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Der Pfad zur Hölle

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Der Pfad zur Hölle

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 27 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Das kecke Mädel.

Die von den Seevögeln weißgrau getünchten Spitzen der Randfelsen der engen Schlucht leuchteten im Morgensonnenschein wie Marmor. Vielleicht waren gerade sie das einzige Merkmal der kleinen, grünen Insel im weiten, einsamen Golf von Honduras, die mit zu der Bay-Gruppe gehörte, deren östlichstes Eiland, beständig von drei Rauchsäulen gekrönt, das Sicherheitsventil jener unterirdischen Feuer bildete, die uns aus dem märchenhaften Reiche der Unterwelt vertrieben hatten.

Das primitive Fahrzeug, das unsere Gefährten gen Westen zum Festlande Mittelamerikas entführt hatte, war kaum unter dem Horizont verschwunden gewesen, als jene Ereignisse eintraten, die uns Zurückgebliebenen abermals bewiesen, daß die Pfade abseits vom Alltag niemals ohne Überraschungen ins Ungewisse sich verlieren.

Margot Sheridan, diese Frau, deren zähe Natur auch den heimtückischen Pfeilschuß siegreich überstanden, lag atemlos und nach Luft ringend neben mir in den stark duftenden, blütenübersäten Büschen am Südrande der tiefen Kluft. Was eigentlich vorgefallen, wußten wir nicht. Meines Freundes Taskamore unklare Andeutungen über den Seeräuber Lacombe und dessen sagenhafte Schätze, sowie Margots kurze Bemerkung, Taskamore habe nachts wiederholt aus unserem Lager sich heimlich entfernt, gaben den Dingen eine ganz besondere Note.

Ein Schuß war gefallen, als Freund Kamo in die Schlucht hatte hinabsteigen wollen, mein Puma Hondu hatte Margot und mich in jähem Vorschnellen halb umgeworfen, Taskamore war in die Tiefe gerollt, und Hondu folgte ihm mit einer Eile, die eine ganze lange Strecke der verfilzten Dornen, Kakteen und Ranken am Schluchtrande mit in den Abgrund beförderte.

Wir sahen nichts und hörten nur das langsame Poltern von Steinen und das Rieseln und Prasseln von gleichfalls losgelösten Sandmengen, die nun über das Gestein abwärts glitten und vielleicht drunten in dem murmelnden Bache sich anhäuften, der weiter gen Osten in die verkrautete, düstere, urwaldumhegte Meeresbucht mündete.

Ich wollte rufen.

Die Spannung wurde unerträglich.

Und doch warnte mich irgend etwas, durch einen Laut unser sicheres Versteck zu verraten.

Es befanden sich Fremde in der eigentümlich geformten, durch die Überfülle von Lianen und Dornen und sonstigen Kletterpflanzen noch geheimnisvoller gestalteten Felsspalte, deren Einzelheiten wir bisher unbeachtet gelassen hatten, da wir alle mit den Ausbesserungsarbeiten des hier angetriebenen Schiffswrackes übergenug zu tun gehabt.

Seltsam blieb es, daß weder Kamo noch der Puma sich meldeten.

Bei zweifelhafter Nachtbeleuchtung hätten diese Vorfälle vielleicht weniger stark die Phantasie beschäftigt und weniger schmerzhaft an den Nerven gezerrt wie jetzt im heißen, blendenden Sonnenschein.

Margot schaut mich fragend an.

Sie hat, wie ich, die Büchse etwas vorgeschoben und wartet.

Worauf?!

Ich kann ihr nur mit einem Achselzucken antworten, ich kann mich nicht der Gefahr aussetzen, etwa wie Kamo durch eine tückische Kugel jäh abgetan zu werden. Margot Sheridan ist Weib von Kraft, Mut, Erfahrung, sicherer Hand. Trotzdem, – sie etwa hier einer Horde von Strandpiraten auszuliefern, falls mir etwas zustößt?! – Niemals!

Worauf warten wir?!

Die Büsche duften fast betäubend, vor uns durch das Grün schiebt sich eine armlange, blaßgrüne Eidechse, die Möwen kreisen wieder über uns mit heiserem Schrei, – das Getier hat den bellenden Schuß vergessen …

Die Natur kommt wieder zur Ruhe.

Wir nicht.

Ich hebe den Kopf, krieche auf den Ellenbogen etwas vorwärts …

Eine Hand berührt meinen Fuß.

„Da ist sie!“, flüstert es hinter mir, und in jähem Herumschnellen sehe ich Taskamore, der am Boden kniet und neben ihm den triefenden Hondu mit dem kleinen Katzenkopf und den beweglichen Ohren und … eine Fremde.

Im Sportdreß.

Pikantes, keckes Gesicht …

Etwas in Unordnung, das ganze zierliche Persönchen, – – naß, Lehmspuren, blutige Kratzer, und … unfrei, um es höflich auszudrücken.

Taskamore legt den Finger auf die Lippen.

„Eine Jacht in der Westbucht“, meldet er und betrachtet das ranke Mädel, das uns kühl und prüfend anschaut und um den kleinen, vollen Mund ein unangenehmes Lächeln hat. „Mindestens vierzehn Leute an Bord, – – wir werden sehen.“

Seine Lieblingsredensart trifft stets das Richtige.

Abwarten, nichts übereilen, – wir sind nicht Herren der namenlosen Insel hier, jeder darf landen, nur ein Schuß (und Kamos Schläfe zeigt eine bläuliche Linie) in dieser Art ist ungehörig.

Die Fremde muß es hinnehmen, daß Taskamore sie wie ein gut verschnürtes Bündel emporhebt und in meine Arme legt.

„In den Wald!“, – ich verstehe seinen Blick.

Lautlos gleiten Margot, ich und Hondu gen Norden, wo die Insel ein undurchdringliches Dickicht, mit hohen tropischen Bäumen durchsetzt, bildet.

Unser Lagerplatz dort auf der kleinen Lichtung ist unerreichbar für den Uneingeweihten. Kamo fand ihn, und alles, was wir Insulaner besaßen, war dort aufgestapelt.

Klingt großartig: Gestapelt! – Hielt sich sehr mit Stapeln. Unsere Bedürfnisse sind nicht vielseitig.

Am Fuße eines der Felsen lege ich meiner leichten, schmiegsamen Bürde mein Halstuch, Ersatz-Krawatte, über die Augen.

Von Stein zu Stein geht es in kühnen Sprüngen in die Wildnis, und als ich meine Last vor dem Zelt in das Moos setze, höre ich in der Ferne das leise Knattern mehrerer Schüsse. Freund Kamo scheint bemerkt worden zu sein.

Ich zerschneide dem Mädel die harten Ranken, die ihre Gelenke umschnüren, und deute auf Hondu.

„Fliehen ist zwecklos, Miß!“

Meine Hände greifen nach der Pistole in ihrem Gurt, und auch das sehr dekorative Messer verschwindet.

Sie lächelt. – Ich bin jetzt aufmerksamer Kritiker. Nein, dieses Lächeln ist doch nicht so abstoßend. Es enthält spitzbübischen Spott und ein wenig selbstbewußte Frechheit.

„Wer sind Sie?“

Sie reibt ihre Gelenke und beobachtet mich. Ich habe an der Mündung ihrer Pistole gerochen, aber die Waffe ist seit langem unbenutzt, riecht nur nach Öl.

„Helen Gart vom New Orleans-Recorder“, erwidert sie prompt.

„Berichterstatterin?“

„Ja.“

Margot steht neben mir.

„Sie müssen ja noch blutjung sein, Miß Gart“, meint sie erstaunt.

„Immerhin achtzehn … – Eigentlich vierzig, denn die letzten beiden Jahre Daseinskampf bewerte ich mindestens mit zwanzig. Haben Sie jemals für eine Zeitung so geschuftet wie ich?!“ Das klingt bitter-ernst, und das junge Gesicht wird ebenso ernst. Linien erscheinen darin, die allerhand verraten.

Nochmals knallt es irgendwo im Westen der Insel.

Wir horchen eine Weile, und Helen Gart schaut sich interessiert diese wundervolle, einzigschöne Dschungelblöße an.

Mutter Natur hat hier in üppigster Fülle alles zusammengetragen, was die Tropen an unberührter, farbenfroher Pracht bieten können. Dieses Nest im Dickicht ist wie ein blumengeschmücktes Hochzeitsgemach, und die Felsen drüben, bemoost und in ihren Rissen Wohnung für entzückende Orchideen, dazu die Kronen der Urwaldriesen, die wie grüne Kugeln die bunten Mauern überragen, erhöhen nur den Reiz dieser stillen Stätte, in der jetzt Helen Garts Verhör beginnt.

Hondu hat sich niedergetan und leckt sein Fell. Margot wählte einen Stein als Sitz, und ich spiele Justiz.

„Weshalb schossen Sie auf meinen Freund, Miß Gart?“

Ihr Blick haftet auf Hondu.

„Ich schoß auf den Puma“, erklärte sie.

Mag sein.

„Und was taten Sie in der engen Schlucht, in die man kaum hinabgelangen kann?“

„Ich verbarg mich …“

Mag sein.

„Vor wem?“

„Vor Mr. Slomans Leuten …“

„Ist das der Besitzer der Jacht?“

Lautlos erscheint Taskamore. Erst als die Sonne seinen Schatten auf die Erde wirft, bemerkt Helen Gart ihn.

In seinem halbnassen und nur noch wenig repräsentablen Sportanzug und dem ins Genick geschobenen verwitterten Filz wirkte er etwas zigeunerhaft-romantisch. Aber die klaren Augen und die festen Züge seines schmalen Gesichts bringen Helen in Verlegenheit.

„Lüge!“, sagt er kurz. „Alles Lüge … Sie haben gar nicht geschossen, Miß. Geschossen hat der Mann, den Sie mit einem Stein niederschlugen und über den das grüne Gespinst der herabsinkenden Ranken fiel. – Was suchten Sie in der Schlucht?“

„Ist der Mann wieder bei Bewußtsein?“, fragt sie zaudernd. „Es kam alles so schnell und plötzlich, und …“

„Der Mann ist leider entwischt“, meint Kamo finster. „Beantworten Sie die Frage: Was taten Sie in der Schlucht? Lügen Sie nicht. Sie sind nicht feige … Betrachten Sie uns nicht als Feinde. Hier hat jeder gleiches Recht auf dieser Insel, nur eine Kugel verändert die Beziehungen, und die Leute der Jacht scheinen nicht gerade an Patronenmangel zu leiden.“

Helen Gart nickt unmerklich. „Sie sind bis an die Zähne bewaffnet … Und mein Kollege und ich hätten längst mit der Sloman-Expedition ernstere Auseinandersetzungen gehabt, wenn wir nicht so vorsichtig gewesen wären.“

Taskamores Mund zuckt unwillig. „Sprechen Sie so, daß wir endlich Klarheit gewinnen, Miß. Eine Expedition?“

Helen Gart erwidert sehr bestimmt: „Ich bedauere, – wir werden von unserer Zeitung dafür bezahlt, daß …“

In ihren dunklen Augen, deren Ausdrucksfähigkeit mich immer wieder in Erstaunen setzt, zeigt sich heißer Schreck, als irgendwo von Norden her, wo die Küste nicht weit, eine kleine Schiffssirene in heulenden Lauten wie ein gereiztes Raubtier aufjault und schließlich in einem singenden schrillen Pfeifen erstirbt.

Sie springt empor.

„Das war Axel Baargö …!! Helfen Sie mir …! Wenn Sloman ihn fängt, ist alles mißglückt …“

Sie fiebert förmlich. Aber Schneid hat sie. Sie wartet nicht, mit langen Sätzen fliegt sie auf den Felsen zu, der den Anfang des Pfades durch die Wildnis darstellt.

Das Mädel ist aus hartem Holz geschnitzt. Hat wohl all jene Fähigkeiten, die die amerikanischen Sensationsblätter von ihren Mitarbeitern verlangen.

Taskamore ist schneller.

„Bleiben Sie!“

Seine Faust hält ein blasses Geschöpf.

„… Die Leute der Jacht schwärmen umher, und wir würden uns nur ein paar unberechenbaren Kugeln aussetzen … Wenigstens in Ihrer Begleitung. – Schnell … Antworten Sie … Sie folgten der Jacht?“

„Ja – mit einem Motorboot.“

„Und landeten in der verflossenen Nacht hier?“

„Ja – im Norden, in einem verkrauteten Fluß …“

„Zu zweien?“

„Ja, Axel Baargö und ich …“

„Und die Sloman-Expedition sucht nach den Schätzen Pierre Lacombes?“

Die Frage wirkt wie ein Fausthieb.

Helen Gart tritt einen Schritt zurück.

„Woher … wissen Sie das?!“

Sie hat sich verraten.

Taskamore deutet ein Achselzucken an.

„Miß Gart, wer war der Mann, der auf mich schoß?“

„Sam Sloman selbst …“

„Ah, – die Kugeln sitzen dem Herrn sehr locker … – Wir werden sehen. Bleiben Sie hier bei Margot. Diese Insel ist kein Vergnügungspark, Miß, wenigstens zurzeit nicht.“

Er winkt mir, zeigt auf Hondu, – ich nehme ihn an die Leine, und wir verlassen das farbenfrohe Nest.

Der Dschungel hier besitzt genau dieselbe unbegreifliche Zähigkeit, Dicke und Undurchdringlichkeit wie die Urwälder der nahen Riesenhalbinsel Yucatan, deren Inneres dem Forschungsdrange der Menschen bisher hartnäckig trotzte. Ohne diese Felsen, die wir als Springstützen benutzen, wäre eine Bewältigung dieser Lianen, Dornen, verfilzten Buschgewebe unmöglich. Hondu schnellt wie ein federnder Ball von Felsspitze zu Felsspitze. Zuweilen horchen wir …

Und dann haben wir den steinigen Innenteil der Insel erreicht, kauern hinter einem gestürzten, modernden Baum, beobachten das unübersichtliche Gelände und fühlen uns sicher, weil Hondu uns durch keins jener untrüglichen Zeichen warnt, die wir längst kennen.

Die Wildnis in all ihren Formen, mit all ihren Gefahren ist uns nicht fremd. Sie ist uns Heimat und stete Quelle jener unversiegbaren Kraft, die die Natur dem beschert, der mit und in ihr lebt. – Unangefochten gelangen wir an jene Ostbucht, in die der Bach aus der finsteren Kluft seine klaren Wasser ergießt.

Wie ein Binnensee ist die Bucht, umragt von den Giganten der Tropen, halb bedeckt mit schwimmenden Wasserpflanzen. Die Sonne bringt Leben und Licht in die stillen Wasserfluten, auf denen regungslos eine mittelgroße Motorjacht ankert, – soeben schafft man einen gefesselten Mann die Schiffstreppe hinan, und ein gedecktes Motorboot wird am Heck vertäut.

Wir wußten, daß wir Axel Baargö nicht mehr schützen könnten.

An der Reling steht breitbeinig ein Koloß von Kerl im weißen Anzug mit einem vielsagenden Verband um den Hinterkopf.

„Sloman!“, flüstert Taskamore.

Sam Sloman stiert den hellblonden Gefangenen finster an. Sein Bulldoggengesicht verrät grimme Wut.

Er spricht etwas.

Taskamore hat die Büchse erhoben, – eine Möwe sinkt tot herab, fällt Sloman vor die Füße, und das Echo des Schusses rollt über die Wasser der Bucht hin und verstummt allmählich.

Sloman und die Leute hinter ihm, Matrosen, Herren, Damen, haben sich schleunigst zu Boden geworfen.

Der Mann mit dem hellblonden Haar, das fast weiß erscheint, ist trotz der gefesselten Hände ins Wasser gesprungen. Kamos Kugeln klatschen gegen die Reling, und ich, den toten Baum dort als Floß benutzend, stoße mit langer Bambusstange in größter Eile die gierigen Wasserranken beiseite.

Wir haben Axel Baargö glücklich befreit.

Damit die Helden auf der Jacht nicht glaubten, wir blieben nun müßig, knallten wir in Zwischenräumen hinüber. Und sie antworteten. Ein Zwiegespräch, das viel Pulver und Blei kostet und Bäume und Büsche und Blumen beschädigt, aber auch andere Dinge … Ich bin niederträchtig genug, ihnen den Kompaß und andere wichtige Einrichtungen zu demolieren. Mr. Sloman wird über das Ergebnis der Knallerei nicht entzückt sein.

Bis Kamo erklärt: „Eilen wir zur Schlucht! Sie werden uns wohl eine Stunde Ruhe gönnen, und die genügt …“

Taskamores nächtliche Ausflüge erscheinen verständlich, wenn man das sieht, was ich nun in dem Schlunde sah.

Die Gewalten der Tiefe hatten sich den Scherz geleistet, Pierre Lacombes berüchtigtes Freibeuterschiff in Gestein einzubetten. Diese Insel muß einst eine Bucht besessen haben, die bis in die Mitte des Eilandes sich hineinzog, mit steilen Felsufern, und diese schob ein Erdbeben zusammen und setzte des großen Korsaren festen Dreimaster aufs Trockene.

Dies war das eine Geheimnis von La Muerta.

So heißt das Inselchen auf alten Schiffskarten.

Weit interessanter als all dies war mir jedoch mein halber Landsmann, der mehr als semmelblonde Axel Baargö, Kopenhagener von Geburt, Seemann, Pflanzer, Schuhputzer, Kellner, Fremdenführer … Zuletzt Frachtschiffer und Besitzer des bewußten Motorbootes in Truxillo, der nördlichen Hafenstadt von Honduras.

„Wenn die kleine, verteufelte Miß sich bei Ihnen befindet, dann ist die Sache ja in Ordnung“, hatte er bisher nur erklärt.

Viel reden ist nicht seine Sache. Bisher hatte er kaum mehr als diese Sätze gesprochen. Aber es gibt über ihn noch recht viel zu sagen, und daß wir den Pfad zur Hölle schließlich doch fanden, war mit sein Verdienst. Die Schwätzer haben noch nie Großes geschaffen. Die stillen Naturen mit dem nach innen gerichteten Blick und der Zähigkeit einer Katze und der Geduld eines allerbesten Schweißhundes sind die echten Kämpen um ein fernes halb unbekanntes Ziel. – Von der Sorte war Axel Baargö einer. La Muerta, das Inselchen der Bay-Gruppe, war im übrigen im Vergleich zu Baargö eine entschleierte Sphinx.

 

2. Kapitel.

Das Dornengrab.

Helen Gart, Reporterin vom New Orleans-Recorder, beobachtet mich, während ich den Bleistift über das Papier gleiten lasse. Sie sitzt in der Sonne, kraut Hondu das Fell und raucht eine Zigarette, selbstgedreht, ein dünnes Papierröllchen, das in fünf Zügen zu Asche wird.

Margot Sheridan bemüht sich um das Abendessen, und Axel schläft im Grase, während Taskamore draußen am Rande des Dschungels Posten steht.

Die farbige Pracht eines klaren Sonnenuntergangs färbt unsere bunte kleine Lichtung. Der Himmel im Westen ist ein Glutmeer in Rot, als ob ganz Mittelamerika in Flammen stände. Wir alle haben Kupfergesichter, Hondu, der doch gelbweiß ist, scheint sich in rosa Tinte gewühlt zu haben, und die Rauchwölkchen von Helens Zigarette wecken, in der stillen Luft langsam zerflatternd, wunderhübsche Farbenspiele.

Helen zupft ihre Kupfertolle zurecht und benutzt dabei ihre Armbanduhr als Spiegel. Über ihrem Wippnäschen stehen drei senkrechte Falten.

„Sagen Sie mal, Mr. Gento, führe Sie immer Tagebuch?!“

„Immer, kleine Miß!“

„Das „kleine“ schenken Sie sich!“ Sie wird böse, wenn man sie nicht für voll nimmt.

Dabei nehme ich sie durchaus für voll. Mädels dieser Art bringt nur der Dollar hervor.

„Wie Sie wollen, – also: Immer führe ich Tagebuch, große Miß! Falls ich Papier habe. Noch habe ich es.“

Es ist ein harmlos-vergnügter Ton hier in unserem Dschungelnest aufgekommen. Daß Mr. Sam Slomans Leute die ganze Insel nach uns umkrempeln, ficht uns nicht weiter an. Sloman hat alle Ursache, uns den Tod in schmerzhaftester Form zu wünschen, da wir seine Aussichten auf Pierre Lacombes ergaunerte Schätze arg verringert haben. Ein Glück, daß die hochfeine Jacht „Missouri“ lediglich Leute enthält, die vielleicht beim Boxen leidlich abschneiden und im Betrügen „Klasse“ sind. Von Fährtenlesen haben sie keinen Dunst. Was von Fährten vorhanden, ist längst durch die derben Stiefel der Matrosen oder die feineren Jagdstiefel der Gentlemen so gründlich zertrampelt, daß Taskamore im Grunde ganz überflüssigerweise noch Wachtposten markiert. Ein Ring von achthundert Meter Dschungel trennt uns von der übrigen Insel, und auf den Dreh zu kommen, daß wir ausgerechnet in diesem Dickicht höchst behaglich sitzen, dazu langt es eben bei den Herren oberhalb der sehr dekorativen weichen Kragen nicht recht. Trotzdem habe ich meine Stimme gedämpft, und mit einem Wink bedeute ich Helen Gart, vorläufig besser das Mündchen zu halten.

Ich schreibe weiter.

Der äußerst lungenkräftig schnarchende Axel Baargö stört ein wenig. Dieser mittelgroße Mann unbestimmbaren Alters, ein vom Schicksalswind böse umhergeworfenes Stehaufmännchen, das vielleicht durch nichts unterzukriegen ist, paßt in unsere Runde hinein wie der Daumen zu einer gut entwickelten Hand.

Wenn dieser Kopenhagener nur ein wenig redseliger wäre! Was Helen Gart erzählte, ist wenig, – eins ist unbedingt sicher: Axel verdient volles Vertrauen! Er hat mit einer Schlauheit für Helen in Truxillo gewirkt, die erstaunlich genannt werden muß. Von dieser Hafenstadt hat Mr. Slomans „Expedition zur Erforschung der durch Seebeben veränderten Tiefenverhältnisse des Golfes von Honduras“ (unter dieser Schwindelfirma haben die Herren ihr Unternehmen mit Erlaubnis der Republik Honduras gestartet) seinen Ausgang genommen.

Pech hatten sie von vornherein. Zur selben Zeit weilte Helen Gart in Truxillo, um für den New Orleans-Recorder das berüchtigte „Tor des Meeres“ einmal gründlich zu besichtigen, zu photographieren und nachzuprüfen, was an all den uralten Märchen letzten Endes wahr sei. Helens Stupsnäschen bekam Witterung, als Mr. Sloman, großmächtiger Reeder in New Orleans, dort erschien und seine Freunde sich hier und da nicht nach den Wasserverhältnissen des Golfes, sondern nach ganz anderen Dingen vorsichtig erkundigten, wozu auch Pierre Lacombes letztes Raubschiff „La France“ gehörte. Wie sie Axel Baargö in Truxillo für sich gewann, wie die beiden schließlich der Jacht folgten und gestern nacht während des kurzen Gewitterregens ebenfalls hier landeten, bedarf keiner längeren Erörterungen.

Die Tatsachen sprachen für sich: Sloman und Kompagnie waren doch auf das Motorboot und seine beiden Insassen aufmerksam geworden, auch wir waren mit in die Ereignisse hineingezogen worden, und auf La Muerta, einer Insel von einer Meile Durchmesser, gab es jetzt zwei Parteien, von denen die an Zahl stärkere die löbliche Absicht hegte, die andere recht gründlich kalt zu stellen.

Konkurrenz ist immer unbequem.

Margot, bewährte Kameradin, hat das Abendessen fertig.

Ich wähle den unauffälligen Schrei des auch hier vorkommenden kleinen Schopfadlers, Freund Kamo herbeizurufen.

Inzwischen ist das Farbenspiel des Sonnenuntergangs am Himmel immer mehr verblichen, die Hitze des Tages weicht der rasch aufkommenden Abendbrise, und die ersten Schatten der Nacht schleichen über Meer und Insel, hüllen die Winkel unseres Dschungelnestes in dämmerndes Zwielicht und wischen das Kupferrot von unseren Zügen.

Ich habe die Schreibarbeit weggepackt. Axel Baargö ist erwacht, sein diskretes Gähnen endet mit einem humorvollen Wort über seinen völlig durchnäßt gewesenen derben Leinenanzug und dessen Falten und Fältchen und Flecken. – Ich rufe nochmals. Heiser und schrill scheint der Adlerschrei aus lichten Höhen zu kommen, aber kein Taskamore erscheint.

Margot drängt: „Iß, Olaf, – das Fasten mag gut sein für andere … Du brauchst deine Kräfte.“

Wir haben es nicht nötig, uns durch langatmige Erklärungen zu verständigen. Lady Margot Sheridan und ich sind Kameraden, die mehr miteinander verbindet, als nur leere Worte. Unsere Erinnerungen sind sprühendes, funkelndes Erleben. Wir sahen die Feuer der Ewigkeit leuchten, wir fanden den Weg zur Oberwelt zurück vor dem glühenden Drachenwurm der Lava, wir sahen die Freunde davonsegeln und hofften hier auf der Insel auf ein stilles, friedvolles Genießen all der mannigfachen Schönheiten dieses kleinen, grünen Eilandes.

Margot Sheridan liest mir die Sorge um Kamo vom Gesicht ab.

Und trotzdem esse ich, beeile mich, und die anderen sitzen um mich her und schweigen und hängen wohl den gleichen Gedanken nach.

Schließlich, als ich mich erhebe und Hondu an die Lederleine binde, sagt Axel Baargö mit größter Selbstverständlichkeit: „Ich komme mit, El Gento!“

„Bedauere, Baargö … Der Weg ist zu unsicher, falls Taskamore irgendwie etwas zugestoßen sein sollte … Ein Mann muß hier im Lager bleiben.“

Er nickt nur. Sein braunes Gesicht mit den hellen Nordlandaugen verrät keinerlei Mißstimmung.

Ungeduld zerrt an meinen Nerven. – Ich kenne das Gefühl. Das ist mehr als Unruhe, Ungeduld oder Sorge. Das ist jenes feine, unnennbare Prickeln in allen Nervensträngen: Witterung der Gefahr!

Nochmals wende ich mich Baargö zu. „Geben Sie scharf acht … Irgend etwas behagt mir hier nicht.“

„Keine Angst, – ich stehe schon meinen Mann“, – und mit einem Blick auf die Frauen: „Und die beiden rechnen auch, jede für zwei …!“

Wir stehen bereits vor dem Felsen. Hondu schnellt sich bis zum ersten Absatz empor, schmiegt sich an den Stein, springt noch höher, das grüne Geäst der nahen Büsche streicht dem Puma rauschend über den blanken Rücken, und auch ich klettere aufwärts, Baargö hilft nach, und Hondu und ich wagen den ersten weiten Satz. Der nächste Felsen ist vier Meter entfernt, aber eine Astgabel bietet Halt, und so arbeiten wir uns vorwärts durch den dornigen, dichten, hohen Busch, schieben blühende Lianen zur Seite, drücken dicke Lianenstränge zurück, die den Gittern eines Käfigs gleichen.

Ein Weg, der in Wahrheit von Gittern umhegt ist. Ein Zufall nur, daß hier so viel Raum vorhanden, von Felsblock zu Felsblock zu gelangen. Ein Fehlsprung in die Tiefe, ein Abgleiten wäre gleichbedeutend mit dem Tode in einer erbarmungslosen Falle von fingerlangen Dornen.

Vor dem letzten Felsen, auf dem Taskamore zusammengekauert liegen müßte, warte ich, bis der beschleunigte Herzschlag sich beruhigt hat.

Hondu zeigt keinerlei warnende Änderung in Stellung und Kopfhaltung. Noch ist es hell genug, die Gegenstände ringsum bei scharfem Hinsehen zu erkennen. Noch hat die Tropennacht ihre Schatten nicht derart verdichtet, daß ich nicht vor mir auf dem letzten Felsen, wo ein paar Büsche und Grasflecken wuchern, Kamos Büchse bemerken sollte.

Sie lehnt schräg an einem Ast.

Was bedeutet das?

Ich beuge mich zu dem Puma hinab und flüstere ihm das eine Wort zu, das ich ihm hier auf der Insel in den letzten Tagen mühsam als Zeichen für Gefahr beigebracht habe. Hondu ist ein Puma, bleibt Wildling, wird nie ein gelehriger Pudel sein. Was er nicht freiwillig sich aneignet, was nicht äußerste Geduld ihm unter Ausnutzung seiner Instinkte freundschaftlichst als „Dressur“ näherbringt, – mit den üblichen Mitteln ist Hondus Katzenverstand nicht beizukommen.

„Hondu, – – Achtung!!“

Und dazu ein gelinder Schlag gegen die Lende.

Seine Ohren spielen, der Kopf hebt sich, der Schweif pendelt, und mein vierbeiniger Freund scheuert die Schnauze gegen meine Hüfte.

Die bescheidene Dressur versagt.

„Hondu, – – Achtung!!“ – Der begleitende Klaps fällt stärker aus, und da ich Hondus Kopf gleichzeitig herabdrücke, zieht er mit feinem Schnaufen die Luft witternd ein und streckt sich ganz lang.

Dennoch: Es kann kein Fremder in der Nähe sein, meine Sorge ist übertrieben, die dort lehnende Büchse hat nicht die Bedeutung, die ich ihr beimesse.

Hondu setzt sich. Er hat seine Pflicht getan.

Ich springe, lande drüben, er folgt, und ein einziger Blick zeigt mir neben dem Kolben von Kamos Büchse, drei frische, entblätterte Äste, die in bestimmter Art übereinander liegen.

Kein Zufall, – Kamo tat es, aber die Geheimzeichen seiner roten Ahnen sind mir doch nicht genügend vertraut. Die drei kleinen Äste bilden etwa ein großes lateinisches A, mit der Spitze nach Süden gerichtet – wie ein Pfeil, wie eine Pfeilspitze.

Abermals beobachte ich Hondu. Der Tod lauert hier ringsum. Mr. Sloman und Begleitung werden über unsere Mittagsarbeit quittieren wollen. Da steht ein Kompaß auf der Rechnung, dazu ein zerschossener Sender im Deckhäuschen, und schließlich noch unsere Steinmetztätigkeit.

Pierre Lacombes Geheimnis zerrieselte in Steinsplittern.

Der Tod wartet hier hinter jedem Busch, und gerade diese Stille vor mir auf der steinigen Blöße gefällt mir nicht.

Ich blicke zum Himmel auf. Ich weiß, in kurzem wird es finster, bleibt zehn Minuten finster, dann erst werden die Lämpchen des Himmels hell und spenden die weiche Dämmerung der Tropen, in der alle scharfen Konturen zerfließen.

Ich werde warten. Setze mich.

Aber das feine, fast unmerkliche Kribbeln der Nerven bleibt, und die unruhigen Augen und das gespitzte Ohr wollen etwas finden – irgend etwas, das ablenkt, das dunkle Fragen löst.

Weshalb ließ Taskamore die Büchse zurück?!

Um den Punkt kreist mein Denken.

Kreist unaufhörlich, wirbelt andere Gedanken mit auf, und schließlich empfinde ich nur eins: Eine ungeheure Nervenspannung, die mich flüchtig an das gemahnt, was vor Wochen geschah, als wir nach dem Eingang in die Unterwelt suchten. Auch damals fühlte ich die Last irgend einer bedrohlichen Nähe … Und hier genau dasselbe, hier sogar noch stärker, noch aufreizender. Der Geist unterliegt diesem Ansturm, und meine aufs äußerste angespannten Sinne glauben zu hören und zu sehen, was nicht vorhanden.

