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Auf der Ludowka-Höhe

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Auf der Ludowka-Höhe.

(oder „Ein Winterlager in den Karpathen.“)

 

W. Belka.

 

Das deutsche xte Infanterie-Regiment hatte in der Stellung auf und um die Ludowka-Höhe herum ein österreichisches abgelöst, das auf diesem wenig angenehmen Posten vierzehn Tage wacker ausgehalten hatte und nun in Reserve gehen sollte.

Damit unsere Leser nicht vergeblich auf einer genauen Karte der Karpathen[1] die Ludowka-Höhe suchen, wollen wir hier gleich einschalten, daß wir den Schauplatz der Handlung dieser Erzählung, die nach den mündlichen Berichten von Teilnehmern an den Karpathen-Kämpfen niedergeschrieben ist, anders getauft haben – aus verschiedenen Gründen. Erwähnt sei nur noch, daß die große russische Offensive im Herbst 1916 dem Feinde wieder den Besitz der Bukowina eingebracht hatte und daß auf den Höhen und in den Tälern der Karpathen dann die erbittertsten Kämpfe mit wechselndem Erfolge für beide Teile sich abspielten. –

Der dritte Zug der neunten Kompagnie war nach anstrengendem Marsch, besser nach einer überaus mühseligen Kletterpartie in das kleine Quertal gelangt, in dem sich der zu besetzende Schützengraben von Nord nach Süd hinzog. Der Russe lag dieser Stellung in etwa vierhundert Meter Entfernung in einem zurückspringenden Winkel auf den Höhen im Osten gegenüber.

Die österreichische Kompagnie rückte jetzt ab. Und ihr Führer sagte noch zuletzt zu dem blutjungen, deutschen Leutnant, indem er ihm kräftig die Hand schüttelte:

„Herr Kam’rad, dieser Posten ist wenig angenehm, wie Sie bald merken werden. Erfolgt von beiden Flanken ein Angriff, so laufen Sie in dieser vorgeschobenen Stellung Gefahr, abschnitten zu werden. – Servus, Kam’rad – alles Gute!“

Leutnant Winkler hatte ein Maschinengewehr mitbekommen. Das brachte er jetzt zunächst einmal in der Mitte des Schützengrabens in Stellung. Dann ging er selbst die vorgeschobenen Posten revidieren, die hinter Felsblöcken und kleinen Steinmauern dicht am Fuße der von den Russen besetzten Höhe standen.

Gegen Mitternacht glaubte Leutnant Winkler alles getan zu haben, was an Vorsichtsmaßregeln auf diesem vorgeschobenen Posten nötig schien. Er begab sich in seinen Unterstand, wo inzwischen sein wackerer Bursche Krauseke ein wenig Ordnung geschaffen hatte.

Krauseke hieß in der 9. Kompagnie allgemein der Rixdorfer, weil er aus Neukölln zu Hause war, das früher bekanntlich den Namen „Rixdorf bei Berlin“ geführt hatte. Er war ein flinker, gewitzter Mensch, seines Zeichens Hausdiener in einem Warenhause, und eine treue Seele, der an seinen um zehn Jahre jüngeren Leutnant mit rührender Treue hing. Das Regiment hatte bis vor kurzem vor Verdun gelegen und bei Vaux, der Hölle von Vaux, böse Tage durchgemacht. Damals hatte Krauseke seinen eben erst zum Leutnant beförderten Herrn so recht lieben gelernt. Selbst unerschrocken und todesmutig bis zur waghalsigsten Verwegenheit, war er erstaunt gewesen, daß Hans Winkler trotz seiner zwanzig Jahre ihn noch an Tollkühnheit übertraf. Jedenfalls war dieser Leutnant so recht nach Fritz Krausekes Geschmack. Und auffallend schnell hatten sie sich miteinander so gut eingelebt, wie eben nur ein Leutnant mit seinem Burschen nach schweren, gemeinsam verlebten Kampftagen, Entbehrungen und Strapazen stehen kann.

„Na, Fritz, wie gefällt’s Dir hier?“ meinte Winkler, indem er sich in den aus Buchenästen zusammengenagelten und mit Moos und Sackleinwand gepolsterten Stuhl warf, den bisher der österreichische Hauptmann benutzt hatte. „Das ist hier so’n bißchen ’ne andere Gegend wie bei Verdun, was?!“

„Hm – wenn nur die verflixte Kraxelei nicht wär’!“ erwiderte der Rixdorfer, indem er seinem Leutnant den Helm abnahm und auf ein Wandbrett stellte. „Und dann – man sieht so wenig! Nichts als Felsen …! Bei Verdun gab’s doch Gelände …! Dies hier ist das reine Mauseloch …!“

Krauseke schnitt jetzt eine dicke Schnitte Kommißbrot ab, schmierte nicht minder dick Marmelade auf und reichte sie seinem Leutnant zusammen mit einem Trinkbecher Kaffee, den er über einer der eben erst im Handel erschienenen Acetylen-Schützengrabenlampen warm gemacht hatte.

„’s beste ist, Herr Leutnant legen sich nachher schlafen“, sagte er vertraulich. „Wenn die Kompagnie das warme Essen schickt, wecke ich Herrn Leutnant.“

Winkler nickte kauend. Nach einer Weile meinte er dann:

„Laß mich nur ruhig weiterschlafen, falls nichts Besonderes passiert. Ich bin müde zum Umsinken. Das Essen kannst Du mir nachher wärmen. – Wieviel Karbid haben wir eigentlich noch für die Lampe?“

„Übergenug mit dem, was die Frau Professor gestern geschickt hat. Auf vierzehn Tage langt’s sicher!“

Die „Frau Professor“ war Hans Winklers Mutter. Der Vater, früher Oberlehrer in Stettin, lebte nicht mehr.

Gleich darauf lag der junge Offizier, der von der Universität als Kriegsfreiwilliger nach hartem Kampf mit seiner Mutter eingetreten war, in dem engen Unterstand auf dem Mooslager in eine Wolldecke gehüllt und schlief auch sofort ein.

Krauseke hatte jetzt Zeit, sich draußen etwas genauer umzusehen. Der Mond schickte sich bereits an, hinter einer der höchsten Felszacken zu verschwinden. Der Rixdorfer mußte sich also beeilen, wenn er das Tal noch besichtigen wollte. Dies sollte nicht etwa aus Interesse an dem Landschaftsbilde oder der Gebirgsvegetation geschehen – o nein! Dafür war Fritz Krauseke ein viel zu nüchtern denkender Mensch. Er wollte lediglich zusehen, ob er nicht noch irgendwo genügend Moos für ein zweites Lager fände. Daß er mit seinem Leutnant zusammenschlief, war selbstverständlich. Schon deswegen, weil die Frau Professor an Krauseke geschrieben hatte, doch ja auf ihren Jungen, ihren einzigen, gut acht zu geben. Dieser Brief hatte seinem Herzen wohlgetan. Und keine Mutter konnte ihr Kind mit treuerer Fürsorge umgeben, als der Rixdorfer über Hans Winkler wachte. Jetzt allerdings handelte er lediglich zu seinem eigenen Nutzen, als er ein Stück hinter dem Schützengraben nach Moos suchte. Aber die Österreicher hatten alles leicht erreichbare dieses weichen Ersatzstoffes für Lagerstroh bereits eingesammelt, so daß Krauseke gezwungen war, an der nördlichen Felswand ein Stück hochzuklettern. Da er ein ebenso kräftiger wie gewandter Mensch war, gelang ihm das auch, indem er das in den Spalten wuchernde Knüppelholz als Stützpunkte für Hände und Füße benutzte. So kam er schließlich nach etwa fünfzehn Metern auf einen Felsgrat, wo er das vielbegehrte Moos in dichten Polstern fand. In möglichst großen Stücken löste er es los und warf es nach unten. Mitten in dieser Arbeit aber wurde er durch ganz plötzlich losbrechendes Gewehrfeuer und die lauten Knalle von Handgranaten gestört. Woher der Lärm des Kampfes herübertönte, vermochte er nicht zu sagen. Dazu wurde der Schall in den Tälern durch mehrfache Echos zu stark hin und her geworfen. Dann hörte er es auch im Schützengraben unter sich lebendig werden. Leise Kommandos, halblaute Zurufe und das Klappern von Schanzzeug und Feldflaschen drangen zu ihm herauf.

Schleunigst kletterte er wieder abwärts. Jetzt erst sah er, wie steil die Wand war. Es erschien ihm fast unglaublich, daß er hier hinaufgelangt sei. Bei Tage hätte er es vielleicht nie gewagt. Aber das verschwommene Mondlicht hatte ihm die Schwierigkeiten bedeutend geringer vorgetäuscht. – Mit etwas zerschundenen Händen befand er sich endlich wieder auf der Talsohle und lief nun zunächst einmal nach dem Schützengraben, um zu sehen, was eigentlich geschehen sei. Inzwischen hatte sich der Kampflärm noch verstärkt. Man hörte jetzt sogar undeutliches Hurrarufen.

Krauseke traf die Kameraden schon mit umgehängtem Gepäck an. Vom Bataillon war ein Melder gekommen mit dem Befehl, daß die Hälfte des Zuges sofort den durch einen überraschenden Angriff schwer bedrängten Kompagnien in dem Längstale zu Hilfe kommen sollte.

Der Halbzug marschierte denn auch sofort unter Führung eines Vicefeldwebels ab. Leutnant Winkler aber, der auf diese Weise kaum eine halbe Stunde geschlafen hatte, schlich nun mit Krauseke nach vorn zu den Horchposten, um diesen die größte Aufmerksamkeit einzuschärfen. Auf dem halben Weg aber kam einer der Leute schon in wilder Hast angerannt.

„Russen, Herr Leutnant – in dichten Massen“, keuche er hervor. „Schleichpatrouillen haben unsere anderen Horchposten abgefangen. Ich bin …“

Winkler stürmte schon wieder zurück, indem er aus seiner Mauserpistole schnell hintereinander alle Schüsse abfeuerte.

Fünf Minuten später kam der Feind, den man sich bisher trotz der jetzt herrschenden tiefen Dunkelheit vom Leibe gehalten hatte, auch von rückwärts. Es war eben das eingetreten, was der österreichische Hauptmann gefürchtet hatte: die Deutschen waren infolge des völlig unübersichtlichen Geländes durch einen Angriff von beiden Flanken umgangen worden. – Der Halbzug, den Leutnant Winkler noch zu seiner Verfügung hatte, leistete dem Gegner den verzweifeltsten Widerstand. Aber die Verluste mehrten sich in erschreckender Zahl, und der Zeitpunkt konnte nicht mehr fern sein, wo das Gefecht sich in eine Anzahl von Einzelkämpfen auflösen mußte, die entweder mit Tod oder Gefangennahme endigen würden.

Krauseke hielt sich stets dicht neben seinem Leutnant, der jetzt das Maschinengewehr selbst bediente. In dieser beinahe undurchdringlichen Finsternis, die das kleine Tal erfüllte, konnte man lediglich nach dem Aufblitzen der feindlichen Schüsse ungefähr zielen. An beiden Seiten des Schützengrabens war der Russe nun bereits eingedrungen. Winkler merkte dies an dem lauten Knall, mit dem die von seinen Leuten geworfenen Handgranaten explodierten, und an dem Geschrei in allernächster Nähe. Jetzt zeigte sich an dem Maschinengewehr zu allem Unheil noch eine Ladehemmung. Sie ließ sich nicht beseitigen. Der Leutnant mußte schließlich die Versuche aufgeben. Da tauchte plötzlich neben ihm Krauseke wieder auf, der seinen Tornister geholt hatte.

„Herr Leutnant – fort von hier! Ich weiß einen Weg, auf dem wir der Gefangenschaft entgehen können. Folgen Herr Leutnant mir – schnell, schnell! Und auf allen Vieren kriechen!“

Ringsum war alles still geworden. Hier und da blitzten bereits elektrische Taschenlaternen auf, mit denen russische Offiziere und Unteroffiziere die Unterstände absuchten.

Winkler nahm noch eiligst eine Handgranate, riß die Zündschnur heraus, so daß der Zündsatz zu schwelen begann, schob sie zwischen die geöffneten Teile des Lademechanismus des Maschinengewehrs und schwang sich ebenfalls aus dem Graben heraus.

Gerade als sie dann dieselbe Stelle, an der der Rixdorfer vorhin den Aufstieg an der Talwand gewagt hatte, erreicht hatten, explodierte die Granate und zerstörte das Maschinengewehr so gründlich. daß es dem Feinde nicht mehr nützen konnte.

Die beiden Deutschen, die hier in der Dunkelheit der Oktobernacht diese gefährliche Kletterpartie unternahmen, schützte die Vorsehung auf wunderbare Weise. Höher und höher gelangten sie. Krauseke spielte den Führer. Und Winkler tastete sich hinter ihm her, fast wie ein Blinder. Die Aufregung und der Wunsch, dem Feinde nicht in die Hände zu fallen, verliehen ihnen Riesenkräfte. So kamen sie endlich auf dem Felsgrat an, wo der Rixdorfer vorher das Moos gefunden hatte. Hier schöpften sie zunächst einmal Atem.

Etwa fünfzehn Meter unter ihnen hörten sie jetzt die Russen allerlei Zurufe wechseln, vernahmen das Stöhnen und Schreien von Verwundeten und sahen auch die hellen, kleinen Lichtkegel der Taschenlaternen umherwandern, verlöschen und wieder aufleuchten.

„Daß ich den Tornister glücklich mit hoch bekommen habe, ist das reine Wunder!“ flüsterte Krauseke dem jungen Offizier zu, indem er den vollgepackten, schweren Ranzen abhakte und vorläufig neben sich legte. „Ich habe den Rest unserer Eßwaren mitgenommen, Herr Leutnant, damit wir’s hier oben so lange aushalten, bis die Unsrigen den Feind wieder zurückgedrängt haben Jetzt sind wir abgeschnitten und ganz auf uns allein angewiesen. Aber wir werden uns schon so lange durchhelfen, als es nötig ist.“

– – – – – – – –

Winkler war so erschöpft, daß er nichts erwidern konnte. Er hatte sich mit dem Rücken gegen die Felswand gelehnt und suchte ruhiger und langsamer zu atmen.

Da reichte Krauseke ihm seine Feldflasche hin. – „Es ist noch ein Schluck schwarzer Kaffee mit Rum vermischt darin. Trinken Herr Leutnant nur. Das hilft auf die Beine …!“ sagte er in seiner kurzen Art, die fast etwas Befehlendes an sich hatte.

Und Winkler trank. Dann schloß er die Augen. Er war ja so müde – zum Umsinken! Jetzt kam der Rückschlag nach den nervenaufpeitschenden Geschehnissen der letzten Stunde.

Krauseke hatte sich dicht zu ihm herübergebeugt, merkte, was seinem Leutnant nottat. – „Hier, – den Tornister unter den Kopf! Und dann zwei Stunden Ruhe! Ich wache inzwischen“, meinte er.

Mit sanfter Gewalt legte er Winkler zurecht, obwohl dieser sich sträubte. – „Es muß sein! Herr Leutnant müssen sich frisch erhalten. Wer weiß, ob wir nicht noch höher hinaufzuklettern gezwungen sind.“

„Treue Seele!“ – Winkler drückte seinem Burschen gerührt die Hand. Und gleich darauf war er eingeschlafen. Er lag ja auch ganz weich auf den Moosstücken, die Krauseke ihm unter den Körper geschoben hatte.

Der Rixdorfer aber kroch auf allen Vieren auf dem etwa drei Meter breiten Felsabsatz hin und her, um noch mehr Moos zusammen zu suchen und seinen Leutnant damit zu bedecken. Bei dieser Arbeit lernte er auch gleich die Ausdehnung der kleinen Terrasse und ihre nähere Gestalt kennen.

Dann lauschte er aufmerksam in das Tal hinab. Plötzlich waren nämlich laute Befehle zu ihm heraufgedrungen, und gleichzeitig sah er ein paar aus Tannenzweigen hergestellte Fackeln aufleuchten. – Die Russen sammelten sich offenbar und rückten nach dem Längstale hin ab, wo der Kampfeslärm mit einem Male wieder aufgelebt war.

Die Gelegenheit durfte er nicht unbenutzt vorübergehen lassen! – Er besann sich nicht lange. Sein Leutnant war hier vorläufig gut aufgehoben. Also schleunigst wieder hinab in das Tal. In den Unterständen würde er schon noch manches finden, was sie gut brauchen konnten, besonders wollene Decken und Proviant. Die Nacht war ja schon recht empfindlich kühl, und die jetzigen Eßvorräte würden vielleicht nur drei Tage reichen, zumal sie beide – Winkler und er – über einen recht gesunden Appetit verfügten.

Und Krauseke hatte Glück, was ja stets dem Mutigen lächeln soll. Kaum zwanzig Minuten später war er wieder oben auf dem Felsgrat. Viel hatte er nicht mehr vorgefunden. Aber es war doch immerhin etwas. Ein in eine Decke eingeschnürtes Bündel hatte er gleich mitgenommen. Ein zweites, das er unten am Fuße der Talwand niedergelegt hatte, holte er gleich nachher herauf.

Dann sah er nach seiner Taschenuhr. Das Leuchtzifferblatt zeigte ihm, daß es zwei Uhr morgens war. Jetzt begann auch er zu frieren. Vier Wolldecken hatte er noch gehascht. Die teilte er jetzt mit seinem Leutnant, bereitete sich dicht an der Wand der Terrasse ebenfalls ein Lager und wollte sich ein wenig ausruhen. – Drüben in dem Längstale, wo das Bataillon die Stellung innegehabt hatte, war es jetzt auch still geworden. Nur vereinzelte Schüsse weckten noch ein Echo in den Bergen. Später, viel später erst erfuhr Krauseke, daß es dem Bataillon gelungen war, nach Westen zu durchzubrechen.

Dem Rixdorfer fielen die Augen zu. Er durfte nicht einschlafen. Immer wieder riß er sie auf. Aber erst laute Stimmen unten in dem Felsenkessel machten ihn völlig munter. Fackellicht tanzte hin und her. Die Russen richteten da unten einen Verbandplatz ein. Verwundete wurden zusammen getragen, ein großes Zelt war im Handumdrehen aufgeschlagen.

Krauseke hatte im Stillen gehofft, der Feind würde das kleine Tal nicht wieder besetzen, so daß sein Leutnant und er vielleicht Gelegenheit gefunden hätten, sich nach den deutschen Stellungen hin durchzuschleichen. Daran war jetzt nicht zu denken. Im Gegenteil: er mußte zusehen, ob sie von hier aus nicht den Kamm der Höhe erreichen konnten. Dort erst würden sie sicher sein. Hatte er doch gehört, wie der österreichische Hauptmann zu Winkler gesagt hatte, daß dieser Kamm von keiner Seite zu erklettern sei.

So erhob er sich denn wieder und ging vorsichtig auf der schmalen Terrasse nach Osten zu weiter. Diese zog sich hier, wie er schon vorhin festgestellt hatte, in scharfem, ansteigendem Knick in eine enge Spalte hinein. Der Aufstieg in dem kaum ein halbes Meter breiten Felskamin war in der Dunkelheit ein lebensgefährliches Wagnis. Aber Krauseke war nicht nur kräftig und geschickt, sondern besaß auch jene verbissene Hartnäckigkeit, die nicht eher ruht, bis das Ziel erreicht ist.

Nach etwa zehn Metern wurde die Spalte jedoch weit leichter gangbar. Und jetzt glaubte der Rixdorfer auch seine Taschenlaterne einschalten zu können. Von unten her war der helle Schein unmöglich zu bemerken, wenn er nicht gerade unvorsichtig war. Hier gab es nun förmliche Stufen aus Steingeröll, die leicht zu erklimmen waren. Die Spalte endete schließlich auf einer zweiten, breiteren Terrasse, die bereits gute fünfzig Meter über der Talsohle lag. Bis zum Kamm hinauf war es jetzt nur noch ebenso weit. Dabei brauchte man sich von dieser Stelle an kaum mehr sonderlich anzustrengen. Die Felswände waren hier überall von Spalten zerrissen, die sich in mehreren Absätzen bis zur Höhe hinaufzogen. Jedenfalls machte sich Krauseke nun schnell auf den Rückweg, um ihre geringe Habe hinaufzubefördern. Dies nahm weit über anderthalb Stunden in Anspruch.

Als sich im Osten der Himmel zu lichten begann und den Anbruch des Tages verkündigte, weckte der Rixdorfer seinen Leutnant, den diese fünf Stunden Schlaf sehr erquickt hatten. Gemeinsam wurde dann der Aufstieg nach dem Kamm der Ludowka-Höhe unternommen.

Gerade ging die Sonne auf, als die beiden Deutschen einen Punkt erreicht hatten, von dem aus sie sowohl die Kammhöhe als auch die umliegenden Bergrücken überschauen konnten.

Ringsum breitete sich eine wunderbare wildromantische Gebirgslandschaft aus. Abenteuerlich geformte Berggipfel, tiefe Schlünde, einzelne Felskegel, Täler wie dunkle Striche und Buchenwälder wie grüne Farbkleckse in dem Grauschwarz der Gesteinmassen – das alles umgab sie als Bild der höchsten Erhebungen dieses Karpathenteiles.

Und dann der Kamm der Ludowka-Höhe selbst: im Bogen zog er sich von Südwest nach Nordost hin, ungefähr ein Plateau von sichelförmiger Gestalt bildend, das an den Rändern von zerrissenen Felsen umgrenzt wurde und sich nach der Mitte zu, überall mit Gerölltrümmern bedeckt, zu einer flachen Mulde herabsenkt, deren tiefste Stelle von einem kleinen See eingenommen wurde. Das Plateau mochte etwa zweihundert Meter lang und an der breitesten Stelle vierzig Meter Ausdehnung haben. Zwischen dem Geröll, das sich hier und da zu phantastischen Gebilden hoch auftürmte, wuchsen Moose und Flechten, standen auch verkrüppelte Kiefern, Wacholderbüsche und Grünerlen, ferner die weiße Eisranunkel und der kälteliebende Enzian als die einzigen Blumen der höchsten Karpathengipfel.

Hier in etwa 2000 Meter Höhe war es bereits recht winterlich kühl. Ein erster Morgenwind strich über das Gebirge hin, so daß die beiden Deutschen, die vielleicht als die ersten Menschen diesen unzugänglichen Kamm betreten hatten, nun schleunigst dem tiefer liegenden Teile zustrebten, indem sie ihre in zwei Bündel geschnürte Habe über den Rücken nahmen.

Während der Rixdorfer dann aber der Acetylen-Lampe[2], die er klugerweise mitsamt dem ganzen Karbidvorrat mitgenommen hatte, Kaffee kochte (gemahlenen Kaffee besaßen sie eine große Blechbüchse voll), sah Winkler sich auf dem Kamm genauer um, drang auch bis zum nördlichen Rande vor und schaute von einer günstigen Stelle, sich sorgfältig verborgen haltend, mit seinem Glase in die benachbarten Täler hinab.

Hier breitete sich unter ihm ein riesiger Wald von Rottannen aus, vermischt mit Buchen in seinen tieferen Teilen. Einzelne Felskegel ragten aus dem dunklen Grün heraus, und Schluchten durchschnitten den weiten, Berg und Tal bedeckenden Forst wie künstlich ausgehauene Schneisen.

Diese Karpathenwälder haben noch vollständig Urwaldcharakter. Hier ist das Jagdgebiet von Bären, Wölfen und Luchsen, die in den Karpathen keineswegs selten sind, besonders in den unbesiedelten Teilen, hier findet man eine urwüchsige Natur von eigenartigem Reiz, die vor den Alpenlandschaften manche Schönheiten voraus hat. Sind es doch gerade die endlosen Waldungen von Rottannen, Weißtannen und Buchen, die diesem Gebirgszuge sein eigenartiges Gepräge geben.

Noch mehr sah der junge Offizier: tief unter sich Menschen, klein wie Kinderspielzeuge – Soldaten, alles – alles Feind. Nirgends ein vom grüngrauen Bezug bedeckter Helm, nirgends Deutsche. Deren Truppen mußten sich noch mehr zurückgezogen haben – wahrscheinlich in die nächste vorbereitete Stellung nach Westen zu.

– – – – – – – –

Zwei Tage waren vergangen. Winkler und Krauseke wußten jetzt, daß sie vorläufig hier ausharren mußten und daß die Russen sich in dem kleinen Quertale ganz häuslich in Steinhütten und Blockhäusern, mit deren Bau bereits begonnen war, einrichten wollten, – der beste Beweis, daß der Feind mit einem Angriff der zurückgedrängten Deutschen nicht rechnete. Und dies hieß für die beiden einsamen Gäste des Ludowka-Kammes nichts anderes als entweder ausharren unter den größten Entbehrungen oder – Gefangenschaft.

Am Abend dieses zweiten Tages saßen sie an einem kleinen Feuer in ihre Decken gehüllt hinter einem Felsen und berieten, was sie unter diesen Umständen tun sollten. Wenn sie genügend Proviant gehabt hätten, wäre der Gedanke, sich freiwillig dem Feinde auszuliefern, nie in ihnen aufgetaucht. Aber vier Kommißbrote, zwei Säckchen Zwieback der eisernen Portion und zwei Büchsen mit Fleischkonserven reichen für starke Esser nicht lange.

Während Krauseke nun den Proviant in einer Felsspalte verpackte, putzte Winkler an seiner Mauserpistole herum, für die er noch genau zwanzig Patronen besaß. Dann nahm er seinen langen, etwas gekrümmten Dolch vor, den er an Stelle des Säbels trug. Es war dies ein sehr wertvolles Erzeugnis persischer Waffenschmiedekunst, ein Geschenk für des jungen Leutnants Vater von einem Bruder, der in Teheran jahrzehntelang als deutscher Konsul gelebt hatte.

Ein scharfer Wind blies über die Zacken der Ludowka-Höhe hin, dunkles Gewölk sperrte das Sternenlicht ab, und leise rauschten die Krüppelkiefern und die am Boden entlang kriechenden Wacholderbüsche.

Hans Winklers bemächtigte sich eine träumerische Stimmung. Das Eigenartige ihrer Lage, das Abenteuerliche dieses Lebens in einer erhabenen Gebirgslandschaft und nicht minder inmitten der Feinde hätte wohl in jedem, selbst dem poesielosesten Gemüt allerhand nachdenkliche Gedanken hervorgerufen. Mit dem Rücken gegen die Felswand gelehnt saß der junge Offizier da und starrte regungslos in die Dunkelheit der Kammmulde hinaus, wo die Wacholderbüsche sich wie schwarze, hin und her schwankende Gestalten abzeichneten. Der Schein des kleinen Feuers reichte nicht weit, beleuchtete nur noch eine Gruppe von Kiefern, die in einer Reihe standen und ein kleines Gehölz vortäuschten.

Plötzlich trat in des Leutnants frisches, hageres Gesicht ein Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen etwas zusammen, als wolle er besser sehen. – Da – kein Zweifel! – Dort zwischen der Kiefernkulisse blinkten zwei glänzende Punkte auf. Jetzt bewegten sie sich. Und nun dicht daneben noch ein Paar dieser leuchtenden Flecken, die ebenfalls etwa eine Handbreit auseinanderlagen wie die ersten und ebenso zusammenzugehören schienen.

Hans Winkler dachte sofort an menschliche Feinde, die da drüben sich versteckt hielten und die Deutschen beobachteten. Schnell verwarf er diese Ansicht aber wieder. Er hatte im Feldzug schon genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, daß das von einer Lichtquelle im Dunkeln beschienene menschliche Auge höchst selten so stark aufleuchtet. Nein – es mußten Tiere sein, und zwar Raubtiere, die vorzüglich klettern konnten und vielleicht aus dem Urwalde im Norden herübergekommen waren. Und hier kamen als gute Kletterer nur Luchs und Bär in Betracht.

Eine leise Erregung bemächtigte sich des jungen Offiziers. Seine Rechte tastete nach der Pistole, die er neben sich gelegt hatte. Krauseke war leider noch immer mit dem Wegstauen des Proviantes beschäftigt und einige zehn Meter entfernt.

Eine blitzschnelle Folge von allerlei Gedanken durchzuckte Winklers regen Geist. – Wenn es Bären waren, wenn es gelang, sie zu erlegen, so hatte man Fleisch in Menge und konnte hier oben vielleicht Wochen ausharren. Aber – durfte er es wagen zu schießen …?! Würde der Knall nicht gehört werden …?! Würden sie sich den Russen nicht auf diese Weise verraten …?!

Da kam auch schon Krauseke langsam angeschlendert. Er hatte seinen Mantel an, die zerknitterte Feldmütze schief auf einem Ohr und pfiff vergnügt ein Liedchen vor sich hin. Seine gute Laune war nur schwer irgendwie zu beeinträchtigen.

Winkler ließ ein warnendes „Pst“ hören und flüsterte seinem braven Burschen dann leise das Beobachtete zu.

Der Rixdorfer besaß als Waffen nur sein Seitengewehr und eine Beilpike, wie diese bei der Infanterie getragen wird. Sie lagen am Lederkoppel in der Nähe des Feuers. Im Nu hatte Krauseke sie abgeschnallt, wobei er seinem Leutnant zuraunte: „Es können auch Russen sein. Ich werde mich von hinten an die Kiefern heranschleichen.“

Einige Minuten verstrichen. Nun Krausekes laute Stimme: „Es sind Bären! Hierher, Herr Leutnant …!!“

Winkler schnellte sich in langen Sätzen vorwärts, die Pistole in der Rechten, in der Linken den persischen Dolch.

Wieder Krausekes Stimme … „Warte, Dir will ich’s Beißen abgewöhnen. Bestie!“ Dann ein dumpfer Schlag, dem augenblicklich ein halb unterdrückter Hilferuf folgte.

Nun war der Leutnant zwischen den Kiefern hindurch. In demselben Moment teilten sich die Wolken für ein paar Sekunden, und das bleiche Mondlicht überflutete die Mulde des Ludowka-Kammes.

Mit einem Blick überschaute Winkler die Szene. Einer der Bären lag am Boden und wälzte sich kraftlos hin und her. Des Rixdorfers Beilpike saß ihm mit der Beilschneide tief im Schädel. Aber die andere Bestie hatte dafür den Angreifer wie zum Ringkampf umfaßt und suchte nach dessen Kopf zu schnappen, während Krauseke wieder die Kehle des Meister Petz mit der Linken umklammert hielt und keuchend sich abmühte, mit dem Seitengewehr einen Stoß gegen das Raubtier zu führen.

Winkler wechselte geschwind die Waffen in den Händen um und stieß dann blindlings dem Bären den langen haarscharfen Dolch wiederholt unter dem Schulterblatt in den Leib. Da ließ die Bestie von dem ersten Feinde ab, drehte sich blitzschnell um und schoß mit unglaublicher Behendigkeit hinter dem zurückweichenden neuen Gegner drein.

Krauseke war taumelnd in die Knie gesunken. Der Bär hatte ihm beinahe die Rippen eingedrückt. Mit aller Energie raffte er sich wieder auf. Inzwischen war aber Winkler mit dem verwundeten Tiere bereits ins Handgemenge geraten. Ein Tatzenhieb hatte ihm den Dolch aus der Hand geschleudert. Auch ihn suchte der Bär jetzt zu umklammern. Sein offener Rachen, dem ein stinkender Atem entquoll, war kein halbes Meter von des Leutnants Kopf entfernt. Da wagte dieser ein entscheidendes Abwehrmittel, hob die Linke, legte die Pistole der Bestie an das Ohr und drückte ab. Mit dem Knall des Schusses schien eine unsichtbare Gewalt den Meister Petz zur Seite zu werfen. Er rollte sich auf dem Boden, reckte die Pranken hoch, kam aber nicht mehr auf die Beine. Und gleich darauf war er verendet.

Hans Winkler stand noch eine Weile wie betäubt da. Erst Krausekes leises, fast leichtsinniges Lachen brachte ihn wieder zu sich.

– – – – – – – –

Die beiden Tiere, die von Winkler und Krauseke nach verhältnismäßig glücklich abgelaufenem Kampfe getötet worden waren, wogen sicherlich jedes seine vier Zentner.

Es war daher gar nicht leicht, sie nach dem Lagerplatz zu schleppen, zumal der Rixdorfer darauf hinwies, daß man das prächtige Fell nach Möglichkeit schonen solle. Als sie dann neben dem mit Kiefernästen frisch angefachten Feuer lagen, schüttelte der Leutnant bewundernd den Kopf, da er jetzt erst recht sah, wie tief die Schneide des Beiles dem einen Meister Petz in den Schädel gedrungen war.

Krauseke hatte weit weniger Interesse an dem Äußeren des erlegten Wildes. Hocherfreut setzte er seinem Leutnant nun des näheren auseinander, daß die Bären ihnen so viel Fleisch liefern würden, um hier oben wochenlang in der Verborgenheit hausen zu können.

„Wir werden es einsalzen und dann räuchern“, meinte er. „Auf diese Weise schützen wir es vor dem Verderben.“ Worauf Winkler meinte, der Gedanke wäre ja ganz schön, nur würde es nicht leicht sein, das nötige Salz zu beschaffen. – Doch Krauseke wußte Rat.

„Herr Leutnant vergessen, daß wir gestern da drüben an der Ostseite der Talmulde unter dem Geröll einen hellen Block Steinsalz gefunden haben, welches dort zutage tritt. Jedenfalls müssen wir einen Versuch machen, ob dieses Natursalz zum Pökeln sich eignet. Freilich fehlt es uns an Gefäßen, da wir nur mein Tornisterkochgeschirr und unsere beiden mit Filz bezogenen Aluminiumfeldflaschen und die Trinkbecher haben. Doch – ich denke, wir werden irgendwo schon an einer geschützten Stelle ein Felsloch finden, das sich sozusagen als Faß eignet.“

Dann ließen sie sich wieder am Feuer nieder und besprachen, was sie gleich am nächsten Morgen, an notwendigen Arbeiten in Angriff nehmen wollten. Da war ja nun als erstes eine Behausung zu bauen, die der Winterkälte zu trotzen imstande war. Jeden Tag konnte die kalte Jahreszeit hier auf diesen Höhen mit starkem Frost und Schneegestöber einsetzen. Brennholz mußte gesammelt werden, und manches andere gab’s noch zu erledigen, was keinen Aufschub duldete. Jedenfalls überlegten die beiden Gefährten sich sehr genau, in welcher Reihenfolge sie die verschiedenen Arbeiten vornehmen wollten. Dann hüllten sie sich in ihre Decken fest ein, warfen noch Holz in die Glut und streckten sich auf dem aufgeschichteten Moos zum Schlafe hin.

Die erste Mahlzeit am folgenden Tage bestand aus Bärenhirn, dem Fritz Krauseke, der schon vor Winkler munter geworden und der dem einen Meister Petz das dichte Fell abgezogen hatte, in dem Kochgeschirr noch Wacholderbeeren und Fett von demselben Tiere hinzugefügt hatte. Dazu aßen sie jeder eine kleine Schnitte Kommißbrot. Der Leutnant lobte des Rixdorfers Kochkünste über alle Maßen. Tatsächlich war das Essen ebenso wohlschmeckend wie kräftig.

Dann machten sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Ort für ihre Behausung. An einer Stelle im Südwesten der Mulde gab es nun einen mächtigen Haufen von Felstrümmern, den man bisher noch nicht genauer besichtigt hatte. Krauseke hoffte, dort vielleicht einen geschützten Platz zu finden, der sich leicht zu einer Wohnung ausbauen ließ. Tatsächlich gab es hier einen durch Steinblöcke gebildeten, schmalen, offenen Gang, der nach etwa vier Meter eine kurze Biegung machte und in eine Art Höhle einmündete, die dadurch entstanden war, daß drei Felsstücke sich schräg nach innen aneinander gelehnt hatten. Der Flächenraum dieser nach Süden zu offenen Grotte, der allerdings das Dach fehlte, maß ungefähr zehn Quadratmeter. Vor dem Felsgange aber stand auch hier eine breite Kulisse von Kiefern und Erlen, so daß die den Schnee ganz gut abhalten mußten. Das Merkwürdigste aber war, daß in einem Winkel dieser Grotte deutliche Anzeichen dafür gefunden wurden, daß hier ein Bär wahrscheinlich schon des öfteren seinen Winterschlaf gehalten hatte.

Während Winkler nun sofort begann die Ritzen zwischen den drei schrägstehenden Felsen, die die Höhlenwände bildeten, mit Geröll und Moos auszufüllen und den Eingang durch eine dichte Steinmauer zu verengern, häutete der Rixdorfer den zweiten Bären ab, weidete beide Tiere aus und trug das zerlegte Fleisch nach einer Felsspalte in der Nähe der im Entstehen begriffenen Behausung hin. Dann wurde mit der Herstellung eines Daches für die neue Wohnung begonnen, nachdem Krauseke sehr geschickt aus Steinen an der Hinterwand der Grotte einen Kamin errichtet hatte, dessen Schornstein durch das Dach hindurchführen sollte. Dieses bestand zunächst aus einer Lage von Kiefern- und Erlenstämmchen, die zwischen den Felsen der Länge nach festgekeilt wurden. Auf diese Holzdecke kam eine Schicht Moos hinauf, dann eine zweite Lage von Stämmchen, und über diese abermals Moos, das mit flachen, leichten Steinplatten bedeckt wurde. – Die beiden Gefährten arbeiteten mit solchem Eifer, daß bereits gegen Mittag die Behausung fertig war.

Da heute dichte, kalte Nebel die Gipfel der Karpathen einhüllten, konnte man es wagen, sofort ein kräftiges Feuer in dem neuen Kamin anzufachen und sich abermals eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Bei klarem Wetter mußte man allerdings jede Rauchentwicklung, die die Beobachtungsposten der Russen hätte aufmerksam machen können, vermeiden. – Nach dem Mittagessen wurde dann auch der Teil des Ganges dicht vor der Wohnung eine Strecke überdacht, so daß der Eingang der Grotte stets frei von Schnee bleiben mußte. Hierauf begann man mit dem Einsammeln von Holz als Feuerungsmaterial. Hierbei leisteten die Beilpike und das Seitengewehr ebenso gute Dienste wie beim Bau der Bedachungen.

In den nächsten drei Tagen hatten die Gefährten noch alle Hände voll zu tun und kamen kaum zur Ruhe. Das Einpökeln des Fleisches, das Räuchern der eingesalzenen Fleischstreifen und manche andere Arbeit hielt sie dauernd in Atem. Hier war Fritz Krauseke so recht in seinem Element. Schwierigkeiten gab es für ihn nicht. Stets fand er Mittel und Wege, selbst mit den einfachsten Werkzeugen unter Benutzung der vorhandenen Naturerzeugnisse den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Er war ein selten praktisch veranlagter Mensch mit hellem Kopf, und Winkler sah erst jetzt so recht ein, welche Perle er in seinem Burschen besaß. So hatte der Rixdorfer abends beim Scheine des Herdfeuers nicht nur einen Tisch, sondern auch Schemel gezimmert, wobei er die einzelnen Teile durch in eingebrannte Löcher getriebene Holzkeile verband. Ferner hatte er auch die Bärenfelle zu gerben begonnen, da er hiermit als Kaninchenliebhaber im kleinen schon vertraut war. Ebenso versah er die Wohnung mit einer mit Moos gepolsterten Tür, die von innen als Vorhang noch mit der Zeltbahn bedeckt wurde, die auf Krausekes Tornister aufgeschnallt gewesen war. Die Behausung hatte nur einen Fehler: sie war auch am Tage vollständig dunkel, da die Fenster fehlten. Diesem Mangel an Licht abzuhelfen, war des Rixdorfers ganzes Sinnen und Trachten. Dann fiel sein Blick eines Abends zufällig auf seines Leutnants Kartentasche, die auf beiden Seiten mit durchsichtigen Zelluloidplatten versehen war. Diese Platten fügte er nun in Holzrahmen ein, die er wieder in einer der mit Moos und Steinen angefüllten Spalten anbrachte, so daß nunmehr wenigstens etwas Licht in den Wohnraum eindrang.

Am sechsten Tage ihres Einsiedlerlebens fanden die beiden Gefährten morgens den Kamm der Ludowka-Höhe unter einer weißen Schneedecke begraben. Es herrschte klares, windstilles Wetter bei ziemlich strenger Kälte. So befand man sich mit einem Male mitten im Winter. Die Gebirgslandschaft war jetzt vielleicht noch reizvoller geworden. Die mit Schnee belasteten niedrigen Bäume, die Wachholderbüsche, mit ihrer weißen Haube, die schwarzgrauen Felsen, die noch hier und da hervorragten, und ringsum das Panorama einer endlosen, hellen Gebirgskette gaben ein Gesamtbild ab, das Hans Winklers naturfrohe Seele geradezu in Entzücken versetzte.

Krauseke sah das alles mit ganz anderen Augen an. – „Wir werden uns ein Paar Schneeschaufeln anfertigen müssen“, meinte er brummig. „Sonst schwimmen wir bei Tauwetter weg, wenn wir nicht den Gang ganz freihalten. Und das Eisloch in dem See zum Wasserschöpfen muß auch jedesmal aufgehauen werden.“

Sie standen während dieses kurzen Gesprächs vor dem kleinen Gehölz, das sich vor dem Eingang zu der kurzen Felsengasse hinzog. Plötzlich fuhren ihre Köpfe gleichzeitig nach links herum. Das Surren eines Propellers ließ sich vernehmen. Und wirklich – dort von Norden her kam ein Flugzeug ziemlich niedrig über die Schneegipfel entlang. Schleunigst drückten sie sich zwischen die Krüppelkiefern hinein und gleich darauf hatte der Leutnant auch sein Glas an den Augen. – „Ein Russe ist’s, Fritz!“ sagte er leicht erregt. „Da – die ersten Schrapnellwölkchen … Die Unseren beschießen den Doppeldecker … Jetzt steigt er höher. Die Sache wird ihm offenbar zu ungemütlich. Ah – die Schrapnelllage war gut gezielt … Fritz – dort oben ist etwas nicht in Ordnung … Die Maschine schwankt …“

Dann war es aber auch mit dem Beobachten des feindlichen Fliegers zu Ende. Dichtes Gewölk war von Osten aufgezogen, und plötzlich setzte ein Schneefall ein, der jede Aussicht versperrte. Trotzdem war noch ein paar Sekunden das surrende Geräusch der Luftschraube vernehmbar. Darauf verstummte es gänzlich. Große, leichte Flocken schwebten in Menge herab und breiteten unsichtbare Schleier über die Höhe des Ludowka-Kammes.

Schon wollten die beiden Gefährten in ihre Behausung zurückkehren, als sie unweit der Felsengruppe, in der ihre Wohnung lag, einen dumpfen Krach hörten, dem augenblicklich der gellende Schrei eines Menschen folgte, dem die höchste körperliche Qual die Lippen geöffnet hat.

Winkler und Krauseke schauten sich entsetzt an. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Das Flugzeug war hier in nächster Nähe abgestürzt. Beide fürchteten dasselbe: daß die Flieger noch am Leben sein könnten und durch diese ihr Aufenthalt hier auf der Kammhöhe verraten werden würde.

„Wir müssen unbedingt nachsehen, wie es um den Doppeldecker bestellt ist, Herr Leutnant“, sagte der Rixdorfer entschlossen. „Nötigenfalls nehmen wir die Feinde gefangen. Mehr als zwei können es ja nicht sein.“

Winkler nickte nur. Dann eilten sie in ihre Wohnung, holten ihre Waffen und schritten durch das Schneetreiben nach Norden zu. Bald sahen sie das vollkommen zertrümmerte Flugzeug vor sich, bemerkten auch mitten in dem Gewirr von Drähten, Tragflächen und Holzteilen zwei regungslose Gestalten, die in dicken Pelzen steckten und Sturzhelme auf den Köpfen hatten.

Es war nicht leicht, die Verunglückten herauszuziehen. Der eine war tot. Er mußte das Genick gebrochen haben. Der andere atmete nur noch schwach und stieß zuweilen ein leises Wimmern aus. Diesen trugen sie nach ihrer Behausung, entkleideten ihm den Oberkörper und versuchten festzustellen, was für Verletzungen er erlitten hatte. Äußerlich war nichts zu finden. Und doch mußte der Mann, der noch jung war und die Abzeichen eines russischen Hauptmannes an dem Uniformrock unter dem Pelze hatte, sehr schwer leiden, da es nicht möglich war, ihn aus seiner Bewußtlosigkeit zu erwecken.

Er wurde daher vorläufig nur warm zugedeckt und dann sich selbst überlassen, da die beiden Deutschen alle die Teile des Flugzeuges sofort bergen und in dem Gange aufstapeln wollten, die ihnen noch nützlich sein konnten.

Gegen Mittag waren die Trümmer des Doppeldeckers mit Ausnahme des Motors geborgen. Diesen ließen sie an Ort und Stelle liegen, da er für sie keinen Nutzen hatte. Dann wurde der Tote – es war ein Unteroffizier und ohne Zweifel der Flugzeugführer – in einer Felsspalte niedergelegt, und mit Zweigen und Steinen bedeckt, worauf schließlich auch die Spalte selbst noch mit Geröll verschlossen ward. Die Pelzbekleidung hatten sie dem Manne vorher ausgezogen, da sie diese selbst nur zu gut brauchen konnten. Als sie jetzt in ihre Behausung zurückkehrten, war inzwischen der Hauptmann, der hellblondes Haar und ein völlig bartloses Gesicht von keineswegs slawischem Typ hatte, wieder zu sich gekommen.

Jeder der Flieger hatte eine wohlgefüllte Feldflasche bei sich gehabt, so daß man dem Verletzten nun einen Schluck mit Kognak vermischten Wassers einflößen konnte. Dann erst war der fremde Offizier in der Lage, einige Worte zu sprechen. Bisher waren seine verwunderten Augen nur mit eigenartigem Ausdruck über die beiden Gefährten und die seltsame Felsenwohnung hingewandert. Daß er Deutsche vor sich hatte, mußte er längst erkannt haben.

Zu Hans Winklers Erstaunen sprach er englisch. – Daher also das blonde Haar und der so wenig russische Gesichtsschnitt. Man hatte also einen jener feindlichen Fliegeroffiziere vor sich, die England und Frankreich zur Unterstützung ihres östlichen Verbündeten abgegeben hatten.

„Wo bin ich?“ fragte er leise.

Winkler glaubte mit der Wahrheit nicht zurückhalten zu brauchen. Er beherrschte leidlich das Englische und erzählte nun kurz, wie er und Krauseke hier auf dem Kamm der Ludowka-Höhe gelangt seien und daß das Flugzeug gerade hier abgestürzt wäre.

Der Engländer nannte nun seinen Namen – Cook, worauf auch der deutsche Leutnant sich in aller Form vorstellte.

Cook erklärte auf Befragen, daß er in der rechten Seite fürchterliche Schmerzen habe. Diese ließen dann jedoch bald nach, als Krauseke dem Verletzten an der betreffenden Stelle einige kalte Umschläge gemacht hatte. Der Kranke schlief dann ein, und nun erst kam Winkler dazu, seinem braven Burschen zu berichten, was er dem Engländer über den Ort, wo dieser sich befände, mitgeteilt hatte.

– – – – – – – –

Sieben Tage hatten die beiden Deutschen den Hauptmann Cook nun schon gepflegt und gewartet, wie dies sorgfältiger kaum geschehen konnte. Freilich – Krauseke tat alles für den Feind mit einem gewissen Widerstreben. Er traute dem Manne nicht, obwohl dieser sich von der liebenswürdigsten Seite zeigte und wiederholt versicherte, er betrachte sich als Kriegsgefangener und würde auch dementsprechend handeln.

Inzwischen hatte man die kleine Wohnung mit Hilfe der Werkzeuge und einzelner Teile des Doppeldeckers bedeutend behaglicher herrichten können. Auch war jetzt der ganze Gang überdacht und dessen Mündung ebenfalls mit einer Tür versehen worden. Ferner hatte die Behausung noch zwei weitere Fenster erhalten, die aus der großen Kartentasche des Engländers gewonnen wurden.

Diese Tage waren ohne jedes wichtigere Ereignis hingegangen. Das Wetter blieb kalt, und starke Schneemassen waren herunter gekommen, so daß man sich nur wenig im Freien aufhalten konnte. Trotzdem machten die beiden Deutschen sich täglich draußen Bewegung, schaufelten Wege durch die stellenweise anderthalb Meter hohen Schneemassen und überzeugten sich auch stets am Vor- und Nachmittag, was die Russen unten in den Tälern trieben. Dort war die Gefechtstätigkeit ganz eingeschlafen. Nur selten hörte man ein paar Schüsse oder das laute Echo von Geschützdonner. In dem kleinen Quertale, aus dem Winkler und Krauseke damals glücklich entwischt waren, hatte der Feind ein Feldlazarett errichtet. Sonst war von den Russen wenig zu sehen. Nur hatte Winkler längst festgestellt, auf welchen der benachbarten Gipfel feindliche Beobachtungsposten lagen. Vor diesen mußte man sich in acht nehmen. Wenn es auch nicht möglich war, in die Mulde des Kammes Einblick zu gewinnen, da die am Rande aufgehäuften Felsen hiergegen sicheren Schutz boten, so mußte man doch sehr vorsichtig sein, wenn man nach den Russen Ausschau hielt.

Es war wirklich ein recht abenteuerliches Leben, das die beiden Deutschen hier führten. An klaren Abenden konnten sie genau beobachten, wie sich zwischen den Gassen der Lazarettzelte Menschen hin und her bewegen. Oft drangen sogar Stimmen bis zu ihnen herauf. Der Lichtschein von Laternen wanderte hin und her, und nach einem kurzen Gefecht wurden auch einmal eine große Menge Verwundeter auf Tragbahren herbeigebracht.

So brach der achte Tag nach dem Absturz des Doppeldeckers an. Hauptmann Cook hatte bisher sein Krankenlager noch nicht verlassen und behauptete, bei jeder Bewegung in der Seite noch die schlimmsten Schmerzen zu spüren. Nach der Morgenmahlzeit, die aus geräuchertem Bärenfleisch und einem Wacholdertee bestand, hatten sich Winkler und Krauseke ins Freie begeben, um die üblichen Morgenarbeiten, das Nachbessern der Wege durch den hohen Schnee, das Aufschlagen des Eisloches und das Zerkleinern von Brennholz vorzunehmen.

Kaum hatten sie den Gang verlassen und traten, gehüllt in die Fliegerpelze, in die frostklare Winterluft hinaus, als der Rixdorfer auch sofort sein übervolles Herz zu erleichtern begann.

„Herr Leutnant, ich wette, daß der Engländer uns glatt belügt“, sagte er erregt. „Es geht ihm sicherlich gesundheitlich weit besser, als er sich anstellt. Ich habe jetzt auch den Beweis dafür, daß er gestern schon, während wir abends unseren gewohnten Patrouillengang unternahmen, sein Lager verlassen hat. – Oh, – Herr Leutnant werden nicht mehr lachen, wenn ich erst alles berichtet habe. – Die Pistolen und der Karabiner der beiden Flieger liegen doch neben meinem Lager auf dem Wandbrett. Ich besinne mich nun ganz genau, daß die eine Pistole halb mit meinem Helm bedeckt war, als wir gestern gegen Abend unsere Behausung verließen. Nachher stand der Helm an einer anderen Stelle, und auch die Waffen lagen nicht mehr so wie vordem. Mithin muß der Engländer sich erhoben und sich an den Waffen etwas zu schaffen gemacht haben. Ebenso bin ich auch überzeugt, daß der Hauptmann Deutsch versteht, obwohl er so tut, als sei dies nicht der Fall. Ich habe schon des öfteren gemerkt, daß er sehr gespannt hinhorchte, wenn wir uns über die Bewegungen beim Feinde unterhielten.“

Hans Winkler war stehen geblieben und machte jetzt ein sehr ernstes Gesicht.

„Ein Irrtum hinsichtlich des Helmes und der Waffen ist wohl ausgeschlossen, Fritz?“ meinte er nachdenklich.

„Ganz und gar, Herr Leutnant.“

„Hm – ich will zugeben, saß Cook tatsächlich recht frisch aussieht“, fuhr Winkler fort. „Vielleicht hast Du recht, und er hat wirklich die Schußwaffen sich angesehen und in der Hand gehabt. – Aber wozu das?! Und wozu sucht er den Eindruck zu erwecken, daß er sich noch immer kaum rühren kann …?!“

„Darauf gibt es nur eine Antwort, Herr Leutnant: Er plant Böses! – Wie gesagt, ich wette meinen Kopf, daß er uns eines Tages den Russen ausliefern wird. Bringt er die Waffen an sich, so hat er uns völlig in seiner Gewalt. – Der Mann hat keine guten Augen, ist ein schlimmer, heimtückischer Heuchler, – Herr Leutnant können mir das getrost glauben. Und ich bin dafür, daß wir den Karabiner und die Pistolen, auch Herrn Leutnants Mausermehrlader, noch heute irgendwo unterbringen, wo Cook sie nicht findet. „Vorsicht ist die Mutter von’s Barbiergeschäft“, sagen wir Berliner.“

„Gut – ich bin einverstanden. – Schade, daß Du mir Deine Verdachtsgründe nicht schon gestern Abend mitgeteilt hast. Jetzt ist der Engländer mit den vier Schußwaffen wieder allein, und wir haben nur die Beilpike zum Aufhauen des Eisloches …“

Weiter kam der junge Offizier nicht.

Sie hatten während dieses Gespräches dicht vor den verschneiten Kiefern mit dem Rücken nach dem Eingang der Behausung gestanden.

Des Engländers barsche, befehlende Stimme war’s, die Winkler das Wort abgeschnitten hatte.

„Hände hoch, oder es knallt!“ rief er drohend: in tadellosem Deutsch.

Die beiden fuhren herum. Cook hatte sich lautlos herangeschlichen und hielt ihnen jetzt in jeder Hand eine der Pistolen entgegen.

„Ich schieße bei der geringsten Bewegung, die einer von Euch macht!“ sagte er höhnisch lächelnd. „Das „Hände hoch!“ sei Euch erspart, da es überflüssig ist. – Wirf sofort das Beil weg!“ wandte er sich dann an Krauseke, der dieses an dem umgeschnallten Koppel hängen hatte.

Der Rixdorfer wollte erst das Koppelschloß aufhaken, besann sich aber eines besseren und schnallte das Beilfutteral auf. Inzwischen hatte Winkler in höchster Empörung dem Engländer zugerufen:

„Ah – also das ist Ihr Dank dafür, daß wir Ihnen das Leben gerettet haben! Sie sind ein ganz gemeiner Lump in meinen Augen, und …“

Cook lachte hell auf. „Vor dem Kriegsgericht werden Sie wohl bescheidener werden!“ sagte er mit schneidendem Hohn. „Ich werde sehr genau untersuchen lassen, ob Sie meinem Flugzeugführer, dem Unteroffizier Sachomow, nicht vielleicht das Sterben so ein wenig erleichtert haben.“

Hans Winkler wurde blaß vor zitternder Wut bei dieser infamen Verdächtigung. Unwillkürlich trat er einen Schritt vor und brüllte den Engländer bebend vor Entrüstung an:

„Sie elender Schuft, – Sie wollen Offizier sein …! Ein Teufel in Menschengestalt sind Sie …!“

Er wollte noch mehr hinzufügen. Da er aber jetzt mit seinem Leibe den Rixdorfer deckte, drohte Cook, indem er ihm die eine Pistole gerade vor die Stirn hielt: „Weg da – zur Seite getreten, oder ich schieße, deutscher Halunke!“

Hans Winkler fuhr plötzlich mit dem Kopf nach rechts. Haarscharf an seinem Ohr vorüber war sausend die von Krausekes Hand geschleuderte Beilpike geflogen. Sie traf den Engländer gerade mit der Kante der Schneide dicht über der Nase und blieb in der Stirn stecken.

Wie vom Blitz gefällt, sank Cook nach hinten in den Schnee. Und doch hatte er noch, vielleicht nur durch eine unwillkürliche Bewegung des rechten Zeigefingers, den Abzug der einen Pistole ausgelöst, so daß ein Schuß losging und bei der windstillen, klaren Luft in den Felsen ein donnerndes Echo hervorrief.

Winkler und Krauseke standen einen Augenblick wie gelähmt da. Dann meinte der Rixdorfer dumpf:

„Wenn die Russen unten in dem Quertale den Schuß gehört haben, sind wir verloren.“

„Oder einer der Beobachtungsposten auf den umliegenden Höhen, wohin der Schall noch leichter dringen kann!“ fügte der Leutnant hinzu.

Schleunigst sahen sie nun nach, wie es um den Engländer stand. Der lebte noch, atmete aber nur ganz schwach und war ohne Besinnung. Als Krauseke ihm die Beilpike aus dem Schädel zog, erkannten die beiden Gefährten erst, wie schwer die Verletzung des Feindes war.

„Was tun wir mit ihm?“ fragte Winkler unsicher.

„Hier liegen lassen können wir ihn nicht, Herr Leutnant. Lange hat der … der Mann doch nicht mehr zu leben. Bringen wir ihn zunächst in den Gang. Dort ist es warm genug, daß er nicht erfriert. Und dann müssen wir uns überzeugen, ob der Schuß Verdacht erregt hat.“

Beide befanden sich jetzt in einer nur zu leicht begreiflichen Aufregung.

Nachher begab sich Winkler nach der Nordseite des Kammes, um dort mit Hilfe seines Glases festzustellen, ob die Russen etwa durch den Schuß aufmerksam geworden waren. Dasselbe tat Krauseke am Südende. Nach einer Stunde kam dann der Leutnant eiligst bis zum Rande eines steilen Abhangs vorgekrochen, wo sein Bursche im Schutz einiger Wacholderbüsche, die er eines Abends absichtlich zu diesem Zwecke hier eingepflanzt hatte, lang auf dem Bauche lag und in das Quertal hinabspähte.

„Fritz, kommen Sie her! Der Schuß ist ohne Zweifel gehört worden“, flüsterte Winkler, indem er Krauseke am Fuße rüttelte.

Gleich darauf standen sie, gedeckt durch den Randfelsen, nebeneinander, und der Leutnant berichtete nun, wie er sehr wohl bemerkt habe, daß der russische Posten auf dem nächsten, etwa zweihundert Meter nördlich liegenden Berge mit einem Scherenfernrohr scharf den Kamm der Ludowka-Höhe gemustert habe und daß dann neben dem Posten nach einer Weile zwei Offiziere aufgetaucht seien, die ebenfalls auffällig lange mit ihren Gläsern herübergeschaut hätten.

„Und den möchte ich sehen, der gegen unserem Willen das Plateau erreicht, das doch nur an ganz wenigen Stellen mit Hilfe von allerlei Geräten – Tauen, Leitern und so weiter – zu erklimmen sein dürfte“, schloß er seine zuversichtliche Rede.

Dann kehrten die beiden Gefährten zunächst nach ihrer Behausung zurück. Der Engländer war inzwischen verschieden. Sicherlich hatte er die Besinnung nicht wieder erlangt.

Krauseke ging der Tod des heimtückischen Feindes doch recht nahe. – „Ich hätte nicht so kräftig das Beil schleudern sollen“, meinte er ernst. „Vielleicht hätten wir den Engländer auch anderswie überwältigen können.“

Dann schafften sie auch diesen Toten in dieselbe Felsspalte, in der schon der Flugzeugführer beigesetzt worden.

Der Tag verging, ohne daß die beiden Gefährten etwas von Versuchen der Russen, auf die Kammhöhe zu gelangen, bemerkten. Am folgenden Vormittag erhielten sie dann aber den Beweis, daß der Feind tatsächlich Verdacht geschöpft hatte.

Wieder war es klares, kaltes und windstilles Wetter. Gegen neun Uhr hatten sie gerade ihre Beobachtungsposten jeder auf seiner Seite bezogen, als ein Doppeldecker von Osten her auftauchte und über dem Kamm im niedrigen Gleitflug hinwegstrich, um gleich darauf zurückzukehren und eine russische Fahne genau über dem See abzuwerfen. Dann erst entfernte das Flugzeug sich wieder.

Winkler und Krauseke hatten sich in ihren Verstecken am Rande der Kammhöhe völlig regungslos verhalten. Daß der Beobachter des russischen Doppeldeckers sie erspäht haben konnte, war ausgeschlossen. – Als der Leutnant nun nach der Mitte der Kammmulde hineilte, um zu sehen, was es mit der Flagge für eine Bewandtnis habe, traf er Krauseke bereits bei dem kleinen See an. Der Rixdorfer hatte die Fahne in der Hand, an die an einem Ende eine Konservenbüchse angebunden war, deren Deckel mit Bindfaden festgehalten wurde. Sie enthielt einen Zettel, der in englischer Sprache abgefaßt war und folgenden Inhalt hatte:

„Falls Hauptmann Cook und Unteroffizier Sachomow mit ihrem Flugzeug auf diesem Berge gelandet und dabei verletzt sind, brauchen sie nur die Fahne über einen der niedrigen Bäume auszubreiten, und wir werden versuchen ihnen Hilfe zu bringen. Es ist hier ein Schuß gehört worden, der anscheinend von dieser Höhe kam, und wir vermuten, daß dies ein Notsignal gewesen sein soll. – Stabskapitän Ustow.“

„Aha – also so liegt die Sache!“ meinte Krauseke, nachdem Winkler ihm den Inhalt des Zettels ins Deutsche übertragen hatte. „Na – da können die Herren Russen lange warten, ehe die Flagge in der angegebenen Weise als Notzeichen ausgebreitet wird. Im Gegenteil, wir legen sie genauso hin, wie ich sie gefunden habe.“

Am Nachmittag gegen zwei Uhr tauchte dann der Doppeldecker abermals auf. Er ging jetzt womöglich noch tiefer herab, so daß er kaum hundert Meter über den Kamm hinweg glitt.

Nachher schüttelte Krauseke[3] sehr bedenklich den Kopf, „Der Beobachter muß erkannt haben, daß hier oben in den Schnee Wege eingeschaufelt sind“, sagte er zu Winkler „Ich wette, die Russen werden nunmehr das Richtige ahnen, das heißt, daß sich feindliche Soldaten hier aufhalten. Vielleicht werden sie vermuten, es befinde sich auf dem scheinbar unzugänglichen Kamm ein vorgeschobener deutscher Telephonposten, der bei dem letzten Angriff hier abgeschnitten wurde.“

Der junge Offizier mußte seinem Burschen recht geben. Sicherlich stand jetzt in allernächster Zeit ein Angriff auf den Kamm bevor. Es hieß demnach, nunmehr stündlich auf recht ungebetenen Besuch gefaßt zu sein, und Tag und Nacht die Augen offen zu halten.

Es kam jedoch anders – ganz anders. Drei Tage ereignete sich nichts. Die Gefährten stellten nur fest, daß ihr Schlupfwinkel ständig von den benachbarten Gipfeln aus mit Fernrohren beobachtet wurde. Sie mußten daher außerordentlich vorsichtig sein, wenn sie ihre Späherplätze einnahmen.

Dann vernahmen sie am Morgen des vierten Tages wieder Propellergeräusch. Ein Doppeldecker näherte sich von Osten und umrundete erst zweimal den Kamm, bevor er … die erste Bombe abwarf, weitere folgten, und eine davon schlug neben dem breiten Felsblock ein, der die rechte Wand der Behausung bildete. Diese mächtige Felsplatte mußte nun wenig fest gestanden haben und wurde durch die Kraft der Explosion nach innen eingedrückt, so daß die behagliche Wohnung nur noch einen wüsten Haufen von Baumstämmchen, den bisherigen Dachbalken, Schnee und Moosstücken bildete, über den das jetzt ganz schräge Felsstück lehnte, so daß der bisher quadratische Raum die Gestalt eines dreieckigen Schachtes angenommen hatte.

Zum Glück waren die Gefährten gerade auf ihren Beobachtungsplätzen, als das Flugzeug die Kammmulde mit Bomben belegte. Nachdem es wieder davongeflogen war, sahen die beiden Deutschen erst, was aus ihrer behaglichen Wohnung geworden war.

In recht gedrückter Stimmung versuchten sie sofort, drinnen wenigstens notdürftig Ordnung zu schaffen und die entstandenen breiten Spalten abzudichten. Ein Dach brauchten sie nicht mehr, da die durch die Explosion umgeworfene Felsplatte sich jetzt mit ihrer oberen Kante an die linke Wand anlehnte.

Trotzdem hatten sie gut drei Stunden zu tun, ehe sie wenigstens einigermaßen wieder vor der schneidenden Kälte geschützt waren. Auch der Kamin war natürlich umgestürzt und mußte durch einen anderen ersetzt werden. Ein reiner Zufall war’s, daß die Lagerstätten nicht Feuer gefangen hatten. Dann wäre alles in der kleinen Behausung in Flammen aufgegangen. Aber die auf dem Dache lagernden Schneemassen hatten die glühenden Holzkohlen, die während des Tages benutzt wurden, um jede Rauchentwicklung zu verhindern, ausgelöscht.

Ein Feuer in dem Kamin anzuzünden, durften die Gefährten, nachdem sie wieder ihr Heim leidlich instand gesetzt hatten, keinesfalls wagen. Nur die Acetylen-Lampe spendete eine kaum merkliche Wärme. Kein Wunder, daß Winkler und Krauseke die Nacht sehnsüchtig herbeiwünschten. Froren sie doch geradezu jämmerlich, besonders da sie sich nicht einmal die übliche warme Mahlzeit herrichten konnten, – eine Suppe aus Bärenpökelfleisch, in die als Gewürz die bläulichen Wacholderkügelchen hinein kamen und die sonst so gut gemundet hatte, obwohl es sie täglich gab, entweder mittags oder abends.

Die Kälte trieb sie wieder ins Freie, da sie sich draußen durch Umherlaufen wenigstens etwas erwärmen wollten. Inzwischen war ein frischer Wind aufgekommen, der von Nordosten eine dunkle Wolkenwand mitbrachte. – „Es gibt Schnee“, meinte der Rixdorfer. „Der Himmel hat ein Einsehen! Dann können wir bei uns auch einheizen, und außerdem wird den Russen bei solchem Wetter die Lust vergehen, sich als Bergsteiger zu versuchen, falls sie überhaupt daran denken, jetzt noch nach diesem Bombenattentat auf unseren hochgelegenen Luftkurort den Ludowka-Kamm zu erklettern.“

Winkler konnte nur wieder erstaunt darüber den Kopf schütteln, daß sein wackerer Fritz so schnell seine gute Laune wiedergefunden hatte. Der Rixdorfer war wirklich eine unverwüstliche heitere Natur und um diese Charakterveranlagung recht zu beneiden. Der junge Offizier nahm die Dinge viel schwerer. Und daher erwiderte er jetzt auch:

„Ich habe mir schon reichlich über die Frage den Kopf zerbrochen, was die Russen eigentlich mit diesem Bombenangriff bezweckt haben. Meiner Ansicht nach war dieser ziemlich sinnlos. Wenn sie dadurch nach ihrer Vermutung hier oben steckende Deutsche unschädlich machen wollten, so hätten sie sich sagen müssen, daß vier Bomben dazu kaum genügen, wo die Felsen doch so viel Verstecke bieten. Ich bin jetzt auf den Gedanken gekommen, daß sie in den letzten drei Tagen, ohne daß wir es merkten, doch allerlei Versuche angestellt haben, hier hinaufzugelangen, und daß die Bomben nichts als der Ausfluß einer ohnmächtigen Wut gewesen sind, weil[4] alle diese Versuche mißglückt sind.“

Als der Rixdorfer gegen drei Uhr nachmittags dann ins Freie wollte, um nach dem Wetter zu sehen, konnte er die Außentür des Ganges nicht mehr öffnen. Es mußte also vor dem Eingang zwischen den Felsen und der Kieferngruppe eine hohe Schanze zusammengeweht sein, die sich als Hindernis vor die nach außen schlagende Tür legte. Krauseke gab sich auch weiter keine Mühe, den Eingang frei zu machen, sondern kehrte in die Hütte zurück, wo er seinem Leutnant sehr zufrieden erklärte, daß der starke Schneefall alle Spuren der Anwesenheit von Menschen auf dem Plateau verwischen würde.

„Wenn wir uns einige Tage nicht aus unserer Wohnung herausrühren“, meinte er, „so werden sich draußen nicht die geringsten Anzeichen dafür finden lassen, daß hier Leute hausen. Die Russen mögen also meinetwegen ruhig heraufkommen. Unsere Wohnung ist jetzt von außen sicherlich nicht im geringsten als solche kenntlich. Sie werden also schließlich unverrichteter Sache wieder abziehen müssen.“

Dieser Gedanke war ganz gut, wie Winkler sofort einsah und seiner Durchführung stand nichts im Wege. Brennholz war in dem überdachten Gange reichlich aufgehäuft, und dort lag ja auch das geräucherte Fleisch in einer Felsspalte, die die beiden Gefährten stets „die Speisekammer“ nannten. Und als Wasser konnte man geschmolzenen Schnee benutzen.

Zwei Tage vergingen für die beiden jetzt lediglich auf die enge Hütte und den Gang beschränkten Gefährten endlos langsam. Sie brannten aus Vorsicht nur Holzkohlen, von denen sie sich einen großen Vorrat schon früher zugelegt hatten. Am Morgan des dritten Tages vernahm Krauseke, als er in dem Gange gerade aus der Speisekammer Fleisch holte und dabei zu seinem nicht geringen Schreck sah, daß dieses trotz aller Sparsamkeit bald aufgebraucht war, draußen undeutlich menschliche Stimmen, die jedoch bald wieder verstummten. – Also war es dem Feinde doch gelungen, auf das Plateau hinaufzugelangen. Und alles hing nun davon ab, ob die Russen nichts finden würden, was ihrem Verdacht, daß sich hier oben Menschen aufhielten, neue Nahrung gab.

Wieder waren drei Tage hingegangen. Inzwischen hatte der junge Offizier Krauseke darauf aufmerksam gemacht, daß der Gegner ohne Frage hier oben einen Beobachtungsposten zurücklassen würde und daß die ganze Lage seines Erachtens jetzt mehr als verzweifelt sei.

Aber der Rixdorfer blieb auch jetzt ganz ruhig. „Kommt Zeit, kommt Rat, Herr Leutnant. – Noch haben wir für drei weitere Tage Fleisch. Dann freilich heißt es handeln.“

Winkler zuckte die Achseln. „Lieber Fritz – handeln?! – Hier gibt’s nur eins: sich gefangennehmen lassen. Ich wüßte nicht, wie …“

Er beendete den Satz nicht. Durch den Kamin drangen von oben Stimmen herab, einzelne Rufe, bisweilen Lachen, alles ganz undeutlich.

„Die Russen klettern auf den Felsen herum“, sagte Krauseke, der vor Aufregung ganz heiser sprach. „Wenn sie unseren Schornstein, von dem der Schnee ja sicherlich weggeschmolzen ist, als solchen erkennen so sind wir geliefert!“

In atemloser Spannung standen die beiden Gefährten da und lauschten.

Abermals lautes Rufen …

Da packte Winkler mit hartem Griff seines treuen Burschen Arm.

„Fritz – das waren doch deutsche Worte …!! Sollte ich mich so verhört haben …?! – Da – Fritz – jetzt wieder …!“

Und nun klang’s deutlich von oben durch den Rauchfang hinab: „Du – kiek mol – dat is hier doch ’n Schornstien!“

Da brüllte Krauseke in den Kamin hinein:

„Stimmt, min Jung, dat is ’n Schornstien! Und dat hier unnen sin ’n paar Kameraden von Dir!“ – –

Fünf Minuten später waren Winkler und Krauseke aus den Schneemassen glücklich herausgeschaufelt und zwar von Leuten ihres eigenen Bataillons, die hier als Beobachtungs- und Telephonposten aufgestellt waren. Jetzt erfuhren die beiden Gefährten auch, daß schon vor drei Tagen durch einen umfassenden Angriff die Russen hatten wieder zurückgehen müssen, deren hier oben untergebrachte Beobachter – vier Mann – abgeschnitten worden waren und sich dann durch Zurufe bemerkbar gemacht hatten, so daß die Deutschen sie gefangennehmen und den Ludowka-Kamm selbst besetzen konnten. –

Das gab bei der 9. Kompagnie kein schlechtes Hallo, als Winkler und Krauseke, die längst Totgeglaubten, sich wieder einfanden.

Krauseke sollte den Kameraden natürlich gleich ganz ausführlich all seine Erlebnisse berichten. Er aber winkte ab.

„Erst gebt mir mal ’n Topp heißen Kaffee und ’n Stück Kommißbrot her! Wer ’n paar Wochen lang nur Bärenpökelfleisch gefuttert hat, hat andere Gedanken als erzählen! Nachher tu’ ich Euch schon noch den Gefallen. Da werdet Ihr Mund und Ohren aufsperren. Aber – schön war’s doch da oben auf der Ludowka-Höhe, – wahrhaftig, sehr schön!“

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Heutige Schreibweise: „Karpaten“.
  2. 2 „Acetylen-Lampe“ / „Acetylenlampe“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Acetylen-Lampe“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Krause“.
  4. In der Vorlage steht: „weiil“.