel nun nicht. Da versuchte er uns auf dieselbe Weise zu beseitigen, wie er dies – vielleicht! – auch mit den anderen Leuten getan hatte – durch Schlangenbisse. Sicher ist, daß er in die Kombüse eine Maxatilla hineingelassen hat. Ich habe das frisch gebohrte Loch in der Holzwand gefunden. Ob er die in diesen beiden Kajüten von uns entdeckten Schlangen gleichfalls hier hineingeschmuggelt hat oder ob diese sich hier bereits befanden, vermag ich jetzt nicht zu entscheiden. Jedenfalls haben wir den Unbekannten als einen grimmen Feind anzusehen, der uns nach dem Leben trachtet. – Wozu er mit diesen Verbrechen seine Seele belastet haben mag, ist mir zur Zeit zwar noch unklar. Wir werden aber schon noch dahinterkommen. Ohne Frage stehen dabei für ihn wichtige Interessen mit auf dem Spiel. Welcher Art diese sind, weiß ich nicht, wie ja überhaupt alles dies lediglich Vermutungen bleiben. Trotzdem: den Mann müssen wir dingfest machen! Bevor dies nicht geschehen, haben wir doch keine Ruhe hier an Bord.“

Dann entwickelte der Matrose den Kindern seinen Plan mit allen Einzelheiten. Alles wurde genau verabredet, um des Erfolges auch sicher sein zu können. Das Gelingen hing allerdings davon ab, daß der Unbekannte nichts von der Schlangenjagd in den beiden Kajüten gemerkt hatte. Nun – ob dies der Fall war, mußte ja die Zukunft zeigen.

Möglichst unbefangen erledigten Jochem und Martin in den nächsten zwei Stunden allerlei kleine Arbeiten an Deck, räumten die beiden Kajüten auf und errichteten aus den jetzt überflüssig gewordenen Segeln ein Zelt vor dem Kajütaufbau, damit die kleine Patientin, die auf des Matrosen Geheiß noch zwei Tage das Bett hüten sollte, luftigeren Raum während der heißen Tagesstunden habe. Brannte doch heute die Sonne mit einer Glut vom Himmel herab, daß das Thermometer bis auf dreißig Grad Reaumur[3] im Schatten kletterte.

Dann, als die beiden Stunden um waren, begann die Komödie. – Martin begab sich zu seiner Schwester in die Kajüte, während Jochem in der Kombüse das Geschirr reinigte.

Plötzlich stieß der Knabe gellende Hilferufe aus und stürmte auf Deck, wo er dem ihm entgegeneilenden Matrosen zurief: „Wir sind von einer Schlange gebissen worden – helfen Sie, Jochem, – helfen Sie!“

Jochem spielte sehr geschickt den Ungläubigen. „Es wird wohl nicht so schlimm sein!“ rief er seinerseits möglichst laut und schlug Martin wie scherzend auf die Schulter. – Rechneten sie doch damit, daß der Fremde vielleicht die vergangene Nacht mit ihrem unheimlichen Getöse dazu benutzt habe, um sich einen Zugang nach dem Mannschaftslogis zu schaffen und daß er sie jetzt durch dessen vernagelte Tür, die ein paar breite Risse hatte, beobachtete.

Dann fing der Knabe zu taumeln an und sank Jochem matt in die Arme. Dieser trug ihn eiligst in die Kajüte der Steuerleute, legte ihn auf das freie Bett und raunte den Kindern zu, sich ganz ruhig zu verhalten. Er selbst lief anscheinend in höchster Aufregung in die Kombüse, holte Wasser und verschwand wieder in der Kabine. Nach einer Weile erschien er abermals an Deck, schwenkte den rechten Arm, tat, als ob er sich eine Wunde am Handgelenk aussauge, machte allerlei wildverzweifelte Gebärden und holte schließlich sein Messer hervor, um mit der scharfen Klinge sich die vorgetäuschte Bißwunde zu erweitern und nochmals dann auszusaugen. Er gab sich alle Mühe, seine Rolle möglichst naturgetreu durchzuführen. Bald darauf setzte er sich auf den Aufbau der Kombüsentreppe, schwankte kraftlos mit dem Oberkörper hin und her und fiel schließlich, sich in Zuckungen windend, lang auf das Deck, wo er nach einigen Minuten zusammengekrümmt liegen blieb. Dabei hatte er es jedoch so eingerichtet, daß er sich im Schatten des Aufbaues befand und den einige Meter entfernten Zugang zum Mannschaftslogis im Auge behalten konnte, indem er zwischen den Falten seines Jackenärmels hindurchspähte.

Nun hieß es geduldig warten und ganz regungslos sich verhalten, – bei dreißig Grad keine leichte Aufgabe, wenn man nebenbei noch auf die Umgebung achtgeben soll.

Wagte der Fremde, verführt durch den scheinbaren Tod der drei Schiffbrüchigen, es wirklich an Deck zu kommen, so konnte er nur nach der Kombüse oder dem Mannschaftslogis hin durchbrechen, – falls er sich nicht eben schon in letzterem befand, was Jochem beinahe für wahrscheinlich annahm.

Eine Stunde verging. Dann vernahm der Matrose ein leises Geräusch. Es kam tatsächlich vom Mannschaftslogis her. Jetzt hörte er das Arbeiten eines Zentrumbohrers, bald auch das einer schmalen Stichsäge, deren Spitze er in der Türfüllung hin und her schieben sah. Öfters machte der Fremde in seiner Arbeit eine Pause. Jetzt ließen sich ein paar Möwen auf die Reling nieder und blieben eine ganze Weile sitzen, ohne irgend welche Angst vor der menschlichen Gestalt zu zeigen.

Vielleicht machte gerade dieses Verhalten der scheuen Vögel den Unbekannten noch sicherer. Die Arbeit mit der Säge dauerte ihm offenbar zu lange. Das Dröhnen von Axt- oder Beilhieben erklang. Dann sprang die niedrige Tür auf.

Jochem hielt den Atem an. Die Entscheidung nahte.

Ein kleiner, magerer, graubärtiger Mensch in Matrosentracht tauchte aus dem Mannschaftslogis auf, schaute sich vorsichtig um und kam dann auf Jochem Bergel zu. In der Hand hatte er ein Zimmermannsbeil, wie es auf Segelschiffen gebraucht wird.

Jochem blieb regungslos liegen. Die Lider hatte er krampfhaft geschlossen. Er verließ sich nur auf sein Gehör. Nun stand der Fremde dicht vor ihm, stieß die angebliche Leiche mit dem Fuße an.

Das war für Jochem das Signal zum Angriff. Blitzschnell streckte er die Arme aus, faßte die Beine des Unbekannten und riß ihn um. Hart schlug der Mann mit dem Hinterkopf auf die Deckplanken auf, so daß er sofort das Bewußtsein verlor.

Ein Pfiff rief den Knaben herbei, der nun eifrig mithalf, den dergestalt Überrumpelten zu fesseln und in die Kajüte des Kapitäns zu schaffen, wo man ihn zunächst auf den Fußboden legte. Er kam bald wieder zu sich, richtete sich etwas auf, schaute wild um sich und stieß mit haßfunkelnden Augen eine schreckliche Verwünschung gegen Jochem aus, der ihm inzwischen alle Taschen geleert hatte und soeben eine zerrissene Brieftasche auf ihren Inhalt prüfte.

„Lassen Sie die Hände von meinem Eigentum weg, Sie elender Schuft!“ brüllte der Gefangene in englischer Sprache, als er sah, womit der Matrose gerade beschäftigt war.

Jochem tat, als ob er nichts höre. Die Brieftasche enthielt außer dreißig englischen 100-Pfundnoten, also einer recht erheblichen Summe, noch allerlei Seemannspapiere, die auf den Namen eines gewissen Edward Tallerson lauteten.

Tallerson?! – der Name kam dem Matrosen merkwürdig bekannt vor. Richtig …! So hatte ja der Mann geheißen, der nach den Tagebuchaufzeichnungen des Kapitäns der „Angelika“ über Bord gesprungen sein sollte.

Nun ging Jochem plötzlich ein Licht auf. – Tallerson war der Mitbewohner des Wrackes und hatte damals nur einen Selbstmordversuch in der See vorgetäuscht, in Wirklichkeit sich aber im Laderaum versteckt. – Aber wozu das alles?! War er tatsächlich derjenige, der den Tod so vieler Menschen verschuldet hatte?! Und, wenn ja, wie kam er zu den Giftschlangen?! Hatte er diese etwa gleich mit an Bord gebracht? Und wann hatte er sich überhaupt für die „Angelika“ anheuern lassen? Und wo …?

Das alles waren Fragen, die Jochem nun zum größten Teil dadurch löste, daß er die Liste der Mannschaft des Dreimasters durchsah. – Edward Tallerson war erst zwei Tage vor der Abreise des Dreimasters von Mollendo in Peru angeworben worden. Und Peru und Chile, besonders die Westabhänge der Anden, des Hauptgebirgszuges Südamerikas, sind die Heimat jener häßlichen, zum Glück nicht allzu häufig anzutreffenden Maxatilla, aus deren eigenartig zusammengesetztes Gift die Gelehrten erst in letzter Zeit aufmerksam geworden sind. – Aus den Papieren Tallersons ging wieder hervor, daß er sich vorher drei Monate als Arbeiter auf der Hazienda eines sehr reichen Peruaners namens Parajo in der Nähe von Mollendo aufgehalten hatte.

Jochem wußte nicht, durch welche Ideenverbindung urplötzlich der Gedanke in ihm aufblitzte, das von dem Kapitän der „Angelika“ erwähnte peruanische Ehepaar könne möglicherweise mit dem Besitzer der Hazienda, auf der Tallerson beschäftigt gewesen war, identisch sein. – Kaum war ihm diese Vermutung gekommen, als er auch schon hinauseilte und sich in die Kajüte begab, in der das Ehepaar gewohnt hatte. Hier fand er auch wirklich einige Briefe und andere Schriftstücke, die auf den Namen Antonio Parajo lauteten.

Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, nun wußte er, woher die große Summe Geldes stammte, die er in Tallersons zerrissener Brieftasche gefunden hatte. Ja – hier handelte es sich um ein Verbrechen, das mit ungeheurer Bestialität und Raffiniertheit ins Werk gesetzt war, – um einen Raubmord mit Begleitumständen, wie ihn die Kriminalgeschichte nicht oft aufzuweisen haben dürfte. – Alles war Jochem jetzt klar – alles! Deutlich erkannte er, wie diese Freveltat verübt worden war. Tallerson hatte erfahren, daß Parajo ein Vermögen mit auf die Reise nehmen wollte, hatte sich für dasselbe Schiff als Matrose anwerben lassen und sicherlich in seiner Kleiderkiste die Maxatillas mit an Bord geschmuggelt, die er dann zum Teil in die Kajüte des Ehepaares, zum Teil wahrscheinlich in das Mannschaftslogis brachte, um auf diese Weise allmählich die Passagiere und die Besatzung bei Seite zu schaffen. Der Plan war ihm besser geglückt, als er es voraussehen konnte. Die von Entsetzen erfaßte Bemannung der „Angelika“ hatte fluchtartig aus Angst vor einer Seuche den Dreimaster verlassen, auf dem er nun allein zurückblieb, – allein mit dem zur rechten Zeit gestohlenen Gelde.

Den braven deutschen Matrosen überlief es eiskalt bei so viel Verruchtheit.

Ganz blaß vor innerer Wut und Empörung trat er jetzt vor den Engländer hin und hielt ihm seine Schandtaten vor. – Tallerson, der eben noch so anmaßend und unverschämt geworden war, kamen diese niederschmetternden Vorwürfe so unerwartet, daß er erst scheu den Kopf abwandte und die Augen zu Boden schlug. Dann gewann bei ihm die Frechheit doch wieder die Überhand. Er lachte hämisch auf und meinte, Jochem habe wohl etwas zu stark dem Rum zugesprochen.

Angeekelt drehte der Matrose sich um und winkte Martin zu, ihm an Deck zu folgen. Nach kurzer Bratung wurde Tallerson dann in die Kajüte eingesperrt, in der die Töchter Parajos gewohnt hatten. Er sträubte sich mit aller Gewalt hiergegen, brüllte wie ein Besessener, überhäufte die beiden Gefährten mit den gemeinsten Schmähungen und erreichte nur, daß Jochem ihn, ohne ihm Fesseln abzunehmen in den Raum hineinstieß, nachdem er ihm noch einen Knebel in den Mund geschoben hatte. Die feste, aus Mahagoniholz gearbeitete Tür wurde dann verschlossen und der Schlüssel von draußen stecken gelassen.

Jetzt atmete Jochem und der Knabe förmlich erleichtert auf. Nun erst konnten sie sich wirklich sicher fühlen. – Inzwischen war es Mittag geworden und daher Zeit, wieder an die Mahlzeit zu denken. Während man dann gemeinsam in dem Zelt speiste, wohin auch die kleine Patientin samt ihrem Lager gebracht worden war, sprang Martin plötzlich auf.

„Jochem – Jochem, – soeben ist mir etwas eingefallen. Vielleicht hat Tallerson deshalb durchaus nicht in die Kajüte hineingewollt, weil sich dort noch Maxatillas befinden, was er uns natürlich nicht sagen wollte, da er ja hierdurch seine Verbrechen zugegeben haben würde!“

 

5. Kapitel.

Drei Monate auf Neuland.

Der Matrose erhob sich schnell.

„Junge, Du kannst recht haben …! Daran habe ich nicht gedacht! Wenn der Engländer auch hundertfach den Tod verdient haben mag: sein Henker will ich nicht sein!“

Und schon eilte er nach der Passagierkajüte hin, gefolgt von Martin, der noch schnell eine der Lanzen an sich genommen hatte.

Als Jochem die Tür öffnete, hörte er schon unheimliche, gurgelnde Laute, die Tallerson ausstieß, der sich bis dicht an die Türschwelle gerollt hatte. Und in der Mitte des Raumes neben einem umgekippten Stuhl lag eine große Maxatilla, die den Oberleib halb aufgerichtet hatte und den platten Kopf pendelnd hin und her bewegte.

Jochem riß dem Engländer den Knebel aus dem Munde. Das Gesicht des Mannes war furchtbar verzerrt. Die Augen traten ihm weit aus den Höhlen, und über die Stirn rannen ihm dicke Schweißtropfen entsetzlichster Angst.

„Ich bin gebissen!“ kreischte er, als er kaum den Mund frei hatte. „In den Fuß …, den linken … Helfen Sie mir – retten Sie mich …“

Da trat auch schon der erste Krampfanfall ein. Nachdem er vorüber, beugte Jochen sich über den Sterbenden, der mit verglasten Augen, am ganzen Körper zuckend, dalag.

„Geben Sie zu, nach dem Gelde des Peruaners getrachtet und deshalb die Maxatillas mit an Bord gebracht haben?“ fragte er eindringlich. „Erleichtern Sie Ihr Gewissen, Tallerson! Bald stehen Sie vor Gottes Richterthron …“

Der Engländer vermochte nur noch zu nicken.

„Wieviel Giftschlangen führten Sie bei sich?“ forschte Jochem weiter.

Aber Tallerson hörte nichts mehr. Und wenige Minuten später war er tot.

Inzwischen hatte Martin dem Reptil geschickt den Garaus gemacht. – Gleich nachher wurde der Engländer beerdigt. Man grub für ihn in den östlichen Sandhügeln von Neuland ein tiefes Loch, ließ die in ein Segel gehüllte Leiche hineingleiten und bedeckte sie hoch mit dem noch feuchten, steinigen Sande. Ein Vaterunser noch, mit dem die beiden Gefährten die Seele des auf so merkwürdige Weise Gerichteten der Gnade Gottes anempfahlen, und alles war vorüber. –

Eine Durchsuchung der beiden Passagierkajüten förderte noch zwei weitere Giftschlangen zu Tage, ebenso wie man im Mannschaftslogis noch eine Maxatilla fand.

So war denn der Nachmittag herangekommen, ehe die Gefährten Zeit hatten, ihre Insel in Ruhe zu besichtigen. Da mittlerweile das Mädelchen sich soweit erholt hatte, an einem kurzen Ausflug teilnehmen zu können, brachen alle drei gegen fünf Uhr zu einem Spaziergang auf.

Und wieviel Interessantes gab es hier auf dieser Insel zu schauen, die noch vor kurzem tief unter den Wassern des Stillen Ozeans geruht hatte …! Allerlei seltsame Tiefseefische schwammen in den Tümpeln und kleinen Seen, diesen Rückständen des Meereswassers, umher, – Tiere mit riesigen Augen, durchsichtigen Körpern und abenteuerlichen Gestalten, die, an die Dunkelheit auf dem Seeboden gewöhnt, sich in dieser blendenden Helle höchst unbehaglich fühlten. Aber auch andere Wasserbewohner waren durch das Seebeben ihrem Element entrissen worden, so ein mächtiger Haifisch, der in einem kleinen flachen See wild umherjagte und den Martin mit des Matrosen Erlaubnis durch ein paar Revolverschüsse erlegte, ferner jene seltsamen Riesenwürmer, die wie Schlangen aussehen, bis ein Meter lang werden und doch mit ihren starken Freßkiefern zu der Familie der Würmer gehören. Jochem hatte diese häßlichen, mit Borstenhaaren bedeckten Tiere schon einmal auf den Hawaii-Inseln gesehen, wo die Eingeborenen sie Sailopo nennen, Leichenfresser, da sie hauptsächlich sich von an den Strand angeschwemmten Kadavern nähren. Weiter fand man auch jene gefährlichen Zauberfische, höchst wunderlich geformte Tiere, deren spitze harte Rückenstacheln giftig sind und selbst den Tod eines Menschen herbeiführen können.

Die Geschwister kamen gar nicht aus dem Staunen heraus. Immer wieder richteten sie an Jochem allerlei Fragen, von denen er die meisten leider nicht beantworten konnte.

Nach einer Stunde langte man wieder an Bord der „Angelika“ an, zu der eine breite Landzunge hinführte so daß man trockenen Fußes an Deck kommen konnte.

Die nächsten acht Tage brachten nichts Neues. Das Wetter blieb unverändert schön. Nur etwas war recht unangenehm: In der Hitze der südlichen Sonne begannen die Algen- und Tangmassen, mit denen große Flächen von Neuland bedeckt waren, zu faulen und verpesteten für Tage die Luft derart, daß die drei Robinsons sich genötigt sahen, die in Fäulnis übergegangenen Tiefseepflanzen zu großen Haufen aufzuschichten und mit dem weißen Tonschlamm zu überdecken, der in der Sonne schnell erhärtete und die Haufen mit einem dichten Panzer überzog.

Proviant war an Bord sehr reichlich vorhanden, so daß man sich dieserhalb keine Sorgen zu machen brauchte. Nur das Trinkwasser wurde bald knapp, und Jochem ging damit äußerst sparsam um und wartete sehnsüchtig auf Regen, den er in einem straffgespannten Segel aufzufangen und zu sammeln gedachte.

Am neunten Tage ihrer Anwesenheit auf dem Wrack erwachten die Gefährten dann in der Nacht unter den zuckenden Blitzen, furchtbaren Donnerschlägen und wolkenbruchartigen Regengüssen eines tropischen Gewitters. Dieses bildete die Einleitung zu einer Periode sehr regenreicher Wochen, die die drei Schiffbrüchigen zwangen, in ihrer Kajüte zu bleiben. Hier hatten sie es jedoch so behaglich, daß sie auch diese Zeit nicht unangenehm empfanden. Außerdem hatte der Kapitän der „Angelika“ eine recht zahlreiche Bibliothek besessen, die nun eifrige Leser fand.

Nachdem die vier nassen Wochen, die die Tümpel und Seen von Neuland erheblich vergrößert hatten, vorüber waren, folgten köstliche, windige, klare Tage, die die Gefährten zu häufigen Ausflügen nach allen Teilen des Eilandes benutzten. Jetzt errichtete Jochem und Martin auch auf dem Felshügel im Süden einen Flaggenmast mit einer großen Fahne, um etwa vorüberfahrende Schiffe aufmerksam zu machen.

Den Geschwistern bekam dieses ungezwungene Leben, dieser stete Aufenthalt in frischer Luft geradezu prächtig. Jochem hatte seine helle Freude an ihren sonnenverbrannten, gesunden Gesichtern. Leider hegte er aber bald auch im Stillen allerlei Befürchtungen, die seine heitere Stimmung nur zu oft beeinträchtigten, als trotz der Tag für Tag wehenden Flagge kein Fahrzeug erschien, das sie von dieser Gefangenschaft auf Neuland erlöste. Der Proviant begann sehr zusammenzuschmelzen, und der wackere Matrose sparte schon überall, wo es nur irgend anging. Trotzdem mußte er nach einer abermaligen genauen Aufnahme der Bestände feststellen, daß man bei äußerstem Maßhalten gerade noch sechs Wochen etwa reichen würde. Und das war nur eine kurze Spanne Zeit für dieses Robinsonleben, bei dem Tage und Wochen förmlich davonflogen.

Da kam er auf ein gutes Mittel, den Proviant zu strecken: Er und Martin begannen Fischfang zu treiben. – Zu diesem Zweck fertigten sie sich eine Menge Angelschnüre an, außerdem auch aus Brettern, die sie aus dem Mannschaftslogis herausbrachen, ein Floß, um mit Hilfe dieses die Angeln in einer im Norden liegenden, tief einschneidenden Bucht auslegen zu können.

Auf diese Weise verschafften sie sich manches schöne Fischgericht, ebenso wie sie auch die Nester der Möwen, die sich bald auf Neuland heimisch fühlten, der Eier beraubten.

Die Tageseinteilung war zumeist dieselbe. Um sechs Uhr morgens wurde bei jedem Wetter aufgestanden. Nach dem ersten Frühstück räumten die Geschwister die beiden Kajüten auf und schafften auch an Deck peinliche Ordnung. Hierauf hielt Jochem sehr. Er selbst beschäftigte sich in der Kombüse, füllte die Laternen für den Abend und bereitete alles für die Mittagsmahlzeit vor. Gegen acht Uhr machte man gewöhnlich einen Spaziergang, der zunächst nach dem Felsenhügel im Süden führte, wo sich der Flaggenmast erhob, und dann nach der Nordbucht fortgesetzt wurde, um die Angelschnüre nachzusehen. Gegen elf war man zumeist wieder daheim auf dem Wrack, wo das kleine Mädelchen sich nun unter Jochems Anleitung in der Küche betätigen mußte, während Martin mit Arbeiten am Schiffe selbst beschäftigt wurde, dessen Anstrich erneuert und dessen Aufbauten in verschiedenen Farben übermalt wurden. Bis fünf Uhr nachmittags hielt man sich dann der Hitze wegen größtenteils im Wracke selbst auf, las und verrichtete kleinere Arbeiten, die gerade nötig waren. Der Nachmittagskaffee, den man wie alle Mahlzeiten in dem Zelt einnahm, endete gewöhnlich mit einer Plauderstunde, an die sich ein zweiter Spaziergang über die Insel anschloß. Diese hatte mit der Zeit insofern ein anderes Aussehen angenommen, als die kleineren Wassertümpel sämtlich verdunstet und die feuchten Schlammassen[4] getrocknet waren. Es gab jetzt nur noch vier größere Seen, die Jochem durch Kanäle miteinander verbunden hatte, so daß hierdurch der in einem dieser Salzwasserteiche liegende Dreimaster ständig etwa eineinhalb Meter tief in seinem Element ruhte, damit seine Planken durch Austrocknen nicht undicht würden. Rechnete doch der Matrose sehr stark mit der Möglichkeit, Neuland könne durch ein abermaliges Seebeben wieder verschwinden, wodurch dann die „Angelika“ vielleicht flott wurde.

Tatsächlich machten sich in der elften Woche ihrer Anwesenheit auf Neuland an einem Vormittag schwache Erdstöße bemerkbar, die jedoch nur die eine Folge hatten, daß die Bucht im Norden sich beträchtlich nach Süden zu bis an das Wrack verlängerte, so daß dieses jetzt von Wasser völlig umgeben war und die Gefährten eine Brücke nach dem trockenen Lande hin bauen mußten, um ungehindert aus- und eingehen zu können.

Wieder eine Woche später an einem wunderbar milden, windstillen Abend zeigten die Möwen eine seltsame Unruhe, die so auffallend war, daß die drei Schiffbrüchigen zuerst annahmen, etwas Besonderes müsse die Vögel stören.

Es ist nun erwiesen, daß viele Tiere ein Vorempfinden für Erdbeben besitzen, wie mehrfach beobachtet wurde. Die Ursache sind fraglos Gase, die aus der Erde hervordringen, und die Tiere, so auch Vögel, belästigen und in Unruhe versetzen. Namentlich höhlenbewohnende Tiere verlassen vor Erdbeben ängstlich ihre Schlupfwinkel.

In der Nacht trat dann wirklich ein starkes Seebeben mit allen Begleiterscheinungen, unterirdischem Getöse, Bodenerschütterungen, wildbewegter See und Dampf- und Rauchentwicklung ein. Die unheimliche Erscheinung dauerte jedoch nur eine Viertelstunde. Als die Dunstmassen verschwunden waren, stellte Jochem beim Lichte der Sterne und des Vollmondes fest, daß der Boden von Neuland sich in der Längsrichtung noch mehr gesenkt hatte, die Bucht noch größer und breiter geworden war und der Dreimaster nicht mehr mit dem Kiel den Grund berührte sondern schwamm.

Diesen Umstand beschloß der Matrose sofort auszunutzen. Gleich am Morgen wurde das Zelt abgebrochen und die dazu benutzten Segel möglichst praktisch an den Maststümpfen angebracht. Drei Tage nahmen diese Arbeiten in Anspruch. Dann verließ die „Angelika“ bei leichtem Südostwind eines Mittags die Bucht und steuerte langsam dem offenen Meere zu.

Zwei Stunden später verschwand Neuland am Horizont. Nur die deutsche Fahne war noch auf dem Hügel im Süden längere Zeit sichtbar.

* * *

Ein glücklicher Zufall führte dann gegen Abend den deutschen Kreuzer „Niobe“ dem Dreimaster in den Weg. Der Kapitän des Kriegsschiffes schickte einige Leute und frischen Proviant an Bord, so daß die „Angelika“ acht Tage darauf wohlbehalten in Honolulu auf den Hawaii-Inseln landete, von wo aus die Geschwister nach herzlichem Abschied von Jochem Bergel mit einem Dampfer die Reise nach Südamerika zu ihren Eltern fortsetzten.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Auf den Vulkaninseln der Aleuten.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Wasserobenfläche“.
  2. In der Vorlage steht: „abgeplattem“.
  3. 30 Grad Reaumur entsprechen etwa 37,5 Grad Celsius.
  4. In der Vorlage steht: „Schlammmassen“.