Fledermäuse, Schwärme von Leuchtkäfern werden zu gespenstischem Etwas.

Wo ist Taskamore?!

Und – will die Dunkelheit heute denn so gar nicht hereinbrechen?! Herabsinken als Schutz und Schirm, als Schild und Zuversicht?!

Hondu sitzt da und denkt sicherlich an irgend eine fette Ratte … – Die Insel beherbergt außer Vögeln nur Insekten und Ratten, graue, große Nager, die sicherlich ein Schiffbauch hier an Land warf.

Dann ein Entschluß …

„Hondu – hinab!“

Er springt …

Wie ein Pfeil fliegt der gestreckte Leib durch das Gezweig vor dem Steinblock, und das Quieken einer Ratte beweist mir, daß Hondu unser Konservenfleisch wenig schätzt.

Puma bleibt Puma, Instinkt bleibt Instinkt.

Ich warte noch.

Hondu kaut geräuschvoll, und dann verspüre ich einen scharfen Ruck an dem Lasso – noch einen.

Und springe hinterdrein, werfe mich sofort nieder.

Hondu liegt flach auf dem Boden, die Hinterläufe etwas angezogen, die Ohren nach vorn gestellt.

Der Wind schweigt Sekunden.

Nur die Brandung rauscht.

Und da höre ich irgend woher das tiefe qualvolle Stöhnen …

Irgendwoher …

Und doch so laut, daß dieses Stöhnen dem Schrei eines Betäubten unter den Messern der Ärzte gleicht.

Hondu schiebt sich weiter. So, wie große Katzen schleichen – ganz flach am Boden hin.

Sein Herr schiebt sich neben ihn, und Tier und Herr kriechen dorthin, woher das qualvolle Stöhnen kommt.

Die steinige Blöße endet, unter uns ist Dickicht.

Dornen.

Jene Dornen, die nur die Tropen hervorbringen.

Mitten in den Ranken und Zweigen ein hellerer Fleck …

Und – – der stöhnt.

Ein Mensch.

Taskamore …

Und dann ein Schuß, noch einer …

Hondu schnellt hoch, fällt zurück …

Etwas heißes streift meine Stirn, Blut fließt mir in die Augen, und wankend torkele ich rückwärts, sause hinab in dasselbe Dornengestrüpp, fühle die tausend Stacheln, liege auf dem Gesicht, und vernehme Hondus letzten, allerletzten klagenden Schrei.

Dann Stimmen über mir …

Wirre, schuldbewußte Stimmen, die nicht wagen, die eigene Feigheit laut herauszurufen …

„… Gebt ihm einen Fangschuß, – – schnell!“

Das verstehe ich …

Warte …

Ein Knall …

Mein Körper zuckt hoch …

„Jetzt die Weiber …“, – röchelt der grobe Baß …

Meine Sinne schwinden …

Das Land der ewigen Finsternis scheint mich aufzunehmen …

Der Tod?!

Vielleicht …

 

3. Kapitel.

Doktor Goliath und die Seinen.

„Von Ihrem Puma blieb nur noch das Gerippe, mein Herr“, sagt der Zwerg mit seinem Fistelorgan überaus höflich. „Es tut uns leid, mein Herr … Wir konnten nicht eingreifen. Wir sind ein friedliches Volk, ein Staat der Zwerge, wir brauchen keine Waffen …“

Der kleine Herr mit dem dicken Kopf ist vielleicht 1,10 Meter groß und in feines Leinen gekleidet. Das wenig regelmäßige Gesicht trägt den Ausdruck von Güte und abwägender Klugheit.

„… Ihr Freund befindet sich gleichfalls auf dem Weg der Besserung. – Sprechen Sie bitte nicht, es könnte Ihnen schaden. Unsere ärztliche Kunst ist nicht groß, und auf Lungenschüsse verstehen wir uns schon gar nicht.“

Das tiefe Mattigkeitsgefühl nach diesem Erwachen läßt mich dann mit halbgeschlossenen Augen dahindämmern.

Ich sehe, daß draußen die Sonne scheint, daß ich auf einem Moosbett im Zelt liege, daß draußen auf der Lichtung noch mehr dieser winzigen weißen Menschlein in sauberen Leinenanzügen umhereilen. Und der Verdacht kommt mir, daß die Dämonen des Wundfiebers fernerhin mit mir ihr schädliches Spiel treiben.

Der würdige Gnom neben meinem Lager hält es für nötig, mich aufzuklären, als mein fragender Blick seinen großen Augen begegnet.

„Mein Herr, Sie phantasierten zum Teil in deutscher Sprache während Ihrer Delirien, daher wähle ich ebenfalls diese Sprache, die übrigens die meiner Heimat ist. Es mag Ihnen wunderbar erscheinen, hier im Golf von Honduras ein Staatswesen von Zwergen vorzufinden. Die Erklärung dafür ist geradezu banal: Ein Unternehmer stellte 1920 eine Liliputanertruppe in Hamburg zusammen, die Tournee ging nach Mexiko, der Dampfer sank, nur unser Rettungsboot mit uns dreißig Zwergen erreichte die benachbarte Insel, und die Not zwang uns, zunächst als Insulaner gegen unseren Willen zu leben, bis uns das neue Dasein gefiel. Mehr möchte und mehr darf ich nicht sagen – wenigstens nicht über uns, wobei ich ohnedies auf Ihre Diskretion rechne, mein Herr. Wir fanden Sie und Ihren Freund halbtot auf und haben Sie beide nun leidlich gesund gepflegt. – Ich bin unser Arzt, man nennt mich Doktor Goliath, uns fehlt es nicht an Selbstironie, mein Herr. Ich werde Ihnen nun wieder zu trinken geben, danach werden Sie fest schlafen, und morgen, hoffe ich, können Sie das fragen, was Sie bedrückt, jetzt unter keinen Umständen. – Bitte, trinken Sie …“

Das Zeug, das er mich schlucken ließ, war Honigwasser mit irgend einer gallenbitteren Beimengung.

Seine Voraussage traf ein, ich wurde sehr müde, und als ich abermals erwachte, lag ich draußen in der Sonne, und halb rechts von mir Freund Kamo, mehr Gerippe als Mensch – wie ich, doch mit blanken, gesunden Augen.

Sechs der kleinen Leutchen bemühten sich um uns, und im Hintergrund der Lichtung sah ich auch einige winzige Dämchen, alle in weißem Leinen, alle mit Basthüten auf den Köpfen, alle sehr würdevoll und gemessen.

Doktor Goliath rieb unsere Wundnarben mit einer Mixtur ein, die satanisch stank, aber sehr angenehm kühlte und nachher nur noch nach Kampfer duftete. Man reichte uns gebratenen Fisch, am Spieß gebratene Wildtauben und Früchte, alles auf sehr guten Porzellantellern. Auch die Bestecke waren fast neu, und die Löffel aus Silber.

Meine erste Frage galt Margot, der kleinen Miß Helen und Axel Baargö. Mit Hondus jähem Tode mußte ich mich abfinden. Sein Verlust ging mir sehr nahe, obwohl das Schicksal der drei Gefährten mir doch weit mehr am Herzen lag.

Der winzige Arzt erwiderte in seiner kühlen, höflichen Art: „Wir nehmen an, daß die Jacht Ihre Freunde mitgenommen hat. Hier auf der Insel befanden sich nur Sie beide und der tote Puma, als wir wie häufiger vor einer Woche morgens hierher ruderten. Wir hatten einige Mühe mit Ihnen, denn unsere Kräfte sind kaum geeignet, zwei Männer wie Sie aus einem Dornendickicht hervorzuholen. Sie waren mit Dornen förmlich gespickt, außer den Kugelschüssen.“

Taskamore blickte mich an und lächelte unmerklich. Mochte er das Deutsche auch nur wenig beherrschen, er verstand doch wohl jedes Wort.

Meine weiteren Fragen waren zwecklos. Doktor Goliath blieb dabei, er wüßte gar nichts, er dürfte über die Inselrepublik der Liliputaner erst recht nichts verraten. Dies hier sei jedenfalls die Insel La Muerta.

Kamos Lächeln verriet mir seine Zweifel an so manchem, was Doktor Goliath berichtet hatte. Da man uns jedoch nicht eine Minute allein ließ, war es uns unmöglich, unsere Meinungen miteinander auszutauschen.

Am folgenden Morgen – wir hatten bereits die ersten Gehversuche gemacht – lagen wir im Zelt, neben uns unsere Waffen. Dazu Früchte aller Art, geräucherte Fische und ein Zettel mit feiner, zierlicher Schrift:

„Meine Herren, wir sind nach unserer Insel zurückgekehrt. Wir erwarten, daß Sie beide keinen Versuch unternehmen, uns auf dem Nachbareiland zu belästigen. Sie finden in der Nordbucht das Motorboot des Herrn Baargö nebst allem, was Sie zur Fahrt zum Festland gebrauchen.

Ihr sehr ergebener
Doktor Goliath.“

Als Unterlage für diesen Zettel war eine zusammengefaltete Zeitung benutzt worden, das Regierungsblatt von Honduras, und ein Artikel darin war angekreuzt. Er erwähnte den gänzlichen Verlust des Hamburger Dampfers „Elbfeuer“, der zuletzt im Oktober 1920 während eines schweren Orkans treibend und mit Schlagseite im Golf von Honduras gesichtet wurde. Man hatte nie mehr wieder etwas von seiner Besatzung oder seinen Fahrgästen gehört.

So märchenhaft also zunächst auch die Angaben Doktor Goliaths geklungen haben mochten, an ihrer Wahrheit ließ sich kaum mehr zweifeln. Der Gedanke, daß hier auf einer der Bay-Inseln[1] (die neuere Schreibweise Bai-Inseln entspricht mehr der Ableitung des Namens: Islas de Bahia), von denen nur die drei größten bewohnt sind und zwar von Ladinos, Mischlingen von Europäern und Indianerinnen, eine winzige Republik weißer Zwerge existierte, hatte ja unendlich viel Phantastisches an sich. Aber gerade diese entlegene Inselgruppe, die Kolumbus am 30. Juni 1505 auf seiner vierten Amerikafahrt entdeckte, blickt ohnedies auf eine äußerst romantische Geschichte zurück. Und mit diesen historisch feststehenden Tatsachen, daß die Bai-Inseln viele Jahre das Standquartier der berüchtigten Flibustier waren, jener Piraten, die mit ganzen Flotten die Hafenstädte überfielen, kehre ich auch hier in meinen Aufzeichnungen zum Ausgangspunkt unserer Erlebnisse auf La Muerta zurück, das übrigens zumeist „Morat“ genannt wird. Der Name La Muerta mag noch aus jenen Seeräuberzeiten stammen.

Was ich hier soeben an historischen Daten vermerkt habe, verdanke ich derselben verschlissenen Zeitung, die Doktor Goliath uns freundlichst nebst anderen angenehmen Dingen zurückgelassen hatte: Zigarren, Zigaretten und zwei Flaschen Brandy!

Nicht zu verachten!!

Das Blatt enthielt nämlich auch einen gelehrten Aufsatz über die Bai-Inseln, und so schwer mir auch die Übersetzung wurde, schon allein der Name Lacombe stachelte meinen Eifer gewaltig an.

Während Taskamore Tee kochte, notierte ich mir alles Wichtige.

Ein Rückblick auf die Geschichte des Seeräuberwesens ist ohnedies recht spannend. Das Altertum hatte seine Piraten, Rom mußte gegen die Seeräuber lange Kriege führen, die chinesischen und malaiischen Gewässer waren dieserhalb berüchtigt, aber die wirklich groß angelegten, mit dem Schimmer von Romantik umkleideten Piraten bleiben doch jene Bukanier (oder Flibustier), die als straffe Organisation etwa ab 1625 auf dem Schauplatz Mittel- und Südamerikas erschienen. Es waren europäische Abenteurer von großem Schneid, glänzende Kapitäne, die vor nichts zurückschreckten. Die Namen Monbars, Morgan, Gramont besaßen damals eine Bedeutung, als handelte es sich um Inhaber einer legitimen Macht. Sie plünderten alle Häfen, sie eroberten Panama, Veracruz, ihre Reichtümer gingen in die Millionen. Erst nachdem eine vereinigte holländisch-englische Flotte die Hauptmacht der Bukanier vor Cartagena vernichtet hatte (1697), zerfiel der große Freibeuterbund. Als ihre Nachfolger sind die Flibustier anzusprechen, die allerdings nur noch mit einzelnen Schiffen die Handelsfahrzeuge angriffen und deshalb als „wahre“ Piraten gelten können, während ihre berühmten Vorgänger, die oft genug von europäischen Staaten unterstützt wurden, mehr als Strandpiraten in der Geschichte weiterleben werden.

Einer der letzten „großen“ Flibustier war Pierre Lacombe, in New Orleans geboren, von dessen zusammengeraubten Reichtümern ganze Sagenkreise ausstrahlten. 1799 verschwand auch er mit seinem stolzen Dreimaster, und nach seinen Schätzen haben sogar gebildete Leute, die altes Urkundenmaterial mit benutzten, bis zum heutigen Tage gesucht. – So etwa hieß es in dem erwähnten Artikel. (Die Namen Bukanier und Flibustier haben ebenfalls ihre besondere Geschichte. Erstere, eigentlich boucaniers, wurden nach dem französischen boucan, Rost, zum Trocknen von Fischen, so benannt, die Flibustier wieder nach den leichten, schnellsegelnden Schiffen, den holländischen Vlieboots).

Ich packte meine Notizen und die Zeitung weg, und Taskamore sagte mit der ihm eigenen leichten Ironie: „Doktor Goliath hält uns für sehr einfältig, – ich glaube nicht daran, daß die Zwerge auf der Nachbarinsel hausen.“

Wir aßen, tranken.

„Ich auch nicht“, meinte ich sehr bestimmt. „Diese Insel enthält außer dem Geheimnis der tiefen Kluft noch ein zweites: Die Liliputaner-Republik! – Wo stecken die kleinen Leute aber? Als wir hier landeten, entdeckten wir keine Spuren. Allerdings hatte es geregnet, und Fährten werden rasch verwischt bei diesem üppigen Wachstum.“

Freund Kamo erwiderte nur: „Wir werden sehen …“

Nachher, als wir abermals Gehversuche unternahmen (diese Lichtung hier lag etwa in der Mitte der Insel unweit der Schlucht), lenkte ich meine noch immer recht unsicheren Schritte dorthin, wo Puma Hondu unter den Kugeln Sam Slomans und seiner Gefolgschaft sein treues Leben ausgehaucht hatte. Doktor Goliath hatte mir bereits tröstend mitgeteilt, daß er und die Seinen dem Puma ein nettes Grab hergerichtet hätten. – Wir fanden es. Es war ein Hügel, mit Blumen bepflanzt, mit einem flachen Stein am Kopfende, in den der Name „Hondu“ und darunter „Liebe die Tiere, und die Natur wird dich lieben“ sauber eingemeißelt waren.

Bisher hatte der Schmerz um Hondus Verlust vor dem eigenen körperlichen Unbehagen steter Mattigkeit und vor den sorgenden Gedanken um Margot, Helen und Axel zurücktreten müssen. Jetzt, wo ich am Grabe des treuen Puma stand, empfand ich erst so recht, was alles ich eingebüßt hatte: Hondu war Kamo und mir treuester Wächter gewesen, tapferster Gefährte, – – er starb für uns, und kein Wunder weiter, daß wir beide hier minutenlang stumm verharrten, bis Taskamore hart und drohend erklärte, indem er auf das Dornengestrüpp unterhalb des Abhangs wies:

„Dort lagen wir, Olaf, – ich mit dem Messerstich und der Kopfverletzung, du mit den Schußwunden! Es wird Sam Sloman nichts geschenkt werden!“

Eine Frage drängte sich mir auf.

„Kamo, wie lockte man dich von dem Felsen herab? Weshalb ließest du die Büchse auf dem Felsen?!“

„Weil …“, – er zögerte – „weil ich das kleine Geschöpf, das dort im Grase umherkroch, mit den Händen fangen wollte. Es war einer der Zwerge.“

Ich blickte überrascht auf.

„Also befand sich einer von ihnen in nächster Nähe, als man dich niederschlug und dir das Messer in den Rücken stieß?“

„Ja“, sagte er etwas düster. „Man hat seine guten und schlechten Tage, Olaf … Ich war unvorsichtig … Der Zwerg entschlüpfte mir, und blindlings lief ich in eine Falle. Ich bin überzeugt, der Kleine ahnte selbst nicht, daß Slomans Matrosen in den Büschen steckten.“

„Und mich und den braven Hondu erledigten sie in ähnlicher Art, nur geräuschvoller. – Sollte Axel Baargö, der doch kein Feigling ist, etwa als dritter den Kerlen vor die Büchsen gelaufen sein, als er die mir geltenden Schüsse gehört hatte?! Wenn wir nur erst wieder bei Kräften wären! Ich möchte mir unser Dschungelnest genauer ansehen.“

„Baden wir!“, schlug Kamo vor. „Die Nordbucht hat sandigen Grund … Dort soll ja auch das Motorboot liegen.“

Mit unseren Stöcken und Büchsen als Stützen umschritten wir den dichten Dschungelring. Jede Bewegung trieb uns Schweiß auf die Stirn. Wie schwach wir noch immer waren, bewies dieser halbstündige Marsch. Am Ufer der Nordbucht warfen wir uns völlig erschöpft in das Gras und ruhten eine volle Stunde aus.

Dicht vor uns schaukelte das sauber vertäute Motorboot auf dem ruhigen Wasser. Es war ein langes Fahrzeug mit Öltuchverdeck vorn und hinten, etwas plump, aber scheinbar sehr solide gebaut.

Ein Geräusch ließ mich den Kopf heben.

Und dort aus der soeben geöffneten Brettertür des Heckverschlages tauchte ein anderer Kopf auf.

Blond, frische, ernste Züge, graublaue, klare Augen: Margot Sheridan, Witwe jenes Lord Sheridan, dem die Gier nach den Maya-Schätzen das Hirn versengt hatte!

„Margot – – Du?!“

Sie war noch etwas schlaftrunken, stieß einen leisen Schrei aus.

„Olaf, – – endlich!!“

Und hinter ihr eine zweite, kleinere Gestalt. Helen Gart …!

„Wirklich, – – sie sind es!“, jubelte Helen. „Nun werden wir auch Axel finden … Wir müssen ihn finden …!“

Dann saßen sie neben uns. Fragen über Fragen flatterten hin und her … Spärliche Antworten nur!

„Wir haben wenig zu berichten“, sagte Margot, meine Hand fest umklammernd, „sehr wenig … Als die Schüsse fielen, wollte Axel dir nach und dir beispringen. Aber seine Büchse war plötzlich verschwunden, und mit einem Male standen sechs der kleinen Leute vor uns und warnten uns und verlangten, wir sollten ihnen folgen. Sie waren bewaffnet, und die Anführerin, die sich übrigens Fürstin nennen läßt …“

„Wie?! Anführerin?! Fürstin?! – Margot, das widerspricht vollkommen den Angaben Doktor Goliaths. Bewaffnet?! Die Zwerge, die uns pflegten, sahen wie Gentlemen in Tropenanzügen aus und hatten so liebenswürdige Umgangsformen, daß …“

„Die habt ihr auch, Kamo und du! Und doch möchte ich jetzt nicht gern Mr. Sloman sein, so weit ich euch kenne! Ähnlich war es mit den kleinen Helden in unserem Dschungelnest. So lange Axel Baargö nicht widersprach, zeigten sie sich trotz ihrer Büchsen und Pistolen und Messer und ihrer derben Sportanzüge mit Patronengurt außerordentlich höflich. Als Axel jedoch Miene machte, seinen Willen durchzusetzen, und euch zu folgen, wurde die schlanke Puppe Fürstin Anita Galibin verblüffend energisch und legte ihre Miniaturbüchse auf Axel an. – Bitte, lächle nicht, Olaf, – Helen wird dir bestätigen, daß die Liliputaner Kraft, Mut und Verstand besitzen. Letzten Endes sah ja auch Axel ein, daß die kleinen Herrschaften nur unser Bestes wollten. Sie kannten einen geheimen Pfad durch den Dschungel, nahmen uns und all unsere Sachen mit und verbargen uns drüben zwischen den Klippen, wo wir uns ganz ruhig verhalten sollten. Morgens brachten sie dann das Motorboot hier in die Bucht und befahlen uns, das Boot nicht zu verlassen. Inzwischen war Axel sehr eigenmächtig trotz der eindringlichen Vermahnungen davongeschlichen, kehrte nicht zurück und die Liliputaner – wir bekamen immer nur die sechs im Sportdreß zu sehen – meinten bedauernd, Axel sei wohl mit der Jacht „Missouri“ von Sam Sloman entführt worden. Wir beide erhielten jeden Tag Lebensmittel, sollten aber hier an der Bucht bleiben. Die kleine, schneidige Fürstin Anita, die man geradezu lieb gewinnen muß, erklärte uns, ihr beide würdet wieder genesen, wir sollten uns nur gedulden.“

„Und wer brachte täglich die Lebensmittel?“, fragte Taskamore mit sichtlicher Neugier, hinter der doch wohl noch weit mehr sich verbarg.

Helen Gart erwiderte mit einem eigentümlichen Blick gen Himmel:

„Das raten Sie nie, Kamerad Kamo! – Der Himmel brachte sie!!“

Auch die ernste, herbe Margot blinzelte amüsiert mit den schönen Augen. „Wir wollen unsere Freunde nicht raten lassen, Helen … Der Mann hieß Gottlob Himmel und war Matrose auf dem Dampfer gewesen, der hier in der Nähe unterging. Stellt euch aber bitte unter Gottlob Himmel nichts äußerlich sehr Anziehendes vor. Er ist nur mit einem Wort treffend zu kennzeichnen: Ein Naturwitz, ein Rückfall in die Ahnenreihe unserer Affenvorfahren, dabei aber ein Prachtmensch! Sein Herz ist himmlisch, nur – – er redet zu wenig. Bei den Zwergen spielt er so etwa die Rolle des Ministers für Alles, aber verraten tut er nichts, er grinst nur, zeigt sein Renommierstück[2] von Goldzahn und zuckt die Achseln: „Mein Name ist Hase, – ich weiß von gar nichts!“ Wir werden ihn ja nun leider nie mehr zu sehen bekommen, und …“

„Ein Irrtum“, sagte Taskamore … „Dort kommt ein Segelboot gerade in die Bucht hinein … Ist er es?“

„Er ist es!“

Margot und Helen wurden ganz aufgeregt.

„Er ist es …!“, wiederholte das ranke Mädel mit den Kupferlocken und winkte eifrig. „Hören Sie, Abelsen, – jetzt nehmen Sie den Himmel aber mal kräftig ins Gebet und …“

Helen verstummte.

Wir alle sahen es: Gottlob Himmel, der in dem Insulanerkahn, Marke Baumstamm mit Ausleger und Treiber, am Steuer wie ein herausgeputzter Gorilla hockte, wendete plötzlich, schnitt eine deutlich erkennbare grimme Schnut und … segelte wieder davon.

Taskamore hatte sich erhoben, legte die Hände an den Mund und brüllte hinüber:

„Umkehren!! Sofort!!“

Das entsprach auch durchaus meinen Absichten.

Himmel war jedoch entschieden taub für derartige Befehle.

Er winkte nur mit der linken Flosse nach rückwärts, und als der Wind das Segel praller füllte, schoß der Nachen recht schnell davon.

Wenn wir diesen Himmel uns näher anschauen wollten, gab es nur ein Mittel. Nicht etwa den Benzinstänker da. Bevor wir den in Schwung gebracht hätten, wäre uns dieser alte Prachtknabe da unweigerlich durch die Lappen gegangen. – Prachtknabe?! Stimmte schon. Denn Gottlob steckte oben in einer roten Livreejacke, deren goldene Schnüre freilich längst schwarz geworden, unten in ein paar weißen Leinenhosen, und ganz oben, wo der Verstand sitzen soll, in einen echten hochvornehmen Oberzeremonienmeister-Dreimaster, auch mit viel Gold. – Immerhin für eine Insel wie La Muerta ein glorreicher Anzug.

„Schießen!“, sagte Taskamore halblaut.

Und ehe Helen und Margot noch Einspruch erheben konnten, knallten drei Schüsse, der Bambusmast knickte plötzlich um, das Segel fiel auf den Ausleger, und das Boot schwenkte herum.

Gottlob Himmel saß am Steuer seines Wracks mit unheimlich weit aufgerissenem Munde, und zwischen den fuchsigen Strähnen seines Bartes blinkte wehmütig ein einzelner Goldzahn, Überrest einer „Brücke“, einst für Gottlob angefertigt, dann von Gottlob herausgerissen, weil der andere Goldzahn, der die Brücke hielt, infolge Wurzelhautentzündung die linke Gesichtshälfte in eine Art Kinderballon verwandelt hatte.

Der arme Seefahrer draußen verstaute Segel und Maststumpf und drohte dabei wiederholt mit der kolossalen Faust zu uns herüber. Dann ergriff er ein Paddelruder, verabschiedet sich mit einer Geste, die hoffentlich nicht unanständig sein sollte, und gondelte getrost den alten Kurs.

Kamo war schon auf unserer feinen Benzinjacht, ich hinterdrein, und auch Margot und Helen halfen. Der ausgeleierte Motor knallte, knurrte und spuckte, – es half ihm alles nichts, – das Boot schoß davon, und nach wenigen Minuten umrundeten auch wir die Klippen an der Ostseite der Bucht, hinter denen der rote Himmel soeben in all seiner Schönheit verduftet war.

Seltsam: Der Kahn trieb noch auf den kurzem Wellen, Himmel selbst war spurlos verschwunden.

Und jetzt erst, wo wir zum ersten Male die Nordküste der Insel vom Wasser her genauer mustern konnten, erblickten wir eine bewaldete Halbinsel mit ganz steilen Felsenufern, die uns bisher völlig entgangen war. Allerdings hatten wir auch kaum Zeit oder Interesse gehabt, die Uferbildung so sorgfältig zu prüfen.

Eines fiel mir sofort auf: Diese steile Halbinsel war unten mit scharfen Riffen förmlich gespickt, und gerade dort stand eine Brandung, die ein Landen wohl selbst bei Windstille verbot, da das Meer keine absolute Ruhe kennt, und all jene schönen Märchen vom „Ozean, glatt und blank wie ein Spiegel“ genau so unsinnig sind, wie die andere Fabel, daß ein sinkendes Schiff gefährliche Strudel erzeugt, durch die sogar Menschen mit in die Tiefe gezogen werden. – Humbug.

Himmels Kahn trieb noch etwa fünfhundert Meter seitwärts von den Klippen. Himmel selbst?! Er konnte nur von einem flinken Boot aufgenommen worden sein, das dann dort in den Bach eingelaufen war, der wie ein Silberstreifen sich im Urwaldgrün verlor.

Ich steuerte dorthin …

Stoppte schleunigst …

Steine, Riffe, faulende Baumstämme blockierten die Bachmündung. Es gab keine Möglichkeit, dort hineinzugelangen.

Außerdem …

Ja – außerdem ließ auch ein schrilles „Hallo!!“ uns alle nach links schauen …

Helen Gart rief atemlos:

„Axel … Axel …!!“

Und in diesem langgereckten hellen Schrei lag so viel Freude, Angst, Sehnen, daß nur ein ganz schlechter Menschenkenner an Helens unberührtes Herzchen geglaubt hätte. Der semmelblonde, wettergebräunte und zierlich-kraftvolle Axel hatte bei der flotten, kecken Reporterin zweifellos auf der ganzen Linie gesiegt.

Bei der Szene, deren machtlose Zuschauer wir wurden, siegte er leider nicht.

Baargö hatte um einen der Stämme dicht am Rande des Steilhangs ein Tau aus Lianen geschlungen, an dem er sich hinablassen wollte. Er war jedoch kaum erst fünf Meter abwärts geklettert, als irgend etwas, das wir nicht ergründen konnten, ihn zur Umkehr veranlaßte. Ohne sich nochmals nach uns umzusehen, verschwand er zwischen dem grünen Gewirr von Ranken.

Helen schrie abermals auf.

„Abelsen, – so helfen Sie ihm doch!! Es ist doch klar, daß er irgend einem Befehle gehorcht, der ihn wieder zurücktreibt in die Nähe dieser Zwergenfürstin, die nur Margot liebenswert findet, – ich fand sie anmaßend und … frech, – noch mehr: herausfordernd!“

Eifersucht?!

Taskamore erklärte da in seiner so überaus bestimmten Art:

„Die Zwerge wohnen nicht auf der Nachbarinsel, sie wohnen hier …!“

Er streckte die Hand empor …

Zwischen zwei Riesenwipfeln über dem grünen, bunten Dschungeldach der Halbinsel schwebten vier klar erkennbare dünne Rauchsäulen empor …! –

Axel Baargö war Gefangener der kleinen Menschlein, und Margots heimlicher Blick verriet mir, daß auch sie gemerkt hatte, welche Teilnahme die Fürstin Liliputana Anita Galibin für den geschmeidigen, flinken und kühnen Axel bezeigt hatte.

 

4. Kapitel.

Die Halbinsel der Zwerge.

Ich hatte mich längst mit der Tatsache der Existenz dieses Zwergenstaates abgefunden. Für mich besaß diese Tatsache nichts irgendwie Märchenhaftes oder Romanhaftes mehr. Daß Schiffbrüchige auf einsamen Inseln in früheren Zeiten, als der Dampferverkehr noch nicht so lebhaft war, als Kolonisatoren, Ansiedler und schließlich als Begründer ganzer Gemeinwesen sich betätigt hatten, dafür gibt es übergenug Beispiele. Wenn man hier, was diese Liliputanertruppe betraf, von dem einen Absonderlichen, nämlich der Winzigkeit dieser Menschlein, absah und nur das gegenwärtige Erlebnis kritisch würdigte, in das wir mit hinein verstrickt worden waren, konnte man nur folgende Fragen, die mich jetzt lebhafter als bisher beschäftigten, merkwürdig und widerspruchsvoll nennen.

Weshalb hatten diese Schiffbrüchigen nie den Versuch gemacht, sich mit einer der bewohnten Bai-Inseln in Verbindung zu setzen?! Es wäre ihnen geglückt, und ein deutsches Schiff hätte sie sehr bald abgeholt.

Sie hatten den Versuch nicht unternommen, sondern lebten hier auf La Muerta seit einer Reihe von Jahren in aller Heimlichkeit.

Der Grund?!

Ich dachte an die Schätze Pierre Lacombes. Sollten etwa die Zwerge, die doch schließlich intelligente, moderne, nur im Wachstum zurückgebliebene Menschlein waren, gerade hier auf dieser landschaftlich so überaus reizvollen und so verschwenderisch fruchtbaren Insel nach des Flibustiers geraubten Goldschätzen suchen?!

Mir blieb keine Zeit zum Überlegen.

Helen Gart hatte plötzlich die Schuhe abgestreift und ließ ihren Sportrock fallen.

„Ich schwimme hinüber …!!“

Und so, wie sie das mit verkniffenen Lippen erklärte, war es ihr offenbar bitterer Ernst damit.

Sie mochte in ihrem abenteuerlichen Leben als Reporterin schon ähnliche Bravourstückchen sich geleistet haben.

Hier saß hinter alledem noch der mächtige Antrieb der Liebe, und gerade deshalb war es nicht ganz leicht, Helens Vorhaben als das ihr hinzustellen, was es angesichts der Riffe und der Kletterpartie an einem Lianenseil von zwanzig Meter Länge tatsächlich bedeutete: Selbstmord!

Helens Temperament fand – echt weiblich – hinterher nur Tränen und Vorwürfe und unklare Rachepläne, die sich in halblauten Worten äußerten.

Auf meinen Wink hatte Kamo beide Anker des großen Bootes fallen lassen. Wir lagen nun vor der Bachmündung, und es bedurfte keiner langen Erwägungen, ob Taskamore oder ich Axel Baargö befreien sollte.

Ich war der bessere, geübtere Schwimmer.

Taskamore hatte lediglich aufzupassen, daß niemand das Lianentau zerschnitt. Der Baum, um den es geschlungen war, stand etwas außerhalb des Dickichts, und auf Kamos Kugel war Verlaß. Die Angst, die Zwerge könnten auf mich feuern, hegte ich nicht einen Augenblick. Anderes beeinträchtigte meine Vorfreude auf einen Besuch im Reiche der kleinen Fürstin Galibin: Meine körperliche Schwäche!

„Margot, habt ihr Brandy an Bord?“, wandte ich mich an die treue Kameradin, die jetzt Helen leise und begütigend zu beruhigen suchte.

„Ja … Ich hole ihn …“

Und ich trank, warf die Jacke, das Hemd ab, behielt nur die leichten Hosen an, band mir Pistole und Messer auf dem Hute fest und …

„Ich dulde es nicht!“, erklärte Margot plötzlich mit aller Entschiedenheit. „Ich dulde es nicht! Kamo, sehen Sie, wie … entsetzlich mager er geworden ist!“

Taskamore sollte ihr beispringen.

Aber Taskamore sagte lediglich mit einer höflichen Handbewegung:

„Es ist die einzige Aussicht, die Halbinsel zu erreichen, Lady Sheridan … Olaf weiß, was er sich zutrauen darf. Von der Landseite ist ein Eindringen in den Urwald unmöglich, von der See ebenfalls, sobald das Lianentau verschwindet.“

Margot warf Kamo einen unfreundlichen Blick zu. Wenn er sie „Lady“ anredete, wollte er nur andeuten, daß ihm ihr Verhalten nicht zusage. Das wußte sie.

Ich selbst?!

Gewiß, – ein Wagnis blieb es. Doch ich hatte bereits andere Klippen und stärkere Brandungen durchquert. Außerdem, auch hier zeigte sich: Der Körper ist Sklave des Geistes! Der Körper gehorcht und mein Geist hatte jede Erinnerung an das Krankenlager ausgeschaltet, und der magere Leib fühlte urplötzlich ungeahnte Kräfte.

Margot setzte sich schweigend auf den Bootsrand und senkte langsam den Kopf.

Sie tat mir leid. Ich begriff, wie es in ihrem Herzen aussehen mußte. Eine Frau wie sie, die in ihrer Ehe so unendlich bitter enttäuscht worden war, mußte sich mit doppelter Zähigkeit jetzt an den Freund klammern, der ihr längst mehr als dies geworden. Aber eine Margot Sheridan hatte auch volles Verständnis für das, was man Mannestum nennt, für das rückhaltlose Einsetzen der eigenen Persönlichkeit, sobald es um Gemeinschaftsgeist ging, um Hilfeleistung, Rettungsversuch …

„Auf Wiedersehen …“, sagte ich nur, glitt über Bord, und das laue Meereswasser benahm mir den Atem.

Die Salzflut des Ozeans war gnädig.

Was sie nahm, gab sie hundertfach zurück, und mit jedem Schwimmstoß spielten meine Muskeln leichter und kraftvoller, mit jedem tiefen Atemzug wich das Gefühl der Benommenheit immer mehr.

Vorsichtig prüfte ich die Lage der Riffe, wählte schließlich eine Stelle, wo die Wogen in breiter Bahn hindurchfluteten und gegen die eigentliche Steilwand klatschten. Dort hing das Tau, triefend, dick, gewunden aus fünf Ranken, – sehr sauber gewunden.

Axel verstand sich auf Seilerkünste.

Ich wartete die bewußte siebente Woge ab, – die höchste, gefährlichste. Es hat sicher etwas auf sich damit, daß immer die siebente Welle besonders kräftig emporwogt, die nächste dann desto schwächer. Und von der ließ ich mich mitreißen, fuhr durch die Riffe, streckte die Arme aus, milderte den Anprall, erwischte das Tau und war mit vier Klimmzügen außerhalb des Bereichs der grünen, gläsernen Ungeheuer, die jetzt gierig ihre weißen Schaumkämme als Zähne emporreckten und doch nichts mehr ausrichteten.

Noch ein Klimmzug …

Schnell den Fuß in die Ranken hinein …

Ich fühlte die Ohnmachtsanwandlung nahen, ich hatte mich überschätzt, eiskalter Schweiß brach mir aus den Poren, und mit letzter Kraft schlang ich den Ledergurt um Tau und Leib …

Und hing wie ein Bündel über den gefräßigen Wellen, über den nassen Steinzacken der Riffe, pendelte hin und her, hatte ein Gefühl im Leibe, als müßte ich mich erbrechen.

Ich überwand es.

Langsam flutete mir das Blut wieder zu Kopfe, der Herzschlag wurde regelmäßiger, stärker, und die schlaff herabhängenden Arme packten wieder das Tau …

Ein Blick zum Boote hin: Margot stand da, leichenblaß, die Hände um den Bootsrand gekrallt. Neben ihr Helen, nicht minder bleich, weiter rechts, Freund Kamo, die Büchse angelegt …

Ein Feuerstrahl kam aus der Mündung …

Hoch über mir ein Schrei …

Dann flatterte etwas herab wie ein müder Vogel: Ein Basthut!

Langsam klomm ich hinan …

So behutsam, daß ich meine Kräfte schonte.

Und erreichte die grünen, blühenden Girlanden, die der Urwald hier über den Rand des Steilhangs als zierlichen Schmuck dunklen Gesteins gleiten ließ.

Noch zwei Meter.

Mein Kopf war in einer Höhe mit dem Wurzelgefüge des Urwaldriesen.

Armdicke Wurzeln hingen herab, bildeten ein Gitter wie das Staket für fröhliche, harmlose Kletterpflanzen an einer Villenfront. Ein Schwung, ich saß zwischen den Wurzeln, – noch einer, und ich stand am Rande des Waldes.

Bevor ich noch Messer und Pistole zur Hand hatte, kam von irgendwo ein Brummen und Knurren, als ob zwei Bären sich um eine leckere Honigmahlzeit stritten. Dann erschien aus dem Gestrüpp eine blanke Kugel, die in der Mitte einen kurzen Streifen wirrer brandroter Haare trug. Als die Kugel nach hinten überkippte, funkelten mich zwei Schweinsäuglein, eine blaurote Schnapsnase und ein einsamer Goldzahn zwischen einem wüsten Vollbart feindselig an.

„Den Hut, Herr, den stelle ich Ihrem Freunde in Rechnung“, sprudelte Gottlob Himmel giftig hervor. „Solch’ eine Gemeinheit, auf einen harmlosen Jan Maat mit bleiernen Nüssen zu schießen! Machen Sie im übrigen hier keine Faxen, Herr, wenn dieser Revolver auch bereits Karl dem Großen gedient hat, als er bei der Erbauung des Kölner Domes Salut schoß, – schießen tut das Instrument noch immer!“

Herr Gottlob Himmel blinzelte mich mißtrauisch an. Vielleicht hätte er noch mehr historisch verschobene Daten vom Stapel gelassen.

„He, weshalb grinsen Sie?!“

„Ich grinse nicht“, erwiderte ich äußerst freundlich. „Ich lächele … Ein alter Trommelrevolver ohne Hahn ist höchstens noch Wurfgeschoß. Karl der Große wird mit dem Ding höchstens den Choral bei der Grundsteinlegung dirigiert haben, schätze ich. – Was wünschen Sie?“

Ich band mir das nasse Tuch vom Kopfe, das den Hut und die Waffen vor den Wellenspritzern hatte schützen sollen.

Der Goldzahn wurde daraufhin noch wütender gefletscht.

„Ich schieße!“, knurrte Himmel.

„Ich lache“, sagte ich gutmütig. „Wenn ich schieße, Herr Himmel, knallt es. Und wenn Sie zu schießen versuchen, blamieren Sie sich.“

Er hockte noch immer im Gestrüpp und gab nur seinen Kopf preis. Auch das hätte er nicht tun sollen. Der Himmel hatte Himmel mit wenig Schönheit bedacht.

„Wo haben Sie Axel Baargö gelassen?“, fügte ich ebenso gemütlich hinzu. „Ihre kleine Fürstin Anita Galibin – das klingt nach Filmnamen – sollte verständig sein, lieber Himmel. Wir holen uns unseren Freund bestimmt.“

Jetzt grinste er.

„So?! Was Sie nicht sagen!! Ist das der Dank für die Krankenpflege, Herr Olaf?!“

„Menschenraub ist verboten, mein Lieber. Führen Sie mich zu Anita Galibin – schleunigst. Sie haben insofern Pech, als Sie es hier ausgerechnet mit Leuten zu tun haben, die den Wind verschiedener Erdteile sich um die Nase wehen ließen. Was das bedeutet, werden Sie als Seemann am besten abschätzen können. Man lernt überall ein wenig, und aus dem wenigen wird …“

Der Goldzahn blinkte in seiner ganzen Länge.

„… Wird ein Reinfall wie vor einer Woche etwa, Reinfall in die Dornen, Kugeln in die Brust und ein toter Puma! – Ihr seid mir die richtigen Helden!!“

Der Respekt vor uns war offenbar nicht erschütternd.

Himmel setzte noch spöttischer hinzu: „Wissen Sie, wie Sie beide aussahen, als wir Sie aus den Dornen herausholten? Wie umgekehrte Stachelschweine! Beim Stachelschwein sitzen die Stacheln mit den Spitzen nach außen, bei Ihnen saßen sie mit den Stacheln im Fleische, und gerade die Partie, die sonst zum Sitzen dient, glich bei Ihnen, Herr Olaf, einem Stecknadelkissen. Doktor Goliath hat zweiundfünfzig Dornen aus dem einen Körperteil herausgezogen! Und jetzt wollen Sie mir hier drohen, mir?! Der ich doch Minister des Inneren und Äußeren der großmächtigen Republik La Muerta bin!! Da schlägt es dreizehn, Herr!! Machen Sie schleunigst wieder kehrt, Ihr Kamerad Baargö ist schon unterwegs zur Nachbarinsel, und falls Sie mir nicht glauben, will ich die höhere Diplomatie des Augenscheins anwenden und Ihnen von der Ostküste das davonsegelnde Boot zeigen. Obwohl mir das eigentlich verboten wurde, Herr Olaf, unter uns gesagt. Also bitte …! Von Männerraub ist keine Rede, Herr Axel ist so entzückt von den glorreichen Einrichtungen unseres Staates, daß er sich freiwillig …“

Bis dahin hatte ich das Geschwätz geduldig ertragen. Dieser Gottlob Himmel veralberte mich. Das war auch niemals ein einfacher Matrose, auch kein Hamburger. All das hatte er Margot und Helen vorgeflunkert. Das war ein äußerst geriebener Bursche sogar, und ich war bereits überzeugt, in ihm den Unternehmer, den Manager der Liliputanertruppe vor mir zu haben.

„Stopp!!“ – Und da dieser Befehl, den Goldzahn für eine Weile in dem Buschwald des Bartes verschwinden zu lassen, von einer unzweideutigen Bewegung der Pistole begleitet war, klappte der Himmel den Mund hörbar zu und zwinkerte betroffen mit den Äuglein.

„Zeigen Sie mir das Boot, – und kein Wort weiter!!“ Mein Ton behagte ihm wenig. Er war ehrlich verdutzt. „Wofür halten Sie uns eigentlich, Herr Himmel?! Wenn Sie Minister des Äußeren und Diplomat sind, sind Sie allerdings für die Klasse der Minderbegabten vorgemerkt. Glauben Sie, daß Kerle wie wir, die Ihren Bambusmast glatt umlegten und die an einem Lianentau emporklettern, das mit dem unteren Ende wie ein Pinsel in der Brandung hängt, sich von Ihnen bluffen lassen werden?! Mein Lieber, lassen Sie sich eine neue Drüse zur Auffrischung Ihrer Intelligenz einsetzen! Das ist mein wohlmeinender Vorschlag. Mein Befehl ist: Kehrt marsch, – ich will das Boot sehen!“

Er zog die Feuernase kraus, legte die Stirn in Falten, kratzte mit der Flosse seinen merkwürdigen Schädelhaarrest und nickte steif wie ein Stehaufmännchen.

„Wie Sie wünschen …, wie Sie wünschen!“

Dann kroch er rückwärts, ich drehte mich schnell um, winkte den Freunden zu und folgte ihm auf dem engen Buschpfad, der hier in das Dickicht sauber wie ein Schacht eingeschnitten war.

Die Dschungel der tropischen Wälder Mittelamerikas sind berüchtigt. Ich hatte bereits das zweifelhafte Vergnügen gehabt, diese undurchdringlichen Dickichte an der Westküste kennen zu lernen, ich hatte hier mit meinen Freunden im Dschungelnest diese Mauern von Schlingpflanzen, Büschen und Bambusgehölzen (nicht der bekanntere ostindische Bambus) abermals angestaunt. – Welch’ eine Arbeit, einen solchen Pfad auszuhauen und freizuhalten vor dem ewigen Ansturm tropischen Wachstums!

Der mittelgroße Gorilla Gottlob Himmel watschelte mir mißmutig voraus. Ich gab auf jede Kleinigkeit scharf acht. Der Pfad war sehr oft begangen worden, und als wir eine Lichtung erreichten, auf der vier Holzfeuer zwecklos qualmten, mußte ich heimlich lächeln.

„Was sollen die Feuer, Herr Himmel?!“

Die Sonne lag hell und freundlich auf der Urwaldblöße. Ich sah am Rande dicht bei dicht Bananenstauden voller Früchte, ich sah in einer Ecke wilde Pflaumenbäume, dazu ein sauberes Weizenfeld, und hinter einer Buschreihe war eine dichte Fenz errichtet, in der sich Peccaris, kleine Wildschweine, in einer Wasserlache wälzten und lustig quiekten.

Himmel war die Frage peinlich.

„Gegen die Mücken …“, erklärte er und verdrehte die Augen wie ein ungeschickter Lügner.

„Hm – und dieser Garten hier?!“

„Oh, das ist … unser Kolonialbesitz, Herr Olaf … Da wir unsere Anwesenheit auf der Nachbarinsel nicht verraten wollen, haben wir diese Lichtung als …“

„Stopp!!“ – Himmel schloß eiligst das Lügenmaul.

Trotz allem hatte der Mann unbedingt etwas an sich, das für ihn einnahm.

„Sie … glauben mir nicht?!“, fragte er schüchtern und klapperte mit den Augenlidern.

„Nicht ein Wort!!“

Er war entsetzt.

„… Sagen Sie mal, wie sind Sie zum Beispiel aus Ihrem Kanu trocken an Land gekommen? Ihr fabelhafter Schnürrock ist trocken.“

„Ich … landete …“, meinte er sichtlich verwirrt.

„Und ich werde sofort einen Kinnhaken landen, der Ihren Renommierzahn ernstlich gefährdet!! – Los, zeigen Sie nun das Boot!“

– Überprüft man hinterher das, was man so in der Eile des Gefechts ohne rechte Überlegung tat, möchte man sich selbst mit zweifelhaften Titulaturen schmücken.

Ich war hier blindlings in eine Falle getappt. Und am unklugsten war es gewesen, den roten Himmel merken zu lassen, daß ich genau wußte, wo seine kleinen Freunde hausten. Vielleicht hätten die Dinge eine andere Wendung genommen, wenn ich in dieser Hinsicht zurückhaltender gewesen wäre.

Ich hatte meine Stimme nicht gedämpft, und den Ausschlag gab mein ironischer Nachsatz: „Ich zweifele nicht, daß ein Boot mit Axel Baargö zum Schein zur Nachbarinsel fährt, Herr Gottlob Himmel, aber dem Himmel sei Lob und Dank, daß ich nicht so beschränkt bin, an jeden faulen Zauber zu glauben. – Holen Sie sofort Ihre sogenannte Miniaturfürstin herbei. Ich habe mit ihr zu reden. Nichts Angenehmes!“

Himmel stand vor mir, den Kopf gesenkt, – einen letzten Schwindelversuch wagte er noch.

„Sie befinden sich wirklich in einem großen Irrtum, Herr Olaf, denn …“

„Holen Sie Anita Galibin!!“

Und absichtlich, aber sehr unvorsichtig, noch die Bemerkung: „Die vier Feuer haben Sie angezündet, um die Rauchwolken, die wir sehen mußten, offensichtlich ganz harmlos erklären zu können. – Weshalb kehrten Sie in der Bucht mit Ihrem Kanu so schnell um und brachten den Frauen nicht wie bisher die Lebensmittel?! Auch das will ich Ihnen erklären, Freund Himmel. Weil die Zwerge nicht recht wußten, ob wir sofort zur Nordbucht aufbrechen würden. Und als Sie uns beide bemerkten, verdufteten Sie, um unbequemen Fragen zu entgehen.“

Himmel stand noch immer gesenkten Hauptes da.

Was in seinem Hirn vorging, war schwer zu erraten.

Dann quiekte eins der Peccaris besonders schrill und laut, und blitzschnell flogen zwei Riesenarme mit Riesenflossen hoch, umspannten meine Handgelenke, drückten wie Schraubstöcke, und über meine Lippen kam ein leiser Schrei …

Dann stieß ich mit aller Kraft mit dem Knie zu, traf Himmels sanft gerundeten Bauch und – ein Ruck, ich war frei, lief zum Eingang des Pfades zurück, der durch einen flachen Stein halb verdeckt war, und warf mich zu Boden.

Gottlob Himmel streichelte seinen Bauch, schnappte nach Luft und machte ein Gesicht wie ein durchgefallener Predigtamtskandidat.

Sein Angriff war eine aufgelegte Pleite gewesen.

Aber …

Haarscharf an meinem Ohr surrte etwas vorüber.

Ein dünner Knall erreichte dasselbe Ohr, das andere, linke, blutete …

Die Ohrmuschel war gestreift, und das Blut lief mir in den Gehörgang.

Die kleinen Kunstschützen, die da drüben im Busche steckten, schossen tadellos.

Ich zog es vor, besser Deckung zu nehmen.

Ich hatte die rechte Hand mit der Pistole aufgestützt, wollte wenigstens einen Warnungsschuß abgeben. Ein Hieb von hinten traf meinen Handrücken, die Pistole flog zur Seite und hinter mir ertönte eine angenehme, zarte Stimme:

„Setzen Sie sich bitte nicht unnötig weiteren Gefahren aus, Herr Olaf … Wir würden bestimmt Ernst machen.“

Die Pistole verschwand, – ich erhob mich, und in dem grünen Dämmerlicht des Buschpfades stand die reizendste Zwergin, die mir je zu Gesicht gekommen.

 

5. Kapitel.

Pierre Lacombes Inschrift.

… Es ist nun doch alles so anders gekommen.

Weit besser und angenehmer, als wir je hofften.

Unsere beiden Zelte stehen neben einem der zierlichen Bambushäuschen auf dieser weiten, luftigen, bunten, farbenfrohen Waldlichtung, am Nordabhang der Halbinsel.

Es ist schön hier.

Es ist ein Leben wie im Traumlande.

Die Republik La Muerta (die kleinen Leutchen haben den alten Inselnamen beibehalten) birgt keine Geheimnisse mehr. Selbst Gottlob Himmel versucht nie mehr zu schwindeln, obwohl ihm das harmlose Lügen im Blute liegt.

In der Tiefe zu drei Seiten rauscht das Meer. Über saftige Gräser, Blumen, kleine Felder flattern schillernde Schmetterlinge und Riesenlibellen mit langen, goldenen Leibern. Blumen duften, Vögel beleben die Urwaldkronen, aus der langen Werkstatt erschallt Hämmern und Poltern, und vor mir dehnt sich Margot wohlig in einer fein geflochtenen Hängematte und spricht leise mit Anita Galibin, deren etwas hartes Deutsch die kaukasische Heimat verrät. – Sie heißt Galibin, ist Tscherkessin, ist Flüchtling. In ihrer Heimat ist für sie kein Platz mehr, und als einzige erreichte sie von ihrer Familie das schützende Ausland, wurde Artistin, Liliputanerin. All ihre Geschwister waren normal groß, nur sie allein blieb Zwergin.

Nicht eine jener Zwerginnen, denen das Ebenmaß des Körpers fehlt. Ihre Figur, ihr Kopf, ihre Gesichtszüge verraten die Schönheit ihrer toten Mutter. In ihren verschleierten Augen liegt das Weh der Heimatlosen, ihr aschblondes Haar ist stets sauber gewellt, und diese kleine Nippfigur besitzt dennoch die Energie eines großen Geistes. –

… Ich habe nun nachgeholt, was nachzuholen war. Ich bin bei dem Punkte angelangt, wo Anita Galibin mir zum ersten Male gegenübertrat.

Obwohl mir das schmucke Persönchen nur bis zur Hüfte reichte, – die kleine Damenpistole in der winzigen Hand redete eine sehr ernste Sprache.

„Herr Olaf“, sagte sie, als ich sehr nachdrücklich nach Axel gefragt hatte, „es war ein Mißgriff meinerseits. Baargö liebt Helen Gart, und ich …“ – sie schlug die Augen nieder – „gebe meine Pläne auf.“ Über ihr leicht gebräuntes Puppengesichtchen flog ein Schimmer von Rot. „Sie wissen vielleicht, daß wir Kleinen, die wir von der Natur so vernachlässigt wurden, sehr selten untereinander Ehen schließen und daß unsere Gefühle uns zumeist denen entgegendrängen, die als normal gebaute Menschen durch dieses Leben wandeln. Eine törichte Hoffnung verwirrte mir den Sinn. Wir hier als Kolonisten sind darauf angewiesen gewesen, unseren Miniaturstaat auch durch Eheschließung weiter zu bevölkern. Unsere Truppe, die damals der Dampferkatastrophe entging, zählte sechzehn Männer und vierzehn Mädchen, alles … Liliputaner, Zwerge, keiner davon größer als ich, und ich messe ein Meter und zwölf Zentimeter und bin heute“ – sie blickte mich an und lächelte ein wenig – „vierundzwanzig Jahre alt. Wir haben jetzt zwölf Ehepaare, ich selbst entschloß mich sehr schwer zu einer Wahl und blieb ledig. Jedenfalls: Axel Baargö erschien mir – sagen wir aus Staatsräson – geeignet, mit mir unser kleines Reich zu regieren. Diese Hoffnung, Herr Olaf, war nicht nur trügerisch, sondern … töricht. Ich habe mit Baargö ganz ernsthaft gesprochen. Er blieb höflich ablehnend und versuchte zu entfliehen. Wir zwangen ihn zur Umkehr. – Bitte, schätzen Sie mich nicht falsch ein. Wir haben hier nach reiflichem Überlegen uns niedergelassen, und in den verflossenen Jahren erkannten wir, daß dieses Dasein auf dieser schönen Insel unsere Seelen vollkommen verändert hat. Keiner von uns wünscht mehr im Rampenlicht auf einer Bühne sich begaffen zu lassen. Die wahre Würde des Menschseins fanden wir erst hier. Wir lernten die Freude am Erfolg der Arbeit kennen, wir betätigten uns auf jedem Gebiet, wir sind nicht mehr Marionetten des gerissenen, wenn auch gutmütigen Herrn Himmel, unseres einstigen Impresario. Himmel selbst ist verändert, hängt an dieser Insel, liebt sie. Himmel ist es, der für uns die Verbindung mit der Kulturwelt aufrecht erhält. So und so oft segelt er nach der bewohnten Insel Roatan[3] hinüber und kauft insgeheim alles, was wir brauchen. Der Händler dort ist verschwiegen, denn Gold löst die Zungen, verschließt aber auch die Lippen.“

Ich fühlte jetzt ihren prüfenden Blick.

Ich wußte, woran sie dachte.

An Lacombe, den Piraten.

„Fanden Sie Lacombes Schatz?“, fragte ich offen.

„Nein!“

Sie sprach die Wahrheit. Ich fühlte es. Sie machte keine Ausflüchte, keine Redensarten.

„Natürlich kennen wir die Schlucht und das eingekeilte Wrack ganz genau, auch die Inschrift an der Steinwand, die Sie jetzt weggemeißelt haben. Aber wir konnten sie nicht entziffern. Unser Gold gewinnen wir aus dem Bach, den wir blockiert haben. Sie wollten mit dem Motorboot dort einlaufen, Herr Olaf … – Ich fürchte, Ihre Arbeit war nicht gründlich genug. Sloman ließ die Wand mehrmals bei Magnesiumlicht photographieren, und wahrscheinlich hat er wenigstens teilweise die Inschrift noch entziffert. Er fuhr mit seiner Jacht allzu eilig davon. – Bitte, folgen Sie mir jetzt. Sie haben nichts zu fürchten. – Dort liegt Ihre Pistole …“

Als wir die Lichtung betraten, standen da die fünf Leutchen, von denen Margot und Helen bereits gesprochen hatten – in den netten, kleidsamen Anzügen, halb Cowboy, halb Trapper, halb Jäger.

„Die Kunstschützen unserer ehemaligen Truppe“, erklärte Anita Galibin ganz stolz. „Heute unsere Armee, und keine schlechte.“

Die kleinen Gentlemen grüßten höflich.

Ein gut versteckter Eingang zu einem anderen Buschpfad wurde freigelegt, und bald darauf lernte ich das ureigenste Reich der höflichen Liliputaner kennen.

Und das ist die große Lichtung an der Spitze der Halbinsel mit ihren zierlichen Häuschen, Gärtchen, sandbestreuten Wegen, Feldern, Bananenpflanzungen und Anita Galibins „Palast“, aus Steinquadern gemauert, mit offener Veranda, innen eingerichtet wie ein Feenheim.

Traumland eben. – Wirklich Traumland, und doch ohne all jene Phantastik, die die Wirklichkeit zur Unwahrheit stempelt.

Vor der Veranda des Palastes stand Axel Baargö, rauchte eine Zigarette und begrüßte mich wortlos durch festen Händedruck.

Eine halbe Stunde später trafen Helen, Margot und Taskamore unter Himmels Führung ein. Anita blieb unsichtbar, unsere Zelte wurden aufgebaut, Doktor Goliath hielt mir einen Vortrag über die schädlichen Folgen einer Überanstrengung, und ringsum bewegten sich und bewegen sich wie heute ganz zwanglos die kleinen Menschlein, – drei Mütter zeigen uns stolz ihre vierjährigen Sprößlinge, die fast schon so groß wie Mama und Papa waren.

Die Natur schafft wohl zuweilen von normalen Eltern zwergenhafte Kinder, aber die Kinder dieser Kinder sind stets der Ahnenreihe großer Vorfahren nachgeraten.

Nun leben wir hier bereits drei Tage in der staatsrechtlich sehr anfechtbaren Liliputaner-Republik, in der ausschließlich Anita Galibins überragender Geist gebietet. Der Außen- und Innenminister, Impresario a. D., Gottlob Himmel ist hier Statist. Aber ein Kerl, der Sympathie verdient.

Taskamore macht sich nützlich und lehrt die Bootsbauer, etwas solidere Kähne herzustellen. Die Reporterin und der Kopenhagener sind meist unterwegs, und wenn sie zurückkehren, sieht Helen Gart verdächtig zerzaust aus, und Margot lächelt verträumt und wendet sich ab.

Margot und ich haben die Szene im Motorboot vergessen.

Vergessen wollen.

Die Kameradschaft blüht, und doch – – es ist so viel feiner, durchsichtiger Betrug dabei, beiderseits.

Ich werde nun diese Blätter wegpacken und nochmals die lateinische Inschrift prüfen, die ich damals sorgfältig abschrieb, bevor wir sie austilgten.

Das Latein ist „Mönchslatein“, wie man zu sagen pflegt. Lacombe hat offenbar klassisches Latein nicht gekannt. – Wörtlich übersetzt heißt die Inschrift:

Der Dreimaster, den wir zuletzt überfielen, hatte die Pest an Bord. Meine Mannschaft starb dahin, und mein stolzes Schiff war ein Sarg. Ein Erdbeben schleuderte mich, den letzten Lebenden, samt dem Schiffe zwischen die Felsen. Aber ich wurde gesund, und ich habe das, was mein Schiff an Ladung barg, in zehn mühseligen Bootsfahrten dorthin geschafft, wo die Küste ihr Felsenmaul öffnet und die Wogen kommen und gehen und wo niemand hinabtauchen kann – Pierre Lacombe.

Diese plumpe, lateinische Gravierung war in all den Jahren, gerade weil die losgesplitterten Steinteilchen den Fels rauh machten, mit einer dicken Schicht von Flechten und Moosen überzogen worden. Die großen Buchstaben wuchsen so ins Riesenhafte, wurden verzerrt, unkenntlich, und nur Taskamores scharfe Augen hatten in diesen verschlungenen Moospolstern Buchstaben und Worte erkannt.

Das war in jenen Nächten gewesen, bevor noch die Freunde mit dem verrosteten Wrack davonsegelten, und ich selbst hatte die Schlucht und die Steinwand erst zu Gesicht bekommen, nachdem wir damals Axel Baargö befreit und sicher in das Dschungelnest geleitet hatten.

„Eine Stunde Zeit werden sie uns wohl gönnen, und das genügt“, hatte Taskamore bei diesem Anlaß geäußert. – Sie hatte genügt. Wir kletterten hinab in die feuchte Tiefe, wir säuberten die glatte Steinwand neben dem Heck des Flibustierschiffes von Flechten und Moosen, ich schrieb die lateinischen Worte auf, Kamo leuchtete mit einem brennenden Ast, und dann nahmen wir jeder einen der Anker vom schlüpfrigen, erdigen Deck des zusammengepreßten Wracks und hieben auf die Steinwand ein, zerstörten Buchstaben und Worte, und wurden mit den abplatzenden Rostschichten der Anker überschüttet. Wie Riesenhämmer hatten wir die eisernen, rostzerfressenen Andenken an Pierre Lacombes rauhes, blutiges Handwerk niederschmettern lassen. Dann warfen wir sie beiseite, prüften nochmals die zerplatzte Fläche und glaubten, gründliche Arbeit getan zu haben.

Seitdem war ich nicht mehr auf den festen eichenen Planken des wie zur Strafe für all die Verbrechen zwischen Felsenmauern zerdrückten Korsarenschiffes gewesen.

Aber unsere neuen Freunde hier, die kleinen Leutchen, der Republik La Muerta, hatten, nun wußte ich es, Slomans Helfershelfer beobachtet: Die Steinwand war mehrfach photographiert worden, und es fragte sich, ob nicht doch durch photographische Vergrößerungen die zerstörten Worte der Inschrift zum Teil wieder lesbar gemacht worden waren.

Und wenn?!

Half das den Leuten von der eleganten Motorjacht „Missouri“ irgend etwas?!

Gewiß, sie hatten die Gewißheit erlangt, daß es Pierre Lacombes Dreimaster war, der dort in dem düsteren Schlunde ruhte, sie mochten entziffert haben, daß Pierre die Ladung des Schiffes dorthin geschafft hatte, „wo die Küste ihr Felsenmaul öffnet“, – so hieß es vieldeutig auf der steinernen Riesenschiefertafel des letzten großen Flibustiers.

Half ihnen das etwas?!

Aber eines mußte man bedenken, und darüber hatte ich mit Taskamore und Baargö oft disputiert: Die eilige Abreise Slomans hier von der Insel ließ nur die eine Deutung zu, daß Sam Sloman zu wissen glaubte, wo „die Küste das Maul öffnet“.

Wo?!

Auch die Frage war erörtert worden, und hierbei hatte Helen Gart erklärt, vielleicht handele es sich um jenes „Tor des Meeres“, das weit westlich der Hafenstadt Truxillo seit langem als kleines Naturwunder gelte, jedoch sehr selten besucht würde, weil der Küstenstrich äußerst ungesund sei und das „Tor des Meeres“ selbst Gefahren böte, die in ihrer Art unberechenbar seien.

Weder Kamo noch ich kannten dieses Naturwunder. Ich hatte einmal früher irgendwo davon gelesen, aber die Einzelheiten waren mir entfallen. Nur Axel Baargö wußte Bescheid und hatte rund heraus behauptet, es sei ausgeschlossen, daß Pierre Lacombe dort seine Schätze versenkt habe.

Dreimal war er dort in vorsichtiger Entfernung vorübergekommen, erzählte er uns, und nicht für Millionen würde er sich dem Riesenloche nähern, in das zur Zeit der Flut das Meer hineinstürze wie ein ungeheurer Katarakt – mit einem Getöse, das meilenweit zu hören sei.

„Pfad zur Hölle“ nannten die an der Küste wohnenden Ladinos, die Mischlinge, dieses Naturwunder.

Keiner hatte je die Randfelsen und die kahlen Höhen in der Nähe erstiegen. Unendlich grauenvoll sollte der Ort sein, und geheime, finstere Mächte sollten jeden Fremden vernichten, der den Pfad je betrete. Durch die düsteren Felsmauern sollte er sich von Norden her an das gigantische Becken heranschlängeln. Vier Forscher verschiedener Nationen sollten dort samt Begleitung verschwunden sein, und die Regierung von Honduras hatte daraufhin erklärt, in dieser Angelegenheit nichts tun zu können. Ihre Beamten weigerten sich, den Höllenpfad zu betreten.

Daß unter diesen Umständen ein Blatt von der Bedeutung des New Orleans-Recorder darauf Wert legte, dieses unheimliche Naturwunder einmal gründlich nachprüfen zu lassen, war begreiflich. Einer der verschwundenen Gelehrten stammte aus New Orleans. Daß die Zeitung aber ein Mädel mit dieser Aufgabe betraute, daß Helen Gart das bezwingen sollte, was Männern mißglückt war, konnte nur zwei Gründe haben. Einmal den, weil eine so jugendliche Reporterin nicht viel kostete, dann aber, weil dieselbe schneidige Miß das Zeug dazu hatte, Schwierigkeiten zu überwinden, an denen die Gelehrten gescheitert waren.

Helen, dieser kupferrote Wuschelkopf mit dem impertinenten Stupsnäschen, hatte in Truxillo sehr bald den richtigen Verbündeten gefunden, wie ich schon erwähnte: Axel Baargö! – Aber dann war Sam Slomans Jacht im Hafen erschienen, und Helen Gart und Axel nahmen zunächst diese Fährte auf, kamen nach La Muerta und vereinigten sich mit uns.

Für Taskamore und mich spielten die sagenhaften Schätze des Flibustiers keine Rolle.

Gold?! – Was sollten wir damit?!

Etwa in einem Luxusauto durch die Gegend schaukeln und morgens den Masseur, die Maniküre, den Sekretär empfangen und in einem feudalen Palais uns aufmästen?!

Der Gedanke an ein seßhaftes Leben für uns beide war grotesk.

Ganz abgesehen, von den liebenswürdigen, polizeilichen Drucksachen, die immer noch wegen der Kanada-Affäre hinter uns her flatterten, – ganz abgesehen von dem anderen noch nicht erledigten Steckbrief, der hurtig und zäh wie ein begehrlicher Maikater mir folgte!

Nein, Pierre Lacombes Schätze, falls vorhanden, sollten vor uns sicher sein! Mit Axel und Helen war es in dem Punkte eine andere Sache. Für die beiden und auch für Margot wünschte ich mir einen vollen Erfolg.

Kamo und ich hatten lediglich mit Sloman wegen der heimtückischen Mordversuche abzurechnen. Und das würde geschehen. –

In jedem Falle wollten wir uns den Höllenpfad und das „Tor des Meeres“ einmal ansehen.

… Taskamore tritt zu Margot und der winzigen Fürstin. Wir sind hier neu eingekleidet worden. Die Republik besitzt zwei Nähmaschinen, und die beiden Anzugkünstler sind erstklassig.

Dann sagt Kamo mit einiger Ungeduld:

„El Gento, – – Schluß! Wir wollen doch heute das Wrack in der Schlucht gründlich durchsuchen.“

 

6. Kapitel.

Besuch bei Pierre Lacombe.

Ausgerüstet mit Laternen, Brecheisen, Tauen, gut bewaffnet und in den Feldflaschen eine Herzstärkung, schreiten wir gebückt durch die geheimen Dschungelpfade.

„Alles wiederholt sich im Leben“, – oder „Es gibt niemals etwas wirklich Neues“, – diese Äußerung des weisen, vielzitierten Ben Akiba fällt mir ein, als wir diese lichtlosen, dämmerigen Dschungelstollen entlangeilen.

Es war einmal in Afrika, dort, wo Abessinien seine Südausläufer in die Steppe schickt. Es war da ein hohler Berg, es waren da zahme Paviane und eine Königin der Unterwelt, und dort in der Nähe hatte ich auch ein Versteck, zu dem nur ein solcher Pfad unsichtbar hinlief.

Es war …

Vieles war …

Aber die Vergangenheit greift immer wieder in die Gegenwart hinüber, und auch damals handelte es sich um eine starknervige, kraftvolle Engländerin, die ein seltsames Leben führte, noch seltsamer als das Margot Sheridans in dem großen verwunschenen Maya-Schloß mit seinen Giftschlangen und Riesenschlangen und zahmen Pumas.

Puma …!

Ein Wort durchzuckt das Hirn, und das Wort weckt Schmerz.

Hondu ist tot.

Hondu war kein schnurrendes Kätzchen, war Raubtier bis zuletzt. Daß er unter Sam Slomans Kugeln verreckte, vergesse ich nie.

Kamo und ich treten lautlos aus dem Dickicht ins Freie und horchen.

Vor uns liegt eine kleine Steppe mit Büschen und einzelnen Bananenstauden.

Vanillesträucher duften hier, ein paar Mahagonibäume stehen stolz mitten im Buschwerk, ein einzelner Jakarandabaum, der das Palisanderholz liefert, läßt seinen Blattschmuck im leichten Winde erschauern – wie jene Zitterespe, der man[4] nachsagt, sie sterbe ab, wenn etwas Unreines sie berühre.

Wir horchen. Wir sind so daran gewöhnt, selbst der friedvollsten Landschaft nicht zu trauen, daß wir stets all jene Zeichen beachten, die uns warnen können.

Wanderer abseits vom Alltag sind wie jene zerlumpten Tippelbrüder, denen die Landstraße Heimat geworden und die in der freien Natur ebenfalls eines lernen: Beobachten!

Taskamore blickt still umher.

Sein Gesicht ist wieder braun und frisch wie einst. Seine Gestalt hat die frühere Spannkraft zurückgewonnen. Seinen dunklen Augen entgeht nichts.

Wir sehen Bienen schwärmen, Schmetterlinge gaukeln, und ringsum ertönt zuweilen der seltsame Ruf des Kursal, jenes Vogels, den die Republik Guatemala in ihr Staatswappen übernahm.

Ein Gürteltier streicht mit leisem Rasseln über die Lichtung, Ratten huschen durch die Gitter der Luftwurzeln, Beutelratten blinzeln scheu aus ihren Erdlöchern.

Wir wenden uns der Schlucht zu.

Am Rande der von Vögeln weiß gekalkten Felsen, die jäh in die Tiefe abstürzen, machen wir abermals Halt.

In der halben Finsternis dort unten erkenne ich undeutlich die Umrisse des zerdrückten Schiffes. Die Masten sind abgebrochen, längst verfault, aber der Rumpf, aus Eiche gezimmert, spottet der Nässe und Moderluft.

Der Bach dort in dem Schlunde fließt gurgelnd und plätschernd unter dem Wrack hinweg.

Ein leises Lachen perlt aus dem Dunkel, ein Laternenlicht glüht auf, und Helen Gart ruft uns zu:

„Bitte, – – willkommen! Die Strickleiter hängt dort rechts.“

Als wir auf den feuchten Planken zwischen Erdklumpen und Geröll stehen, erscheint Axel Baargö keuchend aus einer Luke.

„Die Kajüten sind nicht betretbar, Olaf … Alles nur Balkentrümmer.“

Die Laterne hängt ihm vor der Brust, und sein Anzug ist nicht mehr salonfähig.

„Siehst du schmierig aus!“, sagt Helen entsetzt und klopft sich dann lachend auf den Mund. „Ich wollte „Sie“ sagen, Herr Baargö … Sie nehmen es doch nicht übel?!“

„Schwindler!“, sage ich.

Das Pärchen senkt die Köpfe und dann gibt Helen ihrem Axel einen Kuß.

„Verlobt!“, erklärt sie feierlich.

„Wir werden sehen …!“ sagt Freund Kamo nur.

„Oh, – Sie sind … ein Scheusal, Taskamore!!“, fährt die temperamentvolle Miß ihn bissig an.

Und … dabei zuckt es um ihre Mundwinkel, und als Nachsatz folgt: „Aber ein liebes Scheusal, fast so lieb wie Axel!“

„Oho!“, protestiert der semmelblonde Kamerad.

Und das Ende ist ein neuer Kuß.

„Oder schon getraut nach dem einfachen Gesetz der Republik La Muerta?!“, meint Taskamore erheitert und anzüglich.

Helen dreht sich rasch weg.

Axel stottert eilfertig: „Übrigens hat Helen hier vorhin eine äußerst seltsame Entdeckung gemacht, Taskamore …“

„Hm – wohl die, daß diese Schlucht für Liebende ein äußerst verschwiegenes Plätzchen ist. – Ihre Entdeckung, Helen, – wie lautet sie?“

Ob wohl je dieses Flibustierschiff derartiges erlebte?!, fragte ich mich und räume mit dem Fuße den Schutt etwas weg, um die Felswand etwas besser beleuchten zu können.

Dabei bleibt ein Stück Moos hartnäckig an meiner geschnürten Gamasche hängen – so hartnäckig, daß ich mich bücke und es mit dem Finger wegstreife.

Ich spüre etwas Klebriges, hebe die Moosplatte empor und betrachte sie genauer. Die Wurzelseite ist wie mit feinen Fäden überzogen: Kleister!! – Diese Art Klebstoff kenne ich, kennt jeder, nur Syndetikon zieht solche Fäden infolge seiner starken Klebkraft.

Diese Beobachtung setzt mich so in Erstaunen, daß ich zunächst keinerlei Worte dafür finde.

Plötzlich steht Helen neben mir.

„Haben Sie es auch entdeckt, Olaf?!“ Etwas wie Enttäuschung klingt durch ihre hastige Frage und läßt mich aufblicken.

Taskamore und Axel gesellen sich uns zu, und vier Menschen, denen der Wind des Lebens das Hirn von Alltagsstaub befreite, erörtern die merkwürdige Tatsache, daß alle von uns damals von den Buchstaben abgekratzten Moospolster diese Schicht Leim zeigen – alle!

Helen legt den Zeigefinger bedeutsam an das Stupsnäschen und sagt:

„Detektivinstinkt!! Als Reporterin bin ich halber Detektiv! Meine Herren, die Moosstücke sind absichtlich aufgeklebt worden, – schon lange ist es her … Einige fielen wieder ab. Andere blieben haften … – Es war jemand vor Ihnen hier unten, Taskamore.“

„Ja, unsere Zwergenfreunde“, nickt Kamo zerstreut. „Aber die haben nicht Klebstoff benutzt, die belügen uns nicht … Es sei denn, daß …“ – und er bricht mitten im Satz ab und fügt hinzu: „Wir werden sehen …“

Axel Baargö ist Feuer und Flamme für Helens Ansicht.

„Natürlich, jemand war hier, schrieb die Inschrift ab und verbarg sie unter den Moosstücken. Mithin hat Mr. Sam Sloman heftige Konkurrenten, die vielleicht schon „das Maul der Küste“ fanden und Pierre Lacombes Schätze sich aneigneten – – schade!! Da kommen wir bestimmt zu spät.“

Meine Gedanken behielt ich für mich.

Die vier verschwundenen Gelehrten fielen mir ein, und meines Erachtens gab es für ihr Verschwinden nun eine sehr einfache und befriedigende Lösung.

Ich kletterte in die Luke hinab, nachdem ich noch einen prüfenden Blick über die unheimliche Umgebung geworfen hatte. Die tiefe Schlucht, mit ihren triefenden, teilweise bemoosten Steilwänden und den von oben herabhängenden Blütengirlanden schnell verwelkter Lianen, deren Familie ja aus ungezählten Arten besteht, – dazu dieses Wrack, diese faulenden Baumstrünke, diese Haufen stinkenden, moorigen Strauchwerks, konnten selbst die trägste Phantasie zu beklemmenden Gedanken anregen.

Ich dachte an die Pest, die hier an Bord gewütet hatte, an den berüchtigten „Schwarzen Tod“, der früher einmal so und so viele Segelschiffe als steuerlose Irrfahrer nach Hinsterben der Besatzung durch die Ozeane taumeln ließ.

Pierre Lacombe hatte als einziger dem asiatischen Würger getrotzt und seinen Raub irgendwo an unzugänglicher Stelle verborgen. – Offenbar mußten über diese Tragödie des letzten Flibustierschiffes doch noch irgendwie Nachrichten in die alten Archive der Hafenstadt New Orleans gelangt sein. Wie wäre sonst Sam Sloman auf den Gedanken gekommen, hier die Bai-Inseln zu besuchen?!

Unendlich viel Unklares gab es noch bei alledem.

Ich stieg die noch gut erhaltene Lukentreppe hinab und befand mich inmitten eines wüsten Durcheinanders von Balken, Spanten, Eichenbrettern und verrosteten Kanonen.

Es war das Geschützdeck des Piratenschiffes, und wie stark armiert Pierre Lacombes[5] Dreimaster gewesen, bewiesen schon die Unmenge von alten, langen Kanonen auf plumpen Lafetten.

Vergangenheit ward hier lebendig. Ich besann mich, wie ich einst als Knabe mit glühenden Wangen Coopers „Roten Freibeuter“ verschlungen hatte, – ich besann mich auf zahllose Seeromane, die vielleicht meine Vorliebe für das Meer mit gefördert hatten. Ich war an der See aufgewachsen, der Hafen von Malmö war mein Tummelplatz gewesen, und draußen zwischen den Felsinseln hatten wir Knaben die blutige Romantik der Korsarenzeit in harmlosem Übermut und mit schlichten Behelfsmitteln wieder aufleben lassen.

Der Schein meiner Laterne glitt über diese Trümmer hin, fiel auf ein paar menschliche Gebeine, – ein Totenkopf lag grinsend zwischen Balken festgeklemmt, und eine Ratte fuhr blitzschnell neben dem Schädel in die Finsternis und stieß einen hellen Pfiff aus.

Eine unangenehme Kühle herrschte hier.

Der Modergeruch schien geschwängert mit Bazillen, die unsichtbar auf mich zuzukriechen sich bemühten, – es waren nur aufgescheuchte Ratten, die mit glühenden kleinen Augen in der Finsternis hockten.

Über mir am Deck hörte ich die Stimmen der Freunde. Sie kamen wie aus einer fernen Welt, saftlos, kraftlos, getötet durch meine überreizten Nerven, die nach dem langen Krankenlager doch noch nicht die frühere Widerstandsfähigkeit erreicht hatten.

Der tanzende Lichtschein traf rote, rostige Kanonenkugeln, verrostete Flintenreste, Säbel, Hellebarden.

Aber mich trieb es dorthin, wo Pierre Lacombes Kapitänskajüte gelegen haben mußte. Der Zugang vom Deck war versperrt. Ein Felsen hatte das Deckhaus unter sich begraben.

Mit zäher Energie schlüpfte ich durch das Gewirr von Balken, fand einen freieren Raum, klemmte mich von neuem durch Zäune von Gebälk und stand vor einer Reihe von Brettern, die nur, einst eine Holzwand, leicht verschoben waren. Ich packte das eine Brett mit beiden Händen, riß es zurück, – es gab nach, und ich flog nach hinten, ich schlug mit dem Kopf auf, und – meine Laterne erlosch.

Bevor ich noch nach dem Feuerzeug in die Tasche langen konnte, blinkte in der Öffnung, die durch das losgesprengte Brett entstanden, ein matter Lichtschein auf.

Gelb und fahl …

Wie ein faulender Weidenstumpf.

Lichtlos war dieses Licht, war nur wie ein Schimmer aus fernen Ewigkeiten …

Und verschwand allmählich, so, wie eine kleine Kerze stirbt.

Trotzdem hatte ich drüben eine Gestalt wahrgenommen, die sich bewegte, die dann zusammensank und den Kopf auf die Hände fallen ließ.

Ich stand ganz still.

Das Blut wogte mir in den Ohren, ich fühlte mein Herz pochen, es beruhigte sich wieder, und meine Finger drehten das Stahlrädchen, ein Flämmchen sprang empor, das Feuerzeug brannte, und dann auch die Laterne.

Merkwürdig, daß sie überhaupt erloschen war. Es war eine Karbidlaterne, Andenken an den sechsten Erdteil, an so manche Stunde, angesichts der Feuer der Ewigkeit. Sie war so zuverlässig, diese Laterne, und ich liebte sie fast, denn sie hatte mir Licht gespendet bei meiner stillen Schreibarbeit – so und so oft. – Weshalb erlosch sie hier?! Wollte sie mich warnen?! Wovor?! Wie kam der gelbliche Lichtschein dort in die verrammelte Kajüte? Wer war der Mann, der dort am Tische zusammensank und noch dort saß?!

Der weiße Lichtkegel traf die Öffnung, bohrte sich hinein in die Finsternis und enthüllte den Schmuck der Kajütenwand: Waffen, ein altertümlicher Schrank, ein Brett mit Büchern und nautischen Instrumenten einer verflossenen Zeit.

Die Gestalt blieb im Schatten. Ich sah nur den gekrümmten Rücken, dazu eine graue Haarmähne.

Ein Toter?!

Aber zur Mumie vertrocknet?! Kein Skelett wie die Gebeine dort hinter mir zwischen den Trümmern?

Ich trat näher.

Tote sind tot. Einen Geist habe ich noch nie gesehen. Und die, die sich lebend als große Geister aufspielten, waren zumeist eingebildete Scharlatane.

Der Lichtkegel traf den Tisch.

Da saß wirklich vornübergefallen ein Mann in altertümlichem Anzug, – Kniehosen, Schnallenschuhe, Lederwams, – alles halb zerfetzt, brüchig, vermodert. Der Schlapphut war ihm nach vorn gerutscht, der Hinterkopf lag frei, der Hals und das Genick waren wie vertrocknetes, dunkles Holz.

Ich schob mich durch die Öffnung, und ein scharfer Kampfergeruch strömte mir entgegen. Mißtrauisch ließ ich den Lichtschein wandern. Rechter Hand war eine Tür, halb offen, dahinter der Schiffsgang der Heckräume.

Die Laterne senkte sich … Der geteerte Boden zeigte nur die Fugen der starken Dielen und einen zerschlissenen Teppich, keinen Staub, also auch keine Spuren.

Und doch war ich überzeugt, daß der Tote dort am Tisch hier nicht allein gewesen, als ich den seltsamen gelben Schein gewahrte. Ich hielt die Laterne in der Linken, zog die Pistole und näherte mich der offenen Tür. Ich wollte mir den Rücken decken bei meinen weiteren Nachforschungen.

Die Tür aus schweren Eichenplanken, reich mit Kupfer beschlagen, drehte sich spielend leicht in den alten, plumpen Gelenken.

Die Gelenke waren frisch geölt.

Also doch!! Es war jemand hier gewesen.

Nun – die Sache hatte Zeit.

Ich schob die beiden Riegel vor, – nein, ich mußte mit der Faust hämmern, ehe sie sich bewegten.

Dann erst wandte ich mich dem Toten zu.

In demselben Augenblick fiel ein zweiter Lichtschein in die geräumige Kajüte.

Taskamore stand vor mir. Sein Gesicht mit den scharfen Zügen verriet eine gewisse Unruhe.

„Du hättest dies nicht allein wagen sollen, Olaf“, meinte er mit leisem Vorwurf. „Wir oben an Deck sahen im Dämmer der Schlucht eine Gestalt in einem langen Mantel davonhuschen. Es ist hier nicht alles so, wie es sein sollte … Wir werden sehen.“

Er musterte den Toten.

„Lacombe vielleicht?!“

„Ich weiß nicht … – möglich.“

„Und der Kampfergeruch?“

„Vergiß nicht die Pest hier an Bord, Kamo. Damals kannten die Leute als Desinfektionsmittel nur den Kampfer.“

„Das ist keine Erklärung dafür, daß der Geruch sich so lange gehalten hat“, meinte er fast schroff. „Die Holzverkleidung der Kajüte zeigt gewisse Muster – sieh hin. Es ist Kampferholz.“

Meine Aufmerksamkeit galt mehr dem großen Tische und der stillen Gestalt.

Es war ein sehr großer Tisch mit niederem Aufsatz und reichen Goldbeschlägen. Papiere, Flaschen, Gänsekiele, eine Pistole, ein paar Bücher lagen auf der Tischplatte bunt durcheinander.

Die größte Flasche war verkorkt und enthielt noch einen Rest einer dicken Flüssigkeit. Ich zog den Stöpsel heraus, roch und taumelte zurück. Die Flüssigkeit war eine Kampferlösung mit irgend einer noch schärferen Beimengung.

Mir tränten die Augen, aber der Kopf wurde mir merkwürdig klar.

Taskamore hatte mich still beobachtet.

In seiner ruhigen, selbstverständlichen Art hob er nun den Kopf und Oberleib des Toten empor. Dabei rutschten die Beine und der Unterleib gleichzeitig halb von dem geschnitzten Stuhl. Die Mumie war eben steif wie ein Brett.

„Schiebe den Stuhl zurecht, Olaf …!“

Nun ruhte der Tote hintenüber gelehnt, und die gekrümmten Beine schwebten in der Luft.

Wir sahen das eingetrocknete, braungelbe Gesicht mit dem grauen dicken Schnurrbart und dem grauen Knebelbart. Die Augenlider waren geschlossen. Obwohl die Mumie den Gesichtsausdruck des Lebenden nur schwach beibehalten hatte, erkannten wir in diesen vertrockneten Zügen die klaren Anzeichen eines stolzen, herrischen, brutalen Charakters.

Der Mann sah aus wie ein altfranzösischer Edelmann.

„Lacombe?!“, sagte Taskamore nochmals zweifelnd.

Ich hatte mich über den Tisch gebeugt und das halb beschriebene, vergilbte Blatt überflogen. Daneben lag eine Feder, ein Gänsekiel.

In zitterigen, aber dennoch dick hingehauenen Buchstaben las ich – französisch – das Folgende:

Der schwarze Tod hat nun auch mich erfaßt. Pierre, Marquis de la Combe ist nicht der Mann, das eigene Verrecken abzuwarten. Ich werde die Medizin trinken, die mir die Qualen erspart und meinen Leib gegen die Verwesung schützt. Meine Schätze ruhen im Höllenrachen, mein stolzes Schiff in finsterer Kluft, und mein Schiff soll mein Sarg werden. Mein Leben war reich, denn es war Erleben, und den Tod habe ich nie gefürchtet. Die Narren da draußen nennen mich den letzten Flibustier. Sollte einer dieser Narren mich je finden, mag er meine Leiche lassen, wie und wo sie ist.

Habt Ehrfurcht vor dem Tode, oder mein Fluch wird euch treffen!

Pierre, Marquis de la Combe.
Kapitän des Dreimasters „Seeigel“.

 

7. Kapitel.

Das Gespenst des „Seeigel“.

Taskamore ließ sich es übersetzen, nickte kurz, brachte den Toten wieder in die alte Stellung und wandte sich der Tür zu.

„Gehen wir, Olaf!“

Ich zauderte.

„Und der Fremde, der hier war?!“

Kamos Mund verzog sich. „Wir finden ihn! – Habt Ehrfurcht vor dem Tode! Gehen wir!“

Er schlüpfte durch die Öffnung.

Was er nicht ausgesprochen hatte, erriet ich. In seinen Adern rollte das Blut jener Abenteurer Gebrüder Tounens, von denen der Ältere Kaiser von Araukarien ward und als seinen Nachkömmling meinen unvergeßlichen Coy hinterließ, der andere Tounens war Taskamores Großvater. – Das französische Blut verleugnete sich bei Kamo nie. Es war das Blut jener französischen Normannen, die einst selbst Seeräuber, Frankreich die hervorragendsten Kämpfer lieferten. Und weil Pierre Lacombe, in Wahrheit Marquis de la Combe, ebenfalls Franzose, mochte mein Freund die Ruhe dieser Mumie nicht stören.

Ich blieb. – Es war nicht Neugier, die mich die Kajüte sorgfältiger durchsuchen ließ. Es war lediglich der erklärliche Wunsch, herauszufinden, was der Fremde hier gewollt, und wie er das Wrack verlassen hatte.

Der Schreibtischaufsatz war leer. Die verquollenen Schiebladen enthielten nichts. Die Waffen und Schränke reizten mich nicht weiter. In einigen Schränken hingen Kleider, die wie Zunder auseinanderfielen, als ich sie berührte.

Ich schob die Riegel der festen Tür zurück und leuchtete in den Gang hinein. Hier lagen nur wenige Trümmer. Der Hauptdruck der Felsen hatte den „Seeigel“ mittschiffs getroffen.

Eine Treppe führte zum zweiten Kanonendeck, wo ich nur alte Geschütze antraf, eine zweite in den Lade- und Ballastraum.

Der Dreimaster führte als Ballast im Kielraum Ledersäcke, die mit Sand gefüllt waren.

Ratten überall …

Wie huschende Schatten.

Das ekle Viehzeug mußte doch irgendwie Verbindung nach außen haben. Viele der Ballastsäcke waren zernagt. Zwischen den Säcken sah ich Rattennester mit nackten, krabbelnden Jungen. Gesprungene Kanonen und brüchige Lafetten vervollständigen dieses Bild einer wilden Vergangenheit.

Es war wie eine fremde Welt, dieses Wrack, und der Spuk des Verflossenen, Gewesenen, lebte in mir auf in bunten, blutigen Szenen, die meine Phantasie mit Leichtigkeit schuf. In dieser Umgebung hätte ein Künstler die Geschichte der Seeräuberromantik schreiben sollen.

Dann ein Stutzen …

Ein scharfer Blick …

Im Sande eines geborstenen Sackes eine Fußspur, ganz frisch.

Und ich, schließlich kein Neuling in derlei Dingen, beäugte die breite, plumpe Spur und wußte nun Bescheid.

Also der war es! Der ging hier seine eigenen Wege!

Gold lockt …

Dummer Teufel, du wirst nichts gefunden haben, und daß du deine Laterne gelb verhüllt hattest, und im Schatten bliebst, als du Pierre Lacombe in den Stuhl zurückfallen ließest, erklärt den Rest.

Ich wanderte weiter, – die Vergangenheit einer wilden Zeit begleitete mich, und mein Geist stand unter dem Einfluß dieser Zeugen des Einst.

So kam ich an die Stelle, wo die Felswände die Eichenplanken wie Streichholzschachteln eingedrückt hatten.

Blieb stehen …

Vor mir ein Loch im Schiffsboden, ein zackiger Stein darin wie ein Torpedo, und doch noch Raum genug, unten den plätschernden Bach zu erkennen, der im Laternenlicht glänzte und schillerte.

Und hier eine zweite Fußspur …

Dummer Teufel, aber auch schlauer Teufel!! Er war unter dem Wrack entlanggekrochen, hatte das Loch gefunden und Pierre Lacombe vor uns besucht.

Und auf diese Weise war er geflüchtet.

Hättest getrost bleiben können! Wir reden doch darüber, mein Freund! –

Ich kehrte um.

Aber an Deck saß nur noch Taskamore auf der Reling, die Laterne neben sich, rauchte und meinte in seiner gutmütigen, überlegenen Art:

„Na, hast du das Loch im Schiffsboden gefunden?!“

„Ja, und Fußspuren …“

„Du brauchst mir nicht zu sagen, von wem … – Helen und Axel sind in den Sonnenschein emporgestiegen. Kinder der Liebe sollten nur die Sonne aufsuchen. Diese Schlucht ist kein Ort für Zärtlichkeiten. Gehen wir.“

Als wir droben in der Wärme, im Grünen und in der frischen Luft angelangt waren, zog Kamo die Strickleiter ein.

„Pierre de la Combe soll nicht mehr gestört werden, El Gento.“ Sein Gesicht war ernster denn je. In seinem Herzen mochte die Erinnerung erwacht sein an seinen Ahn Tounens, den Entdecker des Yellowstone-Parkes.

„… Wir werden nun La Muerta verlassen … Sam Sloman wird über Kugeln und Messerstiche Rechenschaft ablegen müssen. Wir finden ihn.“

Eine andere Welt war um uns.

Mir war es, als sei ich einer Gruft entstiegen, in der in langer Reihe Sarg an Sarg stand – mit Kupfertafeln und eingravierten Namen und Daten, und diese Särge waren die Erinnerungen gewesen an die Geschichte Amerikas seit Kolumbus’ erster Reise und seit den schmachvollen Raubzügen gegen die roten Ureinwohner. Europäer hatten die Indianer ausgeplündert, andere Europäer hatten dann den goldbeladenen Schiffen aufgelauert und die neuen Kolonien auf blutgetränktem Boden überfallen. Die Geschichte Amerikas ist mit Blut geschrieben, und das letzte Blatt dieses Buches, das eine Schande für Europa bedeutet, enthält die verächtliche Prämie: Fünf Dollar für jeden Indianerskalp!!

Ich atmete freier, und die beschämende Last dieser Vergangenheit und die nicht minder erregende letzte Stunde im Bauche des „Seeigel“ zerrann vor der tropischen Fülle, der Pracht dieser fast unberührten Natur.

Der dämmernde Dschungelpfad nahm uns auf, und als wir das kleine Reich der zierlichen Fürstin Anita Galibin betraten, flog Margot mir leichtfüßig entgegen. Ihr Antlitz zeigte die Freude, daß wir den Besuch bei Pierre Lacombe glücklich hinter uns hatten.

„Habt ihr etwas gefunden?“

„Ja, – ihn!“

Mein Bericht war kurz.

Doktor Goliath stand mit seinem altklugen höflichen Lächeln dabei, und die zierliche Puppe Anita lauschte voller Interesse.

Mein Blick flog hinüber zu Gottlob Himmels weit größerem Bambushause. An einer Leine hing zum Trocknen der Herr Minister – seine Uniform.

Margot lehnte sich leicht an meine Schulter.

„Olaf, wer war der Fremde?“

Taskamore rief mit eherner Stimme über die Lichtung:

„Hallo, – Himmel!!“

Himmels Tür tat sich auf, und in hellem Leinenanzug watschelte der Goldzahn auf uns zu.

Seine rotblaue Nase war melancholisch in Falten gelegt, und seine Schweinsäuglein suchten den Boden.

Freund Kamo legte ihm schwer die Hand auf die Schulter.

„Himmel, Sie waren im Wrack … Die Laterne hatten Sie mit derselben gelben Seide umhüllt, die jetzt Anitas schlanke Gestalt umschmiegt.“

Gottlob Himmel hob den Schädel mit der roten Mitteltolle und feixte verlegen.

„Ich war … neugierig, Taskamore.“

„Das waren wir auch“, nickte Kamo. „Haben Sie etwa das Moos angeklebt?“

Gottlob Himmel schaute recht verständnislos zur Sonne empor, wo ein schönerer Himmel wolkenlos sich ausspannte, zwinkerte mit den pfiffigen Augen und wiederholte staunend:

„Angeklebt?! – Nein … Ich habe mir nur einen von Pierre Lacombes Mänteln umgehängt … Aber das Ding war nur noch Mottenkolonie und zerfiel. Ich bekam einen höllischen Schreck, als ich Olaf draußen zwischen den Trümmern gewahrte, und meine schöne Uniform … – na, da weht sie im Winde.“

Er log nicht.

„Wir werden sehen …“, meinte Kamo und schritt dem Zelte zu.

Himmel blickte ihm mißtrauisch nach.

„Ich habe wirklich nichts als den Mantel aus der Kajüte mitgenommen, Olaf … Was heißt das: Wir werden sehen?! Die Mumie da unten ist sehenswert, und die Kanonen könnten wir hierher schaffen, Fürstin … Ich werde Pulver besorgen, und falls je unser Staat angegriffen werden sollte, …“

Die schlanke kleine Fürstin, die heute in losem Seidengewand wie ein wundervolles Zierpüppchen ausschaute, zog die Oberlippe hoch, und ihre Augen unterstrichen ihren Befehl:

„Das Wrack wird nie mehr betreten, – merken Sie sich das, Gottlob Himmel, – nie mehr!“

„Wie Sie wünschen …“, brummte der einsame Goldzahn. „Nur, – was hat das mit dem aufgeklebten Moos auf sich?“

Helen und Axel näherten sich, wie stets, etwas befangen.

Anita Galibin errötete flüchtig. Sie hatte noch immer nicht ganz überwunden, und Doktor Goliath zog ein schiefes Gesicht. Er war neben Anita hier in diesem idyllischen Zwergenreich die maßgebende Persönlichkeit, und daß sein wackeres Herz Anita gehörte, ahnten wir längst.

Taskamore rief uns zu sich.

Vor dem Zelt begann die große Erörterung unserer Pläne.

Helen Gart war sofort einverstanden.

„Brechen wir noch heute auf …! Axel meint, der Ostwind bleibt beständig … Ich teile auch Olafs Ansicht, daß Sloman am „Tor des Meeres“ zu finden ist, obwohl die Küste Mittelamerikas mehrere derartige Schlünde aufweist. Man muß jedoch in Betracht ziehen, daß Pierre Lacombe als einzelner Mann mit einem Segelboot den nächsten Punkt der Festlandsküste gesucht haben wird, und das ist …“

„… Der Pfad zur Hölle“, ergänzte ich mit Nachdruck.

Gottlob Himmel bot sich uns als Begleiter an. Anita widersprach. – Inzwischen hatten sich all die kleinen Herrschaften der Kolonie um uns versammelt.

Man bat uns, noch zu bleiben.

Anita Galibin bat nicht.

Ihre grauen Schleieraugen hingen zerstreut an Doktor Goliaths freundlichen Zügen.

Ich wußte: Sie war zu einem Entschluß gelangt. Axel Baargö war romantische Herzensepisode der kleinen Fürstin, – das Allgemeinwohl verlangte auch von ihr eine Entscheidung.

Die Beratung endete damit, daß am nächsten Morgen das Motorboot in See gehen sollte. Axel Baargö hatte sich dafür eingesetzt, und er, der den Golf von Honduras am besten kannte, gab den Ausschlag.

Nachmittags wurde der Proviant an Bord geschafft, dazu Trinkwasser, und – ebenfalls Axels Gedanke – eine der am besten erhaltenen sogenannten Feldschlangen, das sind sehr lange, kleinkalibrige Kanonen, aus dem Wrack des „Seeigel“ nebst drei Fäßchen noch brauchbaren Pulvers, sowie zwanzig Vollkugeln und zwanzig Brandgeschosse, – Hohlkugeln, die sich mit brennbaren Stoffen füllen ließen und die früher gegen Holzschiffe böse Wirkung gehabt hatten.

Das große Motorboot konnte es dann recht gut mit Slomans Jacht aufnehmen, falls es zum Kampfe kommen sollte.

Der Abend gehörte dann unseren kleinen Freunden droben auf der Halbinsel. Vorher hatten Margot und ich noch Hondus Grab besucht, frisch geschmückt und im Abendrot neben dem Hügel gesessen.

Es war eine Stunde der Krise gewesen.

Wir waren allein.

Die Pracht der tropischen Landschaft, die milde Luft, all das Unausgesprochene machten uns stumm und einsilbig. Unsere Gedanken sollten dem toten Hondu gehören, aber das Leben forderte sein Recht, und in unseren Augen war die Tiefe der Geheimnisse gegenseitiger Zuneigung.

Margot Sheridans enttäuschte, herbe Seele konnte nicht Augenblicksrausch spenden. Den Mann, den sie liebte, wollte sie für sich haben, ohne jede Einschränkung, – – und das konnte ich ihr niemals geben, denn mein Dasein war abgebogen von dem breiten Wege alltäglicher Anschauungen und Wünsche zu den engen, wunderlichen, wunderbaren Pfaden derer, die die große gütige Mutter Natur in all ihrer Unbeflecktheit anbeten. Ich hatte es in all diesen Jahren verlernt, den Gedankengängen der großen Herde zu folgen, die im Daseinskampf sich aufreibt und sich einbildet, Meister des Lebens zu sein. Und – eine Frau beständig an meiner Seite?! Eine Lady Margot Sheridan?!

… Auch die kritische Stunde entschwand.

Mit müder Enttäuschung sagte Margot, sich langsam erhebend:

„Gehen wir! – Lebe wohl, treuer Hondu! Für immer!“

Es klang so seltsam.

Ich war bedrückt, noch stiller, und erst der heitere Trubel auf der großen Lichtung, wo die höflichen, lieben kleinen Leutchen das Abschiedsfest für uns vorbereiteten, wo die Sprößlinge stolzer Mütter mir an den Beinen hingen und mit dem alten Onkel Olaf allerlei Unfug anstellten, löste den Druck von meinem Herzen.

Merkwürdig, daß ich so viel Glück bei Kindern und Tieren habe!

Gottlob Himmel stolzierte wie ein Pfau in all seiner Pracht einher und verteilte die selbstgeklebten Papierlaternen an die Drähte.

La Muerta sah eine venezianische Nacht, sah Tänze und Kunstschießen, sah Jongleure und Akrobaten. Die Republik zeigte all ihre Künste, und Gottlobs Goldzahn strahlte stolzer denn je.

Märchenland war es …

Und doch wieder alles im Grunde so nüchtern-sinngemäß. Schiffbruch, Rettung, – – und Arbeitstrieb und Intelligenz schufen ein kleines Zwergenreich, in dem es keinen Hader gab. Fürstin Anita war strenge, gerechte Herrin. –

Ich bin überzeugt, daß La Muerta nach zehn, zwanzig Jahren eine wertvolle Siedlung zumeist normal großer Menschen sein wird.

Ob ich die zierliche Anita und ihren überhöflichen, sehr gemessenen Gatten, Doktor Goliath, je wiedersehen werde, ich weiß es nicht.

Der Glanzpunkt des Festes war die feierliche Eheschließung des jüngsten Brautpaares. Als wir dann frühmorgens, noch vor Sonnenaufgang davonsegelten, standen nur Gottlob Himmel und vier der kleinen Freunde droben auf der Halbinsel und winkten uns nach. Wir hatten bereits nachts Abschied genommen.

Gottlob wischte sich die Augen …

Seine rote Schnürjacke war wie ein heller Fleck im lichten Grün.

Dann entschwand die Insel, und Helen Gart sagte tief aufatmend:

„Wehe dir, Axel, wenn du auch nur ein einziges Mal noch Anita erwähnst! Ich bin schrecklich eifersüchtig!!“

„Ein süßes Dummchen bist du!“, sagte der semmelblonde Kopenhagener fröhlich. „Nun hilf Margot beim Kaffeekochen. Der Honduras-Kaffee ist der beste der Welt, aber Guatemala macht mehr Reklame.“

Taskamore saß da und ölte seine Büchse. Ich steuerte … Der neu errichtete Bambusmast mit dem großen Segel unterstützte wirksam den lärmenden Motor.

Um uns her war die weite, wogende Wasserwüste, und der Sonnenball stand am Horizont wie eine verschleierte Scheibe.

Der Ozean hatte mich wieder, und mein Herz war froh und ohne Sorgen.

Das Märchenland lag hinter uns.

Vor uns – – der Pfad zur Hölle!

Nun, auch die Hölle kapituliert vor zähen Naturen und vor einer gut gezielten Kugel …

 

8. Kapitel.

Das Blockhaus im Höllenpfad.

Wir sahen es zuerst durch das Fernrohr aus sehr weiter Entfernung. Man denke sich einen endlos langen, sumpfigen Küstenstrich ohne ins Auge springende Veränderungen dieser grünen Linie, die sofort in die gurgelnde See übergeht. So das richtige Fieberland, wo die ungeheure Hitze Milliarden von Moskitos und Fiebermiasmen ausbrütet. Und inmitten dieser gefährlichen Eintönigkeit plötzlich ein kahles Bergmassiv, das sich drohend mit einer fast genau abgezirkelt halbkreisförmigen Wand in den Ozean vorschiebt – nicht wie Bollwerk aus Granit, sondern wirklich wie ein auf den ersten Blick überraschend schön wirkendes gezacktes Tor. Die halbkreisförmige Wand ist nämlich – Spiel der Natur, – durchlöchert, oben mit einem Torbogen, unten als Grotteneingang tief in die See hinabreichend, und doch keine Grotte, sondern nur eine durchlöcherte Mauer. Denn das, was hinter der Mauer liegt, ist eine Lagune, umgeben von Bergen, deren abschreckende Kahlheit all der Fruchtbarkeit der Tropen spottet.

So sahen wir das Tor des Meeres von weitem.

Es war gerade die Zeit der Flut, und die Wogen ergossen sich unaufhörlich durch das vielleicht zweihundert Meter breite Loch in die Lagune und füllten sie, bis ihr Wasserspiegel mit dem des Meeres eine Höhe hatte.

Es ist für den unbefangenen Beschauer nur ein seltsamer, keineswegs erschreckender Anblick, wenn auch das Getöse der Wassermassen meilenweit dringt.

Das Gefährliche des Naturwunders liegt in anderer Richtung, nämlich in den Tiefen des Ozeans, der – bisher unaufgeklärt – mit erstaunlich starker und rascher Strömung von allen Seiten auf das Felsentor zudrängt.

Axel Baargö ließ, obwohl wir fast eine Meile entfernt waren, den Motor rückwärts laufen, warf ein Blatt Papier ins Wasser, und das Papier trieb der Küste zu – immer schneller, immer schneller …

Wir wußten genug. Man brauchte auch nur die niederen Riffstreifen vor dem Felsentor zu beobachten, nur die Gischtstreifen dort: Ein Schiff, das dieser Strömung zu trotzen hoffte, mußte an den Zähnen des Ozeans zermalmt werden!

Nicht lange und unser Boot drohte, trotz der wütend arbeitenden Schraube den unsichtbaren ziehenden Fäden zu erliegen.

Axel rief ernsthaft besorgt: „Es ist heute schlimmer denn je! – Hoch mit dem Segel, Taskamore, ich habe keine Lust …“

Helen hatte das Glas noch in der Hand.

„Ein Wrack!“, schrillte ihre Stimme. „Ein Wrack, dort vor uns zwischen den Riffen …!“

Die Arme sanken wieder herab, das Segel flatterte …

Wir starrten hinüber.

„Dort rechts, wo der weiße Gischt so besonders hoch emporleckt!“, meldete Helen Gart, fiebernd vor Aufregung. „Schaut genau hin … Ihr seht noch den gelblichen Anstrich und den kurzen, dicken Schornstein! Es ist die Jacht „Missouri“, es ist das, was von ihr übrig blieb!“

Kostbare Sekunden verloren wir.

Mochte Sam Sloman an uns auch wie ein Schuft gehandelt haben, – – das Schicksal dort, das wohl alle Leute der Jacht dem Ozean geopfert hatte, hatten die meisten kaum verdient. Undenkbar war es ja, daß sämtliche Matrosen und Begleiter Slomans mit diesem heimtückischen Angriff auf uns einverstanden gewesen waren! Nach Helens Angaben befanden sich außer Sloman und Frau und Tochter noch zwei befreundete, sehr angesehene Familien aus New Orleans an Bord, außerdem drei Gelehrte, und die Besatzung, hatte Helen in Truxillo ausgekundschaftet, waren mindestens zur Hälfte bester Seemannsschlag.

Kostbare Sekunden …

Erst Axels erneuter Warnungsruf ließ uns an unser eigenes Geschick denken.

Der Wind hatte mitgeholfen, die Arbeit der Schraube herabzumindern, – – wir trieben vorwärts, wir sahen es, wir ließen schleunigst den Wind das Segel füllen, steuerten parallel zur Küste, – was irgend Arme hatte, griff sogar zu den langen Rudern, und wie das drohende Brüllen eines Untieres erscholl neben uns das Tosen und Brausen der Brandung und der stürzenden Wasser.

Minuten angstvollster Spannung kamen.

Immer wieder maßen wir mit den Augen die Entfernung zum Höllenschlund, – ein Glück, daß die Brise selbst jetzt mittags so steif wehte, – ein Glück, daß wir daran gedacht hatten, den Mast einzufügen und von den kleinen Freunden auf La Muerta das Segel zusammennähen zu lassen.

Axel steuerte.

Kamo und Helen arbeiteten an dem einen langen schweren Ruder, Margot und ich an dem anderen. Wir zogen mit äußerster Kraft die plumpen Riemen durch, wir brachten sie mit schnellem Ruck zurück, tauchten sie wieder ein, all unsere Muskeln spielten, wir keuchten, wir sahen die Gefahr, die Hände brannten uns wie Feuer, das Rückgrat wurde steif, – – aber wir bissen die Zähne zusammen, wir waren keine Schwächlinge, wir wollten heraus aus diesem unheimlichen Strom, der da mit so wütender Gier uns der Küste zudrängte.

Und – wir siegten schließlich …

Neben uns lag jetzt die sumpfige Küste mit ihren unterspülten Büschen, Luftwurzeln, faulenden Tangmassen. Erst weiter landeinwärts zogen sich Hügelketten hin, begann jenes Gebiet, das ebenso gesund wie fruchtbar ist und dennoch von der Republik Honduras bis zum heutigen Tage nicht recht ausgenutzt wird. Es fehlt an Arbeitskräften, die einheimische Mischbevölkerung ist träge, stumpf, die Einwanderung liegt brach, und diese Hochlandrepublik, die drittgrößte der mittelamerikanischen, steht an letzter Stelle, was die Ausbeutung der reichen Bodenschätze und der Fruchtbarkeit leicht zu kultivierender Landstreifen betrifft.

Axel Baargö steuerte auf eine Bucht zu, die sich im Norden der kahlen düsteren Berge zwischen diese und die sumpfige Küste drängte.

Wir alle standen noch unter dem schreckenvollen Eindruck unseres Ringens gegen die verderbliche Strömung. Unsere Nerven fieberten noch, aber mit einem sieghaften Lächeln zeigte mir Margot ihre mit Blasen bedeckten Handflächen, und Helen Gart, der kleine Sprühteufel, hatte schon wieder ihr perlendes Lachen in der Kehle.

Jener rauschartige Zustand des Übermutes kam, der nach glücklich beendeter Gefahr wohl jeden befällt.

Helen drohte mit der Faust nach dem gierigen Schlund hinüber, und Margot lächelte glücklich, als ich ihre Hände sanft streichelte. Taskamore erklärte nur, – und diese knappen Worte kennzeichneten ihn am besten:

„Wir werden dich doch besiegen, Höllenschlund! Morgen werde ich auf den Felsen über deiner Pforte stehen, und das „Tor des Meeres“ wird meinen Namen tragen!“

Axel rief vom Steuer her:

Die Lust wird Ihnen vergehen, Kamo!! Schon andere vor Ihnen hatten denselben Gedanken … Keiner hat die Lagune je nach der See hin umschritten. Seien wir froh, wenn wir den Pfad zur Hölle hinter uns haben! – Segel bergen, Olaf! Dort seht ihr am Innenstrand der Bucht die verfallenen Fischerhütten. Nicht einmal die zähen Ladinos haben sich hier halten können, Fieber und Moskitos und Raubtiere fraßen sie auf, – seit Jahrzehnten hat niemand hier in dieser Gegend zu hausen gewagt.“

Das Boot schoß noch tiefer in die stille Bucht hinein. Wir hatten hier ein ähnliches Bild vor uns, wie das des Binnensees auf der Halbinsel La Terrosa. Nur nach Süden zu standen finster und drohend die dunklen, kahlen Bergmassen, durch die der Pfad zur Hölle führen sollte, und dorthin zweigte sich auch ein schmaler Buchtarm ab, in den das Boot mit halber Fahrt hineinlief. Das tropische Dickicht trat zurück, Felsen tauchten auf, und inmitten steinigen Geländes, umrahmt von den unwirtlichen Vorläufern der Berge, hatte dieser Nebenarm sein Ende.

„Stopp!“, sagte Kamo hastig …

In seiner Stimme, die jäh in unser Schweigen unbarmherzig scharf hineinklang, lag eine ernste Warnung.

Axel stoppte …

Das Boot lief noch zwanzig Meter weiter, – – und:

„Hinlegen alle!! Köpfe weg!!“

Kamos Ruf klang noch schriller …

Wurde trotzdem übertönt von einem lauten Poltern und Krachen einer Steinlawine, die sich urplötzlich droben von der Höhe der steilsten Uferwand gelöst hatte.

Wenn es ein schlau berechnetes Attentat war, dann hatten die Schufte die beste Stelle gewählt …

Denn am Fuße der Felswand gab es eine Abflachung, von der die Steine wie Kanonenkugeln abprallten …

Ein Geschoßhagel traf das Boot, daß wir fürchteten, jeden Augenblick wegzusacken. Die Ölleinwand der beiden Kajütendecks war mehrfach zerrissen, ein zentnerschweres Felsstück traf den Motorkasten und schlug ihn glatt entzwei. Kleinere Steine fegten sogar ins Boot, und wir vier, eng zusammengekauert, bekamen einen Vorgeschmack dieser Hölle, der selbst uns genügte.

Dann trat Stille ein.

Taskamore lugte nach oben.

Plötzlich verzog ein Lächeln sein Broncegesicht.

„Ein Maultier!“, sagte er mit leichtem Kopfschütteln. „Und dort kommt ein zweites hinter der Anhöhe hervor. Das erste hat das Geröll ins Rutschen gebracht, – – wie mager die armen Kreaturen sind!“

Der Abhang mochte hundert Meter hoch sein. Wir alle starrten empor, das Auftauchen der beiden Viecher, die wahrhaftig kein Lot Fleisch auf den Knochen hatten, erschien uns wie ein Wunder. Aber das Verhalten der Tiere, deren Konturen sich da oben gegen den Himmel haarscharf abhoben, war noch seltsamer. Die Bergspitze bot wenig Raum, die Tiere hatten sich ganz eng aneinander gedrängt, keilten nach hinten aus, wandten die Köpfe zurück und stießen plötzlich trompetenartige Töne aus, die nur zu sehr an ihre Eselabkunft erinnerten.

Taskamore griff rasch nach der Büchse.

Ich war ihm schon zuvorgekommen.

Wir beide hatten fast gleichzeitig den dunklen Katzenkopf zwischen dem Geröll bemerkt, und das Benehmen der verängstigten Maultiere war genügend erklärt.

Ein Jaguar war ihnen gefolgt, und die beiden Kugeln, die der Bestie jetzt in den Schädel fuhren, änderten die Situation vollständig. Der gestreifte Katzenschädel verschwand, wir vernahmen von der anderen Seite des Berges ein ähnliches Donnern und Poltern, – die in die Tiefe gleitende große Katze mußte auch dort eine Steinlawine gelöst haben, und während das Geröll noch, unsichtbar für uns, herabprasselte, standen die Maultiere mit langgereckten Hälsen und glotzten zu uns herab, – und begannen dann eilfertig die wenigen Grasbüschel abzurupfen, die da droben kümmerlich gediehen.

„Kein Wunder, daß die Viecher so mager sind“, meldete sich Axel als Ortskundiger. „Jaguare gibt es hier wie Sandflöhe so zahlreich, erzählt man in Truxillo. Wo kommen die Schinder nur her?!“

„Landen wir – schnell!“, meinte Taskamore, den irgend ein besonderer Gedanke beschäftigen mußte. „Dort, Baargö, dort links zwischen den Riffen … Die bieten auch Deckung. Bleibt nachher im Boot, Olaf und ich müssen uns die Maultiere holen … Wenn ich etwas ähnliches wie einen Pferderücken unter mir verspüre, mag der Höllenpfad mit Gewehren gespickt sein …! – – Stopp, – – Margot, hier ist der Anker … An Land werfen! So …! – Olaf, vorwärts, – – denke daran, ein Maultier läßt sich reiten, und der Ozean mit seinen langweiligen Wellen hat mich gerade genug durchgerüttelt!“

Ich sprang an Land. Margots warnender Zuruf verhallte … Wer leidenschaftlicher Reiter ist, wer seit Wochen wie ich den Schweißdunst eines Pferdes und das Knarren des Sattels nicht genossen, der wird den Übereifer begreifen, mit dem ich Taskamore vorauseilte.

So viel hatte ich ja bereits dort oben auf der Bergkuppe gesehen: Die Maultiere gehörten zu jener hochbeinigen, großen Art, die mindestens ebenso ausdauernd wie ein Pferd ist und in gebirgigen Gegenden sogar vor dem edelsten Roß vieles voraus hat, weil Maultiere besser klettern und schwindelfrei sind.

Möglich, daß es bei mir auch noch ein Rest jenes glücklichen Übermutes von vorhin war, als wir den Tücken der gierigen Strömung entronnen waren. Beides kam hier als treibende Kraft wohl zusammen, und leicht beschwingt wie ein Mensch, den eine heiße Sehnsucht vorwärtstreibt, lief ich in das enge Tal hinein, das vom Buchtzipfel gen Süden in die finstere Bergwelt sich verlor.

Mein Blick umfaßte prüfend das Gelände.

Was ich sah, war die kalte, erhabene Wildheit einer einsamen Bergszenerie, die mir in ihrer trostlosen Fruchtlosigkeit und imponierenden Starre ihrer Felsmassen vielleicht schon anderswo begegnet sein mochte. Ich dachte flüchtig an die Hornberge in Kanada, aber solch’ einen finsteren, engen, in Windungen aufsteigenden Paß, der mehr lichtloser Kanon war, hatte ich selbst dort nicht angetroffen.

Im Augenblick konnte mir diese verbissene Kahlheit und Feindseligkeit der dunklen Steinwände auch gleichgültig sein.

Meine Aufmerksamkeit wandte sich dem Berge zu, auf den die Maultiere sich vor dem Jaguar geflüchtet hatten.

Er schien von dieser Seite, von Westen, genau so unbesteigbar zu sein, wie von Norden.

Ich bog links ab.

Das Tal hatte hier eine Ausbuchtung, in der ein Waldstück, zumeist Nadelbäume, dem steinigen Boden das nötige Maß von Nahrung abrangen. Aber auch dieser kleine Wald wirkte seltsam unheimlich. Lange Flechtenbärte hingen an den Zweigen, grau, graugrün und Fremdkörpern gleichend, die nicht recht hierher gehörten. Die Stämme selbst waren mit knollenartigen, glasigen Pilzwucherungen bedeckt, deren giftiges Gelb oder fahles Weiß wie Eiterbeulen ausschauten.

Die Bäume kümmerten, waren krank.

Genau so eigentümlich krank und siech sahen die wenigen Sträucher und die Gräser aus. Den Büschen fehlte alles Laub, – es war abgerupft, die Maultiere hatten sich hier zu sättigen gesucht.

An der Südwand des Berges, die völlig frei lag, erhob sich eine Schutthalde. Es war genau zu erkennen, wo die Steinlawine – nicht die erste – niedergegangen war. Der Berg hatte eine förmliche Rinne, und neben dieser gab es Zacken und Vorsprünge, die ein Ersteigen ermöglichten.

Der tote Jaguar lag regungslos oben auf der Schutthalde. Es war ein mächtiges Exemplar seiner Art, und sein Fell würde eine tadellose Satteldecke abgeben.

Ich begann emporzuklettern.

Und stutzte …

Ein Blick über die Schutthalde hatte mir ein mattes Blinken gezeigt, wie von einem großen Stück Glas.

Ich schaute genauer hin, drehte den Kopf.

Unten stand Taskamore in seiner beliebten Stellung, den linken Unterarm auf die Büchse gestützt, den Oberkörper etwas vorgebeugt.

„Eine Hütte“, sagte er nur.

Sein Gesicht verriet nichts von seinen Gedanken.

Die blinkende Glasscheibe, erkannte ich, war ein Fenster der unter Geröll begrabenen Hütte.

Ich kletterte wieder hinab.

Die Maultiere waren vergessen.

Taskamore hob den Arm.

„Dort muß die Tür sein, El Gento … Legen wir sie frei.“

Das Geröll spottete zunächst unserer eiligen Arbeit. Es rutschte polternd nach, aber zwei Stämmchen, die Kamo mit dem Beil abschlug und als Stütze benutzte, halfen immerhin so viel, daß wir die schwere Balkentür öffnen konnten.

Die Hütte war klein, jedoch sehr solide gebaut, eine richtige Blockhütte aus Rundstämmen, das Dach aus demselben Material. Die Inneneinrichtung stammte zweifellos aus einem Schiffe, vielleicht aus einem größeren Kutter. Wir bemerkten vier Lagerstätten, die als Klappbetten angebracht waren. Eine Wand aus dünneren Stämmen grenzte einen Verschlag ab. Hier mußten die Maultiere ihr Heim gehabt haben. Dünger, bereits völlig vertrocknet, dazu Reitsättel, Zaumzeug, Wolldecken und sogar Striegel und Kartätschen zum Putzen der Tiere besagten genug.

Wer hier gehaust hatte, war nicht zu ermitteln. Die vier Erbauer der Hütte hatten nichts zurückgelassen, was eine Vermutung auf ihre Persönlichkeiten gestattete.

Lediglich eins fiel uns auf: Eine gewisse Sauberkeit im Wohnraum, ein gewisses Bestreben, sich es behaglich zu machen.

Taskamore spürte überall umher, untersuchte jeden Gegenstand, wühlte in der Herdasche, betrachtete die Aluminiumkessel, schob die Wolldecken und das Moos der Lagerstätten zurück.

Das Geheimnis der Hütte blieb dunkel.

Ich hatte mich schließlich ins Freie begeben und musterte die Hütte zu anderem Zweck. Allmählich gewann ich die Überzeugung, daß die Leute, die sich hier am Anfang des Höllenpfades niedergelassen hatten, absichtlich ihr Haus unter Geröll begraben hatten. Sie wollten es vor Fremden verbergen, und Taskamore gab mir nachher darin recht. Wir fanden Steinplatten, die nur dazu gedient haben konnten, das einzige vorhandene Fenster und die Tür zu maskieren. Die Platten zeigten noch Reste von Draht, der zu Haken gebogen war.

Ein Geräusch über uns ließ uns aufblicken.

Die Maultiere kamen herab, sehr behutsam, sehr geschickt, – sie hatten keine Scheu vor uns, beschnupperten uns und … trabten in ihren Stall.

Taskamore machte ein ganz eigentümliches Gesicht.

„El Gento“, meinte er mit jenem Augenblinzeln, das stets eine wichtige Neuigkeit verhieß …, „… El Gento, was hältst du hiervon?!“

Er öffnete die Hand, und in der Hand lag eine Tube Klebstoff, die noch nicht geöffnet war.

Syndetikon!

Und – – deutsches Fabrikat!

Eine jähe Gedankenverbindung brachte mich auf das angeklebte Moos in der Schlucht von La Muerta, wo die kleinen, höflichen Menschlein hausten.

„Du meinst, daß die vier Männer hier …“

Er nickte schon …

„Schatzsucher …! Pierre Lacombes halb zerdrückter „Seeigel“ erhielt vor etwa vier Jahren – so lange steht diese Hütte – nächtlichen Besuch, vier Leute … Sie lasen die Inschrift, verbargen sie wieder, segelten hierher, bauten sich die Hütte, bedeckten sie mit Geröll und begannen, den Schatz zu heben. Die Forscher, die hier verschwunden sind, verschwanden in den letzten vier Jahren, und Helen und Axel betonten, daß die Küstenbewohner in den letzten Jahren diesen Ort hier noch ängstlicher mieden als früher. – Wir werden sehen …“

Er trat wieder in die Hütte. Die Maultiere hatten sich über die noch vorhandenen Heuvorräte hergemacht, und Kamo öffnete einen der Futtersäcke und streute ihnen Hafer in die Krippen. Die Tiere fraßen wie Verhungerte. Zweifellos waren sie seit Tagen ohne jede Pflege geblieben und in ständiger Angst vor Raubzeug gewesen.

Wir verrammelten die Tür, verdeckten auch das Fenster und kehrten still zu unseren Gefährten zurück, deren Neugier wir bei dem gemeinsamen Imbiß restlos befriedigten.

 

9. Kapitel.

Das Grab der drei.

Unsere kleine, primitive Motorjacht lag hier zwischen den Klippen recht geschützt.

Eine flache Steinterrasse benutzten wir als Speiseraum, bauten ringsum noch Geröll auf, so daß wir nur bei genauem Hinsehen zu bemerken waren.

Es berührte uns eigentümlich, daß die Bucht so vollständig frei von geflügelten Bewohnern war. Nirgends kreisten Reiher oder Möwen, nirgends war von den Waldrändern das Gekreisch von Papageien vernehmbar. Nicht ein einziges Krokodil sahen wir.

Axel Baargö, dem so ziemlich jeder Sinn für Humor fehlte, meinte diesmal etwas abwegig-scherzend: „Die Maultiere haben alles gefressen!“

Taskamore blickte ihn versonnen an.

„Oder die Bucht enthält etwas, das das Getier vertreibt … Dies wird wohl eher stimmen, Axel Baargö.“

Helen füllte die Aluminiumteller mit Büchsenfleisch und plapperte ironisch: „In der Vorhalle der Hölle kann es nur Teufel als Portiers geben, was sonst.“

Margot, die neben mir saß, meinte etwas schroff: „Ist dieser Ort für billige Scherze geeignet? – Hört nur, – der nicht allzu ferne Rachen des Meeres tobt mit einem Brausen wie dumpfer Orgelklang.“

Wir aßen wenig.

Düstere Geheimnisse umgaben uns. Wir fühlten es.

Axel steckte sich eine Zigarre an. Dieser mittelgroße, sehnige, hellblonde Mann mit dem eigentümlich verwitterten Gesicht und den blanken Falkenaugen nickte Margot Beifall.

„Stimmt schon, der Höllenpfad verlangt ernste Gedanken, Mylady …“

„Margot – bitte!“, verbesserte meine Herzenskameradin ungeduldig.

„Wenn ich Dummheiten gemacht habe, werde ich förmlich“, meinte Axel höflich. „Gerade ich sollte mir hier jeden unangebrachten Scherz verkneifen, da ich der einzige bin, der diese schöne Gegend vom Hörensagen sehr genau kennt. Weiter nördlich liegt ein Karibendorf, und Sie alle wissen, daß die Kariben Teufelskerle sind. Aber auch sie fürchten das „Maul des Meeres“ und den finsteren Paß zur Lagune. Ich habe in dem Dorfe einige Bekannte. Man könnte ihnen einen Beutel Gold bieten, und sie würden doch niemals in diese Bucht mit ihren flinken Seglern einlaufen. Dahinter steckt nicht allein Aberglaube, dahinter steckt weit mehr, – – doch die Leute schweigen, zucken die Achseln und machen undurchdringliche Gesichter. Die Regierung?! Ich sagte ja schon früher: Keiner der Patentpolizisten aus Truxillo würde hier seine dunkle Haut zu Markte tragen. Wir können auf Niemandes Hilfe rechnen.“

Axels neueste Eröffnungen gaben den Dingen ein noch ernsteres Aussehen. Wenn die Kariben Angst vor dem Höllenpfad hatten, besagte das allein schon mehr als genug. Diese Insulaner, die im Jahre 1796 kurzer Hand von den Engländern als unbequeme Untertanen von der Insel St. Vinzent nach der Bai-Insel Roatan deportiert worden waren, hatten sich im Laufe der Zeit stark vermehrt und bildeten für die Nordküste von Honduras jetzt den wertvollsten Menschenschlag. Als tadellose Seeleute sind sie berühmt, als Haifischjäger unerreicht und als Schmuggler und gelegentliche Strandpiraten ein Völkchen voller Schneid.

Unsere Aussichten, den Pfad zur Hölle glücklich zu überwinden, schmolzen beträchtlich zusammen.

Axels Worten folgte ein sehr beredtes Schweigen. Keiner von uns sprach es aus, aber wir alle erkannten, daß dieses Abenteuer abseits vom Alltag kaum verlohnte.

Weshalb unser Leben aufs Spiel setzen, wenn es sich letzten Endes nur darum handelte, ein Naturwunder auch von der Landseite anzustaunen?!

Pierre Lacombes Schätze spielten bei alledem keine Rolle mehr.

Selbst Taskamore brütete stumm vor sich hin. Unter dem Kessel knisterten dünne Holzscheite, Margot brühte ohne rechte Freude Kaffee auf, Helen starrte in die Luft und ich …?!

Da war irgend etwas, das wie ein drohendes Verhängnis auf mir lastete. Da war irgend eine bange Vorahnung, die sich nicht verdrängen ließ. Ich schaute empor zu dem Abhang, woher der Steinregen niedergeprasselt war.

Ein übles Vorzeichen.

Und – bedeutete die leere Blockhütte nicht gleichfalls eine Warnung?!

Wo waren die vier Bewohner?! – Ihre beiden Maultiere hatten sie zurückgelassen, – sie mußten tot sein.

Und hing dort draußen auf den Riffen nicht der klägliche Rest der eleganten Motorjacht?! Waren auch all die Leute der Jacht diesem Höllenrachen zum Opfer gefallen?!

Ringsum nur düstere Warnungen.

Und wir wollten in prahlerischer Vermessenheit etwas bezwingen, das die Eingeborenen wie die Pest fürchteten?!

Taskamore saß kerzengerade und blickte durch die Klippen in das Tal hinein, das wie ein finsteres Fragezeichen sich empor zu dem noch finstereren Passe wand.

Margots weiche Hand stahl sich sanft in die meine, und ihre Augen baten stumm: „Olaf, gib es auf!“

Aber über meinem Schoße lag die frisch geölte Snidersbüchse, – neun Schuß, – das war so gut wie neun tote Gegner.

Hatten wir es hier mit menschlichen Feinden zu tun? Hausten da irgendwo im Höllenpfad Verbrecher, die ihre dunklen Pläne durch Mord verschleierten …

Stille Tafelrunde wir …

Axel qualmte nervös wie ein Rauchfang. Helen Gart hatte sich an ihn gelehnt. Die beiden machten weiter kein Geheimnis daraus, wie es um sie stand. Dieses Mädel und dieser schnittige Abenteurerkollege paßten vortrefflich zusammen.

Taskamores ruhiger Blick wandte sich abwärts. Neben dem Motorboot trieb ein großer Fisch, eine Lachsart, der nur noch schwache Lebenszeichen von sich gab.

Der Fisch verschwand, und Freund Kamo nahm einen Becher, befestigte am Griff eine Leine und schöpfte das klare Wasser, in dem nur ein paar Pflanzenfasern schwammen.

Er roch daran …

Zuckte unmerklich die Achseln …

„Es war der vierte sterbende oder tote Fisch, den ich sah …“

Ich nahm ihm den Becher ab, schmeckte vorsichtig das Wasser.

Spie es aus …

Spülte mit Kaffee nach … Spie ihn aus.

„Entschuldigt“, meinte ich leise. „Ich begreife das nicht … Es schmeckt bitter, gallenbitter … Es müssen da irgendwie Chemikalien hineingeraten sein …“

Ich goß den Becher aus.

Wir schwiegen.

Uns war zumute, wie Menschen, die den Tod im Nacken spüren und doch nicht wissen, woher er naht und in welcher Form er droht.

Margot vergaß ihre herbe Zurückhaltung und nahm abermals meine Hand.

„Olaf, verlassen wir diesen Ort …!“

Ihre Stimme klang matt.

War das noch jene Lady Sheridan, die drei Wochen lang den Maya-Tempel gegen die Heimatlosen verteidigt hatte?!

Taskamore prüfte den Stand der Sonne.

Sie war soeben hinter den kahlen Bergen verschwunden, und nur ihr Glanz lag noch auf den Zacken dort droben.

„Ich gehe“, erklärte er schlicht. „Ihr wartet hier …“

„Ja, ihr wartet hier“, sagte ich genau so bestimmt. „Kamo und ich nehmen nur das Notwendigste mit – – für zwei, drei Tage … Die Maultiere werden uns ein Zelt, den Proviant und das Sonstige schon tragen.“

„Du bleibst!“ Nie hatte ich diesen Ton von Margot Sheridan gehört.

Das war geheime Angst, das war Befehl, Bitte, Flehen und … Zärtlichkeit.

„Olaf, du bleibst …!! Meinetwegen!“

Ihre Finger waren eiskalt …

Ihre Augen nie so leuchtend wie jetzt.

Das trügerische, mühsam aufrecht erhaltene Komödienspiel der Kameradschaft zerbrach, und das Weib zeigte sich mir mit all seinen lockenden, trauten Verheißungen.

Taskamore tat, als hätte er nichts gehört.

Er stand auf, schritt zum Boot, stieg hinein und begann das Nötige zusammenzusuchen.

Helen und Axel warteten, beobachteten mich.

Irgend etwas war da in meinem Inneren, das mir den Mund verschloß. Mir schwebten Worte auf den Lippen, daß Margot uns begleiten solle.

Irgend etwas war da in den Tiefen meiner Seele, das mich schauspielern ließ.

„Ich gehe mit Kamo, Margot. Hier ist jeder sein freier Herr …“

Ihre Finger glitten von meiner Hand, und mit der herben, kühlen Selbstverständlichkeit, die ich an ihr kannte, erklärte sie:

„Ich komme mit. Axel und Helen mögen das Boot bewachen …“

Weder Taskamore noch ich wagten es, Einwendungen zu erheben. – Wir brachen auf. Es war sechs Uhr nachmittags. – –

… Und nun sitze ich in der kleinen Bugkabine unserer bescheidenen Motorjacht und … bin ein Weiser geworden.

Weiser als bisher.

Die Stimmen aus der Tiefe meiner Seele haben nicht getrogen.

Wir kennen das Maul des Meeres, die Lagune, den Pfad zur Hölle.

Alles kennen wir.

Um welchen Preis!!

Teurer ist noch nie ein Erfolg erkauft worden wie dieser!

Die Hand, die den Rest des Bleistifts führt, ist müde geworden, und das Hirn ist leer und das Herz fühlt nur den dumpfen Druck eines unfaßbaren Schmerzes.

Taskamores schweres Stöhnen läßt mich immer wieder aufschrecken. Wie soll ich die Gedanken sammeln, wenn dort in der Öltuchkajüte ein Mann, der mir genau so wert und lieb geworden, wie einst Coy Cala, mit dem Tode ringt?!

Menschliche Hilfe richtet nichts mehr aus. Was wir tun konnten, haben wir getan, und einen sorgsameren Arzt, als den, der das fliehende Leben bewacht, finden wir nirgends.

Links von mir auf der Steinplatte – Speisesaal – – wispern und tuscheln die Freunde, – vor der Allmacht des Todes verstummt die härteste Stimme und rundet sich zu weichem Flüstern.

In der Ferne brüllt schadenfroh die Hölle des Meeres.

Kräftiger, gewaltiger denn je.

Still und tot liegt das vergiftete Wasser der Bucht …

Kein Vogel, kein Fisch, kein Reptil besucht diese Brutstätte des Fiebers, der Miasmen, der vergifteten Wasser.

Vergiftet durch Teufelsdreck der Menschen, der zusammengebraut wurde in den modernen Hexenküchen, chemische Fabriken genannt.

Auch das wissen wir.

Wir sahen die Stahlzylinder mit dem Sprengstoff auf dem Grunde dieses felsigen Seitenarmes liegen und die Blasen hochquellen, und Gift und Brackwasser sich mischen.

Acht Zylinder.

Von vier Männern herbeigeschafft in aller Heimlichkeit, die die Natur vergewaltigen wollten.

Der letzte, der noch lebte, hat mit letzter Kraft unter wahnwitzigem Gelächter die stählernen Gehäuse der flüssigen Vernichtung in die Bucht rollen lassen und brach dann zusammen, durchsiebt von Kugeln, ein Riese an Kraft, ein brutaler Wicht oder ein Kerl von Eisen.

Eisen und Stahl kennen kein Mitleid.

Auch er nicht. – –

… „Ich komme mit!“

Margot hatte die Oberlippe etwas hochgezogen und hatte die Miene aufgesetzt, die keinen Widerspruch duldet.

Margot Sheridan fand keinen Widerspruch.

Sie, die Taskamore, mir und dem treuen Hondu Gefährtin so vieler Wochen gewesen, in denen wir jeden Tag das Leben wagten angesichts der Feuer der Ewigkeit und jede Stunde die Gefahr witterten, ließ sich nicht mit wortreichen Scheingründen umstimmen, – etwa dem, daß der Ausflug zu gefährlich sei.

Was hätte Margot-Maya, Herrin des Zaubertempels der Schlangengöttin auf La Terrosa, wohl dazu gesagt?!

Nichts!

Nur ihre Augen hätten gesprochen, und wir hätten die Augen niedergeschlagen.

Kamo …

Ich …

Beide, wie ertappte Schulbuben, die lächerliche Ausflüchte suchen.

Margot half beim Packen.

Helen und Axel gingen brummig und beleidigt umher …

Wollten auch mit. Natürlich. Aber Taskamore war hart und … spitzbübisch-anzüglich. „Ihr habt das Boot drei Tage und drei Nächte ganz allein für euch … Lockt das nicht?!“

Das Mädel aus New Orleans mit dem Kupferwuschelkopf und dem kecken Wippnäschen und dem Grübchen am Kinn, das der semmelblonde unartige Axel so gern küßt, bekam einen roten Kopf und sagte toternst: „Ich werde meine entsicherte Pistole neben mein Bett legen!!“

Und ich sagte noch scheinheiliger: „Irgendwo in einer deutschen Sage legt ein Held zwischen sich und ein wonniges Weib auf gemeinsamem Lager ein blankes Schwert … Wenn das Schwert nur nicht durch die Ritze zwischen beiden hindurchgerutscht ist!!“

Axels frohes Gelächter brach den bedrückenden Bann.

Er lacht selten. Lacht er, wirkt es ansteckend.

Diese Fieberbucht wird solches Lachen und ein so übermütiges Kichern wie das Helens noch nie gehört haben.

Margots Antlitz schaut gen Süden. Ich sehe ihre Züge nicht, aber als sie mir eine Konservenbüchse reicht, zittern die Hände, und ich glaube, ich glaube …, sie … beneidet Helen und Axel und würde nichts dagegen einzuwenden haben, daß sie und ich hier unsere kleine, knatternde Jacht bewachen.

Wir wandern zur Blockhütte, alle fünf.

Und wie wir so dahinschreiten, beladen mit dem, was uns not scheint für den Pfad zur Hölle, glaube ich neben mir das lautlose Tappen der Sohlen Hondus zu hören.

Er ist tot.

Sloman erschoß ihn. – Sam Sloman – lebt er?! Kamen wir nicht hierher, damit wir Abrechnung halten konnten mit ihm und den Seinen?

Kamen wir Pierre Lacombes wegen her?!

Was treibt uns vorwärts?!

Doch nur der Trotz.

Jetzt gerade!!

Jetzt erst recht!!

Der Trotz der großen Abenteurer, die vor nichts zurückschrecken.

Und – wären wir umgekehrt, hätten wir verzichtet auf die Lösung des Geheimnisses dieser gemiedenen Berge, dann würden wir hinterher von uns gesagt haben: Narren!!

Aber wir sagten und sagen nicht Narren, wir sagen jetzt hinterher, wie die Bekenner Mohammeds:

Fatum!

Die Maultiere in ihrem Stall hatten sich niedergetan und verdauten.

Es waren Kreaturen wie Sklaven, so schien es mir – zu entgegenkommend jedem neuen Herrn.

Gehorsam, ohne Tücke, satt, etwas träge, sehr mager, braunschwarz im Fell, mit Riesenohren, – nur das eine hatte weiße Ohrspitzen, war eine Stute und zierlicher gebaut.

Gehorsam trugen sie die nicht allzu schweren Bündel.

Abschied von Helen und Axel?

Ein Händedruck …

Und: „Hals- und Beinbruch, – – Wiedersehen!“

Die kecke Reporterin ahnte nicht, daß Hals- und Beinbruch diesmal böses Omen war.

Sie winkten uns nach, bis die erste Biegung des kühlen Kanons uns verbarg.

Da waren wir drei mit den trappelnden Tieren allein.

Taskamore schritt vierzig Meter voraus.

Büchse im Arm, Kopf vorgeneigt, den Steinboden musternd, die Steinwände musternd und auf jedes Geräusch achtend.

Waren sehr spärlich, die Geräusche …

War da nur das Echo der Huftritte der Maultiere in den Felsenwänden und das Rieseln und Gurgeln des Wassers, das als dünnes Rinnsal links von uns bergab sickerte.

Und die Stimme des Höllenrachens, der draußen auf See den Ozean schluckt und wieder ausspeit und ewigen Theaterdonner mit Riesenblechen markiert.

Kühl und dämmerig der tiefe Paß, kahl und düster. Zuweilen neigten sich die Berge gegeneinander, und in diesen fast geschlossenen Tunneln wehte die Kälte eines ungelüfteten Kellers.

Bergan ging es, immer bergan.

Die Mauern neben uns wichen zuweilen zurück und zeigten noch ödere, unheimliche Abgründe.

Luftschächte der Hölle, sagte Margot.

Keine Fährte war zu entdecken, kein Tier, keine Schlange. Und gerade hier hätte man giftiges Ungeziefer größter Art vermuten können.

Eine Stunde verstrich.

Außerhalb dieser Schlünde versank jetzt die Sonne über den fruchtbaren Gefilden von Honduras, dieses Landes, das erst noch erschlossen werden müßte.

Hier kam die Dunkelheit …

Und bald die Höhe des Passes.

Anderswo bietet in kahlen Bergen der Scheitel des Passes Fernsicht.

Hier bot er nichts …

Oder doch nur eine breitere Kluft, in der Taskamore Reste von Lagerfeuern mit der Laterne fand, – Reste, offenbar sorgsam beseitigt.

Immerhin waren da in Ritzen des Gesteins verkohlte Stückchen Holz, die ich mit der Messerklinge herausangelte, und wir wußten, hier hatten vor kurzem Leute gelagert.

Wer?

Niemals die, denen die versteckte Blockhütte gehörte. Nein, die Besitzer jenes unter Steinschutt absichtlich begrabenen Hauses würden niemals hier Halt gemacht haben, wenn sie etwa die Teufelslagune besuchten und nach Pierre Lacombes Schätzen fischten. Oder wenn sie denen auflauerten, die als Forscher hierher kamen … Schüsse knallten dann, noch ein paar Schüsse, und ein Abgrund nahm Tote für ewig auf, und unbequeme Gäste waren beseitigt.

Geht es um Gold, sind die meisten Menschen niemals sentimental. Gold ist Gift für die, die es erraffen wollen, und für die, die zufällig den Pfad zum Golde kreuzen. Tragödien bezeichnen mit unsichtbaren Schauerdenkmälern den Weg dieser Gier. Und die sichtbaren Denkmäler dieser Geißel der Menschheit sind die Prunkpaläste, in denen die Schachergeschäfte der Börsenfürsten und Gelddynastien getätigt werden. In scheuer Ehrfurcht blicken die Völker zu diesen Zwingburgen empor, deren jämmerliche Sklaven sie sind, zu denkfaul, zu sehr gewöhnt an ihr klägliches Knechtsdasein, um einmal in ihren verdorrten Spießerherzen jenen furchtbaren Haß auflodern zu lassen, der schon so und so oft im Weltgeschehen uralte Staaten, deren Gefüge durch das goldene Gift morsch geworden, zusammenbrechen ließ. So ging die uralte Kultur der Phönizier, der Assyrer, der Ägypter, der Griechen und Römer im Altertum zu Grunde, ward erstickt durch Gier, Wohlleben, Prasserei, schamlose Ausnutzung der großen Masse. So brachen jene Revolutionen aus, deren Blutströme, in falsche Kanäle gelenkt, nicht etwa die ersehnte Freiheit als neue Saat und Ernte gedeihen ließen, sondern nur Scheingebilde von wahrer Freiheit schufen. Auf die zwecklosen und grauenvollen Morde der großen französischen Revolution folgte eine Übergangszeit hellsten Wahnsinns, – Zeitrechnung, Religion, – – alles wurde von oberst zu unterst gekehrt, und aus dem allgemeinen Irrsinn wuchs schließlich das Genie eines Napoleon hervor, der nur den einen Fehler beging, seinem Ehrgeiz unmögliche Ziele zu stecken.

– „Sollen wir lagern?“, fragte Kamo zweifelnd. „Wäre es nicht besser, bei Tageslicht den Abstieg zu beginnen?!“

„Warten wir den Mond ab“, schlug ich vor. „Die Nacht bietet uns zu viele Vorteile.“

Die Maultiere drängten sich aneinander. Im Nu war das Zelt errichtet. Margot kochte darin das Nachtmahl, ein offenes Feuer war zu gefährlich. Kamo fütterte und tränkte die Tiere, und ich schlich eine Strecke bergab, um hinter der nächsten Biegung mich wenigstens etwas über die Örtlichkeit zu orientieren.

Das Toben der See, die da schräg vor uns irgendwo den Schlund des Meeres füllte oder die Wasser wieder ausspie, war hier oben weit gewaltiger zu vernehmen. Es klang, als ob eine starke Brandung in allernächster Nähe rauschte und ihr ewiges Lied sang.

Die Szenerie ringsum war eintönig, – hart, ohne Spur von Vegetation, war nichts als Felsgestein, nichts als Granit, – drohend, finster, gewaltig.

Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, Sterne blinkten über mir, der Salzhauch des Meeres wehte in frischer Brise durch die Schluchten, die Steinwände rieselten mit feinen Staubteilchen, als ob sie frören, und fernher kam das mehrfache Jaulen eines Jaguars, der vielleicht auf Liebespfaden wandelte.

Noch hundert Meter, und der Paß öffnete sich zu einer flachen, kleinen Ebene, bedeckt mit kümmerlichen Nadelhölzern.

Ich blieb stehen.

Das Gehölz da vor mir warnte mich.

Wieder überkam mich jenes seltsam bedrückende Gefühl, das ich bereits vor Stunden an der Bucht verspürt hatte.

Irgend etwas war da, das all meine Sinne anspannte.

Instinkt?!

Vielleicht …

Meine Gestalt mußte mit dem grauschwarzen Fels in eins verschmelzen. Wir hatten die hellen Anzüge, die uns die Güte des kleinen Völkchens beschert hatte, gegen wenig schöne, dunkelblaue Leinenkleider vertauscht, die aus Axels Vorrat stammten: Heizerkluft!

Es war mein Gedanke gewesen, und ich segnete ihn.

Denn jetzt erspähte ich unter den raschelnden Nadelbäumen hin und wieder ein mattes Aufglühen.

Ich dachte zunächst an ein paar Leuchtkäfer.

Es war der geringe Lichtschein, der beim Rauchen aus einem offenen Pfeifenkopf nach oben fällt, nur sichtbar bei völliger Finsternis.

Also doch!

Ein Wachtposten!

Das Abenteurerblut flutete lebendiger.

Sehr bald würde ich Gewißheit haben.

Kriechend näherte ich mich dem Saum des Gehölzes von der Seite, schob mich unter die tief hängenden Zweige und gelangte hinter den baumlangen Jan Maat, der hier gemütlich auf einer Wolldecke lag und seine Aufgabe durch Pfeife und Flasche behaglicher gestaltete.

Ich roch den Brandy, ich hörte das Gluckern in der Kehle des Trinkenden, ich roch den Tabak, und ich sah die weiße Matrosentracht und die bebänderte Mütze und ein rotes, gesundes Gesicht, wenn der Tabak stärker leuchtete und der Lichtschein Mundpartie und Nase für kurze Zeit erkennen ließ.

Matrose?! Sollte sich Sam Sloman doch irgendwie aus der gefährlichen Strömung gerettet haben?! Vielleicht mit Hilfe der Pinasse der Jacht?! – Aber – wo waren die Kerle dann gelandet?! Der einzige Zugang zur Lagune, hatte Axel Baargö behauptet, war doch der Pfad zur Hölle! Gab es doch noch einen anderen Weg? Wir hätten ja die Pinasse dann in der Bucht bemerken müssen, wo unser Motorboot jetzt lag.

Ich kroch rückwärts.

Unser vorläufiger Lagerplatz war denn doch zu gefährdet durch die Nähe dieser Gegner.

Als ich bei dem Zelte ankam, lugte gerade der Mond in das Tal hinein. Hinter den Zeltwänden schimmerte kein Lichtschein mehr. Margot saß im Zelteingang und flüsterte hastig:

„Kamo folgte dir, Olaf … Er kehrte sofort zurück, wir sollen mit den Tieren in einer Seitenschlucht uns verbergen – – dort!“

Taskamore etwa allein unterwegs zur Lagune, zum Lager Slomans?! – Das gefiel mir gar nicht! – Der schmerzhafte Druck über dem Herzen steigerte sich noch, die bangen Ahnungen lähmten mich fast.

„Margot, was hat Kamo vor? Ich begegnete ihm nicht.“ Meine Stimme mochte etwas unwillig geklungen haben. Aber ich war im Recht. Niemals hätte Taskamore, ohne sich mit mir zu verständigen, etwas derartiges unternehmen dürfen.

Und der Kameradin zage Antwort: „Ich weiß es nicht, Olaf … In jedem Falle müssen wir von hier verschwinden. Hilf mir!“

Mein Unwille steigerte sich zu offenem Groll. „Das ist Leichtsinn, Margot!! Und auch rücksichtslos uns gegenüber! – – Trotzdem, – das Mondlicht ist jetzt eher schädlich als nützlich. Beeilen wir uns!“

Die Tiere waren rasch beladen. Sorgsam tilgte ich jede Spur des kleinen Feuers, schaute mich scharf um, ob wir nichts zurückgelassen hätten.

Die Seitenschlucht war so eng, daß wir im Wasser dahinwaten mußten. Aus ihr entsprang der winzige Bach, der dem Passe zur Bucht hinab getreulich folgte.

Ich zündete eine Laterne an. Es ging nicht anders. Der Ort war ein Eiskeller im Vergleich zu der nächtlichen Wärme der Tropennacht. Widerwillig stapften die Maultiere über glitschiges, bemoostes Geröll, – – wo sollten wir hier lagern?!

Weiter also!

Meine Empörung gegenüber Taskamore wuchs. Wir drei Menschen hier auf dem Pfade zur Hölle waren doch auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Der einzelne konnte alles aufs Spiel setzen!

Unruhig flatterte das Laternenlicht vor mir her wie ein leuchtender, flügelschlagender Nachtschmetterling.

Zuweilen war die Schlucht so eng, daß die Traglasten der beiden Tiere an den Seitenwänden scheuerten. Die mageren Kreaturen, wieder aus ihrer Ruhe aufgescheucht, schnaubten bösartig oder mißmutig. Das kalte Quellwasser erzeugte in dem leichten, durchnäßten Schuhzeug ein unangenehmes Frostgefühl. Still schritt Margot hinter mir drein, Heldin auch jetzt, führte die Stute mit den weißen Ohrspitzen, – das andere Maultier war angeseilt.

Dann ein Hindernis: Steine, Geröll, Schutt, – eine hohe Mauer, an deren Fuß das Wasser hervorsprudelte. – Ich bückte mich … Ein Blick genügte. Diese Barrikade war neu, und ein zweiter Blick zeigte mir, daß hier Dynamit halbe Arbeit getan.

Wäre dieser Steinwall schon längere Zeit vorhanden gewesen, würden die nassen Steine unten Moos angesetzt haben. Aber die Bruchflächen einiger Felsstücke waren so frisch, daß die Sprengung erst vor kurzem erfolgt sein konnte.

Margot drängte sich neben mich. Ihr Arm schob sich in den meinen. „Olaf, riechst du es?!“

„Ja!!“

Und dann: „Ich werde den Wall abtragen … Ich will sehen, was darunter steckt …“

Wir spürten den Verwesungsgeruch, die Tiere schnaubten noch ängstlicher, aber ich ließ mich durch nichts beirren, mochte die Arbeit auch aussichtslos erscheinen.

Und wie hat Margot damals mitgeholfen! Welche Zähigkeit besaß diese Frau!

Zwei Stunden …

Und dann … Drei gräßlich zerquetschte Körper, – einst Männer, vielleicht Schurken, aber genügend bestraft.

Margot wandte sich weg, als ich die Reste derer, denen fraglos die Blockhütte gehört hatte, untersuchte.

Sie waren erschossen worden … Alle drei, von hinten … –

Schweigend packte ich Steine darüber, und wir kletterten mit den Tieren über das dreifache Grab. Kurz darauf bog die enge Schlucht scharf nach Süden ab …

Ich erblickte vor mir den Ausschnitt einer in Mondlicht getauchten Landschaft, – Berge, Klüfte, Zacken …

Löschte die Laterne … Eine Terrasse öffnete sich, schmal und lang. Ich nahm Margots Hand, wir beugten uns über den Steilhang, und zu unseren Füßen, als nächtliches Panorama, lag das Ende des Pfades zur Hölle, lag links der Schlund des Meeres, vor uns die schäumende Lagune, rechts aber eine ungeheure Wand, über die ein Fluß als senkrechter Wasserfall in die Tiefe stürzte.

 

10. Kapitel.

Über dem Tor des Meeres.

In der Nähe der Hafenstadt Acapulco an der mexikanischen Golfküste[6] liegt im Meer ein Granitblock von etwa vierzig Meter Höhe und siebzig Meter Breite. Man nennt ihn „Buffadero“, den „Tobenden“, „Donnernden“. Auch er besitzt ein Loch dicht über dem Meeresspiegel, das sich jedoch nach oben wieder trichterförmig öffnet. Infolge besonderer Verhältnisse schaffen die Meereswogen in den Höhlungen des Granitblockes einen solchen Wasserdruck, daß bei bewegter See aus dem Trichter eine Wassersäule bis zu fünfzig Meter Höhe unter ungeheurem Getöse in kurzen Abständen emporgeschleudert wird. Der „Buffadero“ ist als Naturschauspiel recht bekannt. Bezeichnend ist, daß Amerikaner den Versuch gemacht haben, diese Wasserkraft technisch auszunutzen. Es mißlang. Das Meer war stärker und zerstörte alle Anlagen. Noch seltsamer erscheint es, daß die Technik nicht aus dieser „Wellenspritze“ etwas dazu gelernt hat und sich die Aufgabe stellte, die Kraft des Ozeans in ähnlicher Weise zur Erzeugung starken Wasserdruckes zu zwingen. Es scheint, als ob der „Buffadero“ in seinem hohlen Inneren doch noch Geheimnisse birgt, die ihm kein Ingenieur ablauschen kann.

Wenn ich dieses Buffadero-Wunder hier erwähne, so geschieht es nur, um den Gegensatz zu dem an der Nordküste von Honduras liegenden „Tor des Meeres“ hervorheben zu können.

Was Margot und ich hier von der Bergterrasse im bläulichen Licht des fast runden Mondes schauen durften, war anderer Art, war ein grandioses Spiel der Natur mit anderen Mitteln, aber mit denselben Kräften.

Eine solche Szenerie packend zu schildern, ist unmöglich.

Jede Feder versagt da.

Es wäre Anmaßung, auch nur den Versuch zu wagen, durch Wortmalerei, durch allerlei Kniffe berufsmäßigen Literatentums diese Fülle von Eindrücken wiederzugeben.

Ich erwähnte bereits, wie sich uns das Bild des in das Meer hinausgeschobenen Felsmassivs mit seiner der See zugekehrten „Fensteröffnung“ präsentierte: Ein Schlund, in den bei Flut der Ozean hineinstürzte, als ob hinter dieser Mauer die Welt ein Loch hätte – unausfüllbar, – ein ungeheurer Krater.

Ein Loch gab es, – das war die sogenannte Lagune. – Lagune aber?! – Nein, ein fast kreisrunder, kochender See, umgeben von steilen, kahlen Bergen, im Norden von der enormen, zerklüfteten „Fenstermauer“ begrenzt, im Süden der tobende Wasserfall, dessen flüssige Masse glatt hinabfiel in die Tiefe wie abrollende, mattschillernde gestreifte Seide, die erst ganz unten sich bauscht und wirbelt und weht und in weiße Fetzen zerfliegt.

Meer und Fluß taten sich hier am Schlund des Meeres zusammen, einen Kessel mit einer dauernd brodelnden, quirlenden, wellenschlagenden, schaumbedeckten Masse zu füllen, – einen Kessel von vielleicht fünfhundert Meter Durchmesser.

Und das nannte man Lagune?!

Das war … Hexenkessel, Höllenrachen!

Mochte das Meer seinen höchsten Stand bei Flut haben, mochte es um vier Meter tiefer bei Ebbe sinken: In diesem Bergsee gab es keine Ruhe, keine Atempause, immer kämpfte das Meer gegen den Katarakt und der Katarakt gegen das Meer.

Unmöglich, daß sich ein Boot in den Kessel wagte!

Wenn Pierre Lacombe wirklich hier seine Schätze versenkt hatte: Die holte niemand mehr hervor, das war ein Tresor, fester als der der Großbanken, fester als ein Panzerturm eines modernen Küstenforts.

Und zu alledem noch das unaufhörliche Getöse, – ein Lärm, der sich zusammensetzte aus hundertfältigen Tönen, – ein Donnern und Krachen und Brausen, das von den Steilwänden des Teufelsbeckens in vielfachen Echos zurückgeworfen, verstärkt wurde.

Margot umklammerte mich.

Wer angesichts dieses Bildes seiner eigenen Nichtigkeit sich nicht bewußt wurde, dem war nicht mehr zu helfen, der hat statt Gefühl einen Eisblock in der Brust, der verdiente es, in jenem Hexenkessel zu enden!

Margot zittert.

Ihr keuchender Atem trifft mein Ohr …

Sie spricht irgend etwas …

Und wenn sie es laut gerufen hätte: Hier war die menschliche Stimme nichts als ein Hauch, der am Morgen ganz zart über blühende Heide streicht.

Margot Sheridan schweigt, zieht mich zurück vom Rande der Terrasse …

„Olaf, es ist … grauenvoll schön …“

Ihr Mund ist dicht an meinem Ohr, wir stehen Hand in Hand, – zwei Menschen, die das gemeinsame Geschick weit hinaushob über alles Menschliche, Triebhafte, – zwei Freunde, Geschwister, – mehr als das: Zwei Seelen, zusammengeschmolzen in eins, frei von jedem Begehren, Kameraden, – – zwei wundervolle Kameraden!

In den Minuten des Schauens und leichten Grauens erhielt unser Bündnis die höchste Weihe.

Alles Erdenschwere oder allzu leicht Beflügelte fiel von uns ab. Wir sind wie Zwillinge, die von Geburt an die Gemeinsamkeit des Reifens fernerhin in sich verspüren und sich lieben mit jener wunschlosen Zärtlichkeit, die das Edelste der Herzen enthält: Das Bewußtsein des Verbundenseins ohne jene andere Liebe, die vielleicht auch beglücken kann, und die so oft enttäuscht.

Aber das Gebot der Stunde ruft, und ich sehe mich nach einer Lagerstatt für Margot um.

Ich breite die Wolldecke über die schlanke Gestalt und schiebe ihr einen Sattel als Polster zurecht.

Hinten in der Kluft stehen die Maultiere und verweigern das Futter. Ihre langen Ohren spielen ängstlich, und die Augen sind starr und furchterfüllt. Ich streichele sie, und als ich die Nase der Stute mit den weißen Ohrspitzen an mich drücke, fährt mir eine rauhe große Zunge liebkosend über die etwas stoppelige Wange. Zum Rasieren war heute keine Zeit.

Die Tiere sind versorgt.

Nochmals beuge ich mich über die Frau, – – sie schläft … schläft vor Erschöpfung, vor tiefer Mattigkeit. Ihre Lippen sind halb geöffnet, ein Lächeln umspielt den Mund, eine breite Locke des blonden Haares weht unter dem Hutrand im Winde.

Und ich krieche zum Terrassenrand, schiebe den Kopf darüber hinaus, blicke in die Tiefe.

Drüben im Süden ist der Kessel ohne Ufer.

Hier unter mir springt die Steilwand zurück, und glatter flacher Fels schimmert im Lichte dreier Holzfeuer.

Zelte stehen da …

Zwei Mann in Matrosentracht schreiten hin und her: Wachtposten!

Und – – sehe ich recht?! Dort liegt auf zwei Fahrgestellen die Pinasse!!

Sam Sloman hat wirklich alles gründlich vorbereitet, – – und hat Glück gehabt! Seine Jacht zerschellte, aber das stärkere Motorboot entkam der Strömung, und Sloman schleppte es mit sich durch den Höllenpfad bis zum Hexenkessel, um Pierre Lacombes goldenen Raub zu fischen.

Der Narr!

Und – – der Mörder! –

Noch weiter beuge ich mich vor …

Ein Windstoß läßt die Brände höher flackern.

Was ist es?

Sehtäuschung?!

Liegt dort nicht …

… Ich muß erst Atem holen, mich beruhigen.

Liegt dort nicht neben dem großen Zelt ein Gefesselter?

… Die Feuer sinken zu qualmenden Stößen zusammen.

Flackern abermals hoch.

Meine Pulse jagen …

Taskamore?!

Mein Freund und Bruder Taskamore dort, zweihundert Meter unter mir als Gefangener – – gefesselt, ein wehrloses Bündel?!

Er ist es …

Soeben beugte sich einer der Wächter über ihn, nahm einen brennenden Scheit, die Fesseln zu prüfen.

Ich fahre hoch, werfe mich zurück.

Stehe da, vor mir diese Hölle der brodelnden Wasser, in mir die Hölle des Tatendrangs.

Meine Lippen, mein Gesicht sind blutleer.

Ich fühle es.

Die ungeheure Erregung hat mein Herz zusammengepreßt. Jetzt pocht es, pocht rasend, – – und der unheimliche Donner des Höllenpfuhls erscheint mir nur wie das Singen des eigenen Blutes in den mißhandelten Ohren.

Margot wecken?!

Und dennoch: Sie muß wissen, was ich plane …

Sie schläft …

„Margot … Margot …!!“

Ein leises Gähnen, ein Blinzeln in die Mondscheibe …

„Margot, sie haben Kamo gefangen!“

Ich schreie es ihr wieder ins Ohr …

Und sie versteht. Richtet sich auf. Wäre sie eine Frau jener Art, die im Leben nichts als die verweichlichende Üppigkeit jener „Damen“ gekannt hätte, die aus Langerweile und Eitelkeit mit schöngeistigen oder wohltätigen oder gar politischen Fragen sich in aller Öffentlichkeit befassen und jeden Morgen die Spalten der Zeitungen durchsehen, ob auch ihr Name gebührend erwähnt sei, hätte sie mir wohl kaum die Antwort gegeben, die unter diesen Umständen alles besagte: „Wie kommen wir hinab, Olaf?“

Ihr war es selbstverständlich, daß für Taskamore sofort etwas geschehen müsse. Sie stand elastisch auf, reckte sich, vertrieb jede Spur von Schlaftrunkenheit und schob sich vorsichtig zum Rande der Terrasse, um selbst zu sehen, was ich ihr nur angedeutet hatte.

Margot besaß jenes Pflichtgefühl den Freunden gegenüber, das die eigene Person, die eigenen Wünsche hintenansetzte. Kamo war gefangen, also mußte er befreit werden. Das war die einfache Richtlinie unserer Gedanken und Handlungen.

Als sie wieder vor mir stand, deutete sie nach Osten, wo die Terrasse als schmaler Felsgrat sich in die milchige Dämmerung der Tropennacht verlor. Auch ich hatte bereits im Stillen dieselbe Hoffnung gehegt. Vielleicht führte dieser Pfad draußen zu der Felsenmauer mit dem wasserüberfluteten Riesenfenster, vielleicht würden dort irgendwo unsere mitgebrachten Stricke lang genug sein, die Tiefe zu erreichen.

Wir wanden uns die Leinen um Schulter und Hüfte, nahmen die Waffen, ich schritt voran, und schon nach fünfzig Metern war der Felsgrat so schmal, daß die Schuhe kaum mehr Platz hatten. Mit dem Rücken an die Steinwand gelehnt, machten wir einige Zeit halt.

Unter uns fielen die Felsen senkrecht in das Becken ab. Das Becken war ein brodelnder See, sicherer Tod. Felszacken tauchten dort im Gischt auf, Sprungnetze, die von einem Menschenleibe nur Fetzen übrig ließen.

„Schuhe aus!!“

Unsere Fußbekleidung war für diesen Weg völlig ungeeignet. Der nur bestrumpfte Fuß schmiegt sich leichter dem Gestein an.

Margot wehrte ab und deutete nach unten.

Was mir entgangen, sie sah es.

Unter uns, zehn Meter tiefer, sprang das Gestein als wagerechter Grat weiter vor und schien nach Osten zu recht lang zu sein.

Ich seilte Margot an.

Die beiden Wachtposten rechts von uns im Lager Slomans schlenderten stumpf auf und ab und hatten nur Augen für den noch weiter rechts liegenden Höllenpfad.

Margot schwebte. Ich mußte acht geben, daß sie nicht lockeres Gestein wegriß, das durch sein Poltern uns verraten hätte.

Wir waren nur noch kämpfende Menschen, die der starren Natur etwas abtrotzen wollten, das sie mit aller Gewalt verweigerte. Wir wollten siegen, und von unserem Siege hing Freund Kamos Befreiung ab. Es war ein hoher Preis, um den wir kämpften, aber Seite an Seite mit Margot fühlte ich meine Kräfte verdoppelt. Mochten dieser Höllenpfuhl und seine Umgebung auch noch so heimtückisch durch den orkanartigen Lärm den ehernen Willen zu schwachem Zagen herabzudrücken suchen.

Margot schwebte, landete.

Ihre Gestalt, dunkel gekleidet wie ich, konnte niemandem auffallen.

Außerdem waren es bis zum Lager Slomans noch reichlich hundertachtzig Meter, und selbst die klarste Mondnacht verwischt die Konturen und färbt alles in verwaschenes Blaugrau.

Nun ich!

Da war eine Ritze, ein schmaler Steinkeil …

Es ging nicht anders, ich mußte das Seil um den festgepreßten Keil schlingen. Vielleicht widerstand der Keil dem Druck. Wenn nicht, – Margot mußte mich auffangen. Wir hatten zwei Leinen vom Motorboot mitgebracht, jede fünfzehn Meter lang. Die eine knotete ich mir um die Brust, die andere schlang ich um den Keil.

Ein Zufall nur ließ mich nach rechts blicken.

Auf der Terrasse, wo die enge Kluft mündete, tauchten helle Gestalten auf – Matrosen …

Es war Schreck, der mich packte, eisiger Schreck. Wir saßen in der Falle …

Aber noch war nichts verloren.

Ich rutschte über den Abhang, hing frei in der Luft, nur die Schulter am Gestein, nur die Füße gleichfalls als Unterstützung benutzend. Ich pendelte etwas, – Hand um Hand abwärts, – – und dann inmitten des Getöses des Hexenkessels ein pfeifender, singender Ton …

Bleispritzer schrammten mir das Genick.

Der erste Schuß …

Die Kerle auf der Terrasse hatten mich entdeckt.

Diese bissigen, surrenden Wespen kannte ich. Kein Knall, – nur das Zischen und Pfeifen, die Aufschläge gegen den Felsen, und Steinsplitter, Bleisplitter.

Ich sauste abwärts. Meine Handflächen brannten.

Ich landete neben der Kameradin, schob sie vorwärts – gen Osten.

Das kahle, kalte Gestein hatte Erbarmen.

Der Felsgrat stieg und senkte sich, enge Stellen kamen, – wir sprangen, aber der Pfad war gangbarer, als wir es ahnten.

Mildtätig wölbte sich das Gestein über uns zu langen Buckeln.

Ich blickte mich um.

Todesangst ließ den Herzschlag stocken.

Margot, der ich vorausgeeilt, war zusammengesunken, lag kniend vornüber, die Hände aufgestützt, sank völlig zusammen.

Ich war bei ihr …

Hob sie empor …

Über meine Hand rann es warm und feucht.

Ich hob den Kopf …

Ein irres Lächeln sah ich, das plötzlich weich und zärtlich wurde und dann gefror zur Maske des Todes.

Die Augen erloschen, und diese Augen hatte ich geliebt, weil ihre herbe Strenge kein süßer Trug gewesen. Die Gestalt in meinen Armen wurde schwer, immer schwerer …

Todesblässe überzog das frische Gesicht.

„Schurken!!“, brüllte ich … „Schurken!!“

Aber nur der Höllenpfuhl hörte es, aus dem das Toben der sich bekämpfenden Wasser emporstieg.

„Schurken!! – – Meine arme Margot, mein treuer Kamerad, – – Schurken!!“

Schmerz, Grimm, Wut, – nichts half es!!

Nichts!

Mann sein – auch hier!

Was half es?!

Nicht Zielscheibe sein für diese Bestien da oben …

Und deshalb – – weiter!

Aber – – Rache, doppelte, dreifache Rache!! Später!

Im Haß steckt Furcht.

Im lodernden Gefühl der Rache steckt Kraft, Tatwille.

Weiter also … Und das eigene Leben schützen, erhalten für den großen Augenblick, da ich Sam Sloman hineinwirbeln würde in den Hexenkessel …

Dafür leben! Margots wegen!!

Weiter …

Der Felsgrat ward zu breiter Bahn voller steiler Trümmer. Fels an Fels lag hier, – ich hatte die Außenmauer des Beckens erreicht, ich war in Sicherheit. Links hörte ich den Ozean hineinfluten in den Kessel, rechts vernahm ich das Donnern des Katarakts.

Und da fiel die wilde Erregung von mir ab …

Eiseskälte verspürte ich auf der Haut.

Der Rückschlag kam nach diesen letzten Minuten tollen Ringens gegen die tückische Hölle.

Ich ließ Margot sanft zu Boden sinken, bettete ihren Kopf höher …

Und die rebellierenden Nerven gehorchten wieder.

So eisigkalt wie mein Leib scheinbar geworden, so kalt war meine entwirrte Gedankenkette.

Ich schlüpfte zurück …

Ein Kerl schwebte da an meinem Seil …

Einer von denen!

Erbarmen?!

Hatten sie Erbarmen gehabt?!

Ein Feuerstrahl fährt aus der Mündung der Büchse, der Mann an der Steilwand saust wie ein Bleiklotz in den wirbelnden Kessel, die Leine pendelt harmlos im Winde …

Was an Gestalten noch dort droben, verschwindet, wirft sich nieder, wird nicht wieder sichtbar.

Die kommen nicht wieder …!

Aber – was tut es …?!

Dort ruht die Tote, still, das unergründliche Lächeln um die Lippen, das nur die im Tode beibehalten, die reinen Herzens eingingen in die große Ewigkeit.

Ich sitze neben ihr.

Allein.

Ganz allein …

Und der Schmerz schleicht heran mit all seinen leeren Gedanken, mit seinem zwecklosen Hadern mit dem Geschick …

Margot Sheridan war meine Gefährtin …

Und ist … tot!

Tot …!

Unausdenkbar: tot!

Und doch ist es so …

Die kleine Kugel irrt wahllos im niederträchtigen Lauf, sucht wahllos ihr Opfer.

Weshalb nicht mich?!

Weshalb lebe ich …?!

– – Taskamore!!

Ich habe Pflichten.

Freund, Bruder, – jetzt gefangen, abgefangen von dieser Mörderbande, die da auszog, Gold zu erraffen, wo Gold bereits vorhanden! War Sloman nicht einer der Reichsten der Hafenstadt New Orleans!!

Aber der Pesthauch der Goldgier war um ihn und seine Gefährten …

Uns knallten sie nieder, ließen uns in den Dornen zurück – – noch lebend!

Damit wir in den Dornen krepierten, das Fleisch voller Stacheln, Dornenkrone ringsum!

Bestien also!!

Und wieder trieb es mich hoch …

Jetzt – Taskamore!!

Hütet euch, Bestien, ihr habt den Dämon in mir geweckt, – der El Gento von einst lebt noch, den seine Araukanerfreunde[7], den ein Coy Cala aus dem trägen Schlaf entschwindenden Philistertums weckten!

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“, – das Gesetz der Starken, der Freien, der wirklich Freien, die für die gemästete, geschniegelte Brut der Kulturstätten nichts als Verachtung empfinden und die in innigster Liebe zur Natur und ihren Geschöpfen natürlich empfinden lernten.

Dort zu meinen Füßen, – das war die Natur, war Hölle, aber ehrliche Hölle, ohne die Phrasen, die von Schleim triefen und wie Schleim kleben, mögen sie noch so aufgeputzt sein.

Das war Hölle, aber war auch Kraft, bewegtes wildes Leben und Vernichten, Kampf, tobender, lärmender Kampf.

Ich begann den Höllenpfuhl zu lieben.

Und kroch weiter, den blutbefleckten Weg zurück, den Margots Herzblut gezeichnet hatte.

Die roten Tropfen glänzten matt im Mondschein …

Verrinnendes Leben war es …

Tod!

Für mich Ansporn, nicht zu vergessen, daß keiner dieser Goldsucher entkommen dürfte!

Singend fegt die Kugel vorüber, zerspritzt.

Singend kommt die nächste …

Eine Salve wird es.

Von unten feuern die Schurken, liegen gut in Deckung, im Schatten.

Die Lagerfeuer sind gelöscht.

Zwischen dem Gestein funkt es auf …

Hier … Dort …

Ich stehe, mondhelle Zielscheibe …

Ich muß zurück …

Schufte, eure Stunde kommt!

Nicht einer – – nicht einer wird entrinnen. Ich bin zäh.

Und Margots stilles Antlitz lächelt mild.

Nur nicht weich werden …

Ich habe das eine Seil, ich werde alles wagen.

Und wende mich gen Süden, schreite über Felsen, die unter sich dem Ozean Zutritt gewähren, die noch keiner betrat.

Keiner?!

Stutze …

Spitzhacken liegen da …

Ein Loch geht senkrecht in das Gestein.

Andere Werkzeuge liegen umher …

Ich kenne mich aus, ich weiß, daß die vier, die die Blockhütte bewohnten, hier ein Sprengloch hergestellt haben.

Sollten sie etwa …?!

Ein unmöglicher Gedanke scheint es.

Sollten sie etwa die gewaltige Felsmasse über dem Fenster des Ozeans, diese steinerne Fensterleiste, haben wegsprengen wollen?

So sprengen, daß der Ozean keinen Weg mehr fand in das Becken …!

Ein ungeheuerlicher Plan!

Wieder wandere ich weiter …

Ein zweites senkrechtes Loch …

Bald ein drittes, viertes – in weiten Abständen!

Nun habe ich Gewißheit.

Ja – sie wollten das Tor des Meeres schließen, damit der Hexenkessel sich beruhigte, damit sie hinabtauchen könnten nach Pierre Lacombes Schätzen.

Niemals würden sie diese gewaltige Arbeitsleistung gewagt haben, wenn sie nicht gewußt hätten, daß der Höllenpfuhl wirklich die Flibustierbeute berge!

Welch’ ein Unternehmen!

Was für eisenharte Kerle müssen es gewesen sein, die diese Arbeit in Angriff nahmen und die außerdem jeden Fremden erledigten, der sich hierher wagte!

Mörder, – nebenbei aber Giganten ehernen Willens!

Jahrelang hier hausen, bohren und sprengen, Sprenglöcher schaffen für unendliche Mengen Dynamit, Nitroglyzerin oder sonst ein Teufelszeug!

Ja – sie hätten das Tor des Meeres versperrt, – – die Kerle hätten auch das Gold herausgefischt!

Und dann kam Sam Sloman, fett aufgedunsen, ein elendes Vieh, – und seine Kreaturen machten Schluß mit den ehernen Kerlen, wollten selbst die Beute ergattern, – – Gold, Gold, – – die Pest der Erde!

… Ich stand nun in der Mitte der Felsenmauer, ich schritt zur Seeseite hinüber, fand einen Platz, wo ich die hereinquellenden Wogen beobachten konnte …

Sie rollten daher wie stolze Rosse, ihre weißen Mähnen berührten den Oberrand der endlosen Pforte, gurgelten hinein in den Kessel, prallten auf die Wasser des blanken Katarakts, kämpften, brüllten, tobten …

Naturwunder, – besagt das genug?!

Dämonische Naturkräfte – – Höllenpfuhl …

Das ist es.

Und ich liebe ihn.

Seine urwüchsige Wildheit jagt das Blut leichter durch die Adern.

Kraft spendet Kraft.

Ich wende mich zurück …

Suche nach einer Stelle, wo ich die Leine gebrauchen könnte. Hinab will ich in den Pfuhl, an seinen Nordrand, wo die Wasser etwas friedlicher.

Der Mond verkriecht sich hinter Gewölk.

Mir recht.

Ich brauche kein Licht. Die Dunkelheit ist die Freundin der Diebe und der Starken.

Ich klettere von Zacke zu Zacke …

Noch zwanzig Meter …

Unter mir brodelt der Pfuhl …

Ringsum nur glatte, nasse Mauern.

Ich will!!

Und noch fünf Meter …

Eine Spalte, ein Felsklotz …

Leine befestigt, Büchse ins Gestein geschoben, aber Pistolen und Messer unter dem Hut festgebunden.

Genau so schwamm ich auf La Muerta zu Slomans Jacht, um Axel zu befreien.

Ist das alles nicht nur Traum gewesen?! Leben wirklich auf Muerta die kleinen, höflichen Menschlein, denen der Ekel vor der Schaubühne den Gedanken eingab, fernerhin im Verborgenen für tot zu gelten?!

All das scheint mir unendliche Jahre zurückzuliegen, all das ist noch unwirklicher als einst unser Marsch durch die Riesenhöhle oder unsere Kämpfe um den Maya-Tempel.

Maya …!

Margot-Maya …

Margot-Maya …

Es war. Sie war … Alles war.

Und sie ist tot.

Wieder will der Schmerz mich schwächen.

Aber das Seil hängt bis in die Flut hinab, und Taskamore wartet.

Ich packe die Leine, rutsche, gleite …

Der Mond schillert durch die Wolken wie ein ferner runder Lampion.

Venezianische Nacht …!

Das … das war doch die Nacht der Papierlaternen auf La Muerta …

Damals wählte die zierliche Anita den würdigen Doktor Goliath.

Seltsam, – – alles so traumhaft …

Aber hier …?!

Meine Beine spüren bereits die klatschenden Spritzer, – ich sinke, halte noch das Seil, eine Strömung reißt mich nach Süden …

Und dann ringe ich im Hexenkessel um das bißchen Leben, fühle die Muskeln steif werden, schlucke Wasser, gehe unter, komme wieder hoch …

Wie lange dieser wahnwitzige Kampf?!

… Bis mich, den halb Bewußtlosen, Zerschundenen, gänzlich Erschöpften, der Höllenpfuhl gerade dort ausspeit, wo vorhin Slomans Zelte standen.

Das Lager ist verschwunden.

Kein Zelt, kein lebendes Wesen …

Und Dunkelheit.

Das Firmament hat sich in eine schwarze Decke gehüllt.

Wie eine Riesenschildkröte krieche ich weiter, falle zur Seite, speie das Wasser aus, liege still …

Die Gedanken klären sich.

Ein Griff nach dem Kopf …:

Hut und Waffen entriß mir das zornige Wasser.

Brüllt mir zu:

„Hilf die selbst …! Hilf dir selbst!“ – Ich lache schrill …

Ich werde mir helfen.

 

11. Kapitel.

Auch Taskamore …

Mr. Sam Sloman hat das Lager im Schutze der Dunkelheit in den Ausgang des Höllenpfades verlegen lassen. Feuer fauchen Garben von Funken empor, um das eine sitzt die Elite der Herrschaften, Sloman, Frau, Tochter nebst Anhang.

In silbernen Bechern dampft Tee, der Duft von Grog zerstäubt aus den Bechern Sam Slomans und seiner Gentlemen, und von Hand zu Hand wandern alte Goldmünzen, Goldbarren, – all das, was man den vier Kerlen abnahm, die sich hier als Herren aufspielen wollten.

Nebenbei liegt keuchend und mit blutigem Schaum auf den Lippen ein Mann.

Taskamore …

Gefesselt.

Und ich liege zehn Meter weiter zwischen Geröll und beiße mir die Lippen wund vor ohnmächtigem Groll.

Der Höllenpfuhl hätte mir die Pistolen nicht stehlen sollen!!

Vierzehn Personen zähle ich.

Vier Weiber …

Damen.

Damen …!!

Die Goldbarren werden geschätzt. Sloman sagt heiser:

„Es liegen Millionen in dem Kessel. Aber …“

Aber?!

Die Runde schweigt.

Keiner weiß Rat.

Die Gesichter verzerren sich im Flackerschein der knisternden Glut zu Fratzen.

Taskamore stöhnt schwer.

Hier, hinter der ersten Biegung des Pfades zur Hölle, wird der Lärm des Kessels abgeschwächt. Hier versteht man Worte.

„… Der Kerl macht es nicht mehr lange …“, sagt einer der Gentlemen und wirft seinen Zigarettenstummel nach Taskamore.

Mein Herz ist tot.

Margot verlor ich, Kamo stirbt.

Und ich?!

Und diese Brut da vor mir, geboren aus stinkendem Reichtum, niemals satt, wenn es um das Gold geht …! Wie komme ich an sie heran?! Wenn ich die Pistolen noch hätte!! Das wären achtzehn Schuß, achtzehn Treffer, und – – keiner von denen da sollte noch die Sonne aufgehen sehen!

Taskamore stöhnt …

Keiner sieht nach ihm.

Krepieren lassen sie ihn wie einen räudigen Hund, zusammengeschnürt haben sie ihn wie ein Bündel, – – Feiglinge, Memmen, Jämmerlinge!

Das Mädel da neben einem ganz feinen Gentleman sagt naserümpfend:

Der stört …! – Laß ihn wegbringen, Pa!!“

Pa ist der fette, schwammige Sloman mit der Walroßschnauze.

Pa weigert sich.

„Wenn der Bursche wieder bei Besinnung, soll er …“

Das weitere verschlingt der Lärm der Hölle.

Die Runde am Feuer lacht schallend.

Frau Sloman, dürr, mit Habichtsnase, schrägen Augen und viel Schminke, gähnt hinterher.

„Gehen wir doch schlafen, Sam!“

Sam kollert ärgerlich: „Das verfluchte Motorboot mit dem Zeitungsmädel und dem Kerl aus Truxillo ist entwischt … Ich warte auf die Meldung …“

Taskamore wälzt sich hin und her.

Meine Lippen sind blutig …

Nichts ist furchtbarer, als das Gefühl der Ohnmacht.

Die Lagerfeuer knallen noch lauter. Ein Matrose wirft Scheite hinein. Es ist Wrackholz, angespült von Schiffen, die der Rachen des Ozeans an sich zog.

Das feuchte Holz dunstet, qualmt …

Wolken kreisen hoch, verschwinden im Finstern.

Der Himmel ist schwarze Decke ohne Lichtpünktchen, und die Windstille verheißt Regen.

Er kommt.

Urplötzlich.

Nur die Nacht der Tropen kennt diese Art Überraschung. Nur die Finsternis speit derartige Gießbäche aus.

Es ist, als ob jählings droben am Firmament ein Riesenbottich umkippt.

Schreien, Quieken, – die Damen flüchten, die Feuer zischen, erlöschen, – auch hier wird es Nacht.

Und den Augenblick nutze ich.

Wo die Büchsen der feinen Runde lagen, weiß ich …

Ein Schatten packt zu, errafft drei, vier, – – verschwindet …

Greller Lichtkegel fährt blendend durch die Finsternis: Der Scheinwerfer der Pinasse, die dort auf Rädern ruht.

Und ein Hieb trifft mich ins Genick, daß ich vornübertaumele, – – eine rauhe Kehle brüllt:

„Achtung – – wir haben ihn!!“

Haben ihn?!

Mein Junge, nicht allzu vorschnell urteilen!!

Haben ihn nicht …!

Der arme Hase rollt absichtlich weiter, reißt den Riesen Sloman um, und Sam Slomans Goldzähne fliegen wie Leuchtkäfer!

Schlaff hängt der Kerl mir im linken Arm.

„Schießt doch, Halunken!!“

Sie stehen da, Weiber, Schufte, Mörder …

Scheinwerferlicht zeigt ihnen mein fettes Schild.

„Schießt doch!!“

Und die Riesengestalt sackt zusammen, ich mit ihr …

„Schießt doch!!“

Das ist Dreck von Büchse, die ich da anlege.

Da ist der Kerl, der mir den Genickschlag gab.

Schade …

Heulend wirft der Bursche seine Waffe hin … Die Kugel traf schlecht …

Die nächste fährt in den Scheinwerfer – noch eine, – und der Lichtkegel kriecht zurück in seine Metallkapsel, erlischt.

Finsternis.

Ich bin bei Laune …

„Sam Sloman, – damit du dir das Kinn kühlst …!!“

Und der schwere Leib schleift über Geröll, fliegt in den Hexenkessel!

„Denk’ an Taskamore, Sam Sloman, falls du noch mal beim Zahnarzt sitzt!“

Vom Lager her das Gebell kreischender Stimmen …

Laternenlicht huscht hin und her …

Kugeln singen, klatschen …

Laternen erlöschen …

Ich trage meinen Bruder Kamo abseits, und ein Messer fährt durch die Stricke, – – dann ein paar Schüsse …

Und eine Explosion, als ob der Hexenkessel explodierte.

Der Luftdruck wirft mich nieder … Ich schlage mit dem Kopf hart auf …

Es wird Nacht und Stille in mir. – –

– – So sehr ich mir auch die Augen wische und mich wirklich zu ermuntern suche: Neben mir sitzt der kleine, höfliche Doktor Goliath und schaut mich mit pfiffig-ernsten Augen an und schüttelt mißbilligend den etwas dicken Zwergenkopf.

„Ich bitte, liegen Sie still! Sie haben eine Gehirnerschütterung.“

Ich bin jedoch bereits körperlich und geistig so weit, gegen die wohlmeinenden Ratschläge des trefflichen Prinzgemahls rebellieren zu können, obwohl mir noch sehr vieles unklar ist.

Ich kann nur vermuten, daß ich noch auf La Muerta als Verwundeter liege und einen bösen Rückfall gehabt habe und daß alles, was den Höllenpfuhl betrifft (ich erinnere mich an alle Einzelheiten), dem hohen Fieber zuzuschreiben war.

In diese unrichtige Erkenntnis schlägt wie ein Blitz der tosende Lärm des Hexenkessels hinein. Das kann keine Täuschung sein, – – das ist das Ende des Pfades zur Hölle.

„Gehirnerschütterung?!“, sage ich geringschätzig. „Das bißchen Kopfschmerzen?! – – Wie kommen denn Sie hierher, Doktor Goliath?“

Das Zelt über uns ist durchsichtig hell, die pralle, grelle Sonne scheint darauf hernieder, und die Salzluft des Meeres ist etwas fade vor Hitze.

Der Zwerg in dem tadellosen weißen Anzug rückt seine Krawatte etwas nervös zurecht.

„Hm, – Anita glaubte, Sie können hier vielleicht doch Hilfe brauchen. Anita hat geradezu hellseherische Veranlagung. Das ist bei einer Ehefrau, die ohnedies ihr geistiges Übergewicht nicht unter den Scheffel stellt, etwas unbequem.“

Er gestattet sich eine Kunstpause.

Stark melancholisch gefärbt, fügt er hinzu:

„Anita hat das regste Interesse an Ihrem Wohlergehen – hm, – – auch an Axel Baargö, – hm, – – dem geht es ja gut … auch Helen Gart. Jedenfalls segelten wir mit Gottlob Himmel hierher … Unsere Armee fand wenig zu tun. Die fünf Matrosen an der Bucht sind durch Himmel und uns gen Himmel gefahren, und als wir hier anlangten und auch einige Schüsse abgaben, explodierte das Dynamit, das Mr. Sloman in der Pinasse verstaut hatte … Es war eine beträchtliche Katastrophe, lieber Olaf, und die Wirkung war zum Teil entsetzlich.“

Mein Hirn funktioniert doch noch nicht so vollkommen, um mir die vorausgegangenen Tragödien klar vor Augen zu führen.

Es ist eigenartig, – aber ich denke bisher weder an Margot, noch an Taskamore.

Der winzige Doktor, dieses liebe Kerlchen, spricht weiter, spricht sogar ganz gegen seine Gewohnheit sehr schnell und abgehackt, vielleicht um mich abzulenken.

„Die Sloman-Expedition besteht nicht mehr … Die Explosion machte gründlich reinen Tisch …“

Er hüstelt …

„Zu gründlich … Man wird denen, die da vielleicht lebend in den Hexenkessel gefegt wurden, ein gewisses Mitgefühl nicht verweigern können … Wir Menschen haben ja alle unsere Fehler und Schwächen …“

Jetzt seufzt er unmerklich.

„Meine Gattin auch … Und ich erst recht. Ich sei zu steifleinen, meint sie, zu sehr auf Würde bedacht, mir fehle der heroische Zug, das Temperament. – Lieber Abelsen, wie soll ich ein Held werden?! Soll ich vielleicht mit Kopfsprung in den Höllentopf tauchen und des alten Piraten Schätze hervorholen?! Das wäre genau so, als ob man in einen kochenden Bräubottich eine Wanze würfe, damit sie …“, – er stoppt ab – „pardon, Wanze wollte ich nicht sagen, es klingt zu unfein, sagen wir also Küchenschabe oder Mauerassel …“

… Ich höre nicht mehr hin.

Jäh sind die bisher verschlossenen Kammern meines Gedächtnisses geöffnet worden, in denen Margots und Taskamores Andenken schlummerte.

Das Blut schießt mir zu Kopfe …

Margot ist tot!!

Und Kamo?!

Ich setze mich aufrecht.

Mir ist etwas schwindelig …

Margot tot?!

Vielleicht nur ein böser Traum?!

Und ich schreie den kleinen Doktor an:

„Wo ist Kamo? Wo ist Margot?“

Er erschrickt und verzieht ärgerlich das faltige Gesicht.

„Olaf, Sie haben eine Gehirnentzündung …“

„Den Teufel habe!! Wo sind die beiden?“

Doktor Goliath faltet auf seinem Stuhl die Hände und blickt starr geradeaus.

„Olaf, wir haben bereits begonnen, für Lady Sheridan auf der Terrasse über der Lagune …“

„Höllenpfuhl!“, korrigiere ich atemlos, denn wie kann dieser kleine Herr von Lagune reden!

„… auf der Terrasse ein Grabmal zu errichten, das Ihren Wünschen hoffentlich entsprechen wird. Die arme, schöne Lady ist sauber gebettet, die Kräuter ihres Lager werden die Verwesung verhindern, ich ließ sie sammeln, es sind Abarten von Kampferbäumen, …“

„Und Kamo?“, – meine Stimme ist rauh und fremd.

„Ist unterwegs zur Bucht auf einer Krankenbahre, Olaf, die zwischen den Maultieren hängt. Falls Sie …“

„Wie geht es ihm?“

Doktor Goliath reibt die Hände und hebt die Schultern und schweigt erst.

Dann sagt er leise, zu leise:

„Für einen Sterbenden hielt ich den Lärm hier nicht recht geeignet, Olaf. Immerhin, auch drei Kugelschüsse durch die Brust sind nicht unbedingt ernst zu nehmen, falls die Natur sich selber hilft, und – das hoffe ich – – vielleicht, wie gesagt, vielleicht, – obwohl …“ Und er blickt etwas scheu zur Seite.

„… Sie sollten transportiert werden, sobald die Maultiere zurück sind, Olaf, und …“

Ich erhebe mich und trete rasch ins Freie.

Das eine Zelt hier ist unser Zelt, und außer Doktor Goliath und mir befindet sich niemand in dem Höllenpfad hier unten.

Mein Blick fällt auf die Steinwand drüben. Ich habe meine Nerven bereits genügend in der Gewalt, und der gräßliche, warnende Wandschmuck dort tut mir nichts an.

Was dort die dunklen Steinwände verunziert, sind grauenvolle Spuren der unheimlichen Kraft der Explosion …

Rötliche Stellen …

Und in eine Ritze eingeklemmt ein Teil des Motorbootes …

In eine andere ein Teil des Rades des Wagens.

Nach dem Höllenpfuhl hinab aber zieht sich eine glatte, reingefegte Tenne …

Kein Stein, kein Steinchen mehr …

Alles blies der Odem des Dynamits hinweg.

Ja – Doktor Goliath hat vielleicht recht: Vergegenwärtigt man sich den grauenhaften Abschluß dieser Goldsucher-Tragödie, dann überkommt selbst den Verhärtetsten das Mitleid! Es waren ja nur irrende Menschen, – – wie wir alle es sind! Daß sie mir die Kameradin erschossen und den Bruder mir aufs Sterbelager warfen: Schicksal!

Wir sind Sandkörnchen, die der Wind des Weltengeschehens willkürlich über die Erde treibt, – den einen auf guten Pfaden, der anderen auf bösen, aber das Ende ist uns allen gemeinsam, das letzte Ziel: Sterben müssen!

… Ich wende mich ab.

Allein steige ich den Höllenpfad empor, Schritt für Schritt, ein einsamer, müder Wanderer …

Margot ist tot …

Taskamore wird sterben.

Ich ahne es.

Alles hat mir hier das Geschick geraubt, woran mein Herz noch hing.

Ich biege in die Schlucht ein …

Und stehe dann auf der Terrasse[8].

Sechs der kleinen Freunde arbeiten hier, und ihr Werk ist bereits weit gediehen, ein viereckiger Steinhügel, nach oben sich verjüngend.

Sie begrüßen mich mit all dem Zartgefühl, das ihnen eigen – wie einen Leidtragenden, mit dem man ehrlich mitempfindet. – Hinter dem Mausoleum Margot Sheridans taucht noch eine Gestalt auf, – – der Herr Außen- und Innenminister von Muerta, Gottlob Himmel. Der Goldzahn leuchtet traurig, und zwei Pranken, Handschuhnummer 14, umschließen meine Hand …

„Lieber Olaf, … ich …“

Dann schluckt der gute Gottlob an einem dicken Kloß, hüstelt, blinzelt, und führt mich still an die offene Gruft.

Ja, sie haben Margot so gebettet, wie wir es nie hätten tun können … Lichte Seide umfließt die starre Gestalt, und das blonde Haar ist sichtbar.

Und ein scharfer Geruch steigt mir in die Nase, – – ich bücke mich über den Wall.

„Besser nicht!“, sagt Gottlob schluckend. „Besser, Sie behalten sie so im Andenken, wie Sie sie lebend kannten. Der Tod ist ein grausamer Maler, lieber Olaf.“

Ich ziehe die Hand zurück, und als ich mich dann zur Seite wende und den riesigen Wasserfall stürzen sehe, der wie abrollende Seide ist oder wie ein unruhiger Spiegel, glaube ich auf der blanken Fläche die herbe lächelnde Frau zu erblicken, die mein Kamerad gewesen …

Das Herz blutet mir.

Durch meine Seele geht ein Riß …

Aber auch der wird heilen.

Die Zeit heilt alles. Und was einst qualvoller Schmerz gewesen, wird liebe Erinnerung und wehe Sehnsucht.

Ich setze mich nieder.

Hinter mir fügt sich Stein auf Stein, hinter mir kommandiert der Himmel, und über mir leuchtet ein Himmel, sonnentrunken, lichtdurchflutet, und vor mir rauscht und brandet das Höllenbecken.

Aber heute ist der Wind umgesprungen, kommt von Land, nur kleine Wogen rollen durch das Fenster des Ozeans, und der Höllenpfuhl ist zahm und friedfertig im Vergleich zu gestern Nacht.

Die düsteren Berge, die ihn einrahmen, erscheinen lichter, froher. Margots Mausoleum wird hinausblicken über die dunklen Zacken in das grüne Hochland von Honduras, in das Land der Verheißung.

„Fertig!“, sagt Gottlob äußerst würdig und hält in der Linken Farbtopf und Pinsel. „Ich dachte nur, Sie wünschen eine Inschrift … Wir haben da in der Schlucht eine dünne, große Steinplatte gefunden und vorn mit angebracht.“

Inschrift?!

„Lassen Sie es, Himmel! – – Oder nein, es könnten Neugierige kommen … Schreiben Sie, pinseln Sie:

Lady Margot Sheridan.

Und dahinter ein Kreuz, darunter den gestrigen Tag.“

Gottlob mag einst Reklameschilder gemalt haben.

Was er auf den Stein tuscht, verdirbt nicht das Feierliche des Steingrabes.

– Auch das ist getan.

Taskamore ruft …

Wir treten den Rückweg an, holen Doktor Goliath und das Zelt und wandern den Höllenpfad empor bis zur Paßhöhe, steigen abwärts …

Und – – ich schreibe …

Es ist Wohltat, die Gedanken von dem Augenblicklichen abzulenken. Es ist Wohltat, den nagenden Schmerz durch dieses Zusammenraffen der Gedanken fortzudrängen.

Dann höre ich Stimmen am Ufer, erregte Stimmen. Axel, Helen und drei der kleinen Leute nahen im Eilschritt. Der semmelblonde Axel schwenkt ein Papier …

Winkt …

Leise steige ich über Bord, stehe im Geröll.

„Den Zettel fanden wir drüben unter einer Schutzhalde am Ufer … Und im Wasser liegt ein Toter, von rutschendem Geröll bedeckt, der vierte der Bewohner der Blockhütte …“ Axels Stimme zittert. Dieser Mann ohne Nerven ist erregt wie ein Kranker.

„Lesen Sie, Olaf, – – lesen Sie!“

Eine halbe Seite aus einem Notizbuch ist es … Mit Bleistift bekritzelt … Englische Worte, Blutflecken dazwischen, längst braun verfärbt.

„Sie haben meine Gefährten niedergeschossen. Wir waren drei Engländer und ein Deutscher. Wir hörten in Truxillo von Lacombes Schätzen und von dem Schiff, das auf Muerta eingekeilt sein sollte zwischen Felsen. Wir fuhren hin, fanden die Inschrift, kratzten das Moos weg, klebten es nachher wieder über die Buchstaben und setzten uns hier in der Bucht fest. Wir sind keine Mörder. Die Forscher, die hierher kamen, brachten Farbige mit, die uns beseitigen wollten – – des Goldes wegen, für das wir Tag um Tag arbeiteten. Mit einem Netz hatten wir ein paar Goldbarren und Münzen herausgefischt, mit Nitroglyzerin wollten wir dem Ozean den Zutritt zum Becken versperren, einen Taucheranzug hatten wir besorgt, Sprenglöcher hergestellt, – – da kam Sam Sloman. Es ist aus mit unseren Plänen, ich habe mich hierher geschleppt, ich habe die Stahlzylinder mit dem flüssigen Sprengstoff in die Bucht gerollt … Auch ich werde sterben, und das Nitroglyzerin wird ausfließen und …“

Hier brach die Niederschrift ab.

Hier mußte das rutschende Geröll den Todwunden mit in die Tiefe gerissen haben.

Axel flüsterte: „Deshalb die toten Fische, Olaf. Es ist nun alles erklärt …“

… Als ob daran etwas läge!!

Taskamore ringt mit dem Tode …

Vor der Heckkajüte erscheint Doktor Goliath.

„Olaf, – – schnell!!“

Ich ahne, fliege, – knie neben dem Lager des Sterbenden, halte die Hand … bereits kalt, ohne Leben.

„Goliath soll gehen …!“, hauchen die brüchigen Lippen.

Wir sind allein.

Taskamores dunkle Augen, in denen bereits der tiefe Glanz des Jenseits schlummert, hängen an meinen Zügen.

Ich beuge mich ganz tief. Sein Mund formt Worte, die mich treffen wie Keulenschläge.

„El Gento, der letzte der Tounens stirbt … Vor mir starb Coy Cala, auch dein Freund, auch mit rotem Blut in den Adern … mein Verwandter. – El Gento, bette mich neben die, die ich geliebt habe, weil sie ein Weib war wie keine andere … – Ich habe sie geliebt …, und ich habe geschwiegen, – mein soll sie sein im Tode …“

Sein Flüstern ist nur noch verwehender Hauch.

Dann drückt er meine Hand … Sein stolzes, männliches Lächeln umspielt den harten Mund …

Ein letzter, tiefer Atemzug noch, und die Augen schließen sich.

Auch Taskamore hat die Schwelle überschritten, über die es kein Zurück gibt.

 

12. Kapitel.

Der spitze Schrei.

Das große Motorboot und der Segler der kleinen höflichen Leute verschwinden um die Biegung der Bucht. Gottlob Himmels roter Paraderock leuchtet als letztes Zeichen derer, die ich wegschickte, um die letzte Pflicht zu erfüllen – ganz allein.

Taskamores Leib binde ich auf das Maultier mit den weißen Ohrspitzen, besteige das andere Tier, und reite in die Schlucht hinein, die der Anfang des Pfades zur Hölle ist.

Die Sonne sinkt bereits.

Das Halbdunkel düsterer Felsmassen nimmt uns auf, klingend klappern die Hufe …

Ein stiller Zug, ein Ritt zum Grabe.

Erinnerungen werden wach …

Einst – einst brachten wir drunten am Gallegos[9] einen Toten bergan zu den Schneewipfeln der Anden, und das war Coy Cala, gleichen Blutes wie Taskamore, auch einer aus dem Abenteurergeschlecht der Tounens.

Heute …

Stiller Zug …

Wieder ein Tounens, wieder ein Mann, der mir mehr war als Freund und Bruder.

Und er … liebte Margot – – und schwieg.

Er bat: „Im Tode laß mich neben ihr ruhen.“

… Als ich die Terrasse erreiche, flammt Margots Mausoleum im glühenden Rot der sinkenden Sonne.

Die Berge glühen, der Ozean zeigt Feuerbahnen, der Wasserfall ist rosige, rollende Seide.

Mit hängenden Köpfen stehen die Maultiere, unberührt von dieser Farbenorgie, von dem Toben und Brausen des Höllenpfuhls, dessen weißer Gischt nicht weiß ist, – – auch er trägt die Farbe der Liebe.

Stein um Stein hebe ich ab.

Und bette Taskamore neben die Frau, die nun seine Geliebte, – zwei Tote, umfangen von Liebe.

Stein um Stein füge ich aufeinander, bis der Hügel wieder geschlossen.

Sinnend, vielleicht trüber denn je, stehe ich vor dem Grabstein, den des braven Gottlob Himmels sichere Hand mit Worten schmückte. Der Stein leuchtet wie roter Marmor.

Und ich, der Einsame, knie nieder und male behutsam unter Margots Namen den anderen:

Taskamore Tounens.

Und ein Kreuz.

Ich knie noch immer …

Das rosige Licht erlischt … Die Nacht kommt. Finsternis kriecht in die Schlünde, Dunkelheit über das Meer … Sterne flammen auf, blinken tröstend.

Ein spitzer geller Schrei …

Irgendwoher …

Ein Schrei, der die Stimme der Hölle übertönt …

Woher …?!

Ein Mensch – – hier?!

Und dann …, – nochmals der spitze, qualvolle Schrei …

… In den Schlünden und Klüften des Pfades zur Hölle lastet die Finsternis, und der Ozean rollt heran mit gläsernen Bergen, von denen nur noch die Schaumkronen gespenstisch leuchten …

Diese Übergangszeit von Dämmerung zur Tropennacht ist die Stunde der Ungewißheit, der verschwimmenden Konturen, der Sehtäuschungen und daher für abergläubige Gemüter die des Grauens.

Der spitze, helle Schrei, der so jäh aufflammt wie ein Fanal und so jäh erlischt wie eine ausgeschaltete Glühlampe, führt mit seinen schrillen, qualvollen, hilfeflehenden Tonwellen gleichzeitig das Schwingen und Pochen und Schluchzen eines angstgepeinigten Herzens mit sich …

… Töne, die an mein eigenes Herz rühren, als handelte es sich um das Leid eines menschlichen Wesens, dem ich die Hilfe nicht versagen darf.

Ist es ein Mensch?!

Das suchende Auge findet nichts in den kalten, starren Klüften, nichts in dem gurgelnden Kessel der geifernden Wasserhexen.

Die Augen tränen schließlich vor Überanstrengung, der vorgereckte Kopf fühlt die starre Spannung der Genickmuskeln, und doch, – – ich will helfen!

Ich stehe am Rande der Terrassenwand, verwünsche den brausenden Lärm dort in der gurgelnden Tiefe und mühe mich ab, irgendwie festzustellen, ob vielleicht ein Tier in allerhöchster Todesangst diesen Schrei ausstößt.

Ein Jaguar etwa, den ein unheilvoller Sprung auf nassem Geröll ausgleiten ließ und in die gierigen, kämpfenden Wogen des eindringenden Meeres und des endlos abrollenden, matt schillernden breiten Seidenbandes drüben, des Wasserfalles, hinabbeförderte.

Der Schrei kommt nicht wieder.

Minuten verstreichen.

Eine unerträgliche Spannung zerrt an meinen Nerven.

Die Gedanken flattern, irren ins Ungewisse, suchen eine Erklärung.

Etwa doch ein Mensch?!

Etwa ein Überlebender der Sloman-Expedition?!

Und wenn es so wäre, wenn nicht nur einer, sondern gar mehrere irgendwie an den Klippen dort unten hingen: Ich würde es als Erleichterung empfinden, denn die Stunden der besinnungslosen Rachgier sind entschwunden, ich bin Mensch, einsamer, entwurzelter Mensch, und ich habe Begreifen und Verstehen für alles.

Selbst für die Gier nach Pierre Lacombes Schätzen.

Menschen sind irrende Lichtlein, sind irrende Flämmchen, die über Sumpfboden huschen.

Leben – – Sumpf! – Es ist hart, aber es ist so: Unter der bunt schillernden Oberfläche trügerischer, morastiger Tümpel lauert das Verderben, lauern die Wünsche, die Begierden, die Unzulänglichkeiten des eigenen Ichs.

Bleigewichte, die uns hinabziehen in den trüben Schlamm. –

Vielleicht sind es die beiden Toten dort hinter mir in ihrem Steingrabe, die mir die wahre Menschengüte wieder vermittelten. Ich bin frei von jenem Überschwang des Schmerzes, aus dem die Rache geboren ward, ich fühle anders als gestern, vorgestern, ich bedauere die verirrten Seelen, die hier der Orkanstoß der Explosion in den Kessel schleuderte.

Und da …

Wieder der Schrei …

Schriller als bisher, noch durchdringender, lauter, verzweifelter …

So, als hätte das Geschöpf in diesen Minuten der Stille neue Kraft gesammelt zu einem allerletzten Versuch, die Barmherzigkeit eines Mitgeschöpfes anzuflehen.

Der Mond ist soeben – ein neues Wunder der grausigen Stätte – dicht neben der Felswand emporgestiegen, über die der Katarakt in den Höllenpfuhl stürzt.

Die blanke, rotgelbe Scheibe, Gefährtin von Milliarden blinkender Welten, verwandelt einen breiten Streifen des senkrecht abrollenden Wasserbandes in ein schillerndes Transparent. So dünn ist dort drüben die Menge der hinabgleitenden Wasser, daß sie durchsichtig erscheinen wie Glas – buntes Glas …

Und daß sie gleichzeitig auch wie ein gewaltiges Mikroskop wirken und mir wie einen Spuk ein Männergesicht zeigen, das hinter dem Katarakt irgendwo am nassen Gestein geistert.

Ein Gesicht, unheimlich verzerrt, unheimlich groß, wirre Haarsträhnen als Umrahmung, – – ein Mann, ohne Zweifel ein Farbiger.

Gott mag wissen, wie er dort hinter den Wasserfall gelangte!

Aber einer der Sloman-Leute ist es …

Sloman hatte drei Kariben bei sich, das ist mir bekannt.

Kariben …

Kühne Seefahrer, treffliche Taucher, tüchtige, eherne Kerle. –

Ein Mensch in Todesnot …

Und ein Mensch, der helfen will, der jetzt eilends zusammenrafft, was ihm irgendwie nützlich sein könnte, der noch eiliger hinabstürmt zum Höllenpfad und ohne Bedenken alles wagt …

Eine halbe Stunde …

Und atemlos, erschöpft, mit zerschundenen Händen und Knien hocke ich neben dem Wasserfall schräg über dem Unseligen, der hierhin flüchtete, der hier sich verbarg und für den es kein Vorwärts, kein Rückwärts mehr gibt.

Zwei Meter neben mir saust das schillernde Wasserband in die Tiefe.

Mit blutenden Händen knote ich in die Leine, fünfzehn Meter lang, den zentnerschweren Stein, klammere mich fest, – – und … werfe den Stein in das schäumende Wasser, – – eitle Hoffnung!!

Wohl sehe ich zuweilen noch den Kopf des Ärmsten … Aber ihm die Leine in Griffnähe zu bringen, wo ich selbst nur an senkrechter Felswand klebe, – – eitle Hoffnung!

Fünfmal versuche ich es …

Sechsmal …

Der Mann beobachtet mich.

Und ich beiße die Zähne zusammen …

Ich will!!

Ich sehe ja, daß der Mann an einer Zacke hängt, daß ein glücklicher Wurf ihn retten könnte!

Ich will!!

Unendlich viel vermag der eiserne Wille! Wenn die Menschen nur ahnten, wie leicht sie sich zu Sklaven des eigenen Unglaubens erniedrigen!

Ich will!!

Und werfe …

Ziele, schleudere den Stein, habe alles berechnet, habe die Kraft der stürzenden Wasser in Betracht gezogen, habe kaltblütig erwogen, wie und wo mein angeseiltes Geschoß den Katarakt durchdringen könnte.

Ein Ruck …

Und ein neuer Schrei.

Die Leine strafft sich …

Gewonnen?!

Ja, – halb gewonnen!

Der Mann hält das Tau, ich spüre ein paar Rucke, ich weiß, daß nun alles davon abhängt, daß die Leine die Last des Körpers und den Wasserdruck aushält, sobald der Karibe sich von seinem Zacken durch den Katarakt ins Freie pendeln läßt.

Ich habe mein Ende der Leine an einem Steinkeil befestigt …

Und warte …

Halte die Leine locker in den Händen …

Der Mond schiebt sich höher.

Das fließende Glas des Wasserfalles erstrahlt in bunten Streifen, und der Kopf des Kariben regt sich, hebt sich.

Sekunden folgen, die unvergeßlich sind.

Ich bange um ein Leben, das mir bisher fremd, um einen Menschen, der vielleicht vor Tagen noch auf mich feuerte …

Dann löst sich der verzerrte Kopf von der Zacke.

Durch das gleißende Band schießt ein Körper, – ich halte das Tau, und meine Fäuste krallen das Geflecht von Hanf zu kurzen Windungen.

Der Mann schrammt unter mir am Gestein entlang, … ich ziehe … ziehe …, und der Körper kommt näher …, – ein Griff noch, und ein armseliges Bündel ruht neben mir auf schmalem Felsgrat.

Bewußtlos, – – halb verhungert, – – Skelett fast, dieser kleine, sehnige Kerl, der zweifellos weit älter ist als ich.

Der Mond beleuchtet ihn.

Von seinem Leinenanzug sind nur noch Fetzen vorhanden, von seiner braunen Brust und dem entblößten Rücken strömt das Blut.

Das Gestein war unbarmherzig. Was an Kraft in diesem Leibe noch steckte, verrinnt in rotem Lebenssaft.

Das wilde, magere Gesicht verrät selbst in dem Dunkel der Ohnmacht Intelligenz und Härte. Diese Züge, wird mir klar, erzählen eine bunte, allzu bunte Lebensgeschichte.

Mühsam verbinde ich die ärgsten Fleischrisse, mühsam schultere ich den Kariben, daß sein Kopf und seine Arme mir über die Achseln hängen. Endlos wird der Weg hinab zum Höllenpfad, – – die zähe Energie siegt, und dort, wo die scheidenden Freunde mir das Zelt errichtet haben, lege ich dieses klägliche Etwas auf weiche Wolldecken und zwänge zwischen die verbissenen Zähne den Hals der Flasche.

Der Mann schluckt, – – hustet … erwacht, stiert mich an.

In den dunklen Augen, die im Lichte der Laterne wie zerplatzte, rissige, ölige Kohlenstückchen funkeln, flackert der Unglaube, – – ich lese die Gedanken aus diesem wirren Hirn: Der Karibe erkennt mich, er begreift nicht, daß gerade ich ihm geholfen habe, daß gerade ich seine Todespein beendete und ich ihn dem Leben wiedergab.

Er trinkt …

Stöhnt, sinkt zurück, reckt sich, – – und eine schwielige sehnige Hand schleicht sich scheu in die meine.

Dieser Griff um meine Finger, dieser Blick dazu, und nur drei Worte: „Ich danke Ihnen!“ – – Es ist der Beginn meiner Freundschaft mit einem Manne, der mir lange Zeit ein Rätsel blieb, der die Maske erst lüftete, als er mich vollkommen kannte, als ihm kaum ein Winkel meiner Seele noch verborgen war.

Drei Worte: „Ich danke Ihnen!“

In reinem Englisch …

Schon das gab mir zu denken.

Und noch etwas: Nur drei Worte, – ohne das höfliche „Sir“ oder „Mister“ als viertes. Nur drei, – und darin lag zweifellos ein gewisses Selbstbewußtsein, ein absichtliches Vermeiden übertriebener Höflichkeit, die ich als Unterwürfigkeit hätte deuten können. – –

Und heute?!

Zehn Tage sind es her … Unser Zelt steht mitten auf einer Urwaldlichtung des Südostzipfels der unerforschten Halbinsel Yucatan …

Ich schreibe. Die Laterne brennt wieder. Vinzent Kumanogoto, der Karibe, ölt die Büchsen, raucht Pfeife, – draußen knabbern die Maultiere die üppigen Gräser, draußen lebt der Urwald mit Schwärmen von Leuchtkäfern und mancherlei unheimlichen Tönen …

Ein elender Küstendampfer hat uns von Truxillo an die Gestade Yucatans getragen. In Truxillo verkaufte Vinzent Kumanogoto bei einem Händler einen Stein, der wie ein Kiesel, in Ton gebettet, ausschaute. Mein Gefährte trägt im Ledergurt noch mehr dieser Steine mit sich, deren grünes Feuer den Händler fast aufjauchzen ließ.

Ich habe nichts gefragt.

Nicht nach der Herkunft der ungeschliffenen Edelsteine, nicht nach Vinzents Vergangenheit.

Er hat lediglich erklärt, als wir von dem Doppelgrabe am Höllenpfuhl Abschied nahmen:

„Abelsen, haben Sie Mut?“

Ich lächelte.

„… Haben Sie Mut, es mit dem Teufel aufzunehmen, Abelsen? Vielleicht besagt der Ausdruck „Teufel“ gar nichts … Jedenfalls, – Sie wollen leben, erleben …! Sie sollen es!“

Mehr hat er nicht gesprochen.

Wir nahmen die beiden Maultiere mit, ein Küstensegler trug uns bis Truxillo, ein Dampfer trug uns nordwärts, und jetzt … schreibe ich … Tagebuch, und Vinzent, der Karibe, sorgt für die Waffen.

Daß er Yucatan kennt, habe ich bereits gemerkt. Daß er ein gebildeter Mann, wußte ich sehr bald. Daß er mehr Geheimnisse zu verbergen hat, als ich irgendwie vermuten könnte, ahne ich. –

Ich packe meine Bogen Papier in den Zinkkasten.

Vinzent blickt auf.

„Fertig, Abelsen?!“ – Die sanfte Ironie kenne ich.

„Nein, – nicht fertig, sondern der Anfang“, sage ich mit belustigtem Augenzwinkern. „Der Anfang dessen, was Sie vor mir verbergen. Was sind Sie eigentlich von Beruf? Wie kamen Sie auf Slomans Jacht als simpler Steward? Sie sprechen fünf Sprachen, Sie besitzen derart vielseitige Kenntnisse, daß ich zuweilen überrascht bin … Es ist nicht Neugier bei mir. Nur, – Ihre Bemerkung über den „Teufel“ und …“

Vinzent Kumanogoto hat eine besondere Art, mir durch eine ruckartige Kopfbewegung Schweigen zu gebieten.

„Abelsen, – ich bin Arzt …!“

„Arzt?!“

„Ja …“

„Und … was suchen Sie hier auf Yucatan in der Wildnis?“

Die Fragen und Antworten fallen wie Hammerschläge.

„Ich suche … meinen Kollegen, – – Kollegen und Nachbar Doktor Tod …“, erklärt er mit einem unergründlichen Lächeln. „Tod und Teufel, – – beides ist eins … Aber wir beide, Abelsen, werden ihn bezwingen. Hand her, Kamerad, – ich erzähle Ihnen eine kurze Geschichte …“

Die Geschichte war nicht kurz und nicht langweilig.

Es gibt immer noch Dinge, die mit kühnem Griff hineinfassen in ferne, unbekannte Gebiete, über denen Papageienschwärme kreischend hin und her flattern, und deren verhülltes Antlitz die Maske nur vor dem zähen, unerschrockenen Abenteurer löst … –

Dr. Vinzent Kumanogotos[10] Erzählung war die Geschichte eines Vaters, der seinen verschollenen Sohn sucht … Eine Menschenseele öffnete mir ihre geheimsten Pforten, und ein Vaterherz offenbarte mir nüchternste Wirklichkeit, erschütterndste Tragik und grellste Romantik … In dieser Nacht schlich meine Hand sich hinein in die ruhelosen, heißen Finger des Urwaldgefährten, in dieser Nacht erstrahlte mir wie ein zauberhaftes, fernes Licht ein unklares, noch ferneres Ziel, nur erreichbar auf Pfaden, die noch nie ein Mensch gewandelt, – – Pfade ganz, ganz abseits vom Alltag …

Ich saß und lauschte …

Ringsum waren die nächtlichen Stimmen der Wälder, in uns aber war der klare, bewußte Vorsatz, ein Rätsel zu lösen, das bisher allen Anstrengungen getrotzt hatte …

Auch uns?! Würde es auch uns heimschicken als enttäuschte Spieler?!

… Nun, – – wir werden sehen …

 

Nächster Band:

Nachbar Dr. Tod.

 

 

Anmerkungen:

  1. Bay-Inseln“ / „Bai-Inseln“ – Die Erklärung für beide Schreibweisen erfolgt im Text selbst, daher so belassen.
  2. In der Vorlage steht: „Renomierstück“.
  3. In der Vorlage steht: „Raotan“.
  4. Doppeltes Wort „man“ entfernt.
  5. In der Vorlage steht: „Licombes“.
  6. Tatsächlich liegt Acapulco aber auf der – pazifischen – Westseite Mexikos, während der „Golf von Mexiko“ die Ostküste umspült.
  7. In der Vorlage steht: „Araukanierfreunde“.
  8. In der Vorlage steht: „Terasse“.
  9. In der Vorlage steht: „Galegos“ – Einheitlich und bandübergreifend auf „Gallegos“ geändert.
  10. In der Vorlage steht: „Kumanogotos’“.