Erlebnisse einsamer Menschen
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W. Belka.
Wer von Deutschland aus eine Vergnügungsreise nach Australien unternimmt, muß entweder viel Geld oder – viel Glück haben.
Wenn wir uns unter diesen Gesichtspunkten die Bewohner der elegant eingerichteten Kabinen der Dampfjacht „Germania“ näher ansehen, so stellt sich heraus, daß man von ihren sechs Reisenden drei in die Rubrik Geld, die anderen drei in die Rubrik Glück einreihen kann.
Die „Germania“, erst vor einem halben Jahre bei Blom und Voß in Hamburg vom Stapel gelaufen, gehörte dem durch überseeischen Viehhandel zum mehrfachen Millionär gewordenen ehemaligen Fleischermeister Kraxemiller. Niemand wird leugnen, daß Kraxemiller nicht nur Geld, sondern sogar sehr viel Geld besaß. Selbst seine bittersten Neider nicht. Und in derselben angenehmen Lage befanden sich seine beiden besten Freunde, der Grundstückspekulant Heuberer und der ehemalige Hotelbesitzer Schwartenburg. Beide machten die Reise nicht etwa als Kraxemillers Gäste mit – o nein! Dazu waren sie viel zu stolz auf ihren eigenen wohlgefüllten Geldsäckel. Zweitausend Mark bezahlte jeder von ihnen für das Vergnügen, damit es nicht hieß, sie hätten sich von ihrem Skatbruder freihalten lassen.
Die Rubrik Geld ist also schon beieinander. Nun zu der zweiten. Da muß an erster Stelle der Majoratsherr Egon Freiherr von Blakschmidt genannt werden, der Schwiegersohn Kraxemillers, der noch vor zwei Jahren sämtlichen Geldverleihern Deutschlands aufs genaueste bekannt war, dann aber das Glück gehabt hatte, daß Fräulein Erna Kraxemiller auf der Promenade in Nizza sich in den eleganten Baron, wie er überall genannt wurde, so kräftig verliebte, daß der frühere Fleischermeister wenn auch recht widerstrebend sein väterliches Ja und Amen sprach. Egon Freiherr von Blakschmidt muß also notwendig, obwohl er jetzt so tat, als habe er nie mit Wucherern zu tun gehabt, der zweiten Rubrik zugezählt werden, ebenso wie sein Freund und Korpsbruder Doktor Ulrich Merkel, praktischer Arzt ohne Praxis, der für tausend Mark Honorar die Verpflichtung übernommen hatte, über das gesundheitliche Befinden der Fahrgäste und der Besatzung der Jacht zu wachen.
Dem sechsten Herrn müssen wir schon einige Zeilen mehr als den fünf anderen widmen.
Karl Fechtler war Waise. Ein Onkel mütterlicherseits, der ein Einkommen von zehntausend Mark versteuerte und für niemand weiter als sich selbst zu sorgen hatte, war so großmütig gewesen, seinem elternlosen Neffen durch Zahlung von fünfzig Mark monatlich das chemische Studium zu ermöglichen. Freilich – von der Poesie des Studentenlebens hatte Karl Fechtler nie etwas zu spüren bekommen. Im Gegenteil – hätte er nicht in seiner freien Zeit sich durch Nachhilfestunden noch Geld dazu verdient, so wäre er wohl langsam verhungert, während sein Wohltäter von Onkel jedes Jahr nach Marienbad mußte, um seine Leibesfülle etwas zu verringern. Durch die Nachhilfestunden war Fechtler auch in das Haus Kraxemillers gekommen, da dessen zweites Kind, ein zwölfjähriger frischer Junge, leider jedweder geistigen Tätigkeit durchaus abgeneigt war, was in den Schulzeugnissen stets deutlich zum Ausdruck kam.
Kraxemiller hatte an dem Studenten sehr bald Gefallen gefunden und ihn eines Tages dann gebeten, sein Gast auf der „Germania“ zu sein, wo er sich ja ebenso gut auf das immer näher rückende Examen vorbereiten könne als daheim und noch nebenbei den großen Vorteil genieße, ein schönes Stück Welt kennen zu lernen. Mit Freuden hatte Karl Fechtler die Einladung angenommen, mithin ebenso viel Glück entwickelt wie der im Wechselrecht so erfahrene Baron und dessen Freund, der Doktor Merkel.
Die „Germania“ befand sich zur Zeit, das heißt am 2. April 1905, im Indischen Ozean auf der Höhe von Keeling-Islands, ein Name, der neun Jahre später insofern eine geschichtliche Bedeutung erlangen sollte, als dort nach zehnstündigem Feuergefecht der deutsche ungeschützte Kreuzer „Emden“ von dem anderthalbmal größeren gepanzerten englisch-australischen Kreuzer „Sydney“ vernichtet wurde und so einen Untergang fand, der seiner ruhmreichen Laufbahn durchaus würdig war.
Die Jacht durchschnitt mit mittlerer Geschwindigkeit von zehn Knoten mit südöstlichem Kurse die im Lichte der Tropensonne gleißenden, von einer langen Dünung bewegten Wasser des Indischen Ozeans.
Unter dem Sonnensegel auf dem Hinterschiff saßen in sehr zwanglosen Stellungen in Korbsesseln August Kraxemiller und seine fünf teils zahlenden, teils bezahlten Gäste. Soeben hatte man das erste Frühstück gemeinsam eingenommen und vertilgte nun bei einer lebhaften Unterhaltung Tabak in dieser oder jener Form, – als Zigarre, Zigarette oder mit Hilfe einer kurzen Pfeife. Daß Egon von Blakschmidt nur echte Importen und Zigaretten von zehn Pfennig aufwärts rauchte, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Die plebejische Pfeife hing nur Heuberer und Schwartenburg zwischen den Zähnen.
Wie das Gespräch eigentlich auf Robinson Krusoe gekommen war, wußte nachher niemand mehr. Jedenfalls machte Kraxemiller im Laufe der Erörterung der Frage, ob es nicht infolge Schiffbruchs derartige Einsiedler, deren Abenteuer jedoch verbürgt wären, häufiger gegeben habe, die Bemerkung, er halte es für ganz ausgeschlossen, daß ein einzelner Mann auf einer einsamen Insel ohne jede Hilfsmittel länger als sechs Monate leben könne, ohne den Verstand zu verlieren.
Doktor Merkel bestritt dies, ebenso Karl Fechtler. Ein schwacher Charakter mit unpraktischer Veranlagung würde vielleicht auch bei den sonst günstigsten Lebensbedingungen zugrunde gehen. Aber die weitaus meisten Menschen, von Frauen und Kindern natürlich abgesehen, dürften eine derartige primitive Daseinsführung ganz gut überstehen.
Kraxemiller und die drei anderen Herren, besonders der elegante Baron, beharrten jedoch bei ihrer Ansicht. Und letzterer erklärte sogar, ein Leben ohne Zahnbürste und Mundwasser, ohne all das Drum und Dran einer verfeinerten Kultur würde ihn schon in kurzem dem Wahnsinn nahebringen. Worauf der junge Student wieder scherzend erwiderte, wenn ihm jemand 25 000 Mark böte, falls er ein Jahr lang freiwillig Robinson spielen wolle, würde er bereitwilligst zugreifen.
Heuberer und Schwartenburg ließen gleichzeitig ein zweifelndes „na, na!“ hören, während der Besitzer der „Germania“ wieder lachend behauptete, etwas Derartiges sei leicht hingesprochen, aber wohl kaum ernst zu nehmen.
„Doch, Herr Kraxemiller“, sagte Fechtler eifrig, „ich würde mich keinen Augenblick besinnen. 25 000 Mark könnte ich gar nicht leichter verdienen. Das Geld würde mir es nachher ermöglichen, Teilhaber an einer kleinen chemischen Fabrik zu werden und mir mithin eine so günstige Zukunft zu eröffnen, daß ich dafür gern ein Jahr opfere.“
Kraxemiller schlug sich jetzt knallend mit der flachen Hand aufs Knie.
„Hört mal, Ihr beiden“, wandte er sich an seine Skatbrüder und langjährigen Freunde, „was meint Ihr dazu? Wollen wir drei nicht die 25 000 Mark springen lassen?! Mein alter Kapitän Stickler weiß sicher irgendwo hier in der Nähe eine Insel zu finden, die sich leidlich für diesen Zweck eignet. Dann mag Herr Fechtler sich seine 25 000 Mark verdienen.“
Heuberer und Schwartenburg stimmten ohne Zögern zu.
„Na – Sie sehen, das Geld ist bereits aufgebracht“, meinte Kraxemiller zu dem Studenten. „He – was sagen Sie nun?“
„Genau dasselbe wie vorher: ich übernehme es mir, freiwillig ein Jahr lang auf einer entlegenen Insel zu hausen“, erwiderte Fechtler ernst.
Wenige Minuten später war Doktor Merkel bereits mit dem Entwurf einer Urkunde beschäftigt, die die gegenseitigen Verpflichtungen der Geldgeber und des zukünftigen Robinsons genau festlegen sollte. Kraxemiller aber hatte den Kapitän Stickler herbeigerufen und fragte diesen nach einem einsamen Eiland aus.
Stickler holte eine Seekarte herbei, breitete sie auf einem Tische aus und tippte dann mit dem Zeigefinger auf ein südwestlich der Keeling-Inseln gelegenes schwarzes Pünktchen, neben dem der Name Gralster stand.
„Hier wäre so ein Eiland, das allen Anforderungen entspricht“, sagte er. „Ich bin selbst einmal vor etwa zehn Jahren auf der Gralster-Insel gewesen, als ein Orkan die Brigg, die ich damals führte, weit aus ihrem Kurse verschlagen hatte. Sonst hat kein Fahrzeug ein Interesse daran, dieses Eiland, das außerhalb aller Schiffsrouten liegt, anzulaufen. Weshalb man es Gralster-Insel getauft hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat es kaum eine Viertelmeile Durchmesser, enthält aber sonst eine ziemlich üppige Vegetation und dient auch zahlreichen Vögeln als Nistplatz. Auch eine gute Quelle ist vorhanden, aus der wir damals unseren Wasservorrat ergänzten. In zwei Tagen können wir dort sein, wenn wir wollen.“
Er hielt die Sache noch immer für einen Scherz, war dann aber sehr erstaunt, als Kraxemiller befahl, Kurs auf das Eiland zu nehmen.
Inzwischen hatte Doktor Merkel die Urkunde, deren einzelne Bestimmungen vorher von den Beteiligten durchgesprochen worden waren, fertiggestellt und las sie jetzt langsam vor.
„An Bord der Jacht „Germania“, Heimathafen Kiel, Besitzer Rentier August Kraxemiller, den 2. April 1905.
Zwischen den Endesunterzeichneten wird folgendes vereinbart.
1. Der Studiosus Karl Fechtler verpflichtet sich, ein Jahr lang auf der Gralster-Insel als Robinson zu leben, um den Beweis zu erbringen, daß ein energischer Charakter sich auch ohne irgend welche Hilfsmittel dort weiterzuhelfen vermag, ohne ernstere Schädigungen an seiner Gemütsverfassung zu erleiden.
2. Fechtler darf außer dem, was er auf dem Leibe hat, also außer einem Anzug und der zugehörigen Unterwäsche nichts anderes mitnehmen, weder Uhr, Taschenmesser noch sonst etwas.
3. Sollte ein Schiff vor Ablauf der vereinbarten Zeit die Insel anlaufen, so darf er es zur Rückkehr in bewohnte Gegenden nicht benutzen und sich auch keinerlei Werkzeuge, Kleider oder dergleichen geben lassen.
4. Die Gegenpartei verpflichtet sich, Fechtler 25 000 Mark zu zahlen, wenn er die gestellten Bedingungen genau einhält. Das Geld ist vom nächsten Hafen aus bei einer Kieler Bank durch Kabeldepesche sicherzustellen. Der Gegenpartei steht es frei, sich davon zu überzeugen, ob Fechtler nicht etwa von einem Schiffe sich unerlaubte Hilfsmittel verschafft hat.
5. Die Gegenpartei muß Fechtler nach Ablauf dieses Jahres von der Gralster-Insel kostenlos abholen lassen oder mit der „Germania“ nach Deutschland zurückbringen.
6. Im übrigen ist Fechtler berechtigt alles zu benutzen, was er auf der Insel vorfindet oder was nicht gerade durch ein bemanntes, unbeschädigtes Fahrzeug dorthin gelangt.“
Die Urkunde wurde dann sofort unterzeichnet. Als Zeugen setzten Baron Blakschmidt und Doktor Merkel ihre Namen darunter, während ein zweites Exemplar dem freiwilligen Robinson mitgegeben werden sollte, damit er sich, falls ein Schiff das Eiland anlief, darüber ausweisen konnte, was er auf der Insel triebe.
Zwei Tage darauf kam die Gralster-Insel in Sicht, und genau um 12 Uhr mittags am 4. April 1905 betrat Karl Fechtler das Stückchen Erde, das ihn ein Jahr beherbergen sollte.
Der Abschied war durch ein kleines Bordfest gefeiert und reichlich begossen worden. Von dem genossenen Sekt halb berauscht, winkte Fechtler der sich entfernenden Jacht vergnügt mit dem breitrandigen Panama nach. Eine halbe Stunde später war die „Germania“ unter dem Horizont verschwunden.
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So lange der Zurückbleibende noch etwas von der Jacht sehen konnte, hielt diese zuversichtliche Stimmung leidlich an. Aber als nun die Mastspitzen sich mehr und mehr verkürzten, als schließlich nur noch eine schwache Rauchsäule die Stelle bezeichnete wo die „Germania“ zu suchen war, da kam der Umschlag, da packte den abenteuerlustigen Studenten das Gefühl der Verlassenheit mit einem Male so mächtig, daß die Weindünste im Nu verflogen und er sich still auf einen großen Stein am Ufer setzte, um unverwandt über die leicht bewegte See auf den Punkt hinzustarren, wo die Jacht mit jeder Minute eine größere Entfernung zwischen sich und die Gralster-Insel legte.
Wenn es jetzt noch in Karl Fechtlers Macht gestanden hätte, die „Germania“ zurückrufen und den Vertrag umstoßen zu können, so würde er es sicherlich getan haben. Fast lähmend wirkte das Bewußtsein der Einsamkeit, des völlig auf sich allein Angewiesenseins auf ihn.
Wohl eine halbe Stunde lang saß er so regungslos da. Dann raffte er sich mit einem tiefen Seufzer auf und wandte sich dem Innern des kleinen Eilandes zu.
Er war an der Ostseite gelandet. Was er von hier aus von seiner Robinsoninsel erblickte, richtete seine Zuversicht wieder etwas auf. Der teils sandige, teils mit Steingeröll bedeckte Strand stieg ziemlich steil an, ging dann aber sofort in fruchtbaren Boden über, auf dem zunächst zwischen hohem Grase sich allerlei Buschwerk ausbreitete, das allmählich zu einem lichten tropischen Walde wurde.
Der Pflanzenwuchs des Eilandes war ein Gemisch der Flora Ostindiens und der der Ostküste von Afrika vorgelagerten Inseln. Je weiter der junge Student in den Wald eindrang, desto angenehmer wurde er durch die mannigfachen Arten von Bäumen und Sträuchern überrascht, die hier vorkamen.
Kokos- und Dattelpalmen standen in kleinen Gruppen vereinigt, während mächtige Brotfruchtbäume, Pandanen, riesige Rasamala- und auch vereinzelte Kautschukbäume als Mischwald auftraten. Allerlei Rankengewächse schlangen sich in langen Bogen von Ast zu Ast, üppig blühende Schmarotzerpflanzen führten auf den Stämmen, aus der Rinde ihre Nahrung ziehend, ihr der Erde entrücktes Dasein.
Wunderbare Düfte erfüllten die Luft, während das Auge fast trunken auf dieser Farbenorgie blühender Gewächse ruhte. Schmetterlinge in allen Größen und Farben schwebten graziös von Blume zu Blume, Käfer surrten umher, wiegten sich auf den Gräsern und fochten auch wohl verzweifelte Kämpfe mit den zum Teil gefährlich großen Ameisen aus, die in Baumstümpfen und Erdlöchern hausten. Dazu gab es in den Kronen der Bäume ein fortwährendes Konzert der verschiedensten Vogelstimmen, unter denen aber das Gurru, Gurru der Wildtauben am häufigen hervorklang.
Karl Fechtler hielt sich immer in gerader Richtung nach Westen zu, um das Eiland erst einmal zu durchqueren. Nach zehn Minuten hörte der Wald auf und ging in eine hügelige Lichtung über, auf der nur einzelne Sträucher wuchsen. Dahinter aber türmte sich eine kahle, felsige Hügelkette auf. Bald hatte unser Robinson festgestellt, daß diese Hügel die Insel, von Norden nach Süden sich bis zu den Meeresufern hinziehend, wie ein Wall in zwei Teile zerschnitten. Dabei war diese Felsenwildnis weniger hoch als steil und unzugänglich. Sogar ihre Ausläufer nach dem Meere hin bildeten Steilküsten, vor denen es auch nicht den schmalsten Landstreifen mehr gab, die vielmehr jäh in die See abfielen. Nur mühsam gelang es Fechtler, die höchste Kuppe zu erklimmen. Die Anstrengung wurde dann aber auch reichlich belohnt. Von hier aus hatte er einen vollständigen Überblick über sein kleines Reich.
Was Kapitän Stickler von der Größe und Gestalt der Insel geäußert hatte, traf nicht ganz zu. Sie hatte vielmehr die Form einer kurzen Keule und eine größte Länge von Osten nach Westen von etwa viertausend Meter. Der Ostteil, den Fechtler soeben durchwandert hatte, besaß wieder eine größte Breite von vielleicht zweitausend Meter. Bedeutend schmäler, felsiger und mehr mit Buschwerk bedeckt war die westliche Hälfte. Hier gab es dicht am Fuße der Hügelkette eine sumpfige Niederung, die zum Teil mit riesigen Bambuspflanzen bestanden war, deren größte Schößlinge gut acht Meter hoch waren.
Für Fechtler war es, zumal aus den Felsenhügeln nach Nordosten zu eine starke Quelle abfloß, nicht schwer sich zu entscheiden, wo er sich seine Behausung errichten sollte. Hier kam nur die freundlichere Osthälfte des Eilandes in Frage. Trotzdem wollte er aber auch sofort den Westteil genauer besichtigen, bevor er sich eine vorläufige Unterkunft schuf.
In zuversichtlicher Stimmung schritt er jetzt, nachdem er den Abstieg von den Felshügeln nicht ohne Schwierigkeiten bewerkstelligt hatte, dem Weststrande der Insel zu, indem er sich stets einen Weg suchte, der ihn über kleine Höhenrücken hinführte, von denen aus er einen guten Fernblick hatte. Nur so kam es, daß ihm ein in einer flachen Talmulde stehender, offenbar von Menschenhand behauener großer, viereckiger Stein auffiel, den er sonst wohl nur zufällig weit später bemerkt haben würde.
Die Talmulde besaß einen dichten Graswuchs mit förmlichen unregelmäßigen Beeten wildblühender Blumen dazwischen und bot so ein recht farbenfrohes Bild dar. In der Mitte erhob sich der mit Flechten bewachsene Steinblock von gut zweiundeinhalb Meter Höhe und ein Meter Breite.
Erst als Fechtler dicht davor stand, nahm er wahr, daß in den Stein einige Reihen von Buchstaben und Zahlen eingemeißelt waren.
Diese Entdeckung erregte begreiflicherweise sofort seine Neugier. Mit einem scharfen Steinsplitter begann er die Flechten abzukratzen, bis er die Inschrift leidlich entziffern konnte. Diese war in englischer Sprache abgefaßt und lautete folgendermaßen:
„Zum Andenken meines Gatten, des Kapitäns William Gralster, der im Jahre 1826 mit seiner Brigg „Astarte“ verschwand und den ich fünf Jahre lang gesucht habe, nachdem mir durch eine von ihm aufgegebene Flaschenpost Kunde geworden war, daß er als Schiffbrüchiger auf einer Insel im Indischen Ozean lebe. Am 24. Juli 1841 fand ich ihn, einen Sterbenden. Treue Gattenliebe hatte mir den Mut und die Ausdauer verliehen, nicht eher zu rasten, bis ich wenigstens für seine letzten Stunden mit ihm wiedervereint war. Auf seinen Wunsch haben wir ihn an dieser Stelle begraben. – Edith Gralster.
Ruhe in Frieden!
Wer suchet, der wird finden!
N 84, S 24, W 50, O 18.“
Es war klar, daß Kapitän Stickler bei seinem kurzen damaligen Besuche der Insel diesen Stein, der, wie Fechtler jetzt erst sah, aus Marmor bestand, nicht bemerkt hatte. Sonst würde er nicht geäußert haben, ihm sei unbekannt, weshalb das einsame kleine Eiland den Namen Gralster-Insel führe.
Die Inschrift des Steines war ihrem Inhalt nach klar und deutlich – bis auf die letzte Zeile. Aus diesen Buchstaben und Zahlen wurde der junge Student nicht klug. Irgend eine Bedeutung hatten sie ohne Frage. Aber welche …?!
Nachdenklich starrte er den Marmorblock an. Umsonst zergrübelte er sich jedoch den Kopf, um eine Erklärung für diese letzte Zeile zu finden. Es gelang ihm nicht. Schließlich gab er die Sache vorläufig auf. Zu lange wollte er sich hier doch nicht aufhalten, zumal sich bereits sein Magen meldete. Das Abschiedessen auf der Jacht hatte nicht lange vorgehalten.
Eiliger als vorhin strebte er weiter dem Weststrande zu. Felsgruppen, von Riesenfarnen überschattet und mit Dornengestrüpp bewachsen, versperrten ihm oft den Weg. Überhaupt war dieser Teil der Insel stellenweise eine förmliche Wildnis. Hier und da traten auch Quellen zutage, vereinigten sich, bildeten kleine Tümpel und flossen in vielfachen Windungen dem Meere zu. Trotzdem gab es manch’ malerisches Plätzchen, und auch hier nisteten in Felslöchern überall Wildtauben, während in der Nähe des Strandes ganze Kolonien von Seevögeln hausten. Besonders zahlreich war eine Möwenart vertreten, deren gesprenkelte, in kunstlosen Nestern liegende Eier unwillkürlich Fechtlers Appetit reizten. Verfolgt von dem wütenden Geschrei der Vögel sammelte er in seinem Hute eine Menge Eier ein, suchte sich dann eine schattige Sitzgelegenheit und verzehrte die größtenteils noch nicht angebrüteten Eier roh. Besser hätten sie ihm geschmeckt, wenn er in der Lage gewesen wäre sie zu kochen. Aber – dazu gehörten Feuer und ein Kochgeschirr, und beides besaß er nicht, wenigstens vorläufig nicht. Daß er es sich beschaffen würde, sowohl dieses Element, von dem Schiller in seinem Lied von der Glocke mit Recht sagt, daß seine Macht wohltätig ist, wenn sie der Mensch bewacht, als auch Gefäße, die sich zur Herstellung von Speisen und zu anderen Zwecken eigneten, daran zweifelte er nicht. Wozu war er denn Student der Chemie, der weit eher wie jeder andere die ihm zur Verfügung stehenden Stoffe in andere Formen und Verbindungen zu bringen wußte!
Während dieser ersten bescheidenen Mahlzeit als Robinson hatte er die beste Gelegenheit sich darüber klar zu werden, mit welcher Arbeit er nun zunächst beginnen solle. Zu tun gab es für ihn reichlich.
Das Ergebnis dieses im Geiste entworfenen Arbeitsplanes war, daß er sich nochmals einen Hut voll Möweneier sammelte, nachdem er sich gesättigt hatte, und dann den Rückweg nach dem Ostteile der Insel antrat. Hier schaute er sich dann nach einem passenden Platz um, wo er eine Hütte aus Bambus errichten konnte. Am geeignetsten erschien ihm eine kleine Waldlichtung, die von dem Abfluß der Quelle durchströmt wurde und die dicht am Waldrand im Schatten einiger jüngerer Rasamalabäume eine steinige, flache Erhebung besaß, welche einen trockenen Baugrund versprach.
Hierauf begann er aus dem Bambusdickicht am Westfuße der Hügelkette armstarke Schößlinge, die bereits an der Wurzel abgefault waren, loszureißen und zu einem Haufen aufzuschichten. Obwohl diese Arbeit ihn bei der herrschenden Wärme sehr ermüdete, ließ er doch nicht nach und erreichte es schließlich auch, daß er bis kurz vor Sonnenuntergang das notwendige Baumaterial nach der Lichtung geschafft hatte, wobei er die meterlangen Stangen über die unzugänglichen Felshügel bringen mußte, – wahrlich keine leichte Aufgabe!
Dann war er aber doch so ermüdet, daß er für diesen Tag von jeder weiteren anstrengenden Tätigkeit absah. Nur eines bereitete er noch vor: einen Haufen leicht angefeuchteter Gräser, in dessen Mitte er ein Bündel trockener Zweige unterbrachte, während er die Außenseite mit flachen Steinen bedeckte. Prallte die Sonne nun den Tag über auf diesen freistehenden Kuppelbau auf, so mußten die feuchten Gräser schnell in Gärung übergehen, dadurch, wie dies auch jeder Haufe feuchten Heus tut, starke Eigenwärme entwickeln und schließlich in Brand geraten.
Die Nacht verbrachte er in ruhigem Schlummer in einer kleinen Bambushütte, die er sehr einfach dadurch herstellte daß er die Stangen zu einem Kegel aneinanderlehnte und durch Schlingpflanzen festband.
Auch der nächste Morgen zog mit strahlendem Sonnenschein herauf. Karl Fechtler wurde sehr früh munter, allerdings nicht von selbst, vielmehr infolge eines unangenehmen Schmerzgefühls im Gesicht und an den Händen. Die Erklärung hierfür war bald gefunden. Ameisen hatten, in breiter Bahn auf einer Wanderung begriffen, gerade über den Schlafenden hinweg und durch die provisorische Hütte hindurch ihren Weg genommen.
So schnell, wie der junge Student heute seine Kleider vom Leibe riß, hatte er es noch nie getan. Nachher mußte er selbst lächeln, als er im Adamkostüm im Grase saß und mühselig aus jedem einzelnen Stück seines Anzuges die kleinen Plagegeister heraussammelte. Da er nun schon ausgezogen war, eilte er auch gleich nach dem nahen Bache hin und verabreichte sich eine Dusche, indem er sich mit einer der leeren Kokosnüsse begoß. Köstlich erfrischt schlüpfte er dann wieder in seine Sachen. Der Morgenimbiß bestand aus Kokosmilch und -fleisch und war bald verzehrt. Dann begab Fechtler sich nach den Hügeln, um hier nach Steinen und Steinsplittern zu suchen, die ihm die fehlenden eisernen Werkzeuge ersetzen sollten: Hammer, Meißel, Axt und Säge.
Endlich hatte er beisammen, was er brauchte. Freilich, die Axt war nichts als ein länglicher Stein, von dem er vorn ein Stück abgeschlagen hatte, so daß etwas wie eine Schneide zustande kam. Und die Säge wieder unterschied sich von der Axt nur dadurch, daß die Schneide schmäler ausgefallen war und infolge ihrer natürlichen Scharten leidlich sich zu dem Zwecke eignete, dem sie dienen sollte.
Daß er mit Hilfe dieser Werkzeuge die harten Bambusstangen nicht würde kürzen und auf die für den Bau der Hütte notwendige Länge bringen können, war ihm sofort klar geworden. Er mußte also warten, bis er mit Hilfe von Feuer die starken Schößlinge an den gewünschten Stellen durchbrennen konnte.
Aber erst am Nachmittag gegen vier Uhr – inzwischen hatte er sich aus Kokosnüssen Trinkbecher und Wassergefäße hergestellt, auch eine große Menge Gras für eine Lagerstatt abgerupft – bemerkte er, daß der mit Steinen belegte Haufen zu dampfen begann. Eine halbe Stunde später roch der aufsteigende Dunst bereits brenzlich, und wieder eine halbe Stunde später war die Qualmentwicklung so stark, daß notwendig im Innern des Haufens ein Feuer entstanden sein mußte. Als Karl Fechtler jetzt die glühend heißen Steine entfernte und die obersten Grasschichten auseinanderriß, schlugen helle Flammen empor. Bald brannte dann auch ein loderndes Holzfeuer, das vortrefflich mithalf, die Bambusstangen zu brauchbaren Pfosten von bestimmter Länge, zu Dachbalken und Stützen zurecht zu stutzen.
Schnell erlangte unser Robinson hierbei eine solche Fertigkeit, daß er bereits nach zwei Stunden die Eckpfeiler der länglich viereckigen Hütte aufstellen und durch Querhölzer befestigen konnte. Um den einzelnen Stangen an den Berührungspunkten besseren Halt zu geben, brannte er hier einen Teil des Holzes weg, so daß, wenn er nun zähe Lianenranken anstelle von Stricken darumschlang, ein ziemlich dauerhaftes Gefüge entstand. Die Arbeit machte ihm so viel Vergnügen, daß er es sehr bedauerte, als er mit Einbruch der Dunkelheit damit aufhören mußte. Auch der folgende Tag ging noch für den Hüttenbau drauf. Dann aber war Fechtler im Besitze einer Bambushütte, die mehr einem kleinen Häuschen mit vorn weit überragendem Dache glich.
Weitere vier Tage emsiger Tätigkeit waren nötig, um auch eine Tür, zwei Zwischenwände und die nötigen Einrichtungsgegenstände – ein kastenähnliches Bett, einen Tisch, einen Stuhl und sogar ein paar schrankähnliche Kästen herzustellen. Inzwischen hatte Fechtler bereits gelernt, seine bescheidenen Werkzeuge so gut anzuwenden, daß er eine besondere Art von Keilen anwenden konnte, um Holzteile miteinander zu verbinden. Das Dach war mit den lederartigen, dicken und fast ein halbes Meter langen Blättern eines Eukalyptusbaumes eingedeckt, der sonst nur in Australien vorzukommen pflegt und dessen Rinde sich zeitweise in riesigen Stücken ablöst, die sich leicht gerade biegen lassen und dann ganz gut als Bretter verwandt werden können.
Das Häuschen besaß drei Räume, ein Wohn- und Schlafgemach, eine Vorratskammer und eine Küche mit einem Herd aus Steinen und einem ebensolchen Rauchfang. Mehr Kopfzerbrechen kostete Fechtler die Herstellung von Kochgeschirren. Umsonst suchte er die ganze Insel nach einer tonhaltigen Erdschicht ab, bis er dann eines Tages in der sumpfigen Niederung des Westteiles an einer Stelle unter einer dichten Moosdecke zufällig auf ein Lager fetter, blaugrauer Tonerde stieß. Nun war es ihm ein leichtes, sich durch Brennen Gefäße aller Art zu beschaffen, bald auch Ziegel, die er zum Bau eines praktischeren Herdes gebrauchte. Bei alledem kamen ihm seine chemischen Kenntnisse sehr zustatten. Hätte er noch eisenhaltige Erze entdeckt, so würde er in kurzem sich auch alles an eisernen Werkzeugen hergestellt haben, was ihm für sein Robinsondasein von Nutzen gewesen wäre. Aber dieses Geschenk gewährte ihm die Vorsehung nicht. Immerhin war er mit dem, was er im Laufe der ersten Woche geschaffen hatte, sehr zufrieden. Hatte doch auch sein Speisenzettel bereits eine erhebliche Bereicherung durch verschiedene Fleischgerichte erfahren, wobei Wildtauben gekocht und am Spieße gebraten eine große Rolle spielten.
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In der neunten Nacht nach seiner Landung auf der Insel wachte Fechtler über dem Toben eines schweren Sturmes auf, der die Bäume des Waldes wild hin und her schüttelte und auch um sein Häuschen mit so groben Stößen herumfuhr, daß der ganze Bau bisweilen zu schwanken schien. Deutlich war auch das Brausen der Brandung zu hören, die jetzt von den orkangepeitschten Wogen an der Nordseite des Eilandes hervorgerufen wurde.
An Schlafen war bei diesem Aufruhr der Elemente nicht zu denken. Daher erhob der junge Student sich auch bereits vor Morgengrauen, nahm schnell seinen Morgenimbiß ein und wanderte im Zwielicht der ersten Dämmerung nach dem Nordstrande, um hier das Schauspiel des aufgeregten Meeres genießen zu können.
Kaum hatte er die letzten Bäume und Büsche des Waldsaumes passiert und freien Ausblick auf die von weißleuchtenden Wellenkämmen bedeckte See gewonnen, als er auch sogleich ein entmastetes größeres Segelschiff gewahrte, das auf einer kaum zweihundert Meter von der Insel entfernten Sandbank lag und fortdauernd von den Wogen überspült wurde, unter denen es zeitweise völlig verschwand. Eine Viertelstunde später war es bereits hell genug, um weitere Einzelheiten unterscheiden zu können. Jetzt sah Fechtler, daß oben auf den Maststümpfen Menschen sich festgebunden hatten, die hilfeflehend zu ihm hinüberwinkten.
Doch – wie sollte er ihnen Beistand leisten?! Das war ihm leider unmöglich. Untätig mußte er zusehen, wie der Segler, eine Brigg, langsam von den Wellen zerschlagen wurde. Auch heute war der Himmel wolkenlos, und bei strahlendem Sonnenschein spielte sich hier an der Küste der Gralster-Insel ein trauriges Drama ab, bei dem Fechtler den machtlosen Zuschauer abgab. Welche Kraft die Wogen entwickelten, zeigte sich am deutlichsten an den Zerstörungen, die sie zunächst an Deck anrichteten. Der Kajütaufbau wurde in Trümmer gelegt, und das ganze, hellgestrichene Dach von den Wassern schließlich mit fortgerissen und von einer Strömung, die dicht am Strande entlangführte, ins offene Meer hinausgetrieben. Der Kajüte folgte die Kombüse des Vorschiffes, folgten Teile der Reling und auch einige große Holzkisten, die auf dem Deck verstaut gewesen waren. Dort bemerkte Fechtler eine ganze Menge hölzerner Kästen[1] von beträchtlichen Abmessungen, über deren Bedeutung er zunächst allerlei leere Vermutungen anstellte, bis er plötzlich auf dem am meisten geschützten Achterdeck einige große Tiere umherirren sah, bei deren Anblick ihn heißer Schreck durchzuckte.
Das waren doch drei Tiger, die dort drüben an der Reling des schräg liegenden Wracks entlang schlichen und bei jeder überkommenden Welle sich platt an die Deckplanken schmiegten, um nicht über Bord gespült zu werden …! Nur zu deutlich erkannte er die dunklen Streifen auf dem gelbbraunen Fell, nur zu genau unterschied er die katzenartigen flinken Bewegungen der gefährlichen Raubtiere.
Kein Zweifel: das von dem Orkan auf die Sandbank geworfene Schiff hatte eine Ladung exotischer Tiere an Bord, die in den Kästen auf Deck zum Teil untergebracht zu sein schienen und jetzt aus ihren zertrümmerten Käfigen entwichen waren.
Eine Stunde verging, und an der Lage des unglücklichen Seglers und seiner in den Maststümpfen hängenden Besatzung hatte sich nichts geändert. Der Sturm war freilich schwächer geworden, aber die See arbeitete noch immer weiter mit gieriger Kraft an der völligen Vernichtung des Wrackes.
Dann beobachtete der junge Student, wie die ersten Planken des Decks losgerissen und fortgeschwemmt wurden. Fast gleichzeitig richtete die Brigg sich mit dem Bug noch höher auf, und jetzt genügten zwei wahre Wasserberge von Wogen, um die Käfige völlig durcheinander zu werfen. Unser Robinson traute seinen Augen nicht, als nun aus dem Gewirr der großen Holzkasten die mächtigen Leiber zweier indischer Elefanten auftauchten, als die plumpen und doch so gewandten Dickhäuter ohne Zögern sich ins Wasser gleiten ließen und der Insel schwimmend zustrebten. Ehe sie noch nach hartem Kampf mit der furchtbaren Brandung den Strand erreicht hatten, erschienen drüben noch einige Tiergestalten, kleiner als die Tiger, schwarz und niedrig – Panther – schwarze Panther, vier an der Zahl.
Die Angst schien den Bestien ihre sonstige Angriffslust genommen zu haben. Ohne sich umeinander zu kümmern, irrten Tiger und Panther auf dem Achterdeck umher. Hinzu gesellten sich sehr bald noch mehrere Zwerghirsche, wie sie auf den Sunda-Inseln[2] vorkommen.
Dann begann des Seedramas letzter Akt. Urplötzlich rutschte die Brigg mit dem Heck noch tiefer, um dann in zwei Teile auseinanderzubrechen.
Mit Entsetzen sah Fechtler jetzt, daß die noch an Bord befindlichen Tiere sich ebenfalls auf die nahe Insel zu retten suchten, wo mittlerweile bereits einer der Elefanten an Land gewatet war und zwar keine dreihundert Meter von dem jungen Deutschen entfernt, um sich dort völlig erschöpft niederzutun. Des anderen Rüsselträgers Kräfte hatten für den Kampf mit dem verderblichen Meere nicht ausgereicht. Er trieb wie ein grauer Fels in der Brandung, die ihn schließlich in flaches Wasser warf, ohne den riesigen Kadaver ganz aufs Trockene befördern zu können.
Fechtler erkannte bald, daß es für ihn höchste Zeit zur Flucht sei. Die Raubtiere kamen näher und näher. Oft trugen die Wogen sie wieder ein Stück zurück, aber die zähe Ausdauer der wilden Bestien siegte über den Vernichtungswillen des Meeres. In eiligem Laufe rannte der Student dem Walde zu und bog dann nach der Hügelkette ab. Hier gab es für ihn genügend Verstecke, wohin ihm selbst die Panther trotz ihrer Geschicklichkeit im Klettern nicht zu folgen vermochten, hier konnte er sich am leichtesten verteidigen, indem er Felsbrocken als Waffen gebrauchte und nötigenfalls auf vierbeinige Angreifer hinabschleuderte.
Atemlos und in Schweiß gebadet erklomm er eine steile Wand, die auf eine schmale Felsterrasse führte. Matt und verzweifelt warf er sich dann auf den harten Boden.
Was sollte nun aus ihm werden? Wie konnte er sich jetzt die notwendigen Lebensmittel beschaffen, da er doch fürchten mußte, auf Schritt und Tritt einer der Bestien zu begegnen …?! Verteidigungsmittel besaß er nicht. Eigentlich war er jetzt ein Gefangener, der sich nur in den Hügeln aufhalten durfte, wo er vor Überraschungen durch die vierbeinigen neuen Bewohner seiner Insel leidlich sicher war. Und sogar die Hoffnung, daß die Raubtiere aus Mangel an Nahrung schließlich übereinander herfallen würden, konnte erst nach längerer Zeit in Erfüllung gehen, da ja der eine Elefant und der Kadaver des zweiten sowie vielleicht noch mehrere der Zwerghirsche als Fleischnahrung für die Bestien jetzt auf dem Eiland vorhanden waren, auf dem sonst keine Säugetiere vorkamen, überhaupt nichts anderes als Vögel und Insekten, wie Fechtler längst festgestellt hatte.
Dessen tiefe Mutlosigkeit war daher auch nur zu begreiflich. In trübem Sinnen saß er auf dem kahlen Gestein seines Schlupfwinkels und überlegte hin und her, was er tun könne, um sich aus dieser bösen Klemme zu befreien. Doch einen Ausweg zu finden war ja geradezu unmöglich.
So verging eine Stunde nach der anderen. Längst war die Sonne über den Baumwipfeln des Waldes aufgetaucht, längst empfand unser Robinson einen wütenden Hunger und Durst und wagte doch nicht den Platz zu verlassen. Von den Raubtieren hatte er bisher noch keines bemerkt, obwohl er fortgesetzt mit den Augen den Waldsaum absuchte und die Lichtungen durchspähte, soweit ihm dies möglich war. Dann faßte er sich ein Herz und begann den Aufstieg nach derselben Kuppe, von der aus man die ganze Insel überschauen konnte. Er wollte sehen, was inzwischen aus dem Wrack geworden war.
Glücklich erreichte er diese höchste Erhebung der Hügelkette. Das gescheiterte Schiff war verschwunden, und nichts schien davon übriggeblieben zu sein. Die Stelle, wo es auf der Sandbank gelegen hatte, war leer. Schäumend liefen die Wogen darüber hinweg, als habe dort nie ein von Menschenhand erbautes Fahrzeug sich befunden.
Während Karl Fechtler noch so dastand und immer wieder die spähenden Blicke in die Runde schickte, während sein Herz schwer war von bangen Gedanken und er bereits dieses ganze Abenteuer und seine Sucht nach einem Verdienst, der ihm so leicht erschienen war, bitter verwünschte, fiel ihm unwillkürlich die Grabinschrift ein.
Er hatte sich schon sehr darüber gewundert, daß er weder auf dem West- noch dem Ostteil irgend welche Spuren der Anwesenheit seines Vorgängers, des unglücklichen Kapitäns Gralster, entdeckt hatte. Dieser mußte doch ebenso wie er irgendwo gehaust und eine Hütte oder dergleichen besessen haben. Vielleicht hatte dessen Schlupfwinkel aber eine so versteckte Lage, daß er ihn noch nicht bemerkt hatte. Und – war es nun nicht möglich, daß die letzte Zeile der Inschrift des Marmorblocks einen Hinweis darstellte, wie man zu diesem Schlupfwinkel gelangen konnte?! – Merkwürdig blieb es doch zum Beispiel auch, daß über den rätselhaften Buchstaben und Zahlen der Spruch eingemeißelt war:
„Wer suchet, der wird finden!“
Sollte sich dieses Bibelwort lediglich auf die treue Liebe der Gattin Gralsters und deren schließlich von Erfolg gekrönte Nachforschungen beziehen, so hätten die Worte besser über der Inschrift ihren Platz erhalten. Konnte der Spruch nicht also sehr wohl in bezug auf die geheime Deutung der letzten Zeile gemeint sein …?! Nichts sprach dagegen, manches dafür.
Und wieder grübelte Karl Fechtler hartnäckig über den Sinn der Buchstaben und Zahlen nach. Mechanisch wiederholte er immer wieder, indem er es leise vor sich hinsprach „N S W O“, bis er wie von einem elektrischen Schlage getroffen zusammenzuckte. Ohne daß er es wollte, hatten seine Lippen plötzlich die Buchstaben ergänzt:
„Norden, Süden, Westen, Osten …!“
Ja – nur die vier Himmelsrichtungen konnten es sein. Daß er auch nicht früher darauf gekommen war! Und die Zahlen bedeuteten sicher Maße, vielleicht ebenso viele Schritte …!!
Da litt es ihn nicht länger auf der Felsenkuppe. Bisher hatte ja keines der Raubtiere sich blicken lassen. Es mußte gewagt werden! Sofort wollte er dem Geheimnis der Inschrift weiter nachspüren.
Eine Viertelstunde später stand er vor dem Grabstein und maß nun zunächst 84 Schritte nach Norden ab, wandte sich dann wieder 24 Schritte zurück nach Süden, hierauf 50 nach Westen und 18 nach Osten, wobei er also zweimal die abgemessenen Strecken, und zwar die nach Norden und Westen, lediglich zu verkürzen hatte.
Der Punkt, den er so feststellte, lag außerhalb der kleinen Talmulde, in der das Grab Gralsters sich befand, und zwar konnte es sich nur um ein sehr umfangreiches Dornengebüsch handeln, das er beim Abschreiten nach Westen zu hatte umgehen müssen. Trafen seine Mutmaßungen zu, so mußte die derart angedeutete Stelle innerhalb dieses Gestrüpps liegen, aus dem ein paar kahle Felsen hoch hinausragten.
Nachdem er das Dickicht einige Male umkreist hatte, um einen Durchschlupf zu finden, bemerkte er dicht über dem Boden eine lichtere Stelle, kroch nun auf allen vieren ohne Schonung seiner Kleider und Hände hinein und gelangte schließlich mit verschiedenen Löchern in seinem Anzug und zerkratzter Haut bis an eine Art Höhle, die von den schräg aneinander gelehnten Felsblöcken gebildet wurde.
Ein halb unterdrückter Jubelruf entrang sich jetzt seinen Lippen. Er hatte die Behausung des Kapitäns wirklich entdeckt. Freilich, in all den langen Jahren hatten in dieser Grotte längst wieder Gräser und kleine Sträucher Wurzel geschlagen. Trotzdem bewiesen aber allerlei Gegenstände, daß dieser Ort einst einem Menschen zum Aufenthalt gedient hatte.
– – – – – – – –
Am meisten zog eine große Schiffskiste in der hinteren Ecke Fechtlers Aufmerksamkeit auf sich. In dieser fanden sich, in noch leidlich gut erhaltene Ölmäntel eingewickelt, verschiedene alte Waffen und einige Werkzeuge vor, die Kapitän Gralster wahrscheinlich bei dem Schiffbruch seiner Brigg „Astarte“ gerettet hatte und die seine Gattin nachher in der Absicht zurückgelassen haben mochte, daß andere Unglückliche, die in dieselbe Lage gerieten, dadurch ihr einsames Leben erleichtern könnten.
Außer zwei guten Steinschloßflinten und drei Pistolen derselben Konstruktion enthielt die Schiffskiste noch ein Fäßchen Pulver, ein großes Stück Blei nebst Kugelform, einige Dutzend fertige Kugeln, eine Axt, ein Beil, Stücke eines Schiffsankers und einen schweren Schmiedehammer, schließlich noch eine Menge langer, starker Schiffsnägel, zwei sog. Entermesser (breite, kurze Säbel) und die eisernen Spitzen von drei Walfischharpunen.
Für Fechtler war dieser Fund von unendlichem Wert. Besonders freute er sich über die Schußwaffen. Nur eine Sorge quälte ihn, ob das Pulver, das sich zum Teil zu harten Klumpen zusammengeballt hatte, noch gebrauchsfähig sein würde. Deshalb lud er auch jetzt sofort eine der Steinschloßpistolen, nachdem er die Zündpfanne gereinigt und sich auch überzeugt hatte, daß der Stein Funken schlug, mit ein wenig Pulver und drückte ab. Ein heißes Glücksgefühl durchströmte ihn, als er den Knall vernahm und der rote Feuerstrahl aus der Mündung hervorschoß. Nun war ihm um die weitere Entwicklung der Dinge nicht bange, nun besaß er ja die Mittel, um die Raubtiere ausrotten zu können. Und dies wollte er bald tun, bevor die Bestien sich von den Folgen des Kampfes mit der Brandung erholt hatten.
Nachdem er sämtliche Feuerwaffen geladen hatte, schnitt er sich aus dem einen Ölmantel einen Kugel- und einen Pulverbeutel zurecht, die er mit Munition füllte und sich an einen aus demselben Stoff gefertigten Leibgurt hing. Außerdem nahm er auch eins der Entermesser mit, kroch wieder durch die Dornen, indem er sich jetzt mit dem scharfen Säbel einen Weg bahnte, ins Freie und schlug den Weg nach dem Ostteil der Insel ein. Als er die Hügelkette überwunden hatte, hielt er sich stets am Nordstrande und gelangte bald in die Nähe der Sandbank, wo das Wrack in Trümmer gegangen war. Hier sah er sofort die Kadaver zweier Tiger und eines der Panther, die die See an den Strand geworfen hatte, und zwar unweit der Stelle, an der in tieferem Wasser der Koloß von Elefant lag. Mithin hatte er es nur noch mit einem Tiger und drei Panthern zu tun. Die Spuren der an Land gekommenen Raubtiere waren im Sande deutlich zu erkennen, auch die des am Leben gebliebenen Elefanten und mehrerer Zwerghirsche. Jedoch war von diesen Vierfüßlern nichts mehr zu sehen. Immerhin konnte Fechtler zu seiner weiteren Beruhigung aus der Fährte des Tigers feststellen, daß dieser die linke Hinterpranke vollständig nachschleppen ließ, also eine Verletzung davongetragen haben mußte, die seine Gefährlichkeit bedeutend herabminderte.
Zuerst rückte er daher dieser großen Katze auf den Leib, deren Spuren in eine Lichtung hineinführten. Geräuschlos schlich Fechtler vorwärts, indem er von Zeit zu Zeit einen Hügel erstieg, um Ausschau zu halten.
Weit war der Tiger nicht gekommen. Im Schatten eines Gebüsches hatte er sich am jenseitigen Waldrande niedergetan. Gegen den Wind, um von der Bestie nicht gewittert zu werden, kroch Fechtler bis zu einer Pandane, die mit ihren dichten Luftwurzeln ein bienenkorbähnliches, festes Versteck abgab. Von hier bis zu dem Tiger mochten es etwa sechzig Schritt sein. Langsam richtete er sich nun hinter dem Baume auf, benutzte einen Astknorren als Gewehrauflage und zielte auf die Brust der gelben Katze, die sich fortgesetzt die linke Hinterpranke beleckte.
Auf den Donner des Schusses fuhr der Tiger mit einem Satze hoch, drehte den mächtigen Kopf hin und her und heftete dann die starren Augen mit dumpfem Zornesbrüllen auf den menschlichen Feind, der soeben das zweite Gewehr anlegte. Drei Sekunden später erhielt der Tiger die zweite Kugel, die ihm das eine Fußgelenk zerschmetterte, so daß er hilflos auf die Seite fiel, da er sich jetzt nicht mehr aufrechtzuhalten vermochte. Zwei weitere Schüsse, die Fechtler mit aller Ruhe abfeuerte, genügten dann, um dem Raubtiere den Rest zu geben.
Sofort machte er sich nun auf die Suche nach den schwarzen Panthern, die er jedoch nicht fand. Diese tadellosen Kletterer, die sich auch mit Vorliebe in den Baumkronen bewegen, waren, wie die Fährten zeigten, in ein dichtes, eine kleine Schlucht ganz ausfüllendes Gebüsch gekrochen, wohin Fechtler ihnen nicht zu folgen wagte. [Dort waren sie gut versteckt, so daß ein Panther ihn un]versehens[3] anspringen konnte, bevor er noch zum Schusse kam. Trotzdem überzeugte er sich aber, ob vielleicht an anderer Stelle aus der Schlucht wieder Fährten hinausführten. Dies war nicht der Fall.
Hierauf eilte er seiner Hütte zu, um erst einmal seinen Hunger zu stillen. Was aus dem Elefanten geworden war, gedachte er nachher festzustellen.
Als er dann die von dem kleinen Bache durchflossene Waldblöße betrat, wo er sein Heim aufgeschlagen hatte, erlebte er eine merkwürdige Überraschung. Unweit seines Bambushäuschens weidete nämlich der mächtige Dickhäuter gemächlich den Blattschmuck einiger Sträucher ab.
Fechtler wußte zunächst nicht, was er tun sollte. Den Elefanten mit den Vorderladergewehren anzugreifen, wäre mehr als leichtsinnig gewesen, zumal er schon gemerkt hatte, daß die Flinten recht mäßig schossen. Unbedenklicher erschien es ihm schon, den Versuch zu machen, den behaglich schmausenden Rüsselträger durch einen in die Luft abgefeuerten Pistolenschuß zu verscheuchen, da man nicht wissen konnte, ob der mächtige Bursche, der ein Paar recht lange Stoßzähne besaß, nicht Lust verspüren würde, die Hütte ein wenig umzureißen.
Fechtler besann sich denn auch nicht lange und drückte ab. Die Steinschloßpistole gab einen Knall, der schon mehr wie ein Böllerschuß klang. Doch der Elefant ließ sich dadurch nicht im geringsten stören, bewegte nur spielend die mächtigen Lederlappen von Ohren und … fraß ruhig weiter.
Diese beneidenswerte Gelassenheit setzte den Studenten in das größte Erstaunen. Wie er dann noch unschlüssig dastand und sich fragte, ob er es wohl wagen dürfe sein Häuschen zu betreten, ereignete sich etwas, das Fechtler geradezu zur Bildsäule erstarren ließ.
Am anderen Ende der Waldblöße ertönte mit einem mal ein besonderer Pfiff, und gleich darauf trat unter den Bäumen drüben ein Mensch hervor, ein noch recht jugendlicher Mensch, barhäuptig und gekleidet in einen gelbgrauen Leinenanzug. Am seltsamsten aber war das Verhalten des Elefanten. Kaum hatte dieser den Pfiff vernommen, als er sich auch schon in Trab setzte, auf den Knaben zueilte und diesen mit dem dicken Rüssel förmlich zu streicheln schien, wobei er offenbar vor Freude trompetenartige Töne ausstieß, die trotz ihrer Rauheit etwas Rührendes an sich hatten.
Fechtler schritt jetzt unbekümmert auf die Gruppe zu. Vor diesem gezähmten Dickhäuter brauchte er keine Angst zu haben. Denn gezähmt war das Tier. Das zeigte sich jetzt so recht, als es den Knaben mit dem Rüssel sorgsam auf seinen dicken Schädel hob und dann, durch Zurufe gelenkt, dem jungen Studenten entgegenkam.
Nie hatte dieser auch nur im entferntesten vermuten können, jemals auf der Gralster-Insel etwas Derartiges zu erleben. Dieser ganze Auftritt war so abenteuerlich-phantastisch, daß Fechtler tatsächlich für einen Moment der Gedanke durch den Kopf blitzte, ob er auch nicht träume.
Doch alles war Wirklichkeit. Und unser Robinson fragte sich nur, was sich wohl noch weiter an Seltsamkeiten auf diesem Eiland ereignen würde.
Jetzt stand der Elefant dicht vor ihm, pendelte mit dem Rüssel langsam hin und her und betrachtete aus seinen kleinen Augen den Fremden offenbar mit neugierigem Interesse.
Nicht minder prüfend musterten sich die beiden Weißen, die das Walten des Schicksals hier zusammengeführt hatte. – Der Knabe war kräftig entwickelt, hatte ein sonnverbranntes Gesicht und hellblondes Haar. Kecke, frische Augen waren es, die Fechtler anblitzten. Und doch lag um den Mund des kleinen Burschen, der vielleicht vierzehn Jahre zählen mochte, ein Ausdruck von schmerzlicher Trauer.
Und er war es nun, der die Unterhaltung eröffnete und zwar zunächst in recht mäßigem Englisch, indem er Fechtler fragte, wer er sei und was er auf der Insel triebe.
Bald benutzten beide aber die deutsche Sprache, die ihrer gemeinsamen deutschen Heimat. Sie saßen jetzt auf der Bank vor der Hütte, und hier erfuhr Fechtler alles, was er über die Lebensgeschichte seines kleinen Landsmannes wissen wollte.
Fritz Peters war der Sohn eines Angestellten der großen Hamburger Tierhandlung von Hagenbeck. Sein Vater hatte sich vor einem Jahre im Auftrage der Firma nach den Sunda-Inseln begeben, um hier für das Geschäft neue Ware aufzukaufen oder einzufangen. Seine Familie hatte Peters mitgenommen, und diese und er selbst wohnten auch heute noch in der Stadt Palembang auf Sumatra. Fritz dagegen mußte mit der „Donna Inez“, die eine wertvolle Tierladung nach Hamburg bringen sollte, die Reise nach Europa mitmachen, weil er in der alten Hansastadt eine Vorbereitungsanstalt für das einjährig-freiwillige Examen besuchen sollte. Schwere Stürme hatten den Segler jedoch weit nach Südwesten aus seinem Kurse verschlagen und schließlich an der Gralster-Insel scheitern lassen, eine Katastrophe, die Fritz Peters offenbar als einziger der Besatzung überstanden hatte. Lange Zeit war er bewußtlos gewesen, nachdem die Wogen ihn auf dem Westteil des Eilandes an Land beworfen hatten. Als er zu sich kam, war es bereits heller Tag. Dann hörte er einen dumpfen Knall, ohne Zweifel einen Schuß. Dies konnte nur derjenige gewesen sein, den Fechtler abgefeuert hatte, um die Brauchbarkeit des Pulvers zu prüfen. Da hatte der Knabe bemerkt, daß sich außer ihm noch Menschen auf der Insel befinden müßten und nach diesen zu suchen begonnen. Weitere Schüsse, die er nachher vernahm, führten ihn schließlich bis zu der Waldblöße hin, wo er zu seiner Freude den zahmen Elefanten Jakob bemerkte, bei dem Fritz Peters hauptsächlich den Wärter gespielt hatte, so daß zwischen beiden längst eine innige Freundschaft bestand. –
Daß Fechtler von Herzen froh war, einen Gefährten gefunden zu haben, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Nachdem die beiden Landsleute sich dann durch einen kräftigen Imbiß gestärkt hatten, wollten sie zunächst einmal den Strand entlangwandern, um zu sehen, ob sie nicht doch noch einen Überlebenden von der „Donna Inez“ irgendwo entdecken könnten. Gleichzeitig gedachten sie auch nach Schiffstrümmern auszuspähen, die ihnen in ihrer Lage von großem Nutzen sein mußten.
Das Ergebnis dieses zweistündigen Spazierganges war jedoch äußerst gering. Nicht einmal eine menschliche Leiche fanden sie, geschweige denn einen Lebenden. Und von dem zerstörten Segler vermochten sie auch nur zwei Balken und einige zerbrochene Planken zu bergen.
Auf dem Heimwege nach der Hütte nahmen sie dann noch aus der einst von Kapitän Gralster bewohnten Felsengrotte alles mit, was sie irgend brauchen konnten. Fechtler meinte, man müsse nun zu allererst die Insel von den gefährlichen Panthern befreien und diese abschießen. Hiermit war der Knabe jedoch nicht einverstanden. Er wies darauf hin, daß die Raubtiere keinen geringen Wert hätten und daß er sich darauf verstehe, aus Bambushölzern einen Käfig zu bauen, der gleichzeitig als Falle benutzt werden könne. Jedenfalls wolle er erst einmal versuchen, die Panther lebend in seine Gewalt zu bekommen.
So wurde denn gleich am Nachmittag mit der Errichtung eines solchen Käfigs begonnen, der aus fünf Teilen sich zusammensetzen ließ. Bis zum Abend war er fertig und wurde nun in der Nähe der Schlucht aufgestellt, in die die Panther sich zurückgezogen hatten. Als Köder benutzte man große Fleischstücke des toten Elefanten, der jetzt, nachdem der Orkan sich völlig gelegt hatte, auf dem Trockenen lag.
Vor Einbruch der Dunkelheit wurde dann noch der tote Tiger abgehäutet und auch von der dicken Lederhaut des leider umgekommenen Elefanten möglichst viel geborgen, ebenso dessen Stoßzähne und eine Menge Fleisch und Knochen. Das Fleisch sollte gleich am nächsten Morgen in Streifen geschnitten und gedörrt werden, die Knochen aber gedachte Fechtler zu anderen Zwecken zu benutzen.
Eine zweite Lagerstatt für Fritz Peters war schnell hergerichtet. Und bewacht von dem klugen Jakob, der draußen vor der Hütte an einem langen, gleichfalls am Strande gefundenen Schiffstau angebunden worden war, damit er sich nicht zu weit entferne, schliefen die Gefährten fest und ungestört bis in den hellen Morgen hinein.
– – – – – – – –
Der erste Gang führte sie, nachdem sie in dem kleinen Bache durch eine Dusche sich erfrischt hatten, nach der Bambusfalle. Zwei Panther hatten sich gefangen und strichen jetzt im Innern des Käfigs unruhig an den Gitterwänden hin und her. Dieser halbe Mißerfolg zwang die beiden Landsleute, noch einen zweiten Käfig zu bauen, in den man auch das dritte Raubtier hineinlocken zu können hoffte. Dies gelang jedoch erst in der dritten Nacht. Dann wurde ein kleiner Transportkäfig hergestellt, in dem man die drei Bestien nach der Waldblöße schaffte, um sie nachher wieder in die zu einem großen Raubtierhaus vereinigten beiden Fallen hineinzulassen. Durch Hunger und Durst gewöhnte man den schwarzen Katzen bald ihre ursprüngliche Wildheit ab, so daß Fritz Peters nach einiger Zeit ruhig den Käfig betreten konnte.
Die Hauptsache für die beiden Robinsons war, daß ihre Insel jetzt wieder von den gefährlichen Raubtieren befreit war und man sich unbesorgt überall nach Belieben bewegen konnte. Dann aber konnte man jetzt auch hoffen, daß die an Land gekommenen Zwerghirsche, deren Zahl Fechtler gleich am Morgen nach dem Schiffbruch der „Donna Inez“ aus den aufgefundenen Fährten auf einige zehn Stück geschätzt hatte, sich ungestört weitervermehren und die säugetierarme Insel angenehm beleben würden. Diese Erwartung traf auch zu. Die zierlichen, kleinen Tiere fanden auf dem Eiland so reichliche Nahrung und überhaupt so günstige Lebensbedingungen, daß nach einem halben Jahre die Gefährten nicht weniger als sechs Hirschkälbchen beobachteten, die neben den Muttertieren vergnügt auf einer Lichtung sich tummelten. –
Die Werkzeuge, die aus dem Nachlaß des Kapitäns Gralster stammten, gaben den beiden Landsleuten die Möglichkeit, sich ein neues, größeres und bequemeres Wohnhaus zu bauen und sich allerlei Möbel anzufertigen, die die Behaglichkeit der Räume wesentlich erhöhten. Fechtlers erste Hütte wurde jetzt lediglich als Werkstätte benutzt. Aus den eisernen Schiffsnägeln und den Teilen des zerbrochenen Ankers hatte der junge Student mit geschickter Hand noch eine ganze Reihe von kleineren Werkzeugen hergestellt, so daß man sich auch an feinere Arbeiten heranwagen konnte. In der dritten Woche nach dem Schiffbruche der „Donna Inez“ trat ein paar Tage eine vollkommene Windstille ein, wie man sie im Indischen Ozean häufiger beobachten kann. Die See war glatt wie ein Spiegel, und daher beschlossen die Gefährten auch, während der Ebbe nach der Sandbank hinauszuschwimmen, um zu sehen, ob man dort nicht noch einige Schiffstrümmer auffinden und bergen könnte. Fechtler kam es hierbei besonders auf Eisen an, da er sich mit allerlei großzügigen Plänen trug, die sich jedoch nur verwirklichen ließen, wenn man eben genügend Eisen besaß, das sich in der in der alten Hütte eingerichteten Schmiedewerkstatt in andere Formen umarbeiten ließ.
Der Erfolg dieser Schwimmtour übertraf die kühnsten Erwartungen der beiden Landsleute. Zunächst bemerkten sie den in ganz flachem Wasser liegenden Anker der vernichteten Brigg. Daran hing noch die Ankerkette und an dieser wieder ein Schiffsbalken, um den sich Teile des Tauwerks des Vordermastes geschlungen hatten. Jedenfalls war jetzt dem Mangel an schmiedefähigem Eisen abgeholfen, nachdem man mit Hilfe eines Bambusfloßes die gesunkenen Gegenstände glücklich an Land geschafft hatte.
So betätigten sich die beiden denn zunächst hauptsächlich als Schmiede, und nach einigen Versuchen gelang es Fechtler wirklich, brauchbare Sägeblätter herzustellen, von denen zwei zu Handsägen, drei andere, die größten, aber für die Einrichtung einer kleinen Schneidemühle verwandt wurden.
Einen ganzen Monat lang arbeiteten die Gefährten an dem Bau dieser Schneidemühle, die in den Felshügeln unterhalb einer Felswand ihren Platz fand, über die die Quelle als kleiner Wasserfall hinwegstürzte. Dadurch, daß man das Quellwasser oben in einem künstlich geschaffenen Bassin anstaute, gewann der Wasserfall so viel lebende Kraft, daß er ein Wasserrad in Bewegung setzte, welches wieder ein Sägegatter antrieb.
Der Tag, an dem zum erstenmal die Säge knirschend in einen gefällten Eukalyptusstamm sich einfraß, bedeutete für die beiden Robinsons eine Krönung ihres Fleißes, wie sie nicht schöner sein konnte. Gewiß – das Sägewerk hätte bei jedem Fachmann wohl ein halbes Lächeln hervorgerufen. Es war im ganzen rechte primitiv, genügte den Zwecken der Robinsons aber vollauf.
Bald besaßen sie nun einen solchen Vorrat von Brettern und Balken, daß Fechtler einen Schritt weiterging und am Südstrande der Insel am Ufer einer kleinen geschützten Bucht alles für den Bau eines Schoners von fünfzehn Meter Länge und sieben Meter Breite vorbereitete. Den Bauplatz bezeichneten die Gefährten stolz als Schiffswerft, und tatsächlich verdiente er schon nach kurzer Zeit mit Recht diesen Namen. Den ursprünglichen Plan, einen Schoner zu bauen, mußte man dann jedoch fallen lassen, weil Fechtler einsah, daß sie damit erst in vielen Monaten fertig werden würden. So wurde, nach dem neue Zeichnungen auf Holztafeln mit Holzkohle entworfen waren, ein Kutter in Angriff genommen, dessen Kielbalken am 8. Juni auf Stapel gelegt wurde und der drei Monate später zum Ablauf bereit war.
Daß der zahme Elefant den Gefährten mit seinen Riesenkräften wichtige Dienste als Zugtier und Lastträger leistete und die Arme eines Dutzends von Männern ersetzte, braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden.
Müßiggang und Langeweile, die stets so eng beieinander wohnen, gab es auf der Gralster-Insel nicht. Dafür aber zwei Menschen, die jeden Tag mit demselben fröhlichen Eifer an die Arbeit gingen und nichts Schöneres kannten, als sich gegenseitig freudig darauf aufmerksam zu machen, wie gut ihnen dieses oder jenes geglückt war. Kein Wunder, daß ihnen so die Wochen und Monate förmlich dahinflogen und ein halbes Jahr im Umsehen verstrich.
Der Kutter war längst fertig und wurde mit seinen merkwürdigen Segeln, die aus Kokosnußfasern geflochten waren, eifrig bei günstigem Wetter zu Ausflügen benutzt. Nach seiner Fertigstellung hatten die Gefährten wieder die Sägemühle in Betrieb gesetzt um möglichst viel Bretter und Balken zurecht zu schneiden, die sie später nach Ablauf von Karl Fechtlers Robinsonzeit zu Geld machen wollten. Inzwischen hatten sie aber neben diesen größeren Arbeiten auch eine ganze Reihe von anderen Gegenständen hergestellt, die sie zum Teil notwendig brauchten, zum Teil mehr zum Zeitvertreib sich zulegten. Um ihren Pulvervorrat zu schonen, fertigten sie sich Armbrüste an, die sie zur Jagd auf Wildtauben und Seevögel benutzten. Mußten sich doch die Panther, die mittlerweile beinahe so zahm wie Hunde geworden waren, stets mit toten Vögeln als Kost begnügen. Für sie die nötige Menge Fleisch zu beschaffen, war bisweilen recht zeitraubend. Auch einen Garten vor ihrem Wohnhause mit einem hübschen Zaun hatten die beiden Landsleute sich angelegt, ferner in der Bucht eine kleine Bootsbrücke gebaut und daneben ein Badehäuschen. Nachdem sie dann zu ihrer Freude feststellen durften, daß die Zwerghirsche jungen Nachwuchs erhalten hatten, fingen sie ein paar von den zierlichen Tieren ein und wiesen ihnen zum Aufenthalt ein großes Gehege aus Bambusstangen unweit des Wohnhauses an.
Diese glückliche, friedliche Zeit sollte dann jedoch durch ein Naturereignis einen jähen Abschluß erhalten, mit dem die Gefährten niemals gerechnet hatten.
Es war Ende November, als eine Springflut von ungewöhnlicher Stärke verheerend über die Gralster-Insel hereinbrach. Der Indische Ozean ist wegen des häufigen Auftretens solcher Springfluten geradezu berüchtigt. Bekanntlich rührt die sog. Gezeitenwelle durch die der Unterschied zwischen Ebbe und Flut entsteht, von der Anziehung von Mond und Sonne auf die Wasserfläche der großen Meere her. Wirken nun zur Zeit des Voll- und Neumondes beide Gestirne in derselben Richtung und treten dann noch besondere Windverhältnisse ein, die das Wasser mit der Gezeitenströmung in Bewegung setzen, so entsteht ein förmlicher Wasserwall, der sich mit erheblicher Schnelligkeit vorwärts schiebt – die Springflut, die öfters eine Höhe bis zu 20 Meter erreicht und an den Küsten des Indischen Ozeans, hauptsächlich aber auf bewohnten Inseln, schon die furchtbarsten Verwüstungen angerichtet hat. Daß eine solche Springflut in einem Hafen liegende Schiffe Hunderte von Metern weit in das Land hineinträgt und ganze Ortschaften wegfegt, ist keine Seltenheit.
Die beiden Gefährten hatten gerade am Morgen des verhängnisvollen Tages auf dem Westteil der Insel auf Tauben gejagt, als Fritz Peters noch zur rechten Zeit die von Südost heranstürmende Springflut gewahr wurde. Als ungeheurer Wasserwall, dessen Ausdehnung gar nicht mit bloßem Auge festzustellen war, wälzte sie sich heran. Kaum hatten die Jäger sich in den Felsenhügeln in Sicherheit gebracht, als die Wogenmauer auch schon da war. An der Südostspitze packte sie das Eiland zuerst. Dort stand eine Gruppe von Rasamalabäumen, wahre Waldriesen, die höchsten der Insel, einige davon gut fünfzig Meter messend. Wie schwaches Schilfrohr im Winde bogen sie sich vor dem Anprall weit über. Einige hielten den Druck nicht aus, sondern wurden umgeknickt. Mit einem Brüllen wie ein gereiztes Tier suchte die Flutwoge den Widerstand des grünen Hindernisses, das sich ihr in Gestalt des Waldes entgegenstellte, zu brechen. Aber dieser war zäher. Nur dort, wo größere Lichtungen ineinander übergingen, vermochte der Wasserberg mit gierig vorgestreckten Zungen über den Ostteil des Eilandes in seiner ganzen Ausdehnung hinwegzustürmen. Böser spielte er der ungeschützten Westhälfte mit, die für Sekunden mit ihren wellenumbrandeten zerstreuten Felsgruppen einem brodelnden Hexenkessel glich. Auch an der Ostseite der Hügel schoß die Riesenwelle mit ohrbetäubendem Donnern vorüber, reckte sich beutelüstern hoch, ohne jedoch die beiden Gefährten zu erreichen, die in starrem Entsetzen das furchtbare Naturereignis beobachteten.
Vielleicht zehn Sekunden dauerte es, bis die Wassermauer, sich im Nordwesten der Insel wieder zusammenschließend, weitereilte.
Wie sah es jetzt aber auf dem Eiland aus!! Überall glänzten kleine Seen und Tümpel auf den niedrigeren Stellen. Im Ostteil der Insel hatte sich in einer großen, muldenförmigen Lichtung ein großer See gebildet. Die Werft, der Kutter und das Badehaus waren verschwunden. Losgerissene Sträucher, umgeknickte Bäume lagen stellenweise in wirren Haufen durcheinander. Der Sägemühle hatte die Springflut freilich nichts anhaben können, da sie in den Hügeln mehr nach Norden zu eingebettet war.
Wie es um die Ansiedlung auf der Waldblöße stand, konnten die Gefährten erst nachher feststellen. Auch bis hierher waren die Wassermassen vorgedrungen, hatten aber keinerlei Schaden angerichtet. Die Zwerghirsche und auch die Panther waren mit einem nassen Bade davongekommen, ebenso der zahme Elefant, der das Erscheinen seiner Herren mit aufgeregtem Trompeten freudig begrüßte.
Drei Tage später erschien zu der beiden Robinsons großer Überraschung am Horizont die Rauchfahne eines Dampfers. Es war die „Germania“ mit Kraxemiller an Bord, der Karl Fechtler abholen kam, obwohl von der vereinbarten Zeit erst acht Monate verstrichen waren. Der Rest sollte dem jungen Studenten geschenkt werden.
Kraxemiller traute seinen Augen nicht, als er sah, wie behaglich Fechtler hier gelebt hatte. Er hatte geglaubt, einen halb verwilderten Waldmenschen vorzufinden, der ihm auf Knien danken würde, daß er ihn so früh erlöste. Dem war nicht so. Im Gegenteil, den beiden Gefährten fiel der Abschied von der Gralster-Insel fast schwer. – –
Unsere Geschichte ist damit zu Ende. Erwähnt sei noch, daß der kluge Jakob und einige Zwerghirsche, natürlich auch die Panther, die Reise nach Europa mitmachten und daß Kraxemiller von den geschnittenen Hölzern so viel auf der Jacht verladen ließ, als diese zu fassen vermochte. Die Bretter und Balken wurden dann zu gutem Preise in dem holzarmen Hafen von Aden am Roten Meer verkauft, der Erlös aber unter Fechtler und Fritz Peters geteilt.
Wenn unsere lieben Leser nun aus dieser Erzählung die Belehrung geschöpft haben, daß Arbeit, Fleiß und ein Blick für das Praktische auf dieser Welt stets belohnt werden, sind auch wir ebenso zufrieden wie unser Held Karl Fechtler, der es bei seinen Anlagen mit Hilfe der ihm ausgezahlten Summe bald zum wohlhabenden Manne brachte.
Ende.
Das nächste Heft enthält:
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Anmerkungen